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Die Erfüllung E-Book

Catherine Cookson

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Beschreibung

Die junge Linda Metcalfe verliebt sich in ihren Arbeitgeber Ralf Batley. Dadurch wird sie in die jahrzehntelange Fehde zwischen den Familien Batley und Cadwell hineingezogen. Ralph verhält sich lange abweisend ihr gegenüber, bis sich eines Tages die Ereignisse überschlagen.

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CATHERINE COOKSON

Die Erfüllung

Roman

Aus dem Englischenvon Imke Walsh-Araya

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Das Buch

Die junge Agrarwissenschaftsstudentin Linda Metcalfe soll auf dem Gut der Batleys eine neue Stelle antreten. Doch sie verläuft sich an der vom Wind umtosten Küste Nordenglands und landet bei der Familie Cadwell, die ihr den richtigen Weg zeigt. Linda ahnt nicht, dass sie an jenem Abend Teil der seit Jahren tobenden Fehde zwischen den beiden benachbarten Höfen geworden ist. Ralph Batley, ihr neuer Arbeitgeber, droht ihr sofort mit Kündigung, als er sie beim Gespräch mit einem der Cadwells beobachtet. Aber damit nicht genug: Linda entwickelt leidenschaftliche Gefühle für Ralph, der seine Ablehnung ihr gegenüber nur allzu deutlich zum Ausdruck bringt. Eine Beziehung ist aussichtslos, bis eines Tages die Vergangenheit wie eine alte Wunde aufbricht und alles in einem anderen Licht erscheint.

Die Autorin

Catherine Cookson – die Grand Dame romantischer Liebesromane – wurde 1906 in der nordenglischen Kleinstadt Tyne Dock geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Bereits als Sechzehnjährige verfasste sie Kurzgeschichten, doch der Durchbruch gelang ihr erst 1950 mit dem autobiografisch gefärbten Roman »Our Kate«. Ihre zahlreichen Bücher wurden zu Bestsellern und sind in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt, einige auch verfilmt worden. 1993 wurde Catherine Cookson von Königin Elizabeth II in den Stand einer »Dame of the British Empire« erhoben. Sie starb 1998 kurz vor ihrem 92. Geburtstag.

Titel der Originalausgabe

HERITAGE OF FOLLY

Deutsche Erstausgabe 05/2005

Copyright © 1961 by Catherine Cookson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock Images LLC Satz: Wilhelm Heyne Verlag, München

eISBN 978-3-641-18099-7V001

www.heyne.de

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7

1

Während der Bus Morpeth hinter sich ließ und Ulgham und Widdrington passierte, veränderte sich die Landschaft. Das Farmland wich kahlen, steinigen Hängen mit kleinen, von Trockenmauern eingefassten Feldern. Hie und da tauchte die Straße in ein geschütztes Tal ein, das eine trügerische Wärme versprach. Ein Versprechen, das sofort gebrochen wurde, denn das ganze Land wirkte kalt und einsam. In meinem Inneren sieht es nicht anders aus, sinnierte Linda, als sie aus dem Busfenster blickte. Bei dem Gedanken an die Zeit, die vor ihr lag, fröstelte sie. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt.

Bald würde der Bus Surfpoint Bay erreichen, wo sie ihren zukünftigen Arbeitgeber kennen lernen sollte. Selbst wenn sie pünktlich gewesen wäre, wäre sie deswegen nervös gewesen, aber nun kam sie auch noch zwei Stunden zu spät. Da ihr Zug durch den Nebel aufgehalten worden war, hatte sie den Bus verpasst.

Hoffentlich war er deswegen nicht verärgert. Es war wichtig, dass sie einen guten Start hatte. Ein guter Start war alles. Was, wenn sie versagte? Bei diesem Gedanken schloss sie die Augen. Die Worte ihres Vaters gellten ihr in den Ohren. »Eine Landwirtschaftschule! Schade um das Geld! War doch sowieso Verschwendung, sie bis achtzehn zur Schule gehen zu lassen. Schau sie dir doch an! Sieht so eine Bäuerin aus? Dass ich nicht lache!«

Aber dieses eine Mal hatte sich ihre Mutter durchgesetzt, und Linda erhielt die Chance, ihren Traum zu verwirklichen. Dass es eine harte Wirklichkeit sein würde, war ihr klar, das hatte sie bereits während ihrer kurzen Aufenthalte auf dem Hof in Crowborough gelernt, auf dem ihr Onkel Verwalter war.

Bevor sie die zweijährige Ausbildung an einer Landwirtschaftsschule begann, musste sie ein praktisches Jahr auf einem Bauernhof ableisten. In Crowborough war das nicht möglich, weil dort ausschließlich Galloway-Rinder gezüchtet wurden, aber der Besitzer hatte ihr einen Platz auf einer Farm in Northumberland besorgt. Und so hatte sie früh an diesem Morgen mit dem Segen ihrer Mutter und den düsteren Prophezeiungen ihres Vaters im Ohr London verlassen. Nun war sie fast am Ziel ihrer Reise angelangt.

Die Bühne … Fotomodell … Verkäuferin, alles hätte ich verstanden, hörte sie ihren Vater schwadronieren. Sei doch still, hätte sie um ein Haar gerufen. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz herum. Wenn sie doch nur das Vorstellungsgespräch hinter sich hätte! Die erste Begegnung mit ihrem Arbeitgeber war ihre größte Sorge. Vielleicht, weil sie wusste, dass Mr Batley einen männlichen Praktikanten bevorzugt hätte. Der Brief, den er ihr geschrieben hatte, klang steif, aber es war ein Geschäftsbrief, der ließ keine großen Schlüsse auf seine Persönlichkeit zu. Nun, bald würde sie mehr wissen. Der Bus war angekommen. Sie zitterte ein wenig, rief sich aber sogleich zur Ordnung. Fressen würde er sie schon nicht.

Jetzt im November wurde es früh dunkel, und im schwachen Licht des Nachmittags hatte sie die beiden hohen Häuser aus grauem Stein, die streng auf die etwa zwanzig Ferienhäuschen um sie herum herabblickten, für einen ganzen Weiler gehalten. Erst als sie die Ebene am Fuß des Hügels erreichten, bemerkte sie ihren Irrtum. Das größere der beiden Gebäude war ein Gasthof mit dem Namen »The Wild Duck«, vor dem der Bus jetzt hielt. Davor wartete eine kleine, auffällig dicke Frau mit weißer Schürze, die ihre Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben hatte. Neben ihr stand ein kleines Mädchen von etwa sieben Jahren. Ein Mann war nirgends zu entdecken.

»Zumindest hat das Wetter gehalten«, sagte die Frau zu dem Fahrer, der ausgestiegen war und die Arme über dem Kopf ausstreckte.

