Die Fälschung - Daniel Silva - E-Book

Die Fälschung E-Book

Daniel Silva

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Beschreibung

Auf den Spuren des größten Kunstfälschers aller Zeiten Der berüchtigte Spion und Kunstrestaurator Gabriel Allon hat seine Geheimdienst-Verbindungen abgebrochen und sich mit Frau und Kindern in Venedig niedergelassen, dem einzigen Ort, an dem er jemals wirklich Frieden gekannt hat. Doch bald stößt er auf die Fälschung eines jahrhundertealten Gemäldes und gerät in ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel. Wenn er den Multimilliarden-Dollar-Betrug an der Spitze der Kunstwelt aufdecken will, muss er selbst eine spektakuläre Täuschung vornehmen und zum Spiegelbild jenes Mannes werden, den er sucht: der größte Kunstfälscher, den die Welt je gesehen hat.

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Seitenzahl: 478

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelPortrait of an Unknown Woman bei Harper, New York.

© 2022 by Daniel Silva Deutsche Erstausgabe © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with Harper, an imprint of HarperCollins Publishers, US Covergestaltung von www.buerosued.de unter der Verwendung von Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783365004340www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Burt Bacharach

Und wie immer für meine Frau Jamie und meine Kinder Lily und Nicholas

ZITAT

Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

William Shakespeare,Der Kaufmann von Venedig

TEIL EINS

CRAQUELÉ

1

MASON’S YARD

An einem anderen Tag hätte Julian ihn gleich in den Papierkorb geworfen. Oder noch besser: Er hätte ihn an Sarah Bancrofts professionellen Aktenvernichter verfüttert. In dem langen, düsteren Pandemiewinter, in dem sie kein einziges Gemälde verkauft hatten, hatte sie das Gerät dazu benutzt, das überquellende Archiv der Galerie erbarmungslos auszulichten. Julian, der von diesem Projekt traumatisiert war, hatte befürchtet, wenn Sarah keine uralten Rechnungen und Versandpapiere mehr fand, die sie schreddern konnte, werde zuletzt er drankommen. Er würde diese Welt als kleines Parallelogramm aus vergilbtem Papier verlassen, das mit dem übrigen Altpapier zur Wiederverwertung abgeholt wurde. Im nächsten Leben würde er als klimafreundlicher Kaffeebecher zurückkehren. Es gebe schlimmere Schicksale, stellte er sich nicht ganz ohne Berechtigung vor.

Der an M.JULIANISHERWOOD adressierte Brief war an einem regnerischen Freitag Ende März in der Galerie eingegangen. Sarah hatte ihn trotzdem geöffnet; als ehemalige Agentin der Central Intelligence Agency dachte sie sich nichts dabei, die Post anderer Leute zu lesen. Sie hatte ihn fasziniert auf Julians Schreibtisch gelegt – gemeinsam mit einigen Belanglosigkeiten aus der Morgenpost, die zu den wenigen Dingen gehörten, die er regelmäßig zu sehen bekam. Erstmals las er ihn in seinem tropfnassen Regenmantel und mit vom Wind zerzausten üppigen grauen Locken am Schreibtisch stehend. Das ereignete sich um halb zwölf, was an sich bemerkenswert war, denn heutzutage kam Julian selten vor Mittag in die Galerie. So hatte er gerade noch genug Zeit, um lästig zu werden, bevor er zum Lunch aufbrach, für den er jeden Tag drei Stunden reservierte.

Sein erster Eindruck von dem Brief war, dass seine Verfasserin, eine gewisse Madame Valerie Bérrangar, die schönste Schrift hatte, die er seit Langem gesehen hatte. Anscheinend hatte sie in Le Monde gelesen, Isherwood Fine Arts habe vor Kurzem das Porträt einer Unbekannten, Öl auf Leinwand, 115 mal 92 Zentimeter, des flämischen Barockmalers Anthonis van Dyck für mehrere Millionen Pfund verkauft. Madame Bérrangar hatte offenbar Fragen zu dieser Transaktion, über die sie persönlich mit Julian sprechen wollte, weil sie juristischer und ethischer Natur waren. Dazu erwartete sie ihn am Montagnachmittag um sechzehn Uhr im Café Ravel in Bordeaux. Auf ihren Wunsch sollte Julian allein kommen.

»Was hältst du davon?«, fragte Sarah.

