Die ewige Supermacht - Michael Schuman - E-Book

Die ewige Supermacht E-Book

Michael Schuman

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Beschreibung

Wieso ignoriert China westliche Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte? Warum verhält es sich anderen Staaten gegenüber desto übergriffiger, je stärker seine Wirtschaft wird? Die Antwort darauf steckt in Chinas großer Geschichte und seinem Anspruch, alleinige Supermacht zu sein. Über Jahrtausende hinweg verfügte das Reich der Mitte über das stärkste Militär, die florierendste Wirtschaft und den größten wissenschaftlichen und kulturellen Einfluss in seiner Region. Die Weltgeschichte stellt sich aus Chinas Sicht also völlig anders dar als jene, die den westlichen Kanon bestimmt – und hieraus speist sich Chinas Verständnis davon, wie man als Supermacht mit Menschen und anderen Staaten umgeht. In diese Position der Stärke will es zurück, nach Jahrzehnten, in denen das Land durch die westliche Kolonialpolitik und den importierten Kommunismus vorübergehend in seine Schranken gewiesen war. Michael Schuman erzählt Chinas komplexe Historie: von großen Dynastien und faszinierenden Persönlichkeiten, epischen Konflikten und einflussreichen Denkern. Er macht deutlich: China hat sich stets als alleinige Weltmacht gesehen, nach der die anderen sich ausrichten. Es geht nicht um die Frage, ob China die Welt wieder beherrscht, sondern wann und wie.

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Die ewige Supermacht

Der Autor

Michael Schuman, geboren 1968, studierte Asienwissenschaften, Politik und Internationale Beziehungen. Als Asien-Korrespondent schrieb er 23 Jahre lang für das Wall Street Journal sowie Time und veröffentlichte außerdem bei der New York Times, der Business Week und Forbes. Schuman lebt in Peking.

Das Buch

Über Jahrtausende hinweg verfügte das Reich der Mitte über das stärkste Militär, die florierendste Wirtschaft und den größten wissenschaftlichen und kulturellen Einfluss in seiner Region. Die Weltgeschichte stellt sich aus Chinas Sicht somit völlig anders dar als jene, die uns im Westen vertraut ist. Hieraus speist sich Chinas Verständnis davon, wie man als Supermacht mit Menschen und anderen Staaten umgeht. In diese Position der Stärke will es zurück, nach Jahrzehnten, in denen das Land durch die westliche Kolonialpolitik und den importierten Kommunismus in die Schranken gewiesen war. Michael Schuman erzählt Chinas komplexe Historie: von großen Dynastien, einflussreichen Denkern, verheerenden Niederlagen und wirtschaftlichen Triumphen. Er macht deutlich: China hat sich stets als alleinige Weltmacht gesehen, nach der die anderen sich richten – und das ist auch sein Ziel für die Zukunft.

Michael Schuman

Die ewige Supermacht

Eine chinesische Weltgeschichte

Aus dem Amerikanischen von Norbert Juraschitz

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2498-2Die amerikanische Originalausgabe des Buches erschien 2012 unter dem Titel Superpower Interruptedbei Public Affairs / Hachette Book Group, Inc.© für die deutsche Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021© 2020 by Michael SchumanAutorenfoto: © Eunice YoonCovergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeldnach einer Vorlage von Pete GarceauE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Zeittafel der chinesischen Dynastien

Shang, 1554–1045 v. Chr.

Zhou, 1045–256 v. Chr.

Qin, 221–206 v. Chr.

Han, 206 v. Chr.–220 n. Chr.

Phase der Teilung, 220–589

Sui, 581–618

Tang, 618–907

Song, 960–1279

Yuan, 1279–1368

Ming, 1368–1644

Qing, 1644–1912

Wichtige historische chinesische Persönlichkeiten

Karte

I. Weltgeschichte auf Chinesisch

II. Zur Supermacht geboren

III. Künstlich geschaffene Supermacht

IV. Gesicherte Supermacht

V. Barbaren ante portas

VI. Made in China

VII. Pax sinica

VIII. Die Barbaren des westlichen Ozeans

IX. Gestürzte Supermacht

X. China wieder groß machen

XI. Erneuerte Supermacht

Dank

Bibliografie

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zeittafel der chinesischen Dynastien

Widmung

Meinem Vater

Zeittafel der chinesischen Dynastien

Shang, 1554–1045 v. Chr.

Chinas erste aufgrund von archäologischen Befunden bestätigte Dynastie, die Shang, hatte einen maßgeblichen Anteil an der frühen Entwicklung der chinesischen Zivilisation, nicht zuletzt an ihrer berühmten und einflussreichen Schrift.

Zhou, 1045–256 v. Chr.

Die lange währende Herrschaft der Zhou legte das Fundament für die chinesische Kultur, insbesondere für die Philosophie, literarischen Traditionen und Regierungsideologie Chinas. Die Dynastie wird von den Historikern in zwei Phasen unterteilt: die Westliche Zhou, 1045–771 v. Chr., und die Östliche Zhou, 771–256 v. Chr. Im späteren Zeitraum ließ die Macht des königlichen Hofes nach und beschränkte sich hauptsächlich auf das Zeremonielle, während das Land in eine lange Phase der Konflikte zwischen rivalisierenden Reichen stürzte.

Qin, 221–206 v. Chr.

So kurzlebig sie war, formte die Qin-Dynastie doch das erste vereinigte chinesische Reich, das zum Vorbild für alle künftigen Dynastien wurde. Sie baute auch die ursprüngliche Große Mauer von China.

Han, 206 v. Chr.–220 n. Chr.

Die Han entwarfen die grundlegenden Institutionen und die Ideologie des chinesischen Kaiserreichs, die bis ins 20. Jahrhundert hinein Bestand haben sollten. Darüber hinaus machte die Dynastie eine große Weltmacht aus China, indem sie ihren Einfluss über ganz Ost- und Zentralasien ausdehnte und etliche Grundprinzipien der chinesischen Außenpolitik prägte. Die Dynastie wird in zwei Phasen unterteilt: die Westliche oder Frühere Han, 206 v. Chr.–8 n. Chr., mit der Hauptstadt in Changan (dem heutigen Xian) und die Spätere oder Östliche Han, 25–220 n. Chr., mit dem Sitz in Luoyang.

Phase der Teilung, 220–589

In dem auch als »Zeit der Nördlichen und Südlichen Dynastien« bezeichneten Zeitraum hatte China keine zentrale politische Befehlsgewalt. Stattdessen stritten sich mehrere Königreiche um die Macht. Die nördliche Hälfte des Landes wurde zum ersten Mal von verschiedenen Steppenvölkern regiert. Obwohl China politisch schwach war, breitete sich sein kultureller Einfluss über die ganze Region aus, angefangen bei der Gründung einer chinesischen Einflusssphäre in Ostasien.

Sui, 581–618

Obwohl die Sui nur zwei Kaiser stellten, vereinigten sie China wieder und hinterließen der Nachwelt zwei große Errungenschaften: Sie bauten den Großen Kanal, der den Norden und Süden Chinas enger miteinander verband als je zuvor, und führten Prüfungen für den Staatsdienst ein, der in späteren Dynastien zu einer tragenden Säule der Gesellschaft wurde.

Tang, 618–907

Die Tang läuteten eine der ruhmreichsten Epochen der ganzen chinesischen Geschichte ein. Auf kultureller, wirtschaftlicher und politischer Ebene erreichte China derart großen Einfluss in der Welt, dass sich nicht einmal die Han-Dynastie damit messen konnte. Unter den Tang wurde Ostasien zu einem eindeutig definierten Kulturraum auf Basis der chinesischen Zivilisation. Die Tang-Dynastie war außerdem diejenige, die am offensten für fremde Einflüsse war.

Song, 960–1279

Als weitere Epoche enormer philosophischer und künstlerischer Brillanz erlebte auch die Song-Dynastie eine Phase des wirtschaftlichen Fortschritts, die einer industriellen Revolution gleichkam. Damit etablierte sich China als Hauptmotor der Weltwirtschaft. Da die Song militärisch inkompetent waren, gelang es ihnen nicht, China gegen eindringende Horden zu verteidigen. Zunächst verloren sie in den 1120er-Jahren die Kontrolle über Nordchina an die Jurchen, dann in den 1270er-Jahren das ganze Reich an die Mongolen. Die Dynastie hat zwei Phasen: die der Nördlichen Song, 960–1127, die fast ganz China von ihrer Hauptstadt Kaifeng aus kontrollierten, und die der Südlichen Song, 1127–1279, die von Hangzhou aus nur über den Süden herrschten.

Yuan, 1279–1368

Die von Dschingis Khans Enkel Kublai gegründete mongolische Yuan war die erste nichtchinesische Dynastie, die über ganz China herrschte. Während diese Zeit von den Chinesen als eine Phase der Fremdherrschaft und Diskriminierung empfunden wurde, war es doch das erste Mal, dass China in ein größeres politisches Gemeinwesen integriert wurde: in das panasiatische Mongolenreich. Das hatte einen wichtigen kulturübergreifenden Austausch und blühenden Handel zur Folge.

Ming, 1368–1644

Die Ming eroberten China von den Mongolen zurück und hatten den Anspruch, in China wieder eine wahrhaft chinesische Herrschaft einzuführen. Die beiden berühmtesten Errungenschaften der Ming waren der Bau der Großen Mauer von China, wie wir sie heute kennen, und die Entsendung von »Schatzflotten« unter Führung von Admiral Zheng He – in der Geschichte Chinas eine der abenteuerlichsten seefahrerischen Leistungen, um den weltweiten Einfluss des Landes zu vergrößern.

Qing, 1644–1912

Chinas letzte Kaiserdynastie, die Qing, wurde von einer weiteren Gruppe von Eindringlingen aus dem Norden gegründet, den Mandschu. Als unersättliche Eroberer dehnten die Qing-Kaiser das chinesische Reich geografisch am weitesten aus. Doch die Qing blieben weit hinter dem aufsteigenden Westen zurück und fielen schließlich dem europäischen Imperialismus zum Opfer, was zur Abdankung des letzten Kaisers im Jahr 1912 und damit zum Ende des Kaiserreichs führte.