»Hier ist es ja ganz angenehm, Mrs Weir«, gab er zurück, »aber über Newcastle hängt eine richtige Suppe.«

»Nein!« Sie zog erstaunt die Brauen hoch.

»Doch, das stimmt, Mrs Weir«, unterstützte der Schaffner seinen Kollegen.

Während dieses Wortwechsels hatte Linda abseits gestanden und sich umgesehen, aber sie hatte kaum Zeit gehabt, die riesige Sandfläche und die schaumgekrönten Wellen wahrzunehmen, als die Frau sich an sie wandte. »Und Sie wollen bestimmt zu Batley, meine Liebe.«

»Ja, das stimmt.« Linda sah die Frau erwartungsvoll an.

»Na ja, der war beim letzten Bus hier, aber Sie waren nicht dabei.«

»Mein Zug hatte Verspätung, und ich habe den Anschluss verpasst. Ist es weit bis zur Farm?«

»Kommt drauf an, was Sie unter weit verstehen. Manche Leute finden zehn Meilen gar nichts, anderen ist eine einzige schon zu viel.«

»Sind es denn zehn Meilen?« Linda riss überrascht die Augen auf.

»Nein, das ist nur so eine Redensart von mir. Ich wette, eine Tasse Tee würde Ihnen gut tun. Kommen Sie rein. Euer Tee ist auch fertig, Jungs.« Sie nickte Schaffner und Fahrer zu. »Ihr kennt euch ja aus … Sie kommen mit mir, Miss.«

Linda folgte ihr in eine kleine Stube, die so blitzsauber, warm und gemütlich war, dass sie für einen Augenblick wünschte, sie wäre bereits am Ende ihrer Reise angelangt und könnte hier sitzen, ohne sich über ihren künftigen Arbeitgeber und seine Farm den Kopf zu zerbrechen.

Mrs Weir plapperte munter drauflos, während sie den Tee einschenkte. »Wenn er in zehn Minuten nicht da ist, gehen Sie am besten zu Fuß. Den Weg schaffen Sie in zwanzig Minuten, bis dahin ist es noch nicht einmal richtig dunkel … Da fällt mir was ein. Katie soll nach seinem Auto Ausschau halten. Katie!« Mrs Weirs Stimme schallte durch das Haus.

»Ja, Tante?«, fragte die Kleine, als sie angerannt kam.

»Lauf schnell auf den Hügel hinter dem Haus und sieh nach, ob Batleys Wagen kommt. Aber sei vorsichtig.«

»Ja, Tante.« Damit war die Kleine verschwunden.

»Direkt hinter dem Haus führt eine Treppe auf die Steilküste hinauf. Katies Beine sind noch jung, sie ist im Nu oben. Von dort aus überblickt man die ganze Küste.« Mrs Weir reichte Linda ihre Tasse und schwatzte praktisch ohne Atempause weiter. »Sie sehen gar nicht nach einem Landmädchen aus. Wenn mich einer gefragt hätte, ich wäre nicht drauf gekommen, dass Sie auf einer Farm arbeiten wollen. Sie sind so dünn, ein bisschen was von dem hier würde Ihnen gut tun.« Sie klopfte sich auf den Bauch.

Der abrupte Themenwechsel brachte Linda zum Lächeln. »Ich bin viel kräftiger, als ich aussehe«, gab sie zurück.

»Na, das will ich auch hoffen, sonst wird das nichts mit der Farmarbeit. Vor allem da oben in der Wildnis. Hier unten ist es schon schlimm genug, aber wir sind zumindest ein wenig geschützt. Da oben pfeift einem der Wind ständig um die Ohren. Kennen Sie Ralph Batley?«

»Nein.«

»Ach, ich dachte, er wäre ein Bekannter von Ihnen.«

Fast hätte Linda sich genauer nach ihm erkundigt, aber sie verkniff sich die Frage. Frauen waren überall auf der Welt gleich. So freundlich ihre Gastgeberin auch war, es war durchaus denkbar, dass sie Batley bei ihrer nächsten Begegnung brühwarm von Lindas Neugier erzählte. Das wollte sie vermeiden.

Wenige Minuten später stürmte Katie außer Atem in die Küche. »Ich kann kein Auto sehen, Tante«, meldete sie.

»Scheint, als wäre er aufgehalten worden«, meinte Mrs Weir zu Linda gewandt. »Vielleicht denkt er auch, Sie kommen heute nicht mehr, oder sein Jeep hat eine Panne. Das würde mich nicht wundern. Auf jeden Fall kann ihm alles Mögliche dazwischengekommen sein.«

»Ja, natürlich.« Linda war aufgestanden. Mrs Weir hatte sie entmutigt. Eigentlich hätte sie jetzt die Begegnung mit ihrem Arbeitgeber schon hinter sich haben sollen. Zumindest hätte sie dann gewusst, woran sie war. Stattdessen saß sie hier fest, während draußen die Dunkelheit hereinbrach.

»Mein Mann ist mit dem Lieferwagen nach Amber gefahren, sonst hätte er Sie im Handumdrehen hingebracht, aber so gehen Sie am besten gleich los. Nicht, dass ich Sie loswerden will. Wenn das Telefon funktionieren würde, hätte ich Batley angerufen, aber vorgestern hatten wir hier einen kräftigen Sturm. Da ist ein Teil der Steilküste abgestürzt, und ein paar Telefonmasten hat es auch erwischt. Bis morgen müsste alles wieder in Ordnung sein, aber das hilft uns heute nichts.«

Während Mrs Weir zur Tür voranging, plapperte sie über die Schulter gewandt weiter. »Zum Glück ist Ihr Gepäck angekommen: ein großer und zwei kleinere Koffer. Die gehören doch Ihnen, oder?«

»Da bin ich aber wirklich froh. Immerhin etwas!« Linda blickte lachend in Mrs Weirs großes Mondgesicht. »Und Mr Batley hat die Sachen mitgenommen?«

»Ja. Heute Nachmittag schon.«

Die Tatsache, dass ihr Gepäck bereits an seinem Bestimmungsort angelangt war, hellte Lindas Stimmung deutlich auf. Sie verabschiedete sich von der gesprächigen Mrs Weir und Katie mit dem Versprechen, sie bald zu besuchen. Die beiden hatten sie bis zur Ecke des zweiten Hauses begleitet, in dem sich ein Geschäft befand, dessen Läden aber geschlossen waren. »Sie können sich nicht verlaufen«, rief Mrs Weir ihr nach, »folgen Sie immer nur der Straße.«