»Sie ist offenbar durchgeknallt.« Julian hielt den Brief hoch, als sei er Beweis genug. »Wie ist er hergekommen? Brieftaube?«

»DHL.«

»Hat auf der Empfangsquittung ein Absender gestanden?«

»Sie hat ihn bei DHL in Saint-Macaire abgegeben. Das liegt rund fünfzig Kilometer …«

»Danke, ich weiß, wo Saint-Macaire liegt«, sagte Julian – und bedauerte seinen unfreundlichen Ton sofort. »Wieso habe ich dieses schreckliche Gefühl, dass ich erpresst werden soll?«

»Sie klingt nicht wie eine Erpresserin, finde ich.«

»Da irrst du dich gewaltig, Schätzchen. Alle Erpresser, mit denen ich je zu tun hatte, hatten tadellose Manieren.«

»Dann sollten wir vielleicht die Met anrufen.«

»Die Polizei in diese Sache hineinziehen? Bist du übergeschnappt?«

»Dann zeig den Brief wenigstens Ronnie.«

Ronald Sumner-Lloyd war Julians teurer Anwalt am Berkeley Square. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte er.

So kam es, während Sarah missbilligend zusah, dass Julian den Brief um 11.36 Uhr mit spitzen Fingern über den prächtigen alten Papierkorb hielt, der noch aus der Blütezeit der Galerie stammte, als sie in der stylishen New Bond Street residiert hatte – der Neuen Bondstraße, wie sie in Teilen der Branche geheißen hatte. Aber irgendwie gelang es ihm nicht, das verdammte Ding aus den Fingern gleiten zu lassen. Oder vielleicht, dachte er später, hatte Madame Bérrangars Brief an seinen Fingern geklebt.

Er legte ihn weg, sah die restliche Morgenpost durch, rief ein paar Anrufer zurück und ließ sich von Sarah berichten, wie ein von ihr eingefädelter Verkauf vorankam. Weil er sonst nichts mehr zu tun hatte, brach er zum Lunch im Dorchester auf. Seine Begleiterin war eine Angestellte eines großen Londoner Auktionshauses, kürzlich geschieden, keine Kinder, viel jünger, aber nicht unsittlich jung. Julian erstaunte sie mit seinem Wissen über italienische und holländische Altmeister und unterhielt sie mit Geschichten über riskante Ankäufe. Das war eine Rolle, die er mit mäßigem Erfolg schon länger spielte, als er zurückdenken mochte. Er war der unvergleichliche Julian Isherwood, Julie für seine Freunde, Juicy Julie für seine gelegentlichen Zechgenossen. Er war unfehlbar loyal, absurd vertrauensselig und durch und durch Engländer. Englisch wie Nachmittagstee und schlechte Zähne, pflegte er zu sagen. Aber wäre der Krieg nicht gewesen, wäre er ein ganz anderer geworden.

Bei seiner Rückkehr in die Galerie sah er, dass Sarah Madame Bérrangars Schreiben mit einer magentaroten Haftnotiz versehen hatte, die ihm empfahl, sich die Sache zu überlegen. Er las den Brief noch mal langsam durch. Sein Ton war so förmlich wie das Briefpapier mit feiner Leinenstruktur. Selbst Julian musste zugeben, dass sie völlig normal und keineswegs wie eine Erpresserin klang. Bestimmt konnte es nicht schaden, dachte er, sich anzuhören, was sie zu sagen hatte. Zumindest bedeutete die Reise eine kleine Verschnaufpause von seiner zermürbenden Arbeit hier in der Galerie. Außerdem kündigte der Londoner Wetterbericht für mehrere Tage nasskaltes Schmuddelwetter an. Aber im Südwesten Frankreichs war es bereits Frühling.

Eine der ersten Maßnahmen, die Sarah ergriffen hatte, als sie ihre Arbeit in der Galerie aufgenommen hatte, war es gewesen, Julians bildhübscher, aber unfähiger Sekretärin Ella zu kündigen. Sarah hatte sich nie die Mühe gemacht, eine Nachfolgerin einzustellen. Sie traue sich ohne Weiteres zu, sagte sie, Telefongespräche anzunehmen, E-Mails zu beantworten, den Terminkalender zu führen und den Knopf des Türöffners zu drücken, um angemeldete Besucher einzulassen, die unten auf dem Mason’s Yard warteten.

Sie weigerte sich jedoch, Julians Reisen zu organisieren, obwohl sie sich dazu herabließ, ihm während seiner Buchung über die Schulter zu schauen, damit er nicht etwa statt des Eurostars nach Paris Gare du Nord den Orientexpress nach Istanbul buchte. Von dort aus war man mit dem TGV in nicht mal zweieinviertel Stunden in Bordeaux. Julian kaufte erfolgreich eine Fahrkarte erster Klasse und reservierte eine Juniorsuite im InterContinental – für zwei Nächte, nur um sicherzugehen.