Wichtige historische chinesische Persönlichkeiten

Ban Gu, Historiker. Seine im 1. Jahrhundert vollendete Geschichte der frühen Han-Dynastie enthält einige der ältesten Formulierungen einer außenpolitischen Strategie für China.

Chiang Kai-shek, Politiker. Nach Sun Yat-sens Tod übernahm er die Führung der Nationalen Volkspartei (Kuomintang) und versuchte, China zu vereinigen, verlor aber den Bürgerkrieg gegen Mao Zedong und die chinesischen Kommunisten. Im Jahr 1949 flüchtete er auf die Insel Formosa, das heutige Taiwan.

Cixi, Kaiserinwitwe der Qing-Dynastie. Die konservative Politik und Missherrschaft der ehemaligen Konkubine, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts am Hof der Qing das Sagen hatte, werden häufig für den Sturz der Dynastie verantwortlich gemacht.

Daoguang, Kaiser der Qing-Dynastie. Der von 1821 bis 1850 regierende Daoguang verlor Anfang der 1840er-Jahre den Opiumkrieg gegen die Briten und musste notgedrungen dem »ungleichen« Vertrag von Nanking zustimmen.

Deng Xiaoping, Politiker. Diese Lichtgestalt der Kommunistischen Partei Chinas führte in den 1980er-Jahren die Wirtschaftsreform an, die Chinas Weltmacht wiederherstellte. Er befahl aber im Jahr 1989 auch die berüchtigte Niederschlagung der Demonstranten für Demokratie auf Pekings Tiananmen-Platz.

Faxian, buddhistischer Mönch. Seine Reisen zwischen China und Indien zu Beginn des 5. Jahrhunderts überlieferten uns einen frühen Bericht über die panasiatischen Handelsrouten.

Gaozong, Kaiser der Song-Dynastie. Er versammelte die Anhänger der Song-Dynastie nach der Niederlage gegen die Jurchen und wurde 1127 zum ersten Kaiser der Südlichen Song.

Guangxu, Kaiser der Qing-Dynastie. Ende des 19. Jahrhunderts verbündete er sich angesichts der schwindenden Chancen der Qing bei ihren Konflikten mit dem Westen für kurze Zeit mit radikalen Reformern. Seine Pläne wurden von der Kaiserinwitwe Cixi zunichtegemacht, die ihn im Jahr 1898 ausmanövrierte und das Ruder am Hof übernahm.

Huizong, Kaiser der Song-Dynastie. Seine verheerenden politischen Maßnahmen in der Regierungszeit von 1100 bis 1125 führten zur Niederlage der Song gegen die eindringenden Jurchen und zum Verlust Nordchinas.

Jia Yi, Staatsmann. Ein Konfuzius-Schüler des 2. Jahrhunderts v. Chr., dessen Denkweise die auswärtigen Beziehungen des chinesischen Kaiserreichs stark prägte.

Kang Youwei, Gelehrter. Er führte 1898 eine radikale Reformbewegung an, die zum Ziel hatte, die Qing-Dynastie gegenüber dem europäischen Imperialismus zu stärken.

Kangxi, Kaiser der Qing-Dynastie. Die lange Herrschaft dieses aufgeschlossenen, aber militaristischen Mandschu-Kaisers – offiziell von 1662 bis 1722 – zählt zu den ruhmreichsten der chinesischen Geschichte.

Konfuzius, Philosoph. Der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. geborene Philosoph gilt als Chinas größter Denker, dessen Ideen vom Regierungssystem der Kaiserzeit über die Bildung bis hin zum Familienleben fast die ganze Gesellschaft prägten.

Li Yuan / Kaiser Gaozu der Tang-Dynastie. Der Militäroffizier gründete im frühen 7. Jahrhundert die Tang-Dynastie.

Liang Qichao, Gelehrter. Als Aktivist, Journalist und Denker hatte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts großen Einfluss auf politische Reformer.

Lin Zexu, Beamter. Anfang der 1840er-Jahre führte der zum Sonderbevollmächtigten für die Verhandlungen mit den europäischen Kaufleuten in Guangzhou ernannte Lin mit seinen streitsüchtigen Versuchen, den Import von Opium zu stoppen, unabsichtlich den Ersten Opiumkrieg herbei. Heute wird er als Nationalheld gefeiert, weil er dem Westen die Stirn bot.

Liu Bang / Kaiser Gaozu der Han-Dynastie. Er führte einen Aufstand gegen die Qin-Dynastie an und gründete Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. die Han-Dynastie.

Mao Zedong, Politiker. Der Führer der Kommunistischen Partei gründete im Jahr 1949 die Volksrepublik China.

Mencius (Meng Zi), Philosoph. Der (nach Konfuzius) einflussreichste Gelehrte in der konfuzianischen Schule verkündete seine Ideen im 4. Jahrhundert v. Chr.

Qianlong, Kaiser der Qing-Dynastie. Dieser von 1736 bis 1795 regierende schillernde Kaiser zählt zu den aggressivsten Eroberern Chinas. Er ist außerdem dafür bekannt, dass er einen berühmten herablassenden Brief an König Georg III. von England schrieb, nachdem er 1793 eine britische Gesandtschaft empfangen hatte.

Qin Shi Huangdi, Erster Kaiser von China. Der auch als König Ying Zheng bekannte Herrscher der Qin-Dynastie schuf im Jahr 221 v. Chr. das erste vereinigte chinesische Reich.

Shang Yang, Philosoph. Er vertrat im 4. Jahrhundert v. Chr. eine Lehre der autoritären Herrschaft, die im frühen China großen Einfluss auf die Regierungstätigkeit hatte.

Sima Qian, Historiker. Seine ums Ende des 2. Jahrhunderts geschriebene epische Geschichte zählt zu den wichtigsten Quellen über das frühe China sowie die Völker des Umlands.

Sun Yat-sen, Politiker. Der Revolutionär und Fürsprecher der Demokratie in China gründete die Kuomintang (oder Nationale Volkspartei) und wurde nach der Revolution von 1911 der erste Präsident der chinesischen Republik.

Taizong, Kaiser der Tang-Dynastie. Der von 626 bis 649 herrschende zweite Kaiser der Tang-Dynastie führte eine Reihe erfolgreicher Feldzüge, die die Macht des chinesischen Reiches deutlich steigerten.

Wang Fuzhi, Philosoph. Obwohl er im 17. Jahrhundert lebte und schrieb, erlangten seine extrem nationalistischen Ansichten erst unter politischen Reformern im späten 19. Jahrhundert größere Popularität.

Wen, Kaiser der Sui-Dynastie. Er gründete im späten 6. Jahrhundert die Sui-Dynastie und, nach einer langen Phase der Teilung, das wiedervereinigte China.

Wen Tianxiang, Staatsmann. Als treuer Anhänger der Song-Dynastie widersetzte er sich im späten 13. Jahrhundert der mongolischen Eroberung und wurde von Kublai Khan hingerichtet.

Wu, König der Zhou-Dynastie. Er siegte über die Shang-Dynastie und gründete die Herrschaft der Zhou. Die Chinesen betrachten ihn als einen der größten Herrscher der chinesischen Geschichte.

Wu, Kaiser der Han-Dynastie. Dieser von 141 bis 87 v. Chr. herrschende Souverän zählt zu den bedeutendsten in der Geschichte Chinas. Er hatte maßgeblichen Anteil an der Gründung der Reichsverwaltung und, wegen seiner außenpolitischen Abenteuer, auch an der Kontaktaufnahme Chinas mit der Welt.

Xi Jinping, Politiker. Im Jahr 2012 wurde Xi Generalsekretär der Kommunistischen Partei und 2013 Präsident von China.

Yongle, Kaiser der Ming-Dynastie. Der von 1402 bis 1424 herrschende dritte Kaiser der Ming ist vor allem für die Entsendung der großen »Schatzflotten« Admiral Zheng Hes bekannt.

Yuan Shikai, Staatsmann. Der hohe Beamte und militärische Befehlshaber in der späten Qing-Dynastie versuchte nach dem Sturz des Kaisers Anfang des 20. Jahrhunderts die Reichsverwaltung wiedereinzuführen und scheiterte.

Yue Fei, General. Mit seinem beherzten Widerstand gegen die eindringenden Jurchen Mitte des 12. Jahrhunderts wurde er zu einem überaus beliebten Nationalhelden Chinas.

Zhang Qian, Entdecker. Seine Reisen im 2. Jahrhundert v. Chr. verbanden China mit Zentralasien und bildeten die Anfänge der Seidenstraße.

Zhao Kuangyin / Kaiser Taizu der Song-Dynastie. Der angesehene General gründete im späten 10. Jahrhundert die Song-Dynastie.

Zheng He, Admiral. Der wohl größte Entdecker Chinas leitete im frühen 15. Jahrhundert sieben Expeditionen der großartigen »Schatzflotten« in ganz Südostasien und bis in den Indischen Ozean.

Zhou, Herzog von, Staatsmann. Der Herzog hatte maßgeblichen Anteil an der Gründung der Zhou-Dynastie im 11. Jahrhundert v. Chr. und gilt wegen seiner Weisheit und Uneigennützigkeit im traditionellen chinesischen Denken als Vorbild für Minister der Regierung.

Zhu Yuanzhang / Hongwu, Kaiser der Ming-Dynastie. Der Rebellenführer verjagte die mongolischen Herrscher der Yuan-Dynastie aus China und gründete 1368 die Ming-Dynastie.