Mit schnellen Schritten ging Linda bis ans Ende der Mauer, die eine Art Promenade vom Strand abgrenzte. Als sie sich umwandte, standen Mrs Weir und Katie immer noch da und sahen ihr nach. Sie winkte, und die beiden winkten eifrig zurück. Wirklich nette Leute …

Am Ende der Promenade wandte sich die Straße landeinwärts und stieg steil an. An einer Stelle führte sie durch eine Felsspalte, die so eng war, dass Linda sich fragte, wie sich ein Auto dort hindurchzwängen sollte. Sie ging hastig weiter, bis die Straße breiter wurde. Ehe sie es sich versah, stand sie oben auf der Steilküste. Links von ihr lag das grüne Meer, über dem am Horizont ein feurig roter Streifen glühte, ein Widerschein des Sonnenuntergangs. Obwohl das Bild von solch atemberaubender Schönheit war, dass sie für einen Augenblick gedankenverloren dastand, war ihr klar, dass ihr nicht viel Zeit blieb. Bis zu diesem Punkt hatte sie kaum fünf Minuten gebraucht, aber wenn es bis zur Farm wirklich zwanzig Minuten waren, wie Mrs Weir gesagt hatte, musste sie sich sputen, wenn sie diese vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollte.

Allerdings stand sie nun vor einem Problem, das sie fast zur Umkehr getrieben hätte. Auf der Straße sollte sie bleiben, hatte Mrs Weir gesagt, aber auf welcher Straße? Vor ihr gabelte sich der Weg. Auf der einen Seite wand er sich gefährlich nah am Rand der Steilküste entlang, wie sie nicht ohne Schaudern feststellte. Dieser Pfad wurde rechts von einem Stacheldrahtzaun gesäumt, der vermutlich verhindern sollte, dass das Vieh in die Tiefe stürzte. Das konnte wohl kaum die Straße sein. Die andere Abzweigung war nicht viel mehr als ein Feldweg, aber das ungepflegte Gras an seinen Rändern zeigte Reifenspuren, während der Küstenpfad nicht so aussah, als wäre er befahren. Nur ein Selbstmörder würde sich mit einem landwirtschaftlichen Fahrzeug dorthin wagen. Ohne noch länger zu zögern, bog sie nach rechts ab. Schon nach wenigen Schritten war sie davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Der Weg verbreiterte sich zu einer Art Fahrstraße, die offenbar einigermaßen gepflegt wurde, denn hie und da waren Schlaglöcher mit Schotter aufgefüllt worden.

Zwanzig Minuten nachdem sie sich von Mrs Weir verabschiedet hatte, war sie immer noch auf der Straße unterwegs, und weit und breit war kein Hof zu sehen. In der Magengegend spürte sie einen Anflug von Panik. Bald würde es völlig dunkel sein, sie hatte keine Taschenlampe bei sich, ihr war kalt, und ihr leichter Koffer fühlte sich an, als wäre er mit Blei gefüllt. Zum Glück trug sie wenigstens flache Schuhe. Der gewundene Weg führte nun steil nach unten. Es kam ihr vor, als würde sie wieder zur Bucht von Surfpoint Bay hinabsteigen, aber das konnte nicht sein, schließlich führte die Straße von Küste und Bucht weg ins Landesinnere. Dann, nach einer scharfen Kehre, sah sie ein Licht. Von Erleichterung überwältigt, blieb sie stehen und biss sich auf die bebende Unterlippe. Sie war endlich am Ziel. Direkt unter ihr lag ein Bauernhaus mit erleuchteten Fenstern. Obwohl sie nur die Umrisse der Gebäude erkennen konnte, war sie überzeugt davon, dass es sich um ein schönes Anwesen handelte. Um ein Haar wäre sie die letzten Meter gerannt.

Etwas gemesseneren Schrittes überquerte sie eine Straße, die den Küstenweg schnitt, und ging durch das weiße Tor über einen mit großen Steinplatten gepflasterten Pfad auf eine breite Treppe zu, die zu einer Terrasse vorne am Haus führte. Die Haustür bestand aus massiver, verwitterter Eiche und schimmerte in der Dämmerung pechschwarz.

Als sie nach dem Türklopfer griff, hörte sie drinnen im Haus Lachen. Eine Frau rief einen Namen. »Rouse! Rouse!«

Sie hob den Türklopfer und ließ ihn schüchtern fallen. Das Lachen der Frau verstummte, und es wurde still. Dann öffnete sich die Tür.

Im Gegenlicht konnte Linda das Gesicht der Frau nicht erkennen. Sie sah nur, dass sie groß war, so groß wie sie selbst und noch dünner, aber ebenso dunkel wie Linda blond war.

»Ja?«, fragte sie überrascht.

»Ich bin … ich bin Linda Metcalfe.«

Die Frau trat langsam vor und sah ihr ins Gesicht. »Suchen Sie jemand?«

Linda wurde es durch und durch elend zumute. Es war die falsche Farm!

»Was ist los?« Die tiefe, belegte Stimme passte zu dem Mann, der nun hinter der Frau in der Tür erschien. Er schaltete die Außenbeleuchtung ein.

Linda blinzelte ins Licht. »Ich … ich fürchte, ich habe mich verlaufen«, stammelte sie in sein schweres rotes Gesicht hinein.

»Ja? Wollten Sie zur Bucht, nach Surfpoint Bay?«

»Nein, daher komme ich gerade. Ich war unterwegs nach Fowler Hall und muss die falsche Abzweigung genommen haben.«

Obwohl das Paar vor ihr keine Regung zeigte, spürte Linda sofort, wie entsetzt die beiden waren. Sie hatte keine Ahnung, wie lange das Schweigen dauerte, aber es wurde von einer weiteren Männerstimme im Haus durchbrochen. »Wo seid ihr?«

»Komm mal kurz her.« Die Frau sprach über ihre Schulter, ohne Linda aus den Augen zu lassen. Dann erschien ein junger Mann, der so schlank, dunkel und groß war, dass er nur der Sohn der Frau sein konnte. »Die junge Dame hat sich verlaufen. Sie wollte nach … da oben.« Die letzten beiden Worte schienen ihr nur schwer über die Lippen zu kommen, und sie unterstrich sie mit einer bedeutungsvollen Seitwärtsbewegung ihres Kopfes.

Der junge Mann stand nun direkt vor Linda. Die Überraschung in den kecken dunklen Augen, die sie abschätzend musterten, war nicht zu übersehen.

Dann herrschte erneut Schweigen.

»Wieso haben Sie denn diesen Weg genommen? Sie hätten an der Küste entlanggehen müssen.« Die Stimme des älteren Mannes klang rau und schroff. Als Linda erwiderte, die andere Abzweigung hätte ihr zu gefährlich ausgesehen, wechselten die drei rasche Blicke.