Als das erledigt war, zog er sich in die Bar im Wiltons zu einem Drink mit Oliver Dimbleby und Roddy Hutchinson zurück, die weithin als die skrupellosesten Kunsthändler Londons galten. Wie immer, wenn Oliver und Roddy dabei waren, blieb es nicht bei nur einem Drink, und so war es nach zwei Uhr morgens, als Julian endlich ins Bett fiel. Er verbrachte den Samstag damit, seinen Kater auszukurieren, und brauchte fast den ganzen Sonntag lang, um einen Koffer zu packen. Früher hätte er sich nichts dabei gedacht, nur mit einem Aktenkoffer und einem hübschen Mädchen an Bord einer Concorde zu gehen. Aber plötzlich beanspruchten die Vorbereitungen für einen Kurztrip über den Kanal seine gesamte Konzentration. Vermutlich war das eine weitere unerwünschte Folge des Alterns wie seine zunehmende Vergesslichkeit oder sein unsicher gewordener Gang, durch den er sich oft anstieß. Als Erklärung für seine peinliche Unbeholfenheit hatte er sich mehrere selbstironische Ausreden zurechtgelegt. Er sei nie der sportliche Typ gewesen. Daran sei die verdammte Stehlampe schuld. Der Beistelltisch habe ihn angefallen.

Wie oft vor wichtigen Reisen schlief er schlecht und wachte mit dem quälenden Verdacht auf, er sei im Begriff, einen weiteren in einer langen Reihe schwerer Fehler zu begehen. Seine Stimmung besserte sich jedoch, als der Eurostar aus dem Kanaltunnel auftauchte und über die graugrünen Felder des Departements Pas-de-Calais nach Paris raste. Dort fuhr er mit der Métro vom Gare du Nord zum Gare de Montparnasse und nahm im TGV-Bistro ein leichtes Mittagessen ein, während das Licht vor seinem Fenster allmählich an das einer Landschaft von Cézanne zu erinnern begann.

Julian erinnerte sich überraschend deutlich an das erste Mal, als er dieses besondere Licht wahrgenommen hatte. Auch damals hatte er in einem Zug von Paris nach Bordeaux gesessen. Sein Vater, der jüdische Kunsthändler Samuel Isakowitz, deutscher Staatsbürger, saß ihm im Abteil gegenüber. Er las eine Zeitung vom Vortag, als sei nichts weiter passiert. Julians Mutter, deren gefaltete Hände auf ihren Knien ruhten, starrte mit ausdrucksloser Miene ins Leere.

In dem Gepäck über ihren Köpfen waren mehrere gerollte Gemälde versteckt, die in schützendes Ölpapier gewickelt waren. Einige weniger bedeutende Werke hatte Julians Vater in seiner Pariser Galerie in der Rue La Boétie im eleganten achten Arrondissement zurückgelassen. Die Masse seines einstigen Lagerbestands war bereits auf dem Schloss versteckt, das er östlich von Bordeaux gemietet hatte. Dort lebte Julian bis zu dem schrecklichen Sommer des Jahres 1942, als zwei baskische Schafhirten ihn über die Pyrenäen ins neutrale Spanien brachten. Seine Eltern wurden 1943 verhaftet, in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und gleich nach ihrer Ankunft vergast.

In Bordeaux lag der Bahnhof Saint-Jean knapp am Ufer der Garonne und am Ende des Cours de la Marne. In der renovierten Bahnhofshalle war die dezent klappernde Anzeigetafel einem Großbildschirm gewichen, aber das Art-déco-Interieur mit den beiden prominenten Uhren entsprach noch genau Julians Erinnerung. Das galt auch für die goldgelben Louis-quinze-Gebäude entlang der Boulevards, an denen er im Taxi vorbeifuhr. Manche Fassaden waren so hell, dass sie von innen heraus zu leuchten schienen. Andere waren schmutzig grau. Das lag an dem porösen hiesigen Gestein, hatte sein Vater ihm erklärt. Es nahm Schmutz aus der Luft auf und musste wie ein Ölgemälde von Zeit zu Zeit gereinigt werden.

Durch irgendein Wunder hatte das Hotel seine Reservierung nicht verschlampt. Nachdem Julian dem Pagen ein großzügiges Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, hängte er seine Sachen auf und zog sich ins Bad zurück, um etwas gegen sein ramponiertes Aussehen zu tun. Es war fünfzehn Uhr durch, als er kapitulierte. Er deponierte seine Wertsachen im Zimmersafe und überlegte kurz, ob er Madame Bérrangars Schreiben ins Café mitnehmen sollte. Eine innere Stimme – die seines Vaters, vermutete er – riet ihm jedoch, es in seinem Koffer zurückzulassen.

Dieselbe innere Stimme riet ihm, seine Aktentasche mitzunehmen, die ihm eine gewisse unverdiente Autorität verleihen konnte. Er trug sie auf dem Cours de l’Intendance an einer Reihe exklusiver Geschäfte vorbei. Hier gab es keine Autos, sondern nur Fußgänger, Radfahrer und schnittige Straßenbahnen, die fast lautlos fuhren. Mit dem Aktenkoffer in der Rechten, die Linke in der Hosentasche, wo sie seine Schlüsselkarte umfasste, schlenderte Julian dahin, ohne es sonderlich eilig zu haben.