Karte

I. Weltgeschichte auf Chinesisch

Die Geschichte lehrt, dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss.Die drei Reiche, chinesischer Roman

So etwas wie eine Weltgeschichte gibt es nicht, zumindest keine, die für jeden Menschen das Gleiche bedeutet. Welche Weltgeschichte einem am Herzen liegt, hängt davon ab, wer man ist, wo man lebt und woher man kommt. Sie prägt, was man glaubt, wie man sich ernährt, betet und heiratet; sie formt die Gesellschaft um einen herum, die eigene Weltsicht und den Platz, den man in dieser Welt einnimmt. Die Ideen in unseren Köpfen sind uns vom Narrativ dieser eigenen Weltgeschichte eingepflanzt worden – von den Mythen, Legenden, Geschichten, Büchern und Gedichten, die von Helden und Bösewichten (realen wie imaginären) erzählen, die von kritischen Momenten, Wendepunkten, Weltanschauungen, Eroberungen, Entdeckungen, Offenbarungen, Revolutionen, Siegen, Niederlagen berichten und die von großen Männern und Frauen (und den nicht ganz so großen) handeln.

Diese Weltgeschichte teilt man zwar mit vielen anderen Menschen, aber eben nicht mit allen. Die Person, die am Nebentisch eines Restaurants sitzt oder im Flughafen an einem vorbeigeht, kann ein völlig anderes Repertoire an Überzeugungen haben, geprägt von ganz anderen Büchern, Ereignissen und Menschen aus ihrer Weltgeschichte. Die Überschneidung der eigenen Weltgeschichte mit der eines anderen hängt nicht zuletzt von der Entfernung ab. Wenn jemand beispielsweise in New Jersey wohnt, hat die Weltgeschichte, die dessen Anschauungen geformt hat, für jemanden in Yokohama, Kalkutta oder Addis Abeba höchstwahrscheinlich eine erheblich geringere Bedeutung als für jemanden aus Los Angeles, Toronto oder London.

Die Geschichte der Welt verläuft in Strängen, von denen jeder einzelne seine eigene Geschichte webt. Diese Stränge prallen gelegentlich aufeinander: Religionen breiten sich aus, Technologien werden mit anderen geteilt, Waren ausgetauscht. Doch über die längste Zeit der Geschichte verliefen die Stränge in ihren eigenen Bahnen. Vor dem Zeitalter der digitalen Kommunikation in Echtzeit, der Jumbojets und Hochgeschwindigkeitszüge überschnitten sich die Verläufe dieser Stränge längst nicht so häufig; geografisch weit voneinander entfernt liegende berührten sich kaum einmal. Eine philosophische Anschauung, ein begnadeter König, ein verheerender Krieg, der den Menschen in einem Strang weltbewegend erscheinen mag, wird von denen in einem anderen womöglich kaum wahrgenommen. Ein großer Teil der Menschheit hatte keine Ahnung, dass ein Strang der amerikanischen Geschichte überhaupt existierte, bis Christoph Kolumbus im Jahr 1492 zufällig darauf stieß.

Wer im »Westen« – in Europa und dessen Ablegern, etwa den Vereinigten Staaten – aufwächst, für den beginnt die eigene Version der Weltgeschichte üblicherweise im antiken Griechenland mit seinen Philosophen, Dramatikern und Dichtern: Homer, Aristoteles, Sokrates, Sophokles und ihresgleichen. Dazu kommen die Sagen von Zeus und den Göttern, Herakles, Perseus, nicht zu vergessen die Athener und die Wurzeln der Demokratie. Das Narrativ der Weltgeschichte wechselt kurzerhand nach Rom, zu dessen Rechtssystem, der Republik, Cäsar und dem Reich, Konstantin und zur Ausbreitung des Christentums. Es folgen der Aufstieg der Kirche, Karl der Große und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, die Epoche der Burgen und Ritter. Als Nächstes begegnen wir dem Zeitalter der Entdeckungen, der Reformation, der Renaissance, der Aufklärung und der industriellen Revolution – die Bausteine für die weltweite Herrschaft des Westens –, parallel dazu erfahren wir von der Gründung der Nationalstaaten und der Proklamierung der Menschenrechte, von Cervantes, Shakespeare und Dickens, Rousseau, Adam Smith und Locke, Newton, Darwin und Freud, George Washington, Thomas Jefferson und der Geburt der amerikanischen Republik. Unterwegs tauchen für kurze Zeit weitere Stränge auf: Alexanders Eroberungen in Asien, die Kreuzzüge und die Auseinandersetzung mit dem Islam, die Invasion der Hunnen, Mongolen und Osmanen, der Sklavenhandel mit Afrika. Doch größtenteils waren die Ereignisse, die anderen Strängen der Geschichte folgen, nur tangential für dieses Kernnarrativ und zogen keinerlei Konsequenzen nach sich. Die Reiche der Maurya, Gupta und Moguln erreichten in Indien eine großartige Blütezeit, die Inka und Azteken in Amerika; die Veden wurden niedergeschrieben, Buddha predigte, die Tempel von Angkor wurden gebaut, die polynesischen Völker breiteten sich über den ganzen Pazifik aus – und jemand, der in Frankreich wohnte, hätte das nicht einmal bemerkt und sich vermutlich wenig darum geschert, wenn er es bemerkt hätte.

Das gilt umgekehrt auch für jene Menschen, die andere Stränge erlebten. Wir im Westen wissen, wie Cäsar starb, dass Napoleon sein Waterloo erlebte und Kolumbus übers Meer fuhr. Wir haben das in der Schule, zu Hause oder im Fernsehen gelernt – ein großer Teil der übrigen Welt jedoch nicht. Sie lernten woanders in der Schule eine andere Geschichte aus anderen Lehrbüchern; sie lasen ihre eigenen Mythen und Epen; sie sprachen andere Gebete zu anderen Göttern; sie eiferten anderen Menschen nach, studierten andere Philosophen und sprachen über andere Kriege. Eben deshalb sahen und sehen sie die Welt dort aus einer ganz anderen Perspektive.

Wie die Chinesen. Für sie hätte sich die oben beschriebene Darstellung – von den Griechen und Römern, von Jesus und Luther, von der Ilias und von Hamlet – ebenso gut auf einem anderen Planeten abspielen können. Die Chinesen folgten ihrem eigenen Strang der Weltgeschichte, der mit ihren eigenen Personen bevölkert ist, sich auf ihre eigene Literatur gründet, verfasst von den eigenen Philosophen und Dichtern, mit ihren eigenen großen Schlachten, heroischen Momenten, Katastrophen, großartigen und weniger großartigen Männern und Frauen. Und genau wie wir im Westen die Produkte unserer Weltgeschichte sind, sind die Chinesen ein Erzeugnis der ihren.

Dieses Buch erzählt die Version dieser chinesischen Geschichte der Welt. Es ist allerdings keine allumfassende Geschichte Chinas. Der Leser wird keine Listen von Kaisern und deren Kommen und Gehen finden, geschweige denn eine ausgiebige Diskussion des politischen oder sozialen Wandels oder eine tiefgründige Erkundung der chinesischen Kultur. Das kann man problemlos an anderer Stelle nachlesen. Auf den folgenden Seiten wird vielmehr die Geschichte geschildert, die die chinesische Weltanschauung und, wichtiger noch, die chinesische Wahrnehmung von der eigenen Rolle innerhalb dieser Welt prägte.

Es handelt sich um eine Geschichte, die nur wenige im Westen wirklich kennen. Und genau das ist ein Problem, vor allem, weil China auf der Weltbühne immer mächtiger wird. Wir neigen dazu, China durch die Brille unserer eigenen Weltgeschichte zu betrachten. Diplomaten, Akademiker, Politiker und Journalisten in Washington, London oder Paris grübeln darüber nach, wie China am besten in unsere Welt passt. Dabei sehen die Chinesen das völlig anders. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen, wo sie in der Welt hingehören und wie die Welt aussehen sollte, basierend auf ihrer eigenen Geschichte – noch dazu einer sehr langen. Nur wenn wir diese chinesische Geschichte der Welt kennen, können wir das heutige China verstehen.

Die große Frage des 21. Jahrhunderts lautet: Was will China? Denn ohne Frage ist China die aufsteigende Macht des Zeitalters. Was das für die derzeitige Weltordnung bedeutet, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Vereinigten Staaten von Amerika geschaffen und angeführt wurde, ist das Thema von unzähligen Think-Tank-Studien und Kongressanhörungen, Fluten von Publikationen und Gesprächen auf Abendgesellschaften von Washington bis Tokio. Was genau wird China mit seiner neuen Macht unternehmen? Wird China ein Partner des Westens und seiner Verbündeten? Oder hat es den Wunsch, die Welt zu verändern und neue Werte, Institutionen und Muster des Handels und der Finanztransaktionen zu propagieren? Wird es sich an unsere Spielregeln halten oder neue schreiben?

Die Antwort auf all diese Fragen ist im Kern relativ einfach: China will das, was es immer wollte. China war in seiner Geschichte so gut wie immer eine Supermacht – und es will wieder eine Supermacht sein.

Selbstverständlich sind die Ziele der heutigen politischen Führer Chinas nicht dieselben wie im Jahr 1000 n. Chr., geschweige denn 1000 v. Chr. Nichtsdestotrotz gibt es einige verblüffende Übereinstimmungen in der Haltung Chinas gegenüber der Welt quer durch den Verlauf seiner Geschichte, von der über 3000 Jahre auf überprüfbaren schriftlichen Quellen basieren. Diese Geschichte hat in den Chinesen eine feste Überzeugung davon heranreifen lassen, welche Rolle sie und ihr Land in der Welt heute und in der fernen Zukunft für immer spielen sollten. In ihren eigenen Augen haben die Chinesen ein Anrecht darauf, eine führende Weltmacht zu sein, und sie wollen auf den ihnen gebührenden Platz an der Spitze der Weltordnung zurückkehren.

Diese Wahrnehmung basiert bis zu einem gewissen Grad auf der realen Geschichte. China war die längste Zeit seiner Existenz die größte, bedrohlichste, reichste und fortschrittlichste Zivilisation Ostasiens. Die Chinesen verfassten schon erlesene Dichtungen, ehe ihre Nachbarn überhaupt schreiben konnten. (Und als die Koreaner, Japaner und andere Völker anfingen zu schreiben, lehnten sie sich an die chinesische Schrift an.) Die Chinesen waren Pioniere bei der Staatenbildung, bei technologischen Innovationen, in der Philosophie, Literatur und Wirtschaftsorganisation. Diese Merkmale der fortschrittlichen chinesischen Zivilisation breiteten sich in der ganzen Region aus und machten Ostasien zu einer Kulturzone, die sich vom Rest der Welt abhob. Hier lasen Menschen von Japan bis nach Vietnam und darüber hinaus chinesische Bücher, kopierten chinesische Gesetzeskodizes und Erziehungsmethoden, hielten sich an chinesische diplomatische Standards und erlernten, in gehobenen Kreisen, die chinesische Sprache.

Für die Chinesen war diese chinesische Welt die Welt. Sie wussten zwar von anderen großen Zivilisationen weit jenseits ihrer Grenzen – den Römern, Persern, Indern – und respektierten sie häufig auch, doch diese Gesellschaften waren viel zu weit entfernt, um Chinas Vorrangstellung in seinem ostasiatischen Revier infrage zu stellen oder (ebenso wichtig) die Wahrnehmung, die die Chinesen von ihrer Vorrangstellung hatten.

Im Lauf der Jahrhunderte tauchten durchaus Herausforderer auf. Bisweilen war China eine gewaltige militärische Supermacht, die imstande war, Truppen bis tief in unwirtliche Wüsten, Steppen und Gebirge zu entsenden, und deren Erfolge sich mit allen Großtaten messen können, die die römischen Legionen jemals vollbrachten. Auch sie waren findige Erneuerer der Waffen und Rüstungen – mit dem Schießpulver als berühmtestem Beispiel. Doch nicht immer war China militärisch dominant, trotz seiner zahlenmäßigen Überlegenheit und seines Reichtums. Chinesische Armeen bezogen eine ordentliche Tracht Prügel von den Türken, Mongolen und allen möglichen Nomadenstämmen, von den Vietnamesen, Japanern, Tibetern, Arabern und Briten – die Liste ließe sich noch fortsetzen.

Eine Supermacht zu sein erfordert allerdings mehr als eine schlagkräftige Armee. Nehmen wir die Vereinigten Staaten von heute. Gewiss, die USA sind die weltweit stärkste Militärmacht. Das bedeutet jedoch längst nicht, dass sie jeden Krieg gewinnen; dies können die tapferen Kämpfer und Kämpferinnen bezeugen, die in Korea, Vietnam oder Afghanistan dienten. Die dortigen Niederlagen oder Pattsituationen mögen den amerikanischen Stolz und sein Prestige angekratzt haben, aber sie haben die Stellung der Vereinigten Staaten als Supermacht der Welt nicht untergraben. Nein, die Quellen für ihre Macht reichen tiefer und beschränken sich keineswegs auf die Stärke der Waffen. Die Vereinigten Staaten sind immer noch die größte Volkswirtschaft der Welt und in maßgeblichen Technologien führend. Der US-Dollar ist weltweit die Standardwährung für Handel und Finanzgeschäfte. Die Schwankungen des Dow-Jones-Index oder die Maßnahmen der US-Notenbank entscheiden über die Bewegungen der globalen Aktienmärkte und Wechselkurse. Der wohl wichtigste Aspekt ist jedoch der konkurrenzlose kulturelle Einfluss der USA. Englisch ist die weltweite Verkehrssprache in Wirtschaft, Handel, Diplomatie und Bildung. Jeder sieht sich Hollywood-Filme an und hört amerikanische Popmusik. Und die amerikanischen Ideale – »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«, Redefreiheit, demokratische Wahlen, die Gleichheit aller – sind zu Standards für die ganze Welt geworden, wurden von unzähligen anderen Ländern nachgeahmt und werden von den Unglücklichen ersehnt, die in Ländern leben, die diese Standards nicht haben.

Fast während seiner gesamten Geschichte besaß auch China diese anderen Säulen der Macht, die es dem Land gestatteten, den Rang einer Supermacht bei allem Auf und Ab der Ereignisse zu behalten. Die chinesische Volkswirtschaft war während eines Großteils der Menschheitsgeschichte die größte der Welt – oder zumindest nahe daran. Sie war der Motor von Fernhandelsnetzen, die mehr als 2000 Jahre zurückreichen. Wir im Westen neigen dazu, das Aufkommen einer wirklichen globalen Wirtschaft mit dem Aufstieg Europas gleichzusetzen. Dabei war China das Herz eines globalen Wirtschaftssystems, das bereits existierte, bevor die Portugiesen, Niederländer und Briten die Kontrolle über den Ost-West-Handel übernahmen. Und selbst Jahrhunderte nach dem Aufstieg Europas behielt China seine Stellung als erstrangige Volkswirtschaft und treibende Kraft des weltweiten Wachstums und Handels. Man denke nur daran, dass Christoph Kolumbus, als er ins Ungewisse segelte, nicht Amerika, sondern Asien suchte.

Das lag daran, dass China in der Weltwirtschaft eine einzigartige Rolle spielte. Das Land war nicht nur ein riesiger Verbrauchermarkt – denn es zählte schon immer zu den bevölkerungsreichsten Regionen auf dem Planeten –, sondern verfügte auch über eine konkurrenzlose Kapazität, Waren zu produzieren, nach denen sich die Welt sehnte. Wir staunen heute über das Ausmaß der chinesischen Produktion, als wäre das etwas Neues; in Wirklichkeit ist es lediglich eine Rückkehr zum Normalzustand. China war schon zur Zeit der alten Römer ein Herstellungszentrum. Wichtiger noch, chinesische Waren entsprachen üblicherweise dem höchsten Stand der Technik. Viele Kunden in fremden Ländern hatten schlichtweg keine Ahnung, wie die chinesischen Waren hergestellt wurden. Noch Jahrhunderte nachdem die Chinesen bereits zu einer Massenproduktion übergegangen waren, war man in Europa häufig außerstande, diese Herstellungsmethoden zu kopieren. Chinesische Exportartikel waren so beliebt, dass sie zu den ersten wahrhaft ikonischen, globalen Konsumwaren der Welt zählten – gewissermaßen die iPhones oder Nike-Sneakers ihrer Zeit.

Auch in kultureller Hinsicht blieb China führend. Selbst als China zerteilt war oder von politischen Unruhen erschüttert wurde, betrachteten seine Nachbarn das Land als Vorbild für Rechtswesen, Regierungseinrichtungen, literarische Errungenschaften und künstlerische Ausdrucksformen. Eindringlinge, die Teile oder ganz China überrannten, hielten die Kultur der besiegten Chinesen für so unwiderstehlich, dass sie sie einfach übernahmen. So gesehen war selbst das eroberte China immer noch der eigentliche Eroberer. Klassische chinesische Texte und Literatur bildeten bis zum 20. Jahrhundert die Grundlage der Bildung in Korea. Die chinesische Zivilisation war während eines Großteils der Geschichte in Ostasien die Zivilisation.

Insgesamt war Chinas politischer, wirtschaftlicher und kultureller Einfluss so stark, dass er in Ostasien eine chinesische Weltordnung formte. Die Volkswirtschaft befand sich im Zentrum eines riesigen Handelsnetzes; die Regierung legte für die gesamte Region die Spielregeln der Diplomatie fest; seine Bücher, Sprache, Philosophie und Kunst beeinflussten die Kultur aller anderen Völker. China diktierte die Regeln, alle anderen hielten sich daran.

Von ebenso großer Bedeutung wie die greifbare Macht Chinas war die Mythologie. Die Chinesen entwickelten ein komplexes nationales Narrativ, in dem sie sich selbst als die Herren über »alles unter dem Himmel« präsentierten – also der ganzen Welt, die sie kannten. Ihr Kaiser war nicht einfach ein Herrscher unter vielen, wie die Könige anderer Staaten, sondern er war der Sohn des Himmels, der göttliche Vertreter auf Erden, und folglich war ihm keiner ebenbürtig. Seine Macht hatte, in der Theorie, keine Grenzen, er herrschte universal.

Das galt auch für die chinesische Zivilisation selbst. Die chinesische Kultur war so überlegen, dass sie die Kultur war. Nur wer chinesische Vorbilder übernahm, konnte wirklich zivilisiert sein (und in manchen Fällen nicht einmal dann). Diese Sichtweise ihrer eigenen Überlegenheit wurde manchmal von der Realität gestützt, wenn die Dynastien stark waren und Menschen von überallher kamen, um sich vor dem Sohn des Himmels zu verneigen. Bisweilen, wenn China geschwächt war, hatte diese Weltanschauung tendenziell jedoch nur theoretischen Wert. Sie hielt sich allerdings über unzählige Wendungen, Triumphe und vernichtende Niederlagen in der chinesischen Reichsgeschichte hinweg. Zudem wirkte ihr Mythos als eine Art Bindemittel, das diese chinesische Weltanschauung durch die Unwägbarkeiten der chinesischen Geschichte hindurch zusammenhielt. Unter Umständen haben Ideen mehr Macht als Tatsachen.

Dann kam es zu einer Zäsur. Ein so unvermuteter wie verheerender Ansturm gegen sämtliche Seiten der chinesischen Macht erfolgte, als die chinesische Weltgeschichte auf einen anderen Strang der Weltgeschichte prallte: den westlichen. Chinesische Armeen erlitten unter den Kanonen der westlichen Mächte schmachvolle Niederlagen. Das allein störte die Supermacht China noch wenig – die Chinesen hatten während ihrer gesamten Geschichte häufig militärische Niederlagen hinnehmen müssen. Zur Zäsur kam es, weil Chinas Auseinandersetzung mit dem Westen sämtliche Säulen der eigenen Macht stürzte: seine wirtschaftliche Stärke – zunichtegemacht; sein technologischer Vorsprung und kultureller Einfluss – verschwunden; das lange gerühmte Regierungssystem – nutzlos. Die chinesische Welt fiel in sich zusammen, als der Westen Ostasien neu gestaltete. Sogar die ideologische Überzeugung der Chinesen von ihrer kulturellen Überlegenheit geriet in Gefahr, als sie anfingen, am Wert ihrer eigenen Traditionen zu zweifeln. Die Supermacht China gab es nicht mehr.

Diese Phase, als China von seinem Status als Supermacht abgesetzt wurde, war jedoch nur eine kleine Unterbrechung auf dem langen chinesischen Zeitstrahl, sie betraf lediglich ein paar Seiten in Geschichtsbänden, die ein ganzes Bücherregal füllen. Sie trat erst Mitte des 19. Jahrhunderts ein – nach chinesischen Maßstäben quasi gestern. Seither haben chinesische Staatsoberhäupter unablässig versucht, Chinas Macht wiederherzustellen, das unterbrochene Narrativ der chinesischen Weltgeschichte zu korrigieren und China wieder auf den Kurs zu bringen, dem es stets gefolgt war. Die Chinesen haben das ja schon früher geschafft – sie haben in regelmäßigen Abständen die Säulen ihrer Macht wiedererrichtet. Sie trachten danach, dies jetzt, im 21. Jahrhundert, wieder zu tun. Wird es ihnen gelingen? In einer wahrhaft globalisierten Welt, in der ein Mensch einen anderen auf der gegenüberliegenden Seite des Erdballs durch ein Tippen auf sein Smartphone beeinflussen kann, wird die Antwort auf diese Frage den weiteren Verlauf des Strangs der Weltgeschichte aller Menschen bestimmen.

Reiche kommen und gehen. Das Reich der Griechen und der Römer, das byzantinische, spanische, britische, Osmanische Reich, das Reich der Abbasiden, Perser, Mongolen, Moguln – sie alle sind untergegangen und noch viele mehr. Ihre Überreste sind in Form von Grenzen, Rechtssystemen, Architektur und Sprache erhalten geblieben, aber als politische Einheiten sind sie verschwunden. Man könnte meinen, mit China sei das Gleiche passiert. China hat keine Dynastien und Kaiser mehr; der alte Palast in Peking, die Verbotene Stadt, ist heute eine Touristenattraktion.

Aber China unterscheidet sich von anderen Reichen. In einem hohen Ausmaß hat es noch heute Bestand. China als Nationalstaat ist eine Variante der vorigen, unabhängigen, chinesischen politischen Einheiten, die auf demselben geografischen Raum entstanden waren. Das politische System Chinas hat sich im Kern als bemerkenswert resilient erwiesen. Das Zeitalter der kaiserlichen Dynastien in China dauerte atemberaubende 2100 Jahre.

Wir im Westen neigen dazu, die Geschichte Chinas als eine Abfolge von Dynastien anzusehen, als wären sie eine nach der anderen Bewohner in der Verbotenen Stadt gewesen. Sobald die Mietzeit einer Dynastie ablief, zog für uns so gesehen ein neues königliches Paar ein. Die Namen der auserwählten Imperien mögen sich geändert haben, von Tang über Song zu Ming, doch für uns waren sie mehr oder weniger austauschbar.

Ihrer tatsächlichen Bewandtnis entspricht dies nicht ganz: In manchen, häufig langen Phasen war China in rivalisierende Staaten aufgeteilt oder wurde von ausländischen Eindringlingen beherrscht. Die verschiedenen Dynastien hatten zwar gewisse Ähnlichkeiten – es waren ausnahmslos hierarchische Monarchien –, doch sie waren keineswegs identisch. Jede hatte gemäß ihrem Alter besondere Merkmale; spätere Herrscherhäuser bauten auf die von ihren Vorgängern geschaffenen Einrichtungen und Ideologien auf.

Doch das wohl Erstaunlichste an der politischen Geschichte Chinas ist die Häufigkeit, mit der das Reich wiedervereinigt wurde. China hätte durchaus den Weg Europas nehmen können, wo eine Region mit gemeinsamem kulturellem und historischem Hintergrund am Ende in rivalisierende Länder mit eigenen Sprachen, Regierungen und Zielen zerfiel. Doch in China wurden die Teile immer wieder zusammengefügt. Die Idee des einen »China«, die lange vor unserer Zeitrechnung geprägt worden war, hatte Bestand. Wenn China nicht vereint war, sehnte sich die politische Elite immerzu nach der Einheit. Der berühmte chinesische Roman Die drei Reiche aus dem 14. Jahrhundert beginnt mit folgendem Satz: »Die Geschichte lehrt, dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss.«1 Luo Guanzhong, Die drei Reiche, S. 15 ↑

Das heutige China schafft, so könnte man meinen, diese Maxime ab. Der letzte Kaiser wurde 1912 von seinem Thron verjagt. Die Regierung in Peking betrachtet sich als kommunistisch, ihre Kernideologie stützt sich auf den Marxismus-Leninismus (ein Import aus einem anderen Strang der Weltgeschichte). Das moderne China ist weder ein Reich noch eine Dynastie, sondern ein Nationalstaat, der entlang von Grenzen nach westlichem Muster entstand. Es ist ein Mitglied der Staatengemeinschaft, wie sie nach europäischen Normen für die internationalen Beziehungen geformt wurde.

Das chinesische Staatsgebiet des 21. Jahrhunderts hat jedoch viel mehr Ähnlichkeit mit seinen kaiserlichen Vorgängern, als man auf den ersten Blick erkennen kann. Und die Struktur der heutigen Regierung unterscheidet sich gar nicht so sehr von jener der Dynastien, die erstmals vor zwei Jahrtausenden geformt wurde: ein zentralisierter Staat, in dem die Macht von der Hauptstadt ausgeht und der das Land über einen weitverzweigten bürokratischen Apparat kontrolliert. Die Provinzen hatten, damals wie heute, häufig ein gewisses Maß an informeller Autonomie, was bei den Spitzenbeamten in der Hauptstadt damals wie heute für Frustration über ihre verstreuten und unabhängig denkenden Funktionäre sorgt. Das chinesische Sprichwort: »Der Himmel ist hoch, und der Kaiser ist weit«, gilt heute ebenso wie früher.

Letztlich war die chinesische Reichsordnung eine Autokratie. Es gab keine formalen Einschränkungen für die Autorität des Kaisers. Sein Verhalten und seine Entscheidungen wurden lediglich von moralischen Erwägungen, der Hofetikette und gelegentlich von willensstarken Beratern in Schach gehalten. Aber eigentlich war das Wort des Kaisers Gesetz. Kangxi, ein Kaiser der Qing-Dynastie, schrieb einmal: »Menschen das Leben schenken und Menschen töten – das ist die Macht, die der Kaiser besitzt.«2 Spence, Ich, Kaiser von China, erste Seite des Kapitels »Herrschen« ↑ Und damit übertrieb er keineswegs.

Heutzutage besitzt keine einzelne Person in China die Macht über Leben und Tod. Die 1949 gegründete Volksrepublik hat eine Verfassung, ein Gesetzgebungsverfahren und ein Justizsystem. Diese Aufteilung der Macht existiert allerdings nur auf dem Papier. In der Praxis trifft die Beschreibung Kangxis zum Teil noch heute zu. Die oberste Führung kann schalten und walten, wie es ihr beliebt, und die Parteikader, Hofjuristen und Staatsdiener werden tun, was man ihnen befiehlt. Wer den Staat herausfordert, bekommt seine ganze Macht zu spüren.

Das chinesische politische System des 21. Jahrhunderts gleicht so fast schon einem totalitären Regime. Im Jahr 2018 ließ der derzeitige Präsident Xi Jinping die Obergrenze für seine Amtszeit aus der Verfassung streichen – wenn er will, kann er sein Leben lang wie ein Kaiser herrschen. Und die häufig paranoiden Mandarine des Kaiserreichs hätten ihre wahre Freude gehabt, wenn sie die moderne Technologie in die Finger bekommen hätten, die Xi mittlerweile zur Verfügung steht, um Telefonanrufe, Textnachrichten, E-Mails, Bewegungen, Konsumverhalten und Finanztransaktionen der chinesischen Bevölkerung zu überwachen.

Überdies ähnelt das derzeitige Regime den Dynastien zunehmend auf eine Art und Weise, die seine Weltanschauung und Aktionen auf globaler Bühne direkt beeinflusst. Die chinesische Kommunistische Partei wurde vor einem Jahrhundert als Reaktion auf Chinas Auseinandersetzung mit den Westmächten gegründet. Ihre Gründerväter glaubten, wie so viele andere Intellektuelle damals, dass sich die traditionelle chinesische Staatskunst und die aus ihr entstandenen Institutionen schlecht für die moderne Welt eigneten. Wenn China nicht seine altmodischen Methoden ablege, wäre das chinesische Volk zu einer kolonialen Versklavung unter dem Joch der stärkeren europäischen Staaten verdammt. Während eines Großteils ihrer Existenz legte die kommunistische Partei großen Wert darauf, sämtliche Aspekte des traditionellen Chinas auszumerzen: seine religiösen Überzeugungen, Philosophien, Familienwerte, das Bildungs- und Wirtschaftssystem und so weiter. Immerhin ist es die Mission des Kommunismus, eine bestehende korrupte Gesellschaft zu zerstören und durch eine Utopie ohne jede Ausbeutung zu ersetzen. »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«, so das Mantra frei nach Karl Marx.

Das heutige China mit seinem Wild-West-Kapitalismus, mit Parkplätzen, die von Tesla-Automobilen wimmeln, und seinen luxuriösen Einkaufspassagen hat damit nicht mehr das Geringste zu tun. Also rehabilitiert die Führung eifrig die traditionelle Kultur, für deren Ausmerzung zuvor ein so großer Aufwand betrieben wurde. Präsident Xi spricht sich persönlich für die alten ethischen Kodizes, die Literatur und die Regierungsideologie der Kaiserzeit aus. Das kommunistische Regime verwandelt sich zunehmend in eine neue Form von Dynastie.

Für viele im Westen ist diese Wende hin zur totalitären Herrschaft beunruhigend. Vor etwa 125 Jahren gab es eine Sehnsucht nach mehr demokratischen Rechten in China, der die Regierungen nie wirklich nachkamen. Eine autoritäre Herrschaft hingegen steht eher im Einklang mit der chinesischen Geschichte der Welt. Im Gegensatz zu den Völkern im Westen können die Chinesen nicht liebevoll auf alte Republiken zurückblicken. Die politische Idee war während der ganzen, sich über Jahrtausende ziehenden politischen Entwicklung in China eine autoritäre Monarchie. Das soll nicht heißen, dass die Chinesen es verdient hätten oder sich wünschten, unter repressiven Regimes zu leben. Es heißt jedoch, dass chinesische Politiker nach europäischen oder amerikanischen Vorbildern Ausschau halten müssten, um eine repräsentative Regierung nach westlichen Kriterien zu schaffen statt nach ihrer eigenen Vergangenheit.

Das gilt auch allgemeiner. Was wir im Westen für normal, ja maßgeblich für eine moderne Gesellschaft halten, ist den Chinesen vergleichsweise neu. Das Konzept der unveräußerlichen Menschenrechte, die Gleichheit der Staaten in der internationalen Diplomatie, eine verfassungsmäßige Regierung, unabhängige Gerichte, Geschlechterparität – das sind ausnahmslos neue Vorstellungen für China und nicht Teil seiner langen Geschichte. (Fairerweise muss man sagen, dass sie auch im Westen noch relativ neu sind.) Wenn wir im Westen die Welt betrachten, neigen wir dazu zu vergessen, dass andere Völker nicht unsere politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen haben und deshalb möglicherweise nicht unsere Ideale und Prioritäten teilen.

Diese Aussage soll keineswegs die Repression rechtfertigen, unter der die chinesische Bevölkerung derzeit zu leiden hat. Sie soll lediglich feststellen, dass die chinesische Geschichte der Welt andere Ergebnisse hervorgebracht hat als die westliche Geschichte. Und wenn China auf der Weltbühne an Bedeutung gewinnt, bringt es den ganzen Ballast mit, den es auf seiner langen historischen Reise mitgeschleppt hat – ehrenwerten ebenso wie unehrenhaften.

Geschichte ist das, was man daraus macht. Wir sind uns zwar häufig über grundlegende Fakten einig – ein Krieg begann im Jahr X, oder Herr oder Frau Y hat die oder jene Wahl gewonnen –, doch die Interpretation der Ereignisse und deren Bedeutung ist ein sich stets verändernder, häufig umstrittener Prozess. Wie wir eine historische Persönlichkeit charakterisieren oder eine Kette von Ereignissen erklären, wird von der Zeit bestimmt, in der wir leben, davon, wie wir erzogen wurden und welcher Strang der Weltgeschichte unsere Anschauung geprägt hat.

Diese Lektion lernte ich in meinem ersten Studienjahr an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Nach meiner Schulzeit an einer recht gewöhnlichen, staatlichen Highschool in einem Vorort von New Jersey hatte ich beim Betreten des Campus beschlossen, mich für Kurse über Themen einzutragen, über die ich wenig oder gar nichts wusste. So landete ich in einem Kurs über die moderne Geschichte Indiens, unterrichtet von einem einnehmenden, tatkräftigen und ein wenig rätselhaften Professor, David Ludden. Der Kurs konzentrierte sich hauptsächlich auf die nationalistische Phase: Gandhi, Nehru und das Trachten nach Unabhängigkeit. Ludden gab drei Bücher über diesen Zeitraum vor, geschrieben von Gelehrten mit unterschiedlichem Hintergrund und zu verschiedenen Zeiten. Die Geschichten, die sie erzählten, wichen so grundlegend voneinander ab, als handelten die drei Bücher nicht vom gleichen Thema. Genau darum ging es Ludden: Geschichte lässt sich nicht vom menschlichen Verstand und seiner jeweiligen Umgebung trennen.

Das gilt insbesondere für den Zeitraum von 3000 Jahren, den dieses Buch abdeckt. Die Art, wie Gelehrte heute über chinesische Geschichte schreiben, deckt sich nicht unbedingt mit der, die vor einem Jahrhundert verfasst wurde oder vor 500 Jahren oder zur Zeit der Ereignisse selbst. Je weiter wir zurückgehen, desto verwirrender wird die Angelegenheit. Das Verständnis des chinesischen Altertums ändert sich jedes Mal, wenn ein Archäologe einen glücklichen Spatenstich getan hat. Momentan ist das Problem extrem akut, weil das derzeitige Regime besonderen Wert darauf legt, die Geschichte so umzuschreiben, dass sie ihren eigenen ideologischen Zielen dient.

Was ist also zu tun? Es gibt darauf keine einfachen Antworten. Ich habe, soweit möglich, versucht zu untersuchen, was chinesische Beamte, Historiker, Dichter und andere Gelehrte über die Ereignisse sagten, die sie erlebten, oder zumindest die verfügbaren Quellen zu benutzen, die möglichst nahe am Zeitgeschehen waren. Auf diese Weise erhalten wir eine chinesische Sichtweise in einer Art Echtzeit. Aber selbst das ist nur eine Teillösung. So neigten etwa chinesische Historiker schon immer dazu, die Rahmenbedingungen ideologisch einzufärben. Statt ihre eigene Analyse an den Ereignissen auszurichten, zwängten sie diese in vorgefasste Anschauungen, wie die Welt funktionieren sollte. Zum Beispiel lehrte die chinesische Philosophie, dass tugendhaftes Verhalten das Auf und Ab der Geschichte bestimme. Das heißt, Dynastien mussten stets deshalb fallen, weil schlechte Menschen sie geführt hatten; umgekehrt erlebten Dynastien eine Blütezeit, weil gute Menschen sie gründeten.

Die tatsächlichen Ereignisse waren offensichtlich viel komplexer. Ich habe mir in dieser Darstellung gewisse Freiheiten herausgenommen. Wenn man über die Geschichte Chinas und die Chinesen schreibt, ist eine der großen Schwierigkeiten, dass es so etwas wie »China« oder die »Chinesen« die längste Zeit gar nicht gab, zumindest nicht in der heutigen Bedeutung dieser Begriffe. Es gab lediglich Dynastien oder Völker einer gemeinsamen Zivilisation. Der Einfachheit halber spreche ich im ganzen Buch schlicht von »China« und den »Chinesen«.

Die Vorstellung, dass die heutige chinesische Weltanschauung, zumindest zum Teil, ein Produkt dessen sei, was vor 2000 Jahren geschah, mag einige stören, genau wie andere Interpretationen der Geschichte, die ich darlegen werde. Offensichtlich bleibt keine Gesellschaft, wie stolz sie auch auf sich sein mag, über unzählige Jahrhunderte hinweg unverändert. Die heutigen Chinesen sind, das versteht sich von selbst, nicht die Chinesen von vor hundert oder gar tausend Jahren.

Bei meiner Forschung stellte ich jedoch überrascht fest, wie viele Kernideen und Überzeugungen sämtliche politischen und sozialen Veränderungen überdauerten, die China durchgemacht hat. Wir alle sind, bis zu einem gewissen Grad, Geschöpfe unserer eigenen Geschichten der Welt. Wir im Westen beurteilen richtig und falsch immer noch nach den jahrtausendealten Zehn Geboten oder den Fabeln des Äsop. Unsere Denkweise über Gesellschaft ist von den Überlegungen eines Platon, den Theorien des Augustinus oder den in der Magna Charta verankerten Grundsätzen, die vor acht Jahrhunderten niedergeschrieben wurden, beeinflusst. Warum sollte das bei den Chinesen prinzipiell anders sein?

II. Zur Supermacht geboren

Ich habe davon gehört, dass Menschen die Lehren unseres großen Landes genutzt hätten, um Barbaren zu verändern, aber ich habe noch nie davon gehört, dass etwas durch die Barbaren verändert worden wäre.Mencius, Philosoph

Die Erde war quadratisch, geformt aus der Urmaterie – dem Ursprung aller Dinge – durch die entgegengesetzten Kräfte von Licht und Dunkelheit. Die Erhabene Nüwa knetete gelben Lehm zu den ersten menschlichen Wesen. Sie arbeitete unermüdlich und schuf immer mehr schwarzhaarige Menschen, bis die Anstrengung selbst für eine Göttin zu groß wurde. Also zog sie eine Schnur durch den Lehm, um noch mehr Männer und Frauen zu schaffen. Doch selbst dann war ihr Werk noch nicht vollendet. Eine Katastrophe erschütterte die Welt, als die Säulen, die den Himmel trugen, einstürzten. Brände und Überschwemmungen tobten auf der Erde. Gefräßige Bestien verschlangen die Menschen. Nüwa schnitt einer Schildkröte die Beine ab, um die fallenden Säulen zu stützen, und türmte aus der Asche verbrannten Schilfs Hügel auf, um die Wasserfluten einzudämmen. Die Welt war nun sicher, und die schwarzhaarigen Menschen wuchsen und gediehen.

Als Nächste kamen die Helden, um den Männern und Frauen zu helfen. Ju Ling, der göttliche Koloss, spaltete mit seiner Hand die Gebirge und gestattete es dem Gelben Fluss, sich seinen Lauf zu suchen, wobei der Gott an den Felswänden den Abdruck seiner Finger und Handflächen hinterließ. Suiren, der Feuerbohrer – kein richtiger Gott, aber auch kein Mensch, der durchs Weltall reisen konnte –, stieß auf einen Baum, der Wolken und Nebel ausspie. Ein Vogel, der wie eine Eule aussah, pickte an dem Baum, und es schossen Flammen daraus hervor. Der Feuerbohrer begriff die Bedeutung dieser Entdeckung und brachte, indem er von dem magischen Baum einen Zweig nahm, den Menschen bei, wie man Feuer machte. Shennong, der Göttliche Landmann, formte aus Holz einen Pflug und lehrte die schwarzhaarigen Menschen, wie man Feldfrüchte anbaut. Er sammelte Kräuter, um die Kranken zu heilen, kostete aber alle Pflanzen selbst, um die essbaren von den giftigen zu unterscheiden – und das unter großen persönlichen Opfern. Einmal vergiftete er sich an einem einzigen Tag 70 Mal.

Zumindest heißt es so in den alten Mythen. Die wahren Ursprünge der chinesischen Zivilisation hüllen sich in die üblichen Nebel und Mysterien, auf die wir überall bei der Frühgeschichte der Menschheit stoßen. Was wir über die ersten Siedler des Gebietes wissen, das später China wurde, können wir – buchstäblich – aus den Scherben von Keramik, Bruchstücken von Steinwerkzeugen und den Ruinen der Gebäude zusammenpuzzeln, die sie der Nachwelt hinterlassen haben. Sie erzählen uns, dass vor Tausenden von Jahren die ersten Dorfbewohner lange vor irgendwelchen anderen Menschen auf dem Planeten eine dynamische, komplexe und technisch fortschrittliche Gesellschaft gründeten.

In so früher Vorzeit gab es natürlich kein »China«, und die Menschen, die damals lebten, konnten sich auch nicht als »Chinesen« betrachtet haben. Das kam erst viel später. Die erste Gesellschaft in China setzte sich aus einer Vielzahl verschiedenartiger regionaler Kulturen zusammen, die in großen Abständen entlang des Gelben Flusses und des Jangtsekiang und deren Nebenflüssen verteilt waren. Sesshafte Bauerngemeinschaften waren auf der nördlichen Tiefebene Chinas um 6500 v. Chr. entstanden. Das waren unwirtliche Orte, wo Menschen, die in halb eingegrabenen, quadratischen Unterkünften hausten, ihre Felder mit Hacken und Sicheln aus Stein bestellten, einfache, aber charakteristische dreibeinige Tongefäße anfertigten und sich von Hirse ernährten. Weiter südlich, im wärmeren Klima der feuchten Täler des Jangtse, bevorzugten die ersten Siedler Reis – es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei den frühen Chinesen um die ersten Menschen handelte, die dieses Getreide anbauten.

Diese Siedlungen kannten keine gemeinsamen kulturellen Praktiken. Das hat man anhand ihrer Keramik herausgefunden. Manche bemalten ihre Tonwaren mit roten Streifen oder verzierten sie mit Kamm- oder Schnurmustern; andere formten riesige Kessel und schmückten ihre Töpfereien mit Darstellungen von Schweinen, Krabben und Fischen. Das Leben dieser Menschen bestand jedoch nicht nur aus Haushalt und Kochen. Sie spielten auf Flöten aus Vogelknochen und eiförmigen Blasinstrumenten und trugen Schmuck aus Jade – das waren die Anfänge der reichen künstlerischen Tradition Chinas.

Im Laufe der folgenden rund 4000 Jahre – die Zeiträume sind hier alles andere als präzise – bewegten sich diese Siedlungen auf so etwas wie eine Zivilisation zu. Aus Orten wurden kleine Städte, kleine Städte wurden größer und beständiger; ihre Bevölkerung wuchs. Die Tonwaren der Töpfer waren so dünn und fein, dass Archäologen sie mit Eierschalen verglichen. Dann fanden diese frühen Chinesen heraus, wie man Kupfer schmolz, bearbeitete und formte – ein großer Fortschritt, weil Metallwerkzeuge bessere Ernten und größeren Wohlstand brachten. Eines der ältesten Sonnenobservatorien der Welt, aus der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr., wurde in der heutigen Provinz Shanxi angelegt. Aneinandergereihte Kritzeleien auf Töpferwaren, zum Teil wie Tiere (eine Schlange, ein Vogel und ein Büffel) geformt, könnten eine erste Form von Schriftzeichen sein.

Die religiösen Zeremonien wurden ausgefeilter, Schamanen gewannen an Einfluss. Vor mehr als 5000 Jahren beteten Geistliche in einem besonders reich verzierten Opfertempel im Nordosten Chinas vor den zahlreichen weiblichen Statuen, darunter eine lebensgroße Göttin mit bemalten Lippen und durchdringenden Jade-Augen, möglicherweise um Reichtum und Gesundheit. Die Reichen wurden von den Armen getrennt, innerhalb der Städte ebenso wie unter ihnen.

Größere Städte entwickelten sich zu regionalen Wirtschaftszentren, umgeben von kleineren, weniger wohlhabenden Dörfern. Diese aufkeimenden Metropolen wurden häufig von Verteidigungswällen aus aufgeschütteter Erde geschützt – ein Indiz dafür, dass die Chinesen anfingen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Mauern umschlossen auch noble Viertel in den Stadtzentren, die Tummelplätze für die Reichen und Berühmten. Innerhalb dieser Bezirke lebten die Stammesoberhäupter in großen Häusern mit Höfen für Zeremonien und Räumen für die Verwaltung.

Handelte es sich um aufkeimende Königreiche? Die Anfänge regionaler Regierungen? Die Gelehrten sind sich da bis heute nicht einig. Doch als richtige Staaten entstanden, um 2000 v. Chr., geschah dies nur auf der nördlichen Ebene Chinas, in den heutigen Provinzen Henan und Shanxi. Weshalb, bleibt bis heute ein Rätsel. Diverse Kulturen waren immer noch entlang der Flusstäler verstreut, doch ausgerechnet in dieser einzigen Region verschmolzen die verschiedenen Gesellschaften zu etwas, aus dem die chinesische Zivilisation erwuchs.

Diese Entwicklungen sollten für Jahrtausende anhaltende Konsequenzen haben. Seither bildete das nördliche Zentralchina, der Einzugsbereich des Gelben Flusses, das Kernland, die Basis der chinesischen Kultur: das zhongguo oder Reich der Mitte oder die Zentralen Staaten, das Herz der chinesischen Welt, die wie die Sonne auf dem großen Strom leuchtete, der hindurchfloss. Die emotionale Bindung der Chinesen zu diesem Landstrich, die gelegentlich an Hysterie grenzte, sollte zu einem der maßgeblichen Motive ihrer Weltgeschichte werden.

Der erste chinesische Staat ist unter dem Namen Erlitou bekannt. Mit ihrem Sitz in der Nähe der heutigen Stadt Luoyang in der Provinz Henan schwang sich diese Monarchie, unterstützt von einer starken Verwaltung und starkem Militär, zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Motor ihrer Zeit auf, die vermutlich über kleinere Städte und Dörfer herrschte. Die Hauptstadt – weit größer als alles bislang erbaute – bot etwa 30 000 Bewohnern ein Zuhause. Eine rechteckige, befestigte Anlage, gesäumt von hölzernen Pavillons und überdachten Gängen zwischen den stattlichen Höfen, war möglicherweise Chinas erster traditioneller Königspalast – in seiner Grundform gar nicht so verschieden von der Ehrfurcht gebietenden Verbotenen Stadt in Peking. Rings um den Palast war ein Straßennetz für Wagen angelegt. Archäologen gruben sogar die Furchen aus, die ihre Räder hinterlassen hatten. Werkstätten produzierten Unmengen an Bronzegegenständen, Jade- und Türkisschmuck und anderen Luxusartikeln.

Der Einfluss von Erlitou reichte sehr weit – auch das können wir anhand der Keramikscherben sagen. Die unverwechselbaren Stile der grau gefärbten Keramik von Erlitou wurden in Städten in ganz Shanxi und Henan gefunden. Weitete sich die politische Kontrolle mit den Tontassen und Vasen etwa aus? Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Aber wir wissen, dass es damals in ganz China – womöglich in ganz Ostasien – nichts mit Erlitou Vergleichbares gab.

Wer diese frühen chinesischen Könige waren, wissen wir nicht, weil sie es uns nicht mitgeteilt haben. Eventuell übernahmen dies aber spätere Historiker. Die alten schriftlichen Quellen sprechen von Chinas erster Dynastie, der Xia. Die Geschichte wurde lange Zeit als Mythos abgetan, doch es gibt vielversprechende Hinweise dafür, dass es sich bei dem Gemeinwesen Erlitou tatsächlich um die Xia-Dynastie handelt. Diese allein sind selbstverständlich nicht stichhaltig – die Archäologen werden noch weitergraben müssen, ehe wir absolut sicher sein können. Der grobe Zeitrahmen – um 1900 bis 1600 v. Chr. – und die allgemeine Lage passen jedoch gut zu dieser Annahme. Und selbst wenn es nur eine Legende wäre, die Gründung der Xia-Dynastie zählt zu den prägenden Erzählungen der chinesischen Zivilisation.

Jedem Bibelleser dürfte die Geschichte verblüffend vertraut vorkommen: Eine große Flut überschwemmte das Gebiet, so heftig, dass sogar Berge verschwanden. Die schwarzhaarigen Menschen wurden aus ihren Häusern und von ihren Feldern vertrieben und mussten in Höhlen oberhalb der anströmenden Fluten hausen, wo sie von gefräßigen Bestien, Vögeln und Drachen verfolgt wurden. Der Mann der Stunde war Yu der Große. Der von einem Historiker der Antike als »rasch, ernst und gewissenhaft, nie vom Pfad der Tugend abweichend, nett und liebenswürdig« beschriebene Yu stürzte sich mit unerschöpflicher Energie auf eine gewaltige Aufgabe:3 Sima Qian, Shiji, »Annals of the Xia« (Übers. von Giles) ↑ Er grub Kanäle und lenkte die Fluten so, dass sie in Flussbette abgeleitet wurden, die ins Meer mündeten. Außerdem benutzte er einen Erdboden, der die Fähigkeit hatte, sich zu erneuern und das Land zu beschützen und wiederaufzubauen. Zehn Jahre lang arbeitete Yu ununterbrochen. Dreimal ging er an der Tür seines eigenen Hauses vorbei, gönnte sich aber nicht einmal eine kurze Pause, um seine Familie zu besuchen.

Yu beendete die große Flut und rettete China. Die Menschen kehrten auf ihre Felder und in ihre Häuser zurück, die bösen Drachen und Tiere wurden verjagt. Diese Heldentat überzeugte den Herrscher, eine weitere mythische Figur namens Shun, dass man Yu den Thron anvertrauen könne. Yu protestierte (wie es sich wohl geziemt), dass diese Aufgabe einem Würdigeren gebühre, doch Shun wollte davon nichts hören. »Geh hin und widme dich deinen Pflichten«, befahl er.4 Sima Qian, Shiji, »Annals of the Xia« (Übers. von Giles) ↑

Das tat Yu, mit beispiellosem Talent. Er wachte über das Land, staute Sumpfgebiete auf und verbesserte die Straßen; der Ackerbau gedieh. Der tugendhaft regierende Yu teilte die Ressourcen des Gebietes gerecht auf, um den ärmsten Provinzen zu helfen und dadurch allgemeinen Wohlstand zu gewährleisten.

Yus Familie brach jedoch mit der politischen Tradition. Seine beiden geschätzten Vorgänger – die Kaiser Yao und Shun – hatten ihre Nachfolger nach deren Verdienst, nicht nach deren Blut ernannt. Yu wollte es ihnen gleichtun und ernannte einen loyalen Minister zu seinem auserwählten Erben. Doch nachdem der große Retter Yu auf einer Inspektionsreise durch sein Königreich gestorben war, erwiesen seine Untertanen seinem tüchtigen und ehrenwerten Sohn Qi die Treue. Damit begann die erste chinesische Erbdynastie, die Xia – dies zumindest nach den Berichten der alten Historiker Chinas.

Yu der Große kann ebenso als der Gründervater Chinas angesehen werden, wie Mose es für die Israeliten war – ein Visionär, der sein Volk durch viele Prüfungen ins Gelobte Land führte. Diese Dynastie sollte für die Chinesen so große Bedeutung erlangen, dass sie sich häufig das »Volk der Xia« nannten. Ob nun Fakt oder Fiktion, Yus Geschichte war bereits vor 3000 Jahren im chinesischen Gedächtnis verwurzelt. Die Legende von Yu wird recht detailliert in einer Inschrift auf einer Bronzekanne nacherzählt, die aus der Zeit um 900 v. Chr. stammt. »Der Himmel befahl Yu, den Boden auszubreiten und die Berge zu überqueren und die Ströme trockenzulegen«, heißt es dort. »Also fällte er Bäume, um Land zum Bebauen zu bekommen, besteuerte das unterworfene Volk und wachte über die Tugenden.«5 Li, Early China, S. 50 ↑

Yu ist auch von späteren Historikern und politischen Denkern in China als vorbildlicher Herrscher gerühmt worden – als ehrlich, wohlwollend, selbstlos und gerecht. Er definiert das, was die Chinesen künftig für eine gute Regierung halten sollten. Im Westen wird die Weltgeschichte zu den Griechen, Römern und deren ersten Republiken zurückverfolgt – den Wurzeln der modernen Demokratie, die unsereins für die ideale Regierungsform hält. In der chinesischen Weltgeschichte wird die vollkommene Regierung durch Yu definiert. Der Wunschstaat Chinas hatte keine gewählte Versammlung des Volkes an seiner Spitze, sondern einen aufgeklärten, klugen König auf dem Thron, der das Volk mit Tugendhaftigkeit und Weisheit regierte. Diese Vorstellung von einer angemessenen Regierung sollte in den folgenden Jahrhunderten zu einer komplexen politischen Ideologie ausgearbeitet und erweitert werden, die für sehr lange Zeit in der chinesischen Weltgeschichte verankert bleiben sollte.

Gute Männer verdienen einen Thron, schlechte Männer verlieren ihn. So lautet die Lehre aus der chinesischen Geschichte, wie die Chinesen sie selbst schreiben. Somit war es unvermeidlich, dass die Dynastie zum Scheitern verurteilt war, als ein unwürdiger Nachfolger das Ruder Xias übernahm. Wie ein antiker Historiker schrieb, war Kaiser Jie »gewaltsam, und seine Herrschaft zerfiel«.6 Sima Qian, Shiji, »Annals of the Xia« (Übers. von Giles) ↑ Die Zeit war reif für einen neuen Helden. Der Mann, der die Gelegenheit beim Schopf packte, hieß Tang und war vermutlich der Herrscher eines mit den Xia rivalisierenden Königreichs. Tang war ebenso menschlich wie Jie unmenschlich. Es heißt, dass er einmal einem Hinterwäldler begegnete, der in jeder Richtung Netze aufhängte. Dieser schwor, er werde jeden Vogel fangen, den er zu Gesicht bekomme. Dem aufrichtigen Tang erschien das nicht fair. Er riss deshalb die meisten Netze ab, um den Vögeln eine Fluchtchance zu geben.

Nicht minder aufgebracht gegen den boshaften Jie, schickte Tang einen vertrauenswürdigen Gesandten in die Städte der Xia, um mehr über den Zustand der Dynastie in Erfahrung zu bringen. Als der Gesandte von seiner dreijährigen Erkundungsmission zurückkehrte und berichtete, dass der Xia-Herrscher von allen verachtet werde, urteilte Tang, dass Jie »die Kraft seines Volkes erschöpft und in den Städten Repression ausübt«. Um deren Ängste und Zweifel zu beseitigen, gab Tang seine Mission als göttlich sanktionierten Auftrag aus: »Nicht ich bin es, der kleine Junge, der es wagt, ein rebellisches Unterfangen zu beginnen; sondern wegen der vielen Verbrechen des Souveräns von Xia hat der Himmel den Auftrag erteilt, ihn zu vernichten«, sagte Tang.7 Shangshu, »The Speech of Tang«, im Chinese Text Project ↑

Das gelang ihm denn auch mit Leichtigkeit. Als Tang, mit einer Hellebarde bewaffnet, an der Spitze seines Heeres marschierte, weigerten sich die Soldaten der Xia, ihren verhassten König zu verteidigen, den Tang aus dem Reich verjagte. Der siegreiche Tang kehrte in seine Heimatstadt Bo zurück und wurde zum Herrscher des Gebiets ausgerufen – damit war die neue Shang-Dynastie gegründet. Von der Last der Verantwortung, die ihm auferlegt wurde, offenbar überwältigt, verfasste Tang eine tief empfundene Botschaft an seine Untergebenen: »Ich habe Angst und zittere, als wäre ich in Gefahr, in einen tiefen Abgrund zu stürzen«, schrieb er.8 Shangshu, »The Announcement of Tang« ↑

Diese Geschichten könnten allesamt ebenso gut Sagen sein. Sie klingen mit Sicherheit danach. Und lange Zeit hielt man auch die Shang-Dynastie für einen Mythos. Es gab im ganzen Norden Chinas keine bestätigenden Hinweise, dass die Shang jemals existiert hatten.

Das galt bis Anfang des 20. Jahrhunderts, als detektivisch arbeitende Archäologen die Spur aus Tierknochen mit Schriftzeichen darauf bis an einen Ort im Norden der Provinz Henan namens Anyang zurückverfolgten. (Ursprünglich hatte man die Knochen in einer Apotheke in Peking gefunden, wo man sie offenbar als Medikament gegen Malaria zermahlte.) Dort entdeckten die Archäologen eine riesige Stadt und, noch wichtiger, eine Fundgrube an Rinderknochen und Schildkrötenpanzern. Es handelte sich um Orakelknochen – Zigtausende davon –, die jene Shang-Herrscher, die es angeblich nie gegeben hatte, zur Befragung der Götter genutzt hatten. Die Shang waren real!

Wir wissen das, weil sie es uns übermittelt haben. Im Gegensatz zu den immer noch umstrittenen Xia hatten die Shang schreiben gelernt. Und das Beste daran: Sie verwendeten chinesische Schriftzeichen – nicht genau die gleichen wie heute, aber eindeutig deren Vorläufer. Die Erfindung der chinesischen Schrift zählt zu den wichtigsten Beiträgen zur chinesischen Weltgeschichte. Chinesische Schriftzeichen sollten früher oder später durch ganz Ostasien reisen und damit auch die chinesische Literatur, Philosophie und Bildung. Die chinesische Schrift war, vereinfacht gesagt, der Vermittler der chinesischen Kultur, das Internet des Altertums. Die Schriftzeichen waren für die Erschaffung einer chinesischen Welt unverzichtbar, da sie andere Völker an China banden und Ostasien als eine eigene Kulturzone vom Rest der Welt schieden. Die Schrift tauchte erstmals um 1200 v. Chr. auf, war jedoch bereits ziemlich komplex, sodass sie möglicherweise schon geraume Zeit in Gebrauch war, etwa in verderbliches Material geritzt, das nicht erhalten ist. Damit sind die Schriftzeichen der Shang die Basis der weltweit ältesten Schrift, die inzwischen seit mehr als 3000 Jahren genutzt wird.

Doch zurück zu den alten Knochen: Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Art Regierungsdokumente. In der Shang-Kultur war es üblich, bei wichtigen Staatsangelegenheiten die Geister um Rat zu fragen. Sollen wir den Feind angreifen? Wird die königliche Geburt eine glückliche sein (mit anderen Worten, ein Junge)?9 Eine englische Übersetzung der Botschaften auf einigen Orakelknochen findet sich in Ebrey, Chinese Civilization, Eintrag Nr. 1. ↑