Dann schien die Frau die Sache in die Hand zu nehmen. »Sie kommen besser herein«, meinte sie, »bis wir uns was überlegt haben. In der Dunkelheit schaffen Sie es nicht bis dahin, zumindest nicht allein.« Damit drehte sie sich um und ging ins Haus, während die Männer zu beiden Seiten der Tür stehen blieben, bis Linda ihr gefolgt war. Als sie zwischen ihnen hindurchging, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl, und sie senkte den Blick, als hätten sich die beiden vor ihr entblößt.

Zunächst gelangte sie in einen mit Glas abgetrennten Vorraum und von dort in eine große Halle, die offenbar als Wohnzimmer genutzt wurde. Der Raum war so schön, dass sie überlegte, ob sie ihre Straßenschuhe ausziehen sollte. Rote Läufer auf einem hellen Eichenboden, weiße Wände, die von scharlachroten Samtvorhängen unterbrochen wurden. Vor dem offenen Kamin, in dem ein munteres Feuer flackerte, stand eine niedrige Couch. Beherrscht wurde der Raum von einer Treppe aus massiver Eiche, die auf der rechten Seite der Halle zu einer Galerie an der hinteren Wand führte. Linda fühlte sich an eine teure Weihnachtskarte erinnert. Irgendwie schienen die Bewohner des Hauses nicht recht dazu zu passen, zumindest nicht die beiden Männer. Nur die Frau konnte für dieses Zimmer verantwortlich sein, das ebenso farbenprächtig und gleichzeitig elegant wie sie selbst war. Sie trug ein rotes Wollkleid und hatte glattes, schwarzes Haar, das sie wie Linda im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt hatte.

»Setzen Sie sich. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Die Frau sah auf den Tisch mit dem Teegeschirr neben der Couch.

»Nein, danke«, erwiderte Linda, während sie sich auf dem Sofa niederließ. »Ich habe im Dorf Tee getrunken. Im Gasthaus.«

»Warum hat Weir Sie denn nicht gefahren?«, mischte sich der Ältere der beiden Männer ein.

Linda blickte auf. »Er war mit dem Auto unterwegs.«

»Typisch … Was treibt Sie überhaupt her? Mit den Batleys haben Sie wohl nichts zu schaffen, oder?«

»Nein, ich will auf die Landwirtschaftsschule und mache vorher bei Mr Batley ein einjähriges Praktikum.«

Die drei starrten sie an. Linda sah von einem zum anderen.

»Gütiger Himmel!«, rief der Mann aus.

Sie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber ihr blieb auch keine Zeit zum Nachdenken, denn in diesem Augenblick wandte sich die Frau an ihren Sohn. »Du wirst sie mit dem Auto hinfahren müssen.«

»Waaas?«, fragte er unwillig. Dann schien er zu merken, wie das auf ihren ungebetenen Gast wirken musste. »Tut mir Leid«, sagte er hastig zu Linda, »aber wissen Sie …«

»Rouse! Komm bitte mal kurz her.« Die Frau ging durch die breite Halle auf eine Tür zu, aber der junge Mann folgte ihr erst, als sein Vater ihn mit einer brüsken Kopfbewegung dazu aufforderte.

Dafür nahm der ältere Mann, der Kniebundhosen, Tweedjacke und Hausschuhe trug, nun seinen Platz vor dem Kamin ein. Er stellte sich mit dem Rücken zum Feuer und verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Wissen Sie, worauf Sie sich einlassen? Landwirtschaft ist in dieser Grafschaft Knochenarbeit, vor allem in unserer Gegend hier.«

»Ich bin gerne an der frischen Luft und an jedes Wetter gewöhnt.«

»Schon möglich, aber unser Wetter hat es in sich.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß, von ihrer hellbraunen Pelzmütze bis zu ihren Schuhen. Offenbar fand er ihren Anblick so amüsant, dass er anfing zu kichern. Sein unterdrücktes Glucksen klang so gehässig, dass Linda die Röte in die Wangen stieg. Und dann warf er zu ihrer Überraschung den Kopf zurück und lachte laut los, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Linda stand auf. Sie war verlegen und verletzt, vor allem aber verärgert. Das schien ihr deutlich ins Gesicht geschrieben zu sein, denn als die Frau ins Zimmer gelaufen kam, wies sie ihren Ehemann scharf zurecht. »Hör auf, John!« Dann wandte sie sich an Linda. »Regen Sie sich nicht auf, er lacht nicht über Sie.«

Linda stand stocksteif da und starrte den Grobian an. Der erwiderte ihren Blick. »Will ein Arbeitspferd und bekommt ein Vollblutfüllen!«, prustete er. Linda war klar, dass sie damit gemeint war.

»John!«

Er wedelte wegwerfend mit der Hand und ignorierte seine Frau. »Auf Fowler Hall gibt es wirklich nur Dummköpfe.«

Bis jetzt waren Linda die Leute, denen sie auf ihrer Reise durch die Grafschaft begegnet war, allesamt sympathisch gewesen, aber nun schlug die angenehme Stimmung um. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie fast etwas wie Hass fühlte, was sie ebenso entsetzte wie schockierte. Den Mann konnte man nur bösartig nennen. Er glaubte, ihr Arbeitgeber hätte sich eine nutzlose Last aufgeladen, und freute sich darüber. Nun, sie würde es ihm schon zeigen. Am liebsten hätte sie ihre Fähigkeiten an Ort und Stelle unter Beweis gestellt, aber selbst wenn sich ihr die Gelegenheit dazu geboten hätte, hätte sie unter seinem zynischen Blick wahrscheinlich jämmerlich versagt.

»Mein Sohn Rouse fährt sie hin.«

Linda wandte sich zu der Frau um, brachte aber vor Wut kein Wort heraus.

»Du weißt doch, wie das ausgehen wird.« Jetzt sprach der Mann mit seiner Frau. Seine Stimme klang brüchig, wenn er nicht lachte.

»Er wird sie oben am Tor absetzen«, erwiderte diese, ohne ihn anzusehen.

Die Frau führte sie über die Terrasse, die Treppe hinunter und durch den Garten zur Straße, wo ein kleines Cabriolet wartete. Rouse, der Sohn, saß bereits am Steuer. Er stand nicht auf, um ihr die Tür zu öffnen. Das übernahm seine Mutter, die Linda bedeutete einzusteigen. Als sie die Tür hinter ihr zugeschlagen hatte, verabschiedete sie sich mit einem wortlosen Nicken, und der Wagen brauste davon.