Er folgte einer Straßenbahn um eine Ecke und befand sich auf der Rue Vital-Carles. Direkt vor ihm ragten die Doppeltürme der gotischen Kathedrale auf. Umgeben war sie von einem Meer aus Pflastersteinen, das einen weiten Platz bildete. Das Café Ravel nahm seine Nordwestecke ein. Es war kein Lokal, das viele Einheimische frequentierten, aber es lag zentral und war leicht zu finden. Julian vermutete, Madame Bérrangar habe es aus diesem Grund gewählt.

Der Schatten des Rathauses verdunkelte die meisten Cafétische im Freien, aber der Tisch, welcher der Kathedrale am nächsten war, war sonnenbeschienen und unbesetzt. Julian nahm daran Platz, stellte seine Aktentasche neben sich ab und musterte die übrigen Gäste. Außer dem Mann am dritten Tisch rechts schienen alle Touristen zu sein: Ausländer, Pauschalreisende. Julian war hier eine auffällige Erscheinung. In Flanellhose und Tweedsakko sah er wie eine Figur in einem Roman von E. M. Forster aus. Wenigstens würde Madame Bérrangar keine Mühe haben, ihn zu entdecken.

Er bestellte einen Café Crème, bevor er sich eines Besseren besann und stattdessen eine halbe Flasche weißen Bordeaux mit zwei Gläsern bestellte. Als der Ober den Wein servierte, schlug die Stundenglocke der Kathedrale eben viermal. Julian strich aus alter Gewohnheit sein Sakko glatt, während er den Platz absuchte. Aber auch um halb fünf, als die länger werdenden Schatten seinen Tisch erreichten, war Madame Valerie Bérrangar nirgends zu sehen.

Bis Julian seinen Wein ausgetrunken hatte, war es fast siebzehn Uhr. Er zahlte bar, nahm seine Aktentasche mit, ging wie ein Bettler von Tisch zu Tisch und wiederholte Madame Bérrangars Namen, ohne mehr als verständnislose Blicke zu ernten.

Das Innere des Cafés war menschenleer bis auf den Mann hinter der mit Zinkblech beschlagenen alten Theke. Er kannte keine Valerie Bérrangar, schlug aber vor, Julian solle einen Namen und seine Handynummer dalassen. »Isherwood«, sagte er, als der Barkeeper sein Gekritzel auf einer Serviette zu lesen versuchte. »Julian Isherwood. Ich wohne im InterContinental.«

Draußen schlug die Stundenglocke der Kathedrale erneut. Julian folgte einer trippelnden Taube über den gepflasterten Platz, dann bog er auf die Rue Vital-Carles ab. Unterwegs wurde ihm bewusst, dass er sich selbst Vorwürfe machte, weil er sich grundlos nach Bordeaux hatte locken lassen – und weil er zugelassen hatte, dass diese Frau, diese Madame Bérrangar, unerwünschte Erinnerungen an die Vergangenheit geweckt hatte. »Unverschämtheit!«, rief er aus und erschreckte damit einen harmlosen Passanten. Auch das gehörte zu seinen beunruhigenden neuen Schrullen, dass er manchmal laut sagte, was er gerade dachte.

Endlich verstummte das Abendläuten der Kathedrale, und die angenehm leisen Hintergrundgeräusche der altehrwürdigen Stadt kehrten zurück. Eine Straßenbahn rollte sotto voce vorbei. Julian, dessen Zorn abzuklingen begann, blieb vor einer kleinen Galerie stehen und begutachtete mit dem Unbehagen eines Profis die impressionistisch angehauchten Gemälde im Schaufenster. Dabei registrierte er vage das Geräusch eines näher kommenden Motorrads. Das ist kein Roller, sagte er sich. Nicht mit diesem Sound. Nein, das ist eines dieser fetten tiefergelegten Bikes, deren Fahrer wind- und wetterfeste Fransenjacken tragen.

Der Galeriebesitzer erschien an der Tür und lud ihn freundlich ein, sich auch drinnen umzusehen. Julian lehnte dankend ab und ging in Richtung Hotel weiter, diesmal mit seiner Aktentasche ausnahmsweise in der Linken. Das Motorengeräusch des Bikes war merklich lauter und auch höher geworden. Julian wurde plötzlich auf eine ältere Frau aufmerksam – zweifellos Madame Bérrangars Doppelgängerin –, die auf ihn deutete und in lautem Französisch etwas rief, das er nicht verstand.

Weil Julian fürchtete, wieder etwas Ungehöriges gesagt zu haben, kehrte er ihr den Rücken zu und sah das Motorrad genau auf sich zukommen, während eine Hand in einem Lederhandschuh nach seiner Aktentasche griff. Er hielt sie an seine Brust gepresst und kreiselte seitlich weg – direkt gegen das kalte Metall eines großen unbeweglichen Objekts. Als er benommen auf dem Pflaster lag, sah er mehrere Gesichter über sich, die ihn alle mitleidig betrachteten. Jemand schlug vor, einen Notarzt zu rufen, ein anderer die Polizei, Julian rappelte sich wieder auf und brachte beschämt eine seiner lange zurechtgelegten Ausreden an. Das sei nicht seine Schuld gewesen, erklärte er. Der verdammte Laternenpfahl habe ihn angefallen.

2

VENEDIG

Es war Francesco Tiepolo gewesen, der, auf Tintorettos Grab in der Kirche Madonna dell’Orto stehend, Gabriel Allon vorausgesagt hatte, er werde eines Tages nach Venedig zurückkehren. Diese Bemerkung war keineswegs nur eine Vermutung gewesen, wie Gabriel einige Abende später bei einem Candle-Light-Dinner mit seiner schönen jungen Frau auf der Insel Murano entdeckt hatte. Er hatte ohne Überzeugung oder Erfolg verschiedene Einwände gegen diesen Plan erhoben, und die Vereinbarung wurde unmittelbar nach einem elektrisierenden Konklave in Rom geschlossen. Die Bedingungen waren fair, alle waren glücklich. Vor allem Chiara. Und für Gabriel war nichts anderes wichtig.

Zugegebenermaßen war alles nur vernünftig. Schließlich war Gabriel in Venedig in die Lehre gegangen und hatte unter einem Pseudonym viele der dortigen Meisterwerke restauriert. Trotzdem enthielt die Vereinbarung auch einige potenzielle Fallstricke, darunter das Organigramm der Tiepolo Restoration Company, des größten Fachbetriebs der Stadt. Francesco würde am Ruder bleiben, bis er in den Ruhestand trat und die Leitung der geborenen Venezianerin Chiara überließ. Bis dahin würde sie als Geschäftsführerin fungieren, während Gabriel die Gemälderestaurierung leitete. In der Praxis bedeutete das, dass er für seine Frau arbeiten würde.

Er erklärte sich mit dem Kauf eines Luxusapartments einverstanden, vier Schlafzimmer in San Polo mit Blick auf den Canal Grande, ließ die Planung und Durchführung ihres Umzugs jedoch ganz in Chiaras fähigen Händen. Während Gabriel seine restliche Dienstzeit am King Saul Boulevard absolvierte, überwachte sie die Renovierungsarbeiten per Telefon von Jerusalem aus. Die letzten Monate vergingen rasch – es schien immer noch eine Besprechung zu geben, an der Gabriel teilnehmen musste, und noch eine Krise, die abgewendet werden musste –, und im Spätherbst begann seine »lange Abschiedstour«, wie die Zeitung Haaretz schrieb. Die Ereignisse reichten von Cocktailpartys und Diners mit vielen Lobreden bis zu einem großen Empfang im Hotel King David, an dem Spionagebosse aus aller Welt teilnahmen, darunter der mächtige Chef des jordanischen Geheimdiensts und seine Kollegen aus Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ihre Anwesenheit bewies, dass Gabriel, der Sicherheitspartnerschaften in der arabischen Welt gefördert hatte, einer seit Jahrzehnten durch Kriege zerrissenen Region seinen Stempel aufgedrückt hatte. Trotz seiner weiter bestehenden Probleme war der Nahe Osten in seiner Dienstzeit sicherer geworden.

Von Natur aus zurückhaltend und eher menschenscheu, fand er dieses Übermaß an Aufmerksamkeit kaum zu ertragen. Tatsächlich bevorzugte er die ruhigen Abende, die er mit Angehörigen seines engsten Stabes verbrachte – mit den Männern und Frauen, mit denen er einige der legendärsten Unternehmen in der Geschichte eines legendären Diensts durchgeführt hatte. Er bat Uzi Navot um Verzeihung. Er erteilte Michail Abramow und Natalie Mizrahi Ratschläge für Ehe und Karriere. Er lachte Tränen, als er erzählte, wie er mit Eli Lavon, der ein großer Hypochonder war, drei Jahre lang in Westeuropa im Untergrund gelebt hatte. Dina Sarid, Expertin für palästinensischen und islamischen Terrorismus, drängte ihn zu einer Interviewserie, um seine Erfolge als inoffizielle Geschichte des Diensts festhalten zu können. Gabriel lehnte jedoch ab, was wenig überraschend war. Er wolle nicht in die Vergangenheit zurückschauen, erklärte er ihr. Nur nach vorn in die Zukunft.

Zwei Angehörige seines engeren Stabes, Jossi Gawisch von der Abteilung Recherche und Jaakov Rossman, Chef der Operationsabteilung, galten als wahrscheinlichste Nachfolger. Beide waren jedoch begeistert, als sie hörten, Gabriels Wahl sei stattdessen auf Rimona Stern, Leiterin der Abteilung Beschaffung, gefallen. An einem windigen Freitagnachmittag Mitte Dezember wurde sie die erste Direktorin in der Geschichte des Diensts. Und nachdem Gabriel einen Stapel Schriftstücke unterzeichnet hatte, die seine bescheidene Pension und die schlimmen Konsequenzen eines etwaigen Geheimnisverrats betrafen, war er offiziell der berühmteste pensionierte Spion der Welt. Im Anschluss daran machte er am King Saul Boulevard einen Rundgang, bei dem er Hände schüttelte und Tränen trocknete. Seiner untröstlichen Truppe versicherte er, er gehe nicht für immer, sondern beabsichtige, im Spiel zu bleiben. Niemand glaubte ihm.

Am selben Abend nahm er an einem letzten Meeting teil, diesmal am Ufer des Sees Genezareth. Im Gegensatz zu den vorigen verlief dieses zeitweilig kontrovers, aber zuletzt wurde doch eine Art Frieden geschlossen. Früh am nächsten Morgen pilgerte er zum Grab seines Sohnes auf dem Ölberg – und zu der psychiatrischen Klinik in der Nähe des alten arabischen Dorfs Deir Jassin, in der seine erste Frau in einem Gefängnis aus Erinnerungen und einem von Brandwunden entstellten Körper lebte. Mit Rimonas Genehmigung flog die Familie Allon mit der Gulfstream des Diensts nach Venedig, wo sie nach einer ruppigen Fahrt über die Lagune mit einem Wassertaxi aus glänzendem Mahagoni um fünfzehn Uhr ihr neues Heim erreichte.

Gabriel ging als Erstes in den großen hellen Raum, der sein Atelier sein sollte, und fand dort eine antike italienische Staffelei, zwei Halogen-Arbeitslampen und ein Aluminium-Wägelchen mit Marderhaarpinseln von Winsor & Newton, Pigmenten, Malmittel und Lösungsmitteln vor. Nur sein alter CD-Spieler mit Farbklecksen fehlte. An seiner Stelle gab es eine Studioanlage aus britischer Produktion mit zwei Lautsprechersäulen. Gabriels umfangreiche CD-Sammlung war nach Genre und Komponisten sortiert.

»Was hältst du davon?«, fragte Chiara von der Tür aus.

»Bachs Violinkonzerte sind unter Brahms eingeordnet. Ansonsten ist’s absolut …«

»Erstaunlich, denke ich.«

»Wie konntest du das alles bloß von Jerusalem aus organisieren?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ist überhaupt noch Geld übrig?«

»Nicht viel.«

»Sobald wir uns eingelebt haben, nehme ich ein paar Privataufträge an.«

»Das kommt nicht infrage, fürchte ich.«

»Warum nicht?«

»Weil du nicht arbeiten darfst, bevor du dich gründlich ausgeruht und erholt hast.« Sie hielt ihm einen Zettel hin. »Du kannst damit anfangen.«

»Mit einer Einkaufsliste?«

»Wir haben kein Essen im Haus.«

»Ich dachte, ich sollte mich ausruhen.«

»Richtig.« Sie lächelte ihn an. »Lass dir Zeit, Darling. Genieße es, zur Abwechslung mal etwas Normales zu tun.«

Der nächste Supermarkt war der Carrefour in der Nähe der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari. Mit jedem Artikel, den er in seinen limonengrünen Korb legte, schien Gabriels Stresslevel eine Stufe zurückzugehen. Nach seiner Rückkehr verfolgte er die Fernsehnachrichten über den Nahen Osten ohne sonderliches Interesse, während Chiara, die leise vor sich hinsang, in ihrer Superküche das Abendessen zubereitete. Den restlichen Barbaresco tranken sie gegen die Dezemberkälte zusammengekuschelt auf der Dachterrasse. Unter ihnen schwoiten Gondeln an ihren Verankerungen. In einer leichten Biegung des Canal Grande leuchtete die Rialtobrücke im Scheinwerferlicht.

»Und wenn ich etwas Originales malen würde?«, fragte Gabriel. »Wäre das auch Arbeit?«

»Woran denkst du?«

»An eine Kanalszene. Oder vielleicht ein Stillleben.«

»Stillleben? Wie langweilig!«

»Wie wär’s mit einer Serie von Akten?«

Chiara zog eine Augenbraue hoch. »Dann bräuchtest du wohl ein Modell?«

»Ja«, sagte Gabriel und trank ihr zu. »Da hast du recht.«

Chiara wartete bis Januar, bevor sie ihre neue Stellung bei Tiepolo Restoration antrat. Das Lagerhaus der Firma lag auf dem Festland, aber sie hatte ihr Büro in San Marco in der eleganten Calle Larga XXII Marzo, die per Vaporetto in zehn Minuten zu erreichen war. Francesco stellte sie der künstlerischen Elite der Stadt vor und machte Andeutungen über eine getroffene Nachfolgeregelung. Jemand informierte die Presse, und Il Gazzetino brachte Ende Februar im Kulturteil eine kurze Meldung. Sie nannte Chiara bei ihrem Mädchennamen Zolli und erwähnte, ihr Vater sei der Oberrabbiner der schwindenden jüdischen Gemeinde Venedigs. Mit Ausnahme einiger gehässiger Kommentare, hauptsächlich von Rechtspopulisten, war das Echo positiv.

Der Artikel erwähnte keinen Ehemann oder Partner, nur zwei Kinder, anscheinend Zwillinge, Alter und Geschlecht unbekannt. Auf Chiaras Drängen besuchten Irene und Raphael keine der vielen internationalen Privatschulen, sondern die nächste Scuola Elementare. Passenderweise war sie nach Bernardo Canal, dem Vater Canalettos, benannt. Gabriel brachte sie jeden Morgen um acht in die Schule und holte sie um halb vier wieder ab. Diese beiden Termine und sein täglicher Besuch des Rialtomarkts, auf dem er fürs Abendessen der Familie einkaufte, waren seine einzigen häuslichen Verpflichtungen.

Weil Chiara ihm verboten hatte, zu arbeiten oder auch nur ins Büro von Tiepolo Restoration zu kommen, ließ er sich alle möglichen Zeitvertreibe einfallen. Er las anspruchsvolle Romane. Er hörte sich auf seiner neuen Anlage Musik an. Er malte eine Reihe von Akten, natürlich aus dem Gedächtnis, weil sein Modell ihm nicht mehr zur Verfügung stand. Gelegentlich kam Chiara zum »Lunch«, wie sie ihren leidenschaftlichen Sex zur Mittagszeit in dem herrlichen Schlafzimmer mit Blick auf den Canal Grande nannten.

Hauptsächlich war er jedoch zu Fuß unterwegs. Dies waren keine anstrengenden Wanderungen über die Klippen von Cornwall, sondern ein zielloses Umherstreifen im geruhsamen Tempo eines Flaneurs. Wenn er Lust hatte, konnte er jederzeit irgendein Gemälde besichtigen, das er restauriert hatte – und sei es nur, um zu sehen, wie gut seine Arbeit die Zeit überdauerte. Danach setzte er sich vielleicht in eine Bar, um einen Kaffee oder bei kaltem Wetter ein kleines Glas von etwas Stärkerem zu trinken, um seine Knochen zu wärmen. Oft versuchten andere Gäste, ihn in ein Gespräch übers Wetter oder Neuigkeiten des Tages zu ziehen. Während er sich früher ablehnend verhalten hatte, ließ er sich jetzt auf Gespräche ein und antwortete in perfektem Italienisch, das er mit ganz leichtem Akzent sprach, mit einem Scherz oder einer scharfsinnigen Bemerkung.

So flogen seine Dämonen einer nach dem anderen davon, und seine gewalttätige Vergangenheit, die Nächte voller Blut und Feuer schwanden aus seinen Gedanken und Träumen. Er lachte mehr. Er ließ sich die Haare wachsen. Er kleidete sich mit eleganten Hosen und Kaschmirsakkos neu ein, wie es einem Mann in seiner Position zustand. So dauerte es nicht lange, bis er den Mann, den er jeden Morgen beim Anziehen in dem großen Wandspiegel sah, kaum mehr wiedererkannte. Die Verwandlung sei fast abgeschlossen, dachte er. Er war nicht mehr Israels Racheengel. Er leitete die Gemälderestaurierung der Tiepolo Restoration Company. Chiara und Francesco verdankte er die Chance auf ein neues zweites Leben. Diesmal, das schwor er sich, würde er die alten Fehler vermeiden.

In einer Regenperiode Anfang März bat er Chiara erneut um Erlaubnis, wieder arbeiten zu dürfen. Und als sie wieder ablehnte, kaufte er eine Segeljacht, eine Bavaria C42, und verbrachte die folgenden zwei Wochen damit, einen Sommertörn durch Adria und Mittelmeer auszuarbeiten. Diese Idee unterbreitete er Chiara nach einem besonders befriedigenden Lunch im Schlafzimmer ihrer Wohnung.

»Ich muss schon sagen«, murmelte sie, »das war eine deiner besten Leistungen.«

»Das muss an der vielen Ruhe liegen, die ich bekomme.«

»Glaubst du?«

»Ich bin so ausgeruht, dass ich mich bald zu Tode langweile.«

»Vielleicht können wir etwas tun, um deine Nachmittage etwas interessanter zu machen.«

»Ich weiß nicht, ob das möglich wäre.«

»Wie wär’s mit einem Drink mit einem alten Freund?«

»Das hängt von dem Freund ab.«

»Julian hat mich im Büro angerufen, als ich gerade gehen wollte. Er ist in Venedig und fragt sich, ob du ein paar Minuten Zeit für ihn hättest.«

»Was hast du geantwortet?«

»Dass du dich auf einen Drink mit ihm treffen würdest, nachdem du dich mit mir vergnügt hast.«

»Letzteres hast du bestimmt ausgelassen.«

»Das glaube ich nicht, nein.«

»Wann erwartet er mich?«

»Drei Uhr.«

»Was ist mit den Kindern?«

»Keine Sorge, um die kümmere ich mich.« Sie sah auf den Radiowecker. »Die Frage ist nur: Was machen wir bis dahin?«

»Nachdem wir beide nackt sind …«

»Ja?«

»Willst du nicht mit ins Atelier kommen und mir Modell stehen?«

»Ich habe eine bessere Idee.«

»Und die wäre?«

Chiara lächelte. »Dessert.«

3

HARRY’S BAR

Ermattet unter einer Kaskade aus siedend heißem Wasser stehend, spülte Gabriel die letzten Spuren von Chiara von seiner Haut. Seine Kleidung lag am Fuß ihres ungemachten Betts, verknittert, ein Hemdknopf abgerissen. Er suchte frische Sachen aus dem begehbaren Kleiderschrank zusammen, zog sich rasch an und ging nach unten. Wie es der Zufall wollte, legte gerade ein Boot der Linie 2 am Ponton der Haltestelle San Tomà an. Er fuhr damit nach San Marco und betrat die intime kleine Harry’s Bar um Punkt fünfzehn Uhr.

Julian Isherwood brütete mit einem halb getrunkenen Bellini vor sich an einem Ecktisch über seinem Smartphone. Als Gabriel an seinen Tisch trat, sah er stirnrunzelnd auf, als irritiere ihn ein Unbekannter. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck zu freudigem Erkennen, bevor er anerkennend grinste.

»Chiara hat offenbar nicht darüber gescherzt, wie ihr eure Mittagspause verbringt.«

»Wir sind hier in Italien, Julian. Wir lassen uns mindestens zwei Stunden Zeit.«

»Du siehst zehn Jahre jünger aus. Was ist dein Geheimnis?«

»Zweistündige Mittagessen mit Chiara.«

Julian kniff die Augen zusammen. »Aber dahinter steckt mehr, stimmt’s? Du siehst aus wie …« Er brachte den Satz nicht zu Ende.

»Wie was, Julian?«

»Restauriert«, antwortete er nach kurzer Pause. »Du hast den Schmutz entfernt, die Schäden repariert. Fast, als ob alles nie passiert wäre.«

»Es ist nie passiert.«

»Merkwürdig, denn du siehst einem mürrischen jungen Mann, der vor hundert Jahren in meine Galerie gekommen ist, vage ähnlich. Oder waren es zweihundert Jahre?«

»Auch das ist nie passiert. Zumindest offiziell nicht«, fügte Gabriel hinzu. »Bevor ich gegangen bin, habe ich deine umfangreiche Akte in den tiefsten Tiefen des Archivs am King Saul Boulevard vergraben. Deine Verbindung zum Dienst ist jetzt offiziell gekappt.«

»Aber hoffentlich nicht zu dir.«

»Mich wirst du weiter aushalten müssen, fürchte ich.« Ein Ober servierte zwei weitere Bellinis. Gabriel hob sein Glas, trank Julian zu. »Was führt dich also nach Venedig?«

»Diese Oliven.« Julian nahm eine aus der Glasschale und warf sie mit elegantem Schwung ein. »Sie sind teuflisch gut.«

Julian trug einen seiner Anzüge aus der Savile Row, dazu ein hellblaues Oberhemd mit Umschlagmanschetten. Sein graues Haar war etwas zu lang, aber das war es fast immer. Insgesamt sah er ziemlich gut aus – bis auf das Heftpflaster auf seiner rechten Wange.

Gabriel erkundigte sich vorsichtig, wie er zu dem Pflaster gekommen sei.

»Ich hatte heute Morgen Streit mit meinem Klingenrasierer, und er hat gewonnen, fürchte ich.« Julian angelte sich eine weitere Olive aus