DIE ERPRESSER - Victor Gunn - E-Book

DIE ERPRESSER E-Book

Victor Gunn

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Lärmende Musik dröhnt aus dem Motorboot, das in der Nähe von London vor Anker gegangen ist. Die Besitzer der Silver Queen scheinen ein rauschendes Fest zu feiern. Doch niemand ist an Bord - bis auf zwei Tote....

Der Roman Die Erpresser von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1952; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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Victor Gunn

 

 

Die Erpresser

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 135

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE ERPRESSER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Lärmende Musik dröhnt aus dem Motorboot, das in der Nähe von London vor Anker gegangen ist. Die Besitzer der Silver Queen scheinen ein rauschendes Fest zu feiern. Doch niemand ist an Bord - bis auf zwei Tote....

 

Der Roman Die Erpresser von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1952; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1958.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DIE ERPRESSER

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Dr. Philip Harding lächelte zufrieden vor sich hin, während er den Zufahrtsweg des alten Landhauses hinabging. Es war bereits neun Uhr, aber er schien nicht ungehalten darüber, dass man ihn an diesem unfreundlichen Oktoberabend noch zu so später Stunde gerufen hätte. Mrs. Pilkington war sein wichtigster Patient - wichtig darum, weil sie ihre Rechnung pünktlich bezahlte. Die alte Dame konnte man nicht eigentlich krank nennen, Dr. Harding hielt sie sogar für sehr gesund. Aber sie gehörte zu jenen eigensinnigen Leuten, die nichts mit dem Staatlichen Gesundheitsdienst zu tun haben wollten. Mrs. Pilkington fühlte sich, erst dann richtig wohl, wenn sie glauben konnte, an einer schrecklichen, beunruhigenden Krankheit zu leiden.

Dr. Harding war noch jung - erst zweiunddreißig -, und er war nicht sehr ehrgeizig. Das bewies allein schon die Tatsache, dass er vor eineinhalb Jahren eine vernachlässigte Landpraxis gekauft hätte und sich mit dem ruhigen! eintönigen Leben eines Dorfarztes zufriedengab. Spezialistentum, mit einer Praxis in der Harley Street als höchstem Ziel, hatte ihn nie beeindruckt. Er hasste London und alle anderen Großstädte. Seine Vorstellung von einem gesunden, vollkommenen Dasein gipfelte in einem ruhigen Leben auf dem Lande, das ihm reichlich Zeit ließ, Golf zu spielen und im Garten Blumen zu ziehen. Gewiss, seine Verlobte hatte in der City eine gute Stellung als Geschäftsführerin eines großen Unternehmens, aber das hübsche, geräumige Haus, das Dr. Harding bewohnte, gefiel ihr. Er war überzeugt, dass auch sie sich an das geruhsame Leben auf dem Lande gewöhnen würde. Trotzdem runzelte der junge Arzt jetzt unmutig die Stirn, während er weiter den dunklen Garten entlangging.

Der Gedanke an Doris kam nicht von ungefähr. Sie hatte ihm in letzter Zeit schwer zu schaffen gemacht. Erst bei ihrem letzten Zusammensein hatte sie ihn wieder gedrängt, doch endlich den Lehm von den Füßen abzustreifen - wie sie sich ironisch ausdrückte - und eine elegante Praxis im West End zu kaufen. Er besaß einiges Vermögen und sie ebenfalls - damit ließe sich schon etwas Ordentliches kaufen. Harding hoffte indessen, dass sie es nicht so ernst meinte, wie sie sich den Anschein gab. Der Kummer mit Doris war allein der, dass sie ihn maßlos überschätzte. Er hielt sich nicht für übermäßig klug - er wollte es auch nicht sein. Aber die Art, wie sie ihn immer wieder zwingen wollte, etwas darzustellen, was er absolut nicht sein wollte, ärgerte ihn. Ohne Zweifel würde sie noch vernünftig werden. Wenn sie erst einige Monate auf dem Land gelebt hatte, würde sie ihm zustimmen müssen, dass dies die einzig richtige Lebensform war.

Harding erreichte die Straße und ging auf seine Vauxhall-Limousine zu. Überrascht bemerkte er, dass dicht neben seinem Wagen ein kleiner Vorkriegs-Austin stand. Im schwachen Nebel beugte sich ein undeutlicher Schatten über das Heck seiner Limousine, und Dr. Harding fragte sich beim Näherkommen erbost, wer, zum Teufel, sich da an seinem Wagen zu schaffen mache.

Der andere war so intensiv in seine Beschäftigung versunken, dass er den Herankommenden weder hörte noch sah, bis dieser dicht vor ihm stand. Philip erkannte mit einem Blick, was vor sich ging.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er mit herausfordernder Höflichkeit.

In Wirklichkeit kochte er vor Zorn. Ein junger Bursche war damit beschäftigt, Benzin aus seinem Tank abzuzapfen und in einen Kanister zu füllen, der neben dem Wagen auf der Straße stand. Diese Unverschämtheit nahm Philip fast den Atem. Der Bursche vor ihm schien ein typischer kleiner Schieber zu sein. Er trug einen dunklen Regenmantel mit Gürtel und eine Baskenmütze. Das Gesicht, das sich blitzschnell herumwandte, verriet empörte Überraschung. Philip sah es nur undeutlich, es schien blass - mit vor Schreck geweiteten Augen - und sehr jung zu sein.

»Ich liebe solche Stibitzereien gar nicht, mein Sohn«, erklärte er mit grimmiger Ruhe. »Warum, um alles in der Welt, konnten Sie nicht warten, bis ich herauskam, um mich dann auf anständige Art um Sprit zu bitten?«

Der ertappte Bursche war offensichtlich viel zu verstört, um auch nur ein Wort herausbringen zu können, aber doch nicht verstört genug, um nicht auf andere Art zu reagieren. Er packte den halbgefüllten Benzinkanister und warf ihn Philip vor die Brust. Dann rannte er davon.

Der junge Arzt wurde durch diesen unerwarteten Angriff völlig überrumpelt. Der Kanister war unverschlossen, das Benzin spritzte heraus und drang ihm in Augen und Nase. Er taumelte zurück, halb blind und ziemlich fassungslos.

»Du verdammter Bengel!«, schrie er zornig und spuckte kräftig aus. In wütender Abwehr hatte er den Kanister auf die Straße geschleudert. Ein krachender Aufschlag und das gluckernde Geräusch des auslaufenden Benzins - währenddessen hörte er schon das Zuschlagen einer Wagentür und das Aufheulen des Motors. Der altmodische Austin brauste davon.

»Nein, zum Teufel, du entkommst mir nicht!«, brüllte Philip ihm nach. Er war maßlos wütend. Im Augenblick wünschte er sich nichts anderes, als diesen jungen Burschen in die Finger zu bekommen und so zu verprügeln, dass er sich noch lange daran erinnern würde. Sein Benzin zu stehlen war schon eine Unverschämtheit, aber ihm das Zeug anschließend noch ins Gesicht zu schütten, das war der Gipfel der Frechheit.

Philip riss die Tür seines Wagens auf und sprang hinein. Kostbare Sekunden gingen verloren, während er ungeschickt mit dem Zündschlüssel hantierte. Der kleine Austin heulte indessen die stille Berkshire-Landstraße entlang. Philip hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er den Fliehenden in kürzester Zeit eingeholt haben würde. Sein neuer Vauxhall war viel schneller als dieser vorsintflutliche Austin.

Allerdings hatte er keine genaue Vorstellung davon, wie er den Burschen zum Halten zwingen sollte. Dunkel kam ihm in den Sinn, dass er den Austin überholen und sich dann querstellen könne - wie ein Polizeistreifenwagen auf Banditenjagd aber diesen Gedanken verwarf er sofort, noch ehe er ihn zu Ende gedacht hatte. Auf seinen neuen Vauxhall war er sehr stolz; er hatte keine Lust, sich die wundervoll glänzenden Kotflügel bis zur Unkenntlichkeit zerbeulen zu lassen.

Im Wagen machte sich jetzt ein unangenehmer Benzingeruch bemerkbar. Philips Mantel war oben völlig durchweicht, die Benzindämpfe bissen ihn in die Augen, und seine Nase revoltierte gegen den penetranten Gestank. Trotzdem fuhr er mit äußerster Geschwindigkeit, aber der kleine Austin blieb tapfer voraus.

Plötzlich schoss Philip ein Gedanke durch den Kopf, der ihn mit Genugtuung erfüllte. Der andere Wagen musste sehr knapp mit Treibstoff sein, sonst hätte der Bursche wohl kaum sein Benzin abgezapft. Nach einigen Kilometern würde der Motor des Austin aussetzen, weiter würde er nicht kommen. Wahrscheinlich ein gestohlener Wagen - warum sonst diese Flucht um jeden Preis?

Ein Entkommen war jedenfalls unmöglich. Die überlegene Geschwindigkeit des Vauxhall wurde nun offensichtlich. Langsam aber sicher schob Philip sich näher an den anderen Wagen heran. Beide rasten mit etwa neunzig Stundenkilometern dahin - aber der Vauxhall war eine Idee schneller. Der junge Mensch vor ihm musste augenscheinlich vor Angst völlig kopflos geworden sein, anscheinend hatte er das Gaspedal bis unten durchgetreten. Sie mussten jeden Augenblick Farlowe erreichen, das Dorf, in dem Philip wohnte...

»Mein Gott!«, entfuhr es dem jungen Arzt entsetzt.

Ein schrecklicher Gedanke war ihm gekommen. Die Straße lag teilweise im Nebel. Normalerweise würde er unter diesen Umständen nicht mehr als fünfzig gefahren sein - obwohl er jede Bodenwelle und jede Kurve genau kannte. Der Mann vor ihm war offensichtlich fremd hier in der Gegend, er würde blindlings in die Falle rasen, die weniger als eine halbe Meile vor ihnen lag...

Bei Farlowe Reach gab es eine gefährliche scharfe Biegung, eine rechtwinklige Kurve - die Straße bog hier unversehens ab und lief dann parallel zum Fluss. Nicht weit davon stand Philips Haus. Philip kannte deshalb die Heimtücke dieser Kurve genau. So mancher Autofahrer war hier schon zu Schaden gekommen, selbst wenn er nur mit normaler Geschwindigkeit gefahren war. Und an einem Abend wie diesem musste der gefährliche Teil der Straße zudem in dichten, tiefliegenden Nebel gehüllt sein, der vom Flussufer heraufstieg.

Der verängstigte Junge da vorn - er war ja wirklich nicht viel mehr als ein Junge, und Philip neigte dazu, ihn jetzt bedeutend milder zu beurteilen als zu Anfang ihrer Bekanntschaft - raste geradewegs in den Nebel hinein, ohne zu ahnen, dass die gefährliche Kurve unmittelbar vor ihm lag. Anscheinend holte er das Letzte aus seinem Wagen, um den Verfolger abzuschütteln.

»Mein Gott«, stöhnte Philip abermals und erhöhte seine Geschwindigkeit, während er gleichzeitig das Horn ertönen ließ, um damit eine laute und eindringliche Warnung zu geben. Dass dies sehr unklug war, musste er sich selbst sagen, denn die brüllende Hupe bewies dem Flüchtenden nichts anderes, als dass sein Verfolger ihm dicht auf den Fersen war. Instinktiv würde er noch mehr Gas geben.

Philip brach der Angstschweiß aus. Er glaubte die Ahnung des bevorstehenden Unheils direkt körperlich zu spüren, und das Gefühl seiner völligen Hilflosigkeit - er wusste genau, dass er nichts tun konnte, um das Unglück zu verhindern - erfüllte ihn mit Entsetzen. Er fühlte sich verantwortlich, schließlich war er es, der den jungen Burschen in diese Falle hineinjagte. Es war bereits viel zu spät, den Wagen anzuhalten, um damit den Jungen wissen zu lassen, dass niemand ihn mehr verfolge. Die Kurve von Farlowe Reach konnte nur noch wenige hundert Meter entfernt sein... und da quoll auch schon der Nebel hervor, tiefliegend, in dicken, weißen Schwaden.

Der Arzt starrte blinzelnd nach vorn. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Austin, eben noch deutlich sichtbar, war jetzt vom Nebel verschluckt. Das Motorengeräusch seines eigenen Wagens und das Quietschen der Bremsen, als er ihn abstoppte, übertönten nicht das splitternde Krachen, als der Austin in der Kurve kerzengerade durch den weißgestrichenen Holzzaun hindurchbrach. Nichts als dieses splitternde Geräusch - dann Stille.

Der Wagen des Arztes tauchte in den Nebel und machte noch einige schlingernde Bewegungen, bevor er endgültig stand. Philip stürzte heraus und raste das kurze Stück bis zur Straßenbiegung entlang. Totenstille um ihn, nicht das geringste Geräusch war zu hören. Um diese Zeit war auf der Straße kein Verkehr mehr, und außer Philips Bungalow befand sich kein Haus in der Nähe.

Den Zaun fand er so demoliert, wie er es erwartet hatte. Der Austin hatte nicht einmal den Versuch gemacht, auszuweichen, er war kerzengerade hindurchgeschossen. Auf der anderen Seite des Zaunes zog sich ein Grasstreifen hin, ungefähr zehn Meter breit, in gleicher Höhe mit der Straße... dahinter die abfallende Böschung und der Fluss. Philip rannte über den Grasstreifen und stand am Ufer. Der Nebel, der dick über der Straße lag, war hier so schwach, dass man bis zur Mitte des Stromes gute Sicht hatte. Philip war gerade zurechtgekommen, um noch den oberen Teil des Austin zu erkennen, der langsam und völlig lautlos versank. Kein Geräusch drang herüber, keine verzweifelten Hilferufe, kein Klopfen oder Splittern von Glas.

»Großer Gott!« Philip war zu Tode erschrocken, obwohl er diesen Anblick erwartet hatte.

Das Gefühl seiner Schuld lag jetzt schwerer auf ihm als zuvor. Dies hier war sein Werk! Der arme Junge durfte nicht wie eine Ratte ertrinken, ganz gleichgültig, wer er sein mochte - schlimmstenfalls doch nur ein kleiner Gelegenheitsdieb...

Während dem Doktor diese Gedanken durch den Kopf schossen, schälte er sich aus seinem Mantel. Im nächsten Augenblick verschwand er mit einem Kopfsprung im Fluss. Das eiskalte Wasser betäubte und belebte ihn zugleich. Irgendwie bekam er einen klaren Kopf. Seine Gedanken überstürzten sich. Aussichtslos, zu versuchen, die Türen zu öffnen. Die einzige Möglichkeit war das Schiebedach. Entschlossen klammerte er sich an den Wagen, der mit seinen vier Rädern auf dem Flussbett stand, leicht nach links übergeneigt. Das Dach schaute noch gerade aus dem Wasser heraus.

Philip kletterte, nach Luft ringend, hinauf und legte sich flach hin.

»Hallo, Sie da drinnen!«, rief er mit keuchender Stimme. Er musste dem Jungen sagen, dass er die Hebel des Schiebedaches lösen solle, aber die unheimliche Stille, die seinem Ruf gefolgt war, hielt ihn davon ab. Andere Geräusche waren jetzt zu hören: das unheilvolle Gurgeln der Luftblasen, die aus dem Wagen entwichen und blubbernd an die Oberfläche kamen. Philip wusste, dass er keinen Augenblick mehr verlieren durfte. Zum Glück war der Wagen alt und das Schiebedach verlogen. Er entdeckte einen winzigen Spalt, in den er mit klammen Fingern hineinlangte. Zu seiner Überraschung gab das Dach nach, eine kleine Öffnung war entstanden, so dass er besser zupacken konnte. Philip kniete hin und zerrte mit aller Kraft - es gelang ihm, einen großen Teil des beschädigten Daches herunterzureißen.

Das Wasser schoss sprudelnd hinein und ergoss sich in den Wagen, der schon bis zur Hälfte gefüllt war. Die Scheinwerfer brannten noch, und hinter dem erleuchteten Armaturenbrett bemerkte Philip die schmächtige Gestalt des Burschen, die über dem Steuerrad zusammengesunken war. Vorsichtig streckte der junge Arzt sich auf dem übriggebliebenen Teil des Daches aus, jede unnötige Bewegung vermeidend, weil er befürchten musste, dass der Austin jeden Augenblick umkippen könne. Dann  griff er nach unten, bekam den Jungen fest unter den Achseln zu fassen und zog mit aller Gewalt. Es war ein verzweifelter Kampf. Das Wasser hatte jetzt das Innere des Wagens vollständig überflutet. Die leblose Gestalt, die Philip gepackt hielt, wurde wie von unsichtbaren Händen nach unten gezogen - die völlig durchnässte Kleidung verdoppelte ihr Gewicht.

Philip schien es sehr ungewiss, ob er aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen würde. Alles, woran er sich später erinnern konnte, war der Augenblick, in dem er auf dem schlüpfrigen Dach des Wagens die Balance verlor und rücklings in den Fluss stürzte. Den bewusstlosen Jungen hielt er dabei fest umklammert, obwohl er davon überzeugt war, dass dieser Rettungsversuch sinnlos war. Keine Leiche hätte sich kälter und lebloser anfühlen können, als die Gestalt in seinen Armen.

Philip war ein so guter Schwimmer, dass er mit wenigen, kräftigen Stößen das Ufer erreicht hatte. Mit einer Hand zog er sich an Land, während er mit der andern den Jungen fest gepackt hielt. Nachdem er Grund unter den Füßen hatte, zog er ihn ebenfalls heraus und legte ihn mit dem Gesicht nach unten ins Gras. Ringsumher herrschte noch immer Totenstille, die Straße war menschenleer. Der leise plätschernde Fluss und das ferne, schwache Pfeifen einer Lokomotive waren die einzigen Geräusche.

Philip, steif vor Kälte, begann automatisch mit Wiederbelebungsversuchen. Nach wenigen Sekunden gab er es auf, aus der Lunge des Bewusstlosen kam so gut wie gar kein Wasser, und er erinnerte sich, dass das Wageninnere erst zuletzt völlig überflutet worden war. Die Bewusstlosigkeit des Burschen musste eine andere Ursache haben. Philip beugte sich tiefer zu der leblosen Gestalt hinab und stellte fest, dass sie atmete - der Atem kam zwar nur schwach, aber regelmäßig.

»Gott sei Dank«, murmelte der Arzt erleichtert, wurde aber im gleichen Moment maßlos wütend. Jetzt, wo er die Gewissheit hatte, dass der junge Kerl lebte, wurde ihm schrecklich unbehaglich zumute. In welch eine widerwärtige Geschichte war er da hineingeraten! Das einzig Gute war nur, dass er als Arzt einem Verletzten an Ort und Stelle Erste Hilfe leisten konnte.

Allerdings nicht hier am Flussufer. Keine hundert Meter weit entfernt lag sein Haus. Er lud sich die leblose Gestalt auf die Schultern und lief schwankend über den Grasstreifen zu dem zertrümmerten Zaun und dann weiter die Straße hinauf. Erschrocken stellte er fest, dass sein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern mitten auf der Straße stand. Das hätte schief gehen können! Er dankte dem Himmel, dass nicht ein anderer Wagen oder gar ein Lastauto in der Zwischenzeit vorbeigekommen waren. Hier in der Kurve war der Nebel nach wie vor dick, es hätte ein furchtbares Unglück geben können.

An der Tür seines Hauses angekommen, legte er hastig sein Bündel nieder und rannte zurück. In weniger als einer Minute hatte er den Wagen auf die neben der Straße herlaufende Grasnarbe gefahren. Dann öffnete er die Haustür, knipste das Licht an und trug den Jungen in die große, geräumige Halle. Im Kamin brannte ein lustiges Feuer, das die tüchtige Mrs. Perrott - seine Haushälterin - vorbereitet hatte. Er war froh, dass sie nur tagsüber herkam, so war er mit seinem unliebsamen Gast völlig allein. Seine Laune hatte sich nicht gebessert, und da er durchaus keine Lust verspürte, sich seine schöne Couch ruinieren zu lassen, legte er den jungen Taugenichts einfach auf den Fußboden. Der nasse Fleck, der auf dem Teppich entstand, reichte ihm sowieso schon.

Als er niederkniete, um eine erste, flüchtige Untersuchung vorzunehmen, fiel ihm auf, dass er selbst vor Kälte zitterte. Seine Glieder waren wie gelähmt, und nur mühsam unterdrückte er ein Zähneklappern.

Das blasse Gesicht seines unwillkommenen Patienten, das er jetzt zum ersten Mal bei Licht sah, erschreckte ihn. Es war von einer rührenden Kindlichkeit. Dieses rücksichtslose Bürschchen musste ja noch viel jünger sein, als er angenommen hatte!

Unbeholfen, mit steifen Fingern öffnete Philip Gürtel und Knöpfe des Regenmantels. Ein heller Straßenanzug mit einem auffallenden Karomuster wurde sichtbar. Das erste, was Philip bemerkte, war ein kleiner roter Fleck auf dem Jackett, etwa in Höhe des Herzens.

»Also, das ist es!«, murmelte er, während er mühselig das Jackett aufknöpfte. »Das Steuerrad muss ihm ja einen gewaltigen Stoß versetzt haben, als er durch den Zaun gerast ist. Wahrscheinlich einige Rippenbrüche. Na, wir werden ja gleich sehen.«

Das Jackett saß merkwürdig knapp - viel knapper, als man von dem durchnässten Stoff hätte erwarten können. Philip wunderte sich darüber, und gleichzeitig schoss ihm ein aufregender Gedanke durch den Kopf.

Hastig zerrte er an dem Hemd herum und riss vor Aufregung einen Knopf ab - und dann sah er die zarte, wohlgeformte Brust...

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Ein Mädchen!

Philip war vor Überraschung wie gelähmt und blickte reichlich einfältig drein, während er auf dem Boden hockte und die untrüglich weiblichen Kennzeichen, seines Patienten anstarrte. Wie fasziniert blickte er auf die entblößte Brust des Mädchens - nicht, weil ihn der Anblick als solcher aufregte, sondern einfach deshalb, weil es so schwer war, seine bisherige Theorie aufzugeben.

Dies hier war kein heruntergekommener, junger Taugenichts, der in einem gestohlenen Wagen geflohen war. In dem weißen, blutleeren Gesicht des Mädchens konnte er nichts Gemeines oder Bösartiges entdecken. Jetzt verstand er, warum dieser Bursche einen so jungenhaften, geradezu kindlichen Eindruck, gemacht hatte.

Als sein Blick wiederum auf das geöffnete Hemd fiel, wurde er sich seiner Verantwortung als Arzt bewusst. Ein oder zwei Finger breit unter der linken Brust des Mädchens war eine tiefe, bösartig aussehende Schramme. Die weiße Haut zeigte einen Riss, der beträchtlich geblutet hatte. Rings um die Wunde hatte sich die Haut verfärbt, ein Zeichen dafür, dass eine ernsthafte Prellung vorlag. Sie musste einen gewaltigen Schlag in die Herzgegend abbekommen haben, als ihr Wagen durch den Zaun gerast war. Dieser Stoß allein konnte schon die Ursache ihrer Bewusstlosigkeit sein. Philip fühlte sich sehr erleichtert, als er feststellen konnte, dass das Mädchen jetzt ruhig und gleichmäßig atmete.

Als ob es noch einer Bestätigung der offensichtlichen Tatsache bedurft hätte, zog er dem Mädchen die durchnässte Baskenmütze vom Kopf. Eine Wolke dunklen, gewellten Haares quoll hervor, nur wenig nass, und glänzte im Widerschein des Kaminfeuers. Es betonte ihre nicht mehr anzuzweifelnde Mädchenhaftigkeit.

Obwohl der junge Arzt vor Kälte zitterte, tastete er mit erstaunlich sanften Bewegungen die Wunde ab. Er erwartete ziemlich sicher, ein oder zwei gebrochene Rippen feststellen zu müssen. Seine Finger waren eiskalt, aber die Haut des Mädchens war noch kälter. Er erschauerte plötzlich. Sie fühlte sich tatsächlich an wie eine Leiche.

»Teufel auch!«, murmelte er verärgert.

Er konnte sie nicht einfach so liegen lassen. Jeder Faden ihrer Kleidung war von dem eisigen Flusswasser durchtränkt, sie wurde bereits blau vor Kälte und bekam unweigerlich eine Lungenentzündung, wenn nicht sofort etwas geschah. Die nasse Kleidung musste herunter! Idiotisch, unter solchen Umständen moralische Bedenken zu haben...

Trotz seiner steifen Glieder stand Philip elastisch auf und eilte in sein Schlafzimmer. Er machte Licht und schlug die Bettdecke zurück.

Dann rannte er ins Bad und holte ein großes Frottierhandtuch. Behutsam streifte  er dem Mädchen Stück um Stück seiner durchnässten Kleidung ab und rieb mit dem Badetuch ihre Glieder trocken. Sie rührte sich noch immer nicht. Vorsichtig hob er die leblose Gestalt auf, trug sie ins Schlafzimmer und legte sie ins Bett. Er deckte sie so sorgfältig zu, dass nur noch die Nasenspitze unter dem Deckbett hervorlugte, und atmete tief auf.

Das wichtigste war nun getan. Sie lag trocken und geborgen im warmen Bett. Als nächstes musste die Wunde versorgt werden. Aber das eilte nicht so sehr. Er Brachte heißes Wasser... Natürlich - und eine Wärmflasche. Glücklicherweise war eine vorhanden. Mrs. Perrott legte sie immer in das Bett des Fremdenzimmers, falls Besuch kommen sollte. Philip selbst hatte keinerlei Verwendung für Wärmflaschen. 

Nachdem er in die Küche geeilt war und den Kessel auf den Herd gesetzt hatte, bemerkte er wieder, dass er selbst ebenfalls nass bis auf die Haut war. Er war so beschäftigt gewesen, dass er seinen eigenen Zustand völlig vergessen hatte. Während das Wasser heiß wurde, ging er ins Schlafzimmer zurück und entkleidete sich. Hastig rieb er sich trocken, zog seinen Pyjama und die Hausschuhe an und fuhr in einen warmen Morgenrock. Jetzt fühlte er sich wieder als Mensch. Er ging in die Halle und goss sich einen ordentlichen Drink ein.

Schöne Bescherung, dachte er dabei.

Es war ihm völlig unklar, was nun mit seinem überraschenden Patienten zu geschehen hätte. Im Laufe der letzten Viertelstunde hatte er keine Zeit gehabt, einen klaren Gedanken zu fassen. Als er draußen in der Küche das Wasser sprudeln hörte, lief er hin und füllte die Wärmflasche. Dann ging er kurz in sein Sprechzimmer und kam mit einem Antiseptikum, Salbe, Verbandzeug und Leukoplast zurück.

Als er sein Schlafzimmer betrat, lag das Mädchen still und unverändert im Bett. Sie war noch immer bewusstlos, aber ihr Gesicht zeigte schon ein klein wenig Farbe, und Philip entdeckte überrascht, dass sie außerordentlich hübsch war. Diese Feststellung beunruhigte ihn. Bis jetzt hatte er sie daraufhin überhaupt nicht angesehen.

Er schätzte sie auf ungefähr ein- oder zweiundzwanzig. Sie war dunkelhaarig, schlank und wundervoll gewachsen. Tatsächlich besaß sie die schönste Figur, die er jemals gesehen hatte. Er erinnerte sich daran, als er sie vorhin ins Bett brachte - und fühlte sich plötzlich schrecklich verlegen.

»Idiot!«, fuhr er sich selbst an.

Was sollten diese Gedanken? In erster Linie war er Arzt, und als solcher hatte er die Pflicht, das Notwendige zu tun. Sollte er das Mädchen unter seinen Händen sterben lassen, nur weil es ihm an gesundem Menschenverstand mangelte? Ohne Zweifel hatte er richtig gehandelt, als er sie entkleidet und ins warme Bett gesteckt hatte.

Philip schlug die Decke zurück und untersuchte nochmals sorgfältig die Wunde. Sie hatte etwas nachgeblutet, und die Haut rings um den Riss färbte sich bereits zu einem schmutzigen Gelbbraun. Zweifellos eine ernsthafte Prellung, die sehr schmerzhaft sein musste. Philips Hände waren ganz ruhig, während er die Wunde desinfizierte und anschließend sorgfältig verband. Als er damit fertig war, kam ihm eine schwache Erinnerung - er glaubte, vorhin etwas gesehen zu haben. Einen Augenblick zögerte er und zog dann mit einem unterdrückten Fluch die Decke völlig zurück. Richtig, er hatte sich nicht geirrt. Da war ein hässlicher, roter Fleck auf dem rechten Oberschenkel, ungefähr eine Hand breit über dem Knie.

Hier war die Haut allerdings nicht gerissen, wie er es vermutet hatte, und so konnte er nichts weiter tun. Er deckte das Mädchen hastig zu und ärgerte sich, als er bemerkte, dass ihm das Herz bis zum Halse schlug. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe - er war Arzt, und nichts sonst. - Der Stoß in die Herzgegend konnte nicht der ausschließliche Grund für ihre Bewusstlosigkeit sein, überlegte er. Diese Ohnmacht war so tief und anhaltend, dass es dafür noch eine andere Erklärung geben musste.

Sanft fuhr er mit seinen Fingern durch das dunkelbraune Haar und fand schnell, was zu finden er halb erwartet hatte - eine riesige Beule über dem linken Ohr. Sorgfältig teilte er das Haar und untersuchte die Verletzte näher. Er sah eine leichte Hautabschürfung, die jedoch kaum geblutet hatte. Aber es stand nun fest, dass sie im Augenblick des Unfalls einen gewaltigen Schlag auf den Kopf erhalten haben musste.

»Das Mädchen hat Glück gehabt, so leicht davonzukommen«, dachte er. »Sie hätte sich sämtliche Knochen im Leibe brechen können.«

Was sollte er nun tun? Es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu warten, bis sie aus ihrer Bewusstlosigkeit aufwachte. Und das, sagte er sich, würde wohl noch einige Stunden dauern. In der Zwischenzeit war er - ein Junggeselle - allein in seinem Bungalow, und das wildfremde Mädchen lag in seinem Bett. Aber was kümmerte ihn das! Um diese Zeit würde kaum jemand kommen, nicht einmal ein Patient. In seiner reichlich, mageren Praxis hatte er bis jetzt noch nie einen Nachtbesuch gehabt.

Er ging in die Halle zurück, legte Holz aufs Feuer und goss sich noch einen Drink ein. Dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel und dachte nach.

Wer mochte sie sein? Warum trug sie diesen schrecklichen karierten Männeranzug? Warum wollte sie ihm Benzin stehlen? Und vor wem war sie geflohen? - Das waren Fragen, die er nicht beantworten konnte, und zögernd überlegte er, ob es nicht das Beste sei, die Polizei anzurufen, um damit die Verantwortung anderen zu überlassen. 

»Nein, zum Teufel! Ich will ihr eine Chance geben«, sagte er sich schließlich..

Er wollte warten, bis sie in der Läge war, seine Fragen zu beantworten. Weiß der Himmel, sie schuldete ihm wahrhaftig eine Erklärung für ihr eigenartiges Benehmen. Die Frage war nur: Wie lange würde er noch zu warten haben? Er blickte auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es noch nicht einmal zehn war. Noch so früh am Abend...

»Esel!«, brummte er plötzlich und sprang auf.

Wie stand es denn mit ihren Kleidern? Sicher fand er in den Taschen einen Hinweis auf ihre Personalien. Er war eben auf dem Weg ins Schlafzimmer, um die nassen Sachen zu holen, als er plötzlich stehenblieb. Draußen, direkt vor seinem Haus, hielt ein Wagen. Er hörte den laufenden Motor, dann war es still.

Welch ein verrückter Zufall musste ihm ausgerechnet jetzt einen Patienten bescheren? Philip unterdrückte einen Fluch, als die Klingel anschlug, und blickte an sich herunter. In Morgenrock und Hausschuhen! Noch nicht einmal zehn Uhr, und er stand hier, fertig zum Schlafengehen. Einfach idiotisch!

Aber es half nichts. Er musste die Tür öffnen. Die erleuchteten Fenster verrieten ja, dass er zu Hause war.

Mit grimmigem Gesicht schritt er zur Tür und öffnete sie.

»Hallo, Philip!«, begrüßte ihn eine kühle, klare Stimme.

Doris Cartwright, seine Verlobte, kam ohne Zögern herein und schloss die Tür hinter sich. Sie trug ein Tweedkostüm und dazu ein winziges, aber sehr geschmackvolles Hütchen. Ihr blondes Haar - sorgfältig nach der letzten Mode frisiert - schimmerte golden im Lampenlicht. Doris Cartwright war ausgesprochen hübsch. Ihre strahlenden blauen Augen blickten Philip überrascht an.

»Bist du krank?«, fragte sie.

»Natürlich nicht.«

»Warum dann dieser komische Anzug?«

»Komischer Anzug? Oh, du meinst...«

»Du gehst doch sonst nicht so früh zu Bett, wie?«, unterbrach sie ihn und betrachtete interessiert seinen Morgenrock. »Was ist mit dir los, Philip? Willst du mir keinen Kuss geben? Freust du dich eigentlich nicht, dass ich »da bin?«

»Wie...? Oh, selbstverständlich!«, stammelte er unsicher. Seine offensichtliche Verwirrung war ihr rätselhaft. »Mein Gott, Doris, wer hätte gedacht, dass du einfach so angefahren kommst! Sonst rufst du doch immer vorher an...«

Völlig verstört brach er ab und gab ihr einen hastigen Kuss. Für gewöhnlich war seine Begrüßung bedeutend herzlicher. Sie machte sich energisch frei und sah ihn mit einem prüfenden Blick an. Ihr kam ein Verdacht.

»Philip! Bist du betrunken?«

Er fühlte sich augenblicklich erleichtert.

»Betrunken? Natürlich nicht«, wehrte er entrüstet ab. »Setz dich doch, altes Mädchen!«, sagte er hastig, krampfhaft bemüht, seine Fassung wiederzugewinnen. »Ich freue mich so, dich zu sehen! Zieh dich aus und fühl' dich ganz wie zu Hause... Nicht völlig aus«, verhaspelte er sich, »deinen Hut meine ich...«

»Und du bist doch betrunken«, unterbrach sie ihn kühl. »Man kann es ja riechen.« Sie musterte sein verlegen errötetes Gesicht, betrachtete kritisch sein zerwühltes Haar, das er nach dem Abfrottieren zu kämmen vergessen hatte, und setzte jene harte Miene auf, die er um alles in der Welt nicht leiden konnte. »Das kommt davon, wenn man mutterseelenallein in dieser gottverlassenen Höhle wohnt. Patienten hast du keine, du bist einfach gezwungen, deine Abende so einsam zu verbringen und...«

Plötzlich brach sie ab. Er war töricht genug gewesen, einen verstohlenen Blick auf die Schlafzimmertür zu werfen, die halb offenstand. Sie bemerkte, dass dort Licht brannte. Mit zwei schnellen Schritten war sie an der Tür, als Philip im letzten Augenblick ihre Absicht erriet und sie hastig am Arm packte.

»Nicht! Geh nicht hinein!«, bat er heiser.   

Das war natürlich das dümmste, was ein Mann in dieser Situation sagen konnte. Er war allerdings viel zu aufgeregt, um überhaupt zu merken, was er sagte. Mit Doris hatte er es nicht leicht, schon früher gab es wegen der lächerlichsten Kleinigkeiten heftige Auseinandersetzungen. Ihr plötzliches Erscheinen - ausgerechnet an diesem Abend und in dieser heiklen Situation - hatte ihn restlos verwirrt.

»Was, um alles in der Welt, ist eigentlich mit dir los, Philip?«, fragte sie verblüfft.

»Wirklich, altes Mädchen, du kannst da nicht hineingehen«, entgegnete er steif. »Bedenke doch - mein Schlafzimmer! Mrs. Perrott ist nicht hier. Sie ist schon vor Stunden nach Hause gegangen. Du kommst doch für gewöhnlich nicht so spät...«

»Allerdings«, unterbrach sie ihn scharf. »Ich glaube, es war höchste Zeit, dass ich es endlich tat. Was ist denn eigentlich in deinem Schlafzimmer, was ich nicht sehen soll?«

»Wie? Nichts! Ich meine...« Er schluckte schwer. »Doris - ich wünsche nicht, dass du in mein Schlafzimmer gehst. Du würdest es doch nicht verstehen. Ich kann dir erklären...«

Das gab den Ausschlag.

Sie schüttelte mit einem Ruck seine Hand ab und ging geradewegs auf die Tür zu. Auf der Schwelle blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. Vor ihr, in Philips Bett, lag eines der hübschesten Mädchen, das sie je gesehen hatte, offensichtlich tief schlafend. Als ob sich alle bösen Geister verschworen hätten, waren die Wangen des Mädchens jetzt zart gerötet, und ihr dunkles Haar flutete in weichen Wellen über das Kopfkissen.

»Doris! Bitte - denke doch nicht etwa...«

Die blauen Augen sprühten Blitze. Doris war nicht entgangen, dass eine Schulter des Mädchens unter der Bettdecke hervorlugte - und dass diese Schulter nackt war. Sie fuhr auf dem Absatz herum und starrte Philip an. Er stand da: verlegen, aufgeregt, mit unordentlichen Haaren - im Pyjama. Ein aufschlussreicher Anblick!

»Oh!«, keuchte sie. »Kein Wunder, dass du mich hier nicht hineinlassen willst! Wie... wie ekelhaft!«   

Der unglückliche junge Arzt stammelte etwas Unzusammenhängendes. Natürlich musste sie aus dem, was sie hier sah, völlig falsche Schlüsse ziehen. Aber um der Gerechtigkeit willen musste man Doris zugestehen, dass die Situation auch ziemlich eindeutig zu sein schien.

»Hör doch!«, brachte er schließlich gepresst heraus. »Du siehst ja alles völlig falsch an. Du glaubst doch wohl nicht im Ernst...!«

»Ich hätte das niemals von dir gedacht!«, schnitt sie ihm barsch das Wort ab. »So also verbringst du deine Abende, nachdem die Haushälterin gegangen ist!«

»Mein Gott! Das ist doch Unsinn!«, wiederholte er verzweifelt. »Das Mädchen ist bewusstlos. Sie hatte einen Unfall. Lass dir doch erklären...!«  

»Ich brauche deine Erklärungen nicht!«, schnaubte Doris. »Ich will deine Lügen gar nicht hören!« Sie wurde weiß vor Zorn. »Soll ich vielleicht nicht glauben, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe? Es ist mir völlig gleichgültig, wer dieses Mädchen ist oder aus welchem Grund sie hier ist. Schließlich habe ich gesehen, warum sie hier ist. Fass mich nicht an - komm mir nicht in die Nähe!«

Sie nahm ihre Handtasche und stürmte durch die Haustür davon. Er folgte ihr-in dem verzweifelten Bemühen, den wahren Sachverhalt zu klären, und holte sie ein, als sie eben ihren Wagen bestieg.

»Doris, um Gottes willen, so hör doch!«, bat er eindringlich. »Es ist nicht so, wie du denkst!«

Sie trat auf den Anlasser, der Motor heulte auf.

»Ich kann dir alles erklären!« Er versuchte das Motorengeräusch zu überschreien. »Das Mädchen schläft nicht, wie du denkst. Sie ist besinnungslos. Hier war ein Unfall...«

Wütend unterbrach sie ihn.  

»Wenn sie besinnungslos ist - wie konnte sie sich dann ausziehen und ins Bett gehen?«, verlangte sie zu wissen. »Du machst absolut nichts besser, wenn du Lügen erzählst, Philip!« 

»Ich erzähle keine Lügen!«, brüllte er los. »Ich weiß nicht, wer sie ist, ich habe noch nicht ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Ich habe sie aus dem Fluss gezogen, und weil sie völlig durchnässt war, musste ich sie ausziehen und ins Bett stecken. Wenn du mit ins Haus kommen und mich nur eine Minute ruhig anhören würdest...«

Er brach ab, als ihn ihr zornig verächtlicher Blick traf. Sie schien ihm offensichtlich nicht ein einziges Wort zu glauben. Mit einem Ruck schaltete sie den Gang ein, so dass Philip zurücktaumelte. Aufheulend schoss der Wagen davon. Der junge Arzt blickte ihm hilflos nach.

»Zum Teufel auch!«, stieß er dann wütend hervor.

Da konnte man nichts machen. Das Schlusslicht ihres Wagens war hinter der Kurve verschwunden. Er ging ins Haus zurück und trank einen ordentlichen Schluck Whisky.

Dann betrat er auf Zehenspitzen das Schlafzimmer seiner Patientin. Das Mädchen lag unbeweglich im Bett, mit geröteten Wangen und leicht geöffneten Lippen. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, als ob sie nur friedlich schlummerte. Einen Augenblick lang stand Philip in ihren Anblick versunken da. Er fühlte sich plötzlich auf eine seltsame, unerklärliche Art beruhigt...

  Drittes Kapitel

 

 

Als Philip zurück in die Halle ging, stieg aufs Neue der Groll gegen Doris in ihm auf. Er schenkte sich ein Glas Whisky ein - es war sonst nicht seine Art, derartige Mengen zu trinken, aber er glaubte, dass die besonderen Umstände eine Ausnahme gestatteten.

Warum, um alles in der Welt, war Doris so überstürzt davongebraust? Warum ließ sie sich die Angelegenheit nicht erklären? Er hatte es sich nie eingestehen wollen, aber es war eine Tatsache, dass Doris Cartwright entsetzlich misstrauisch sein konnte. Sie war immer schon so gewesen. Erst bei seinem letzten Besuch in London hatte sie ihm wieder eine Szene gemacht, nur deshalb, weil ihm während einer Varieté-Vorstellung ein hübsches Mädchen zwei Reihen weiter vorn angenehm aufgefallen war und er diese Feststellung dummerweise nicht für sich behalten hatte.

»Also schön!«, murmelte er grimmig. »Wenn sie glaubt, dass ich zu derartigen Dingen fähig bin, kann sie bleiben, wo der Pfeffer wächst! Zum Donnerwetter! Schließlich habe ich so schon genug Ärger!«

Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, musste er allerdings zugeben, dass Doris diesmal vielleicht nicht ganz unrecht hatte. Eigentlich durfte man ihre voreilige Schlussfolgerung nicht übelnehmen - die Situation sprach eindeutig gegen ihn. Ein hübsches Mädchen in seinem Bett, schlafend, er selbst im Pyjama und mit zerwühltem Haar...

»Es ist unglaublich, wie eine völlig harmlose Angelegenheit derart verdächtig aussehen kann«, murmelte er unbehaglich. »Von ihrem Standpunkt aus gesehen hat Doris sogar recht. Es wird mich Mühe kosten, die Sache wieder einzurenken.«

Er nahm sich vor, sie später anzurufen und sich für morgen mit ihr zu verabreden. Bis dahin würde sie sicher vernünftig geworden sein. Was aber sollte jetzt mit dem Mädchen geschehen?

Das Beste würde sein, er zog sich wieder an und holte Mrs. Perrott aus dem Dorf. Das ältliche Mädchen würde gewiss schockiert, sein, aber das war schließlich nicht zu ändern. Sie konnte für ihn das Bett im Gastzimmer zurechtmachen.

Plötzlich stutzte er. Was hatte er doch vorhin noch erledigen wollen, kurz bevor Doris kam? Richtig! Er wollte die nasse Kleidung des Mädchens, die er in eine Ecke des Schlafzimmers geworfen hatte, eingehend untersuchen - das war im Augenblick das wichtigste. Er musste ihre Identität feststellen. Vielleicht konnte er sich mit ihren Angehörigen in Verbindung setzen...

Er holte also das nasse Bündel und breitete es vor sich auf dem Fußboden aus. Zu seiner Überraschung enthielt der auffallend gemusterte Anzug nichts, aber auch gar nichts. Die Taschen waren völlig leer. Kein Schlüssel, keine Streichholzschachtel, kein Geld - nicht einmal ein Taschentuch.

»Seltsam!« Philip runzelte die Stirn.

Er suchte nochmals alle Taschen durch, im Glauben, etwas übersehen zu haben. Aber nein, er fand nichts. Seltsam war auch, dass sie keine Unterwäsche getragen hatte. Ein Nylonhöschen, das Männerhemd und die Socken - das war alles. Das Hemd schien neu zu sein, aber es enthielt kein Wäschezeichen, ebenso wenig wie die beiden anderen Sachen. Nichts, was ihm irgendwie weiterhelfen konnte.