Linda, die immer noch vor Wut kochte, saß schweigend im Auto, und es dauerte einige Minuten, bis ihr Fahrer das Wort an sie richtete. »Wir heißen Cadwell«, sagte er unvermittelt, während er rasant um eine scharfe Kurve bog. »Und Sie?«, setzte er hinzu, als sie nicht antwortete.

»Linda Metcalfe.« Sie ließ sich deutlich anmerken, dass sie keine Lust auf ein Gespräch hatte.

Hinter der Biegung schlug ihnen ein scharfer Wind ins Gesicht. »Ich heiße Rouse, aber das wissen Sie wahrscheinlich schon«, rief er. Sie ging nicht darauf ein, denn sie war vollauf damit beschäftigt, nach Luft zu schnappen und ihre Mütze festzuhalten.

Unten im geschützten Tal hatte eine leichte Brise geweht, aber jetzt fuhren sie so steil bergauf, dass das Auto an einer Stelle nur noch im niedrigsten Gang dahinkroch. Dann rollten sie plötzlich auf einer Hochebene dahin und hatten das Tal hinter sich gelassen. Irgendwann meinte sie die Hauptstraße zu erkennen, auf der sie mit dem Bus nach Surfpoint Bay gefahren war, war sich aber nicht sicher. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass sie sich wohl getäuscht hatte. Wenn Fowler Hall zu Fuß nur zwanzig Minuten von der Bucht entfernt war, konnten es mit dem Auto nur wenige Minuten sein.

Sie fuhren immer weiter, ohne ein Wort zu wechseln. Nach etwa einer Viertelstunde richtete sich Linda hoch auf. »Wohin fahren wir?«, wollte sie wissen.

»Nach Fowler Hall, wo Batley wohnt. Dahin wollen Sie doch, oder?«

»Ja, aber man hat mir gesagt, von der Bucht aus wäre das nur ein kurzer Fußmarsch.«

»Schon, aber nicht auf dieser Route. Keine Sorge, ich habe nicht vor, Sie zu entführen.«

»Das habe ich auch nicht angenommen.« Ihr Ton war schneidend. Die dunklen Augen betrachteten sie von der Seite, und sie begriff, dass er sich über sie lustig gemacht hatte.

»Woher kommen Sie?«, fragte er nach einem Augenblick.

»Aus Sussex.«

»Oh, aus dem süßen Sussex an der See?«

Diese Bemerkung kam ihr so albern vor, dass sie ihn keiner Antwort würdigte.

Dann hielt der Wagen mit einem Ruck an, und er drehte sich langsam zu ihr um. »Das war idiotisch von mir. Ich war noch nie in Sussex, ich habe den Spruch nur irgendwo gehört.«

Dieser Anflug von Bescheidenheit stimmte sie milde. »Wenn Sie noch nie dort waren, sollten Sie es unbedingt besuchen. Es ist eine wunderschöne Gegend.«

»Ja, das habe ich gehört. Auf jeden Fall sind Sie da.«

Linda stieg aus und sah sich um, aber im Lichtkegel der Scheinwerfer entdeckte sie nur ein Tor mit fünf Querlatten, wie man es zur Absperrung von Feldern verwendet.

»Wo ist das Haus?«

In diesem Augenblick packte eine Böe ihre Mütze und fuhr ihr um die Beine. Er nahm sie am Arm, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor, während sie mit der einen Hand ihren Mantel und mit der anderen ihre Mütze festhielt. Dann führte er sie zum Tor und deutete in die Dunkelheit. »Da hinten sind die Gebäude. Sehen Sie den Lichtschimmer?«

Das Licht war so schwach, dass es ihr ohne diesen Hinweis nicht aufgefallen wäre, aber gerade als sie es entdeckt hatte, verschwand es.

»Das Haus liegt dahinter. Sieht so aus, als wäre jemand im Hof. Um dieses Feld führt ein Weg direkt zum Hof. Haben Sie eine Taschenlampe?«

»Nein, zumindest nicht bei mir.«

»Hier …« Er holte eine Taschenlampe aus der Tasche seines Dufflecoats. »Nehmen Sie die.«

»Oh, vielen Dank.«

Er schob den Riegel am Tor zurück, zögerte jedoch einen Augenblick, bevor er es öffnete. »Viel Glück«, meinte er dann.

Erneut fühlte Linda, wie sie weich wurde. Zumindest klang es, als würde er ihr — anders als sein Vater – wirklich alles Gute wünschen. Sie streckte die Hand aus. »Vielen Dank und auf Wiedersehen.«

Die Finger, die sich um die ihren legten, waren hart, der Griff fest. »Meine Taschenlampe will ich aber zurück.« Er lächelte.

»Natürlich, ich bringe sie Ihnen.«

Er ließ ihre Hand los. »Nein, besser nicht.« Dann setzte er hastig hinzu: »Nicht, dass Sie nicht willkommen wären. Sie dürfen uns nicht nach dem Verhalten meines Vaters von heute beurteilen. Ich sage das nur Ihretwegen. Es ist besser für Sie, wenn Sie keinen Kontakt mit uns haben.«

»Warum? Sind Sie nicht mit Mr Batley befreundet?«, fragte sie.

»Das werden Sie noch früh genug herausfinden. Aber keine Sorge, ich bekomme meine Taschenlampe schon zurück. Ich werde nach Ihnen Ausschau halten.«

Sein Ton klang ihr ein wenig zu vertraulich. »Bitte nicht, ich schicke sie mit der Post«, hätte sie am liebsten gesagt, ließ es dann aber. »Vielen Dank und auf Wiedersehen«, verabschiedete sie sich erneut.

Er sagte nichts mehr, sondern stieß nur das Tor für sie auf. Als sie wenige Minuten später um die Ecke des Feldes bog, sah sie, dass das Auto immer noch dort stand; allerdings zeigten die Scheinwerfer nun in die entgegengesetzte Richtung. Sie fand es tröstlich, dass er offenbar wartete, bis sie den Hof erreicht hatte.

Das Licht der Taschenlampe fiel auf eine Gebäudegruppe und einen bogenförmigen Durchgang. Bevor sie diesen passierte, blickte sie noch einmal zurück, aber jetzt war von den Scheinwerfern nichts mehr zu sehen. Als sie den Hof betrat, fragte sie sich einen Augenblick lang, ob Batley wohl Hunde hielt. Sie mochte Hunde, aber die waren normalerweise von Fremden nicht sehr angetan. Kurz darauf hörte sie ein gedämpftes Bellen, das eindeutig aus einem geschlossenen Raum kam, und seufzte erleichtert auf.

Sie richtete ihre Lampe auf den vertrauten Anblick eines Wirtschaftshofes und stellte erfreut fest, wie sauber er war. Sie hatte gehört, dass einige dieser abgelegenen Farmen in entsetzlichem Zustand waren. Aus einer Tür rechts im Hof fiel ein wenig Licht. Mit pochendem Herzen ging sie darauf zu, hob nach kurzem Zögern den Riegel an und stieß die Tür auf.

Vor ihr lag ein Kuhstall, in dem sich nur ein einziges Rind befand. Ein warmer, süßlicher Geruch, der sie an Weihrauch erinnerte, schlug ihr entgegen. Auf einem Haufen frischen Strohs lag eine kleine Galloway-Kuh. Das Tier ruhte auf der Seite, und auf dem Boden kniete mit dem Rücken zu Linda ein Mann, der ihm über das Gesicht strich und beruhigend vor sich hin murmelte. Es klang, als würde er mit einem kranken Kind reden. »Bist du das, Michael?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

Linda hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte.

»Hast du Onkel Shane gefunden?«

Als sie hustete, fuhr er blitzartig herum. Mit offenem Mund rappelte er sich hoch und starrte sie an, als wäre sie eine Erscheinung. Schließlich fuhr er sich mit der Hand über die Augen und das Gesicht.

»Tut mir Leid …«, nuschelte er zwischen den Fingern hindurch. »Ich hatte Sie völlig vergessen … wegen Sarah hier.« Er deutete mit dem Kopf auf die Kuh.

»Das macht nichts.« Erleichtert ging sie auf ihn zu. Das also war Mr Batley. Er entsprach so gar nicht dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte und das seit ihrer Begegnung mit den Cadwells recht unheimliche Züge angenommen hatte. Zum einen war er nicht so alt, wie sie erwartet hatte, vermutlich noch keine fünfunddreißig. Er war groß, bestimmt einen Meter fünfundachtzig, und breit gebaut, aber ohne ein Gramm Fett am Leib. Als sie in sein Gesicht blickte, fiel ihr auf, wie ausgemergelt er wirkte. Er sah aus, als hätte er eine schwere Krankheit hinter sich. Sein Haar war dunkel, doch nicht so schwarz wie das der Cadwells. Auffällig an ihm waren die Augen, die sie nun erneut durchdringend anstarrten. Sie waren von einem klaren Grau und ohne jede Wärme. Schwer vorstellbar, dass sie dem Mann gehörten, der so liebevoll auf die Kuh eingeredet hatte. Sein Blick erinnerte sie an Mr Cadwell. Panik stieg in ihr auf, als sie sich an dessen Worte erinnerte. Will ein Arbeitspferd und bekommt ein Vollblutfüllen.

Nur gut, dass sie auf der Farm in Crowborough ein wenig über Rinder gelernt hatte. Hoffentlich konnte sie so den ersten Eindruck korrigieren. »Sie halten Galloway-Rinder?«, erkundigte sie sich.

»Ja.« Er sah sie immer noch an.

»Ist es ihr erstes Kalb?«

»Ja.« Bei dieser Frage wandte er sich erneut dem Tier zu. Schon wollte er niederknien, als er wieder herumfuhr. »Wie sind Sie denn hergekommen? Waren Sie nicht am Haus?« Es klang, als würde er laut denken.

»Nein, ich bin von der Straße her über das Feld gegangen.«

»Wer hat Sie hergefahren? Mr Weir?«

»Nein.« Als sie ihm in die Augen sah, hatte sie das Gefühl, dass sie den Namen Cadwell besser nicht erwähnte, aber sie wusste nicht, wie sie ihre Ankunft sonst erklären sollte. Schließlich griff sie zu einer Ausflucht. »Ich hatte mich verlaufen und bin am falschen Haus gelandet. Die Leute haben mich hergebracht.«

Es folgte ein Schweigen, das sie sehr an die Stille erinnerte, die bei den Cadwells auf die Erwähnung des Namens »Batley« gefolgt war. Er hatte sich nun ganz aufgerichtet und stand stocksteif vor ihr.

»Wie hießen die Leute, die sie hergefahren haben?«

Sie schluckte einmal, bevor sie sich zu einer Antwort durchrang. »Cadwell, glaube ich.«

War es Hass, was sie in seinem Gesicht las? Schmerz, Wut oder alles auf einmal? Die Verwandlung, die mit ihm vorging, war so beängstigend, dass sie sich energisch ins Gedächtnis rufen musste, dass sie nichts zu befürchten hatte.

In diesem Augenblick brüllte die Kuh auf und warf sich unruhig auf dem Stroh hin und her. Lindas Herz raste, als sie beobachtete, wie Batley die Augen schloss, mühsam schluckte und sich schließlich abwandte, um sich erneut neben das Rind zu knien. Offenbar ging ihre Fantasie mit ihr durch.

Hilflos sah sie zu, wie seine Hände über das Tier wanderten. Mehr aus Nervosität als aus echter Hilfsbereitschaft – schließlich hatte sie noch nie eine Kuh kalben sehen – fragte sie: »Kann ich … kann ich etwas tun?«

Es dauerte so lange, bis er antwortete, dass sie schon dachte, er hätte sie nicht gehört oder wollte nicht antworten. »Sie werden … sich … schmutzig machen«, stieß er schließlich zwischen den Zähnen hervor.

»Das ist mir egal.« Ihre Erleichterung war ihr deutlich anzuhören. Schon hatte sie Mütze und Mantel abgelegt und beides an einen Nagel an der Wand gehängt. Seine Augen wanderten in ihre Richtung, als sie auf das Stroh trat, blieben aber am Rock ihres weichen blauen Wollkleids hängen.

»Da drüben hängt eine Schürze«, stieß er widerwillig hervor, wobei er mit der Hand hinter sich in eine Ecke des Stalles deutete.

Folgsam nahm sie ein großes Stück sauberes Sackleinen von einem Nagel und band es sich um die Taille, bevor sie erneut die Box betrat.

»Nehmen Sie ihren Kopf. Reden Sie leise, aber ohne Pause mit ihr. Sie heißt Sarah, und es geht ihr nicht gut.«

Als sie seine abgehackte Stimme hörte, wurde ihr klar, wie aufgewühlt er sein musste. Er stand auf und ging zu einem dampfenden Eimer, der vor der Box stand. Nachdem er seine Arme bis zu den Ellbogen in die weißliche Flüssigkeit getaucht hatte, nahm er eine Feile von einer Schale auf einem Regal und reinigte mit raschen, methodischen Bewegungen seine Nägel, bevor er sich erneut dem Tier zuwandte.

Linda kniete sich ins Stroh und berührte die Kuh am Kopf, zögerte aber beim Klang ihrer eigenen Stimme. Doch dann vergaß sie sich selbst angesichts des Wunders, das sich vor ihren Augen ereignete.

Mit sanften, leisen Worten sprach sie auf Sarah ein und liebkoste deren Kopf, als hätte sie sie selbst großgezogen und als wäre der Mann, der ihr beim Kalben half, ihr Onkel Chris gewesen. »Ganz ruhig, Sarah, alles wird gut. Brave Sarah, jetzt hast du es fast geschafft.« Als sie aufblickte, hielt ihr Arbeitgeber zwei bebende kleine Hufe in der Hand, die Vorderbeine des Kalbes. Sie konnte nur teilweise sehen, was er tat, aber offenbar rollte er den Hautsack zurück, der das Kalb einhüllte. Es kam ihr vor, als würde er das Kleine aus einem Strumpf herausziehen. Sarah wand sich, und als er beruhigend auf sie einsprach, konnte Linda kaum glauben, dass diese Stimme dem finsteren Mann gehörte, dem sie vor wenigen Minuten gegenübergestanden hatte.

In diesem Augenblick flog die Stalltür auf. »Großer Gott, Ralph, ist ihre Zeit schon da?«, rief jemand mit starkem irischem Akzent. »Ich war oben …«

»Leise! Sei still!«

Obwohl Batley die Stimme nicht erhoben hatte, waren seine schneidenden Worte wirkungsvoller als jeder gebrüllte Befehl.

Ein alter Mann mit grauem Haar und ein kleiner Junge, der nicht älter als sieben oder acht sein konnte, näherten sich auf Zehenspitzen der Box. Wie gebannt starrten die beiden Linda an, ohne sich groß um die kalbende Sarah zu kümmern.

Verblüfft klappte der Alte den Mund auf. »Heilige Mutter Gottes!«, murmelte er schließlich.

»Onkel Shane!« Auch diesmal war Batley nicht laut geworden.

»Ist ja gut, Ralph!«, flüsterte der alte Mann zurück. »Ich bin ja schon still.«

Linda spürte unter ihren Händen, wie Sarah sich vor Schmerzen wand. Mitleid überwältigte sie, und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht aufzustöhnen.

»Reden Sie weiter«, drang eine leise Stimme an ihr Ohr.

Ihre eigenen Gefühle waren vergessen, als sie in Sarahs sanfte, schmerzerfüllte Augen blickte, aber ihre Stimme klang immer noch unsicher.

Als sie Ralph Batley fluchen hörte, hob sie besorgt den Kopf.

»Was ist los, Ralph?«, flüsterte der alte Mann.

»Der Kopf ist nach hinten gedreht«, lautete die Antwort.

»Heilige Mutter Gottes, brauchen wir etwa den Tierarzt?«

Er erhielt keine Antwort auf seine Frage. Fasziniert sah Linda, wie Batley seinen Arm vorsichtig bis zum Ellbogen in den Körper der Kuh schob.

Mit leisen, raschen Worten sprach sie auf Sarah ein, strich ihr über die schweißnasse Stirn und hatte sich selbst und ihre Umgebung dabei vollständig vergessen. »Ist ja gut, Liebes, alles kommt in Ordnung. Gleich ist es vorbei.«

Plötzlich gab Sarah einen sehr menschlich klingenden Seufzer von sich und sank in sich zusammen. Ihre Muskeln entspannten sich. Als sie erneute aufseufzte, tat Linda es ihr mit einem erleichterten Lächeln gleich.

Dann wischte sie sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Gesicht.

»Nein, so was Hübsches. Die Kleine ist eine richtige Schönheit, Ralph«, jubelte der Alte.

Unterdessen gab Ralph Batley Linda mit einer Kopfbewegung zu verstehen, sie solle ihren Platz räumen. Nachdem er das Neugeborene mit einem Bündel Stroh abgewischt hatte, legte er es der Mutter neben den Kopf. Als Sarah mit ihrer schwarzen Zunge begann, ihre Tochter liebevoll abzulecken, war Linda glücklich wie selten in ihrem Leben. Zum ersten Mal hatte sie eine Kuh kalben sehen. Sie wusste, dass sie etwas Einzigartiges erlebt hatte.

Als sie die Schürzenbänder löste, merkte sie, dass der Junge und der alte Mann sie unverwandt anstarrten. Sorgfältig bürstete sie das Stroh von dem Sackleinen, bevor sie die Schürze wieder an den Nagel hängte und nach Mütze und Mantel griff. Dann wandte sie sich schüchtern um, sah die beiden ihrerseits prüfend an und lächelte. Der alte Mann erwiderte ihr Lächeln sofort, aber der Junge blieb ernst und sah sie weiter fragend an, als hätte er noch nie jemanden wie sie gesehen.

»Wie sind Sie denn hergekommen? Hat Weir Sie gefahren?« Der alte Mann strahlte sie durch das Haargestrüpp an, das sein Gesicht zum Großteil bedeckte.

Bevor Linda antworten konnte, hörte sie Ralph Batleys scharfe Stimme hinter sich. »Das ist mein Onkel, Mr MacNally, und das hier« – er griff an ihr vorbei und legte dem Jungen die Hand auf den Kopf – »ist mein Neffe Michael.« Bevor sie sich dazu äußern konnte, sprach er weiter. »Onkel, bring Miss Metcalfe nach oben zum Haus. Ich komme gleich nach.«

»Geht in Ordnung, Ralph. Würden Sie mir bitte folgen?« Damit trat er zurück und wies ihr mit weit ausholender, geradezu höfischer Geste den Weg. Am liebsten hätte sie gelacht, der Alte gefiel ihr. Batley selbst schien kein besonders fröhlicher Mensch zu sein, aber sein Onkel sprudelte geradezu über vor Lebensfreude. Linda fühlte sich von der Wärme, die von ihm ausging, angezogen.

Der kleine Michael ging vor ihr zur Stalltür, aber als Ralph Batley in scharfem Ton seinen Namen rief, trat er sofort zur Seite und ließ sie zuerst durch die Tür gehen, die Shane für sie aufhielt.

Im Hof zerrte der Wind so heftig an ihnen, dass MacNally sie mit der Hand am Ellbogen nahm, um sie zu stützen. »Sind Sie schon lange hier?«, brüllte er. »Ich war an der oberen Weide, der Zaun ist umgestürzt.«

»Nein, ich bin eben erst angekommen.«

»Dann waren Sie noch gar nicht am Haus?« Die Überraschung war ihm deutlich anzuhören.

»Nein.«

»Deswegen haben Sie Ihren Koffer noch dabei«, stellte er verblüfft fest. »Den geben Sie am besten mir.« Er streckte die Hand aus, und sie ließ ihn sich widerspruchslos abnehmen.

»Hat Weir Sie hergefahren? Das haben Sie mir noch nicht verraten.«

»Nein, Mr Weir war unterwegs.«

»Dann sind Sie erst angekommen, als es schon dunkel war?«

»Ja, ich habe mich verlaufen und bin auf einer anderen Farm gelandet. Bei den …« Sie stockte. »Bei den Cadwells.« Besser, sie fasste sich so kurz wie möglich.

Der alte Mann blieb wie angewurzelt stehen und ließ ihren Ellbogen los, sodass sie nur mit Mühe das Gleichgewicht halten konnte. »Michael, nimm den Koffer und geh vor.« Damit übergab er dem Kind Koffer und Lampe. »Ab mit dir.« Erst als der Kleine verschwunden war, sprach er weiter. »Sagen Sie bloß nicht, dass einer der Cadwells Sie hergefahren hat.«

»Doch, der junge Mann. Ich glaube, Rouse ist sein Name.«

»Das haben Sie doch nicht etwa Ralph erzählt?«

»Ich fürchte schon. Ich sah keinen Grund, es für mich zu behalten.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber wie sollte sie erklären, dass sie Batley nicht hatte verschweigen können, wie sie zur Farm gelangt war?

»Heiliger Vater!«

»Was habe ich denn falsch gemacht?« Ihre Stimme bebte ein wenig. »Ich wusste nicht, dass Mr Cadwell und Mr Batley zerstritten sind. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unangenehm mir das ist, hoffentlich habe ich nicht …«

»Ist schon gut, Mädchen, woher sollten Sie das auch wissen. Jetzt gehen wir besser ins Haus … Ich weiß nicht recht, wie Maggie das aufnehmen wird, Mr Batleys Mutter. Kommen Sie.« Er nahm sie erneut am Arm. »Ich bringe Sie zur Vordertür, sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich Besucher zum Hintereingang führe.«

Linda widersprach nicht, auch wenn sie genau genommen kein Besuch war. Zu sehr bedrückte sie der Gedanke, dass sie noch vor ihrer Ankunft in eine Fehde verwickelt worden war, die den Empfang, der ihr zuteil wurde, beinträchtigen würde.

Sie gingen nun über eine breite, mit Steinplatten ausgelegte Terrasse, und der Wind schlug ihnen voll ins Gesicht. Als sie das Vordach erreichten, blieben sie für einen Augenblick stehen und rangen nach Atem. »Ich zieh meine Stiefel aus«, meinte der alte Mann dann. »Maggie erwürgt mich, wenn ich mit Stiefeln ins Haus komme.« Dann beugte er sich zu ihr. »Putzen Sie Ihre Schuhe hier an der Matte ab, aber gründlich«, flüsterte er ihr zu. »Der Lehm hängt sich in die Sohlen.«

Sie gehorchte und kam sich dabei vor wie ein Kind, während er auf Strumpfsocken über die kalten Steinplatten zur Tür hüpfte. Als er diese öffnete, war ihr auf den ersten Blick klar, warum ihre Schuhe makellos sauber sein mussten. Der Boden glänzte, wie sie es bis jetzt nur in der Werbung gesehen hatte. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass die Eingangshalle der der Cadwells glich. Nicht nur wegen des großen offenen Kamins, sondern auch wegen der Wendeltreppe, die hier allerdings an der linken Seite des Raumes zu einer Galerie führte, die über die gesamte Breite der hinteren Wand reichte. Damit hatte die Ähnlichkeit jedoch ein Ende. Offenkundig wurde dieser Raum als Familienzimmer genutzt. Sie fühlte sich an Mrs Weirs Stube erinnert, die aber viel kleiner und daher gemütlicher gewesen war. Ein langer, schwarzer Refektoriumstisch aus Eiche stand längs im Raum. Mit dem Rücken dazu wartete eine mittelgroße Frau mit grauem Haar auf sie, auf deren Wangen rote Flecken brannten. Ihre braunen Augen waren rund und aufgeweckt und beobachteten sie aufmerksam. Linda blieb stehen.

Von den Cadwells hatte sie jeder auf seine eigene Weise angesehen. Ralph Batleys abschätzender Blick hatte unangenehme Überraschung verraten. Der alte Shane hatte sie sehr erfreut begrüßt, dem Jungen war sie wohl ein Rätsel. Aber diese Frau war anders. Linda spürte, wie sie von Kopf bis Fuß gemustert wurde. Offenbar fiel es Maggie schwer, sich ein Urteil über sie zu bilden. Der kleine Michael schien sie bereits ein wenig vorbereitet zu haben, denn er stand neben ihr und kaute auf seinem Daumennagel herum. Dabei warf er von Zeit zu Zeit Linda einen Blick zu, ohne den Kopf zu heben.

»Da ist sie, Maggie«, verkündete Shane lautstark. »Hat sich in der Dunkelheit hierher durchgeschlagen.«

Die Frau kam nun auf Linda zu, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Tut mir Leid, dass Sie selbst herfinden mussten. Als Sie um zwei Uhr nicht dabei waren, dachte mein Sohn … Nun, die Kuh hätte er ohnehin nicht allein lassen können.« Ihre angenehme Stimme war voll und gleichzeitig weich. Bevor Linda ihr versichern konnte, dass das kein Problem sei, hatte sie sich bereits an den alten Mann gewandt. »Das ist deine Schuld. Wo warst du denn bloß? Du hättest sie abholen können.«

»Immer mit der Ruhe, Maggie. An der oberen Weide war der Zaun umgestürzt. Wenn ich den nicht repariert hätte, wären die Schafe weggelaufen.«

»Oh.« Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung wandte sie sich an Linda. »Kommen Sie herein, Sie sind bestimmt ganz durchgefroren. Geben Sie mir Ihren Mantel.«

Während Linda ihren Mantel auszog, trippelte Shane, der sie an einen alten Gnom erinnerte, zum Kamin. »Sie hat sich schon nützlich gemacht, Maggie, und beim Kalben geholfen«, erklärte er mit offenkundiger Begeisterung. »Ein schönes Kälbchen, obwohl der Kopf zuerst nach hinten gedreht war.«

»Sie haben beim Kalben geholfen?« Die Frau, die Lindas Mantel immer noch in der Hand hielt, blickte sie so ungläubig an, dass Linda ganz heiß wurde.

»Offenbar bin ich von der Rückseite auf den Hof gekommen«, erklärte sie zögernd. »Ich hatte das Licht im Stall gesehen.«

»Sie sind von hinten gekommen? Von der Hauptstraße?«

»Ja.«

»Oh.« Ein Lächeln milderte ihre strengen Züge, als sie Linda zunickte. »Dann hat Mr Weir Sie gebracht.«

»Nein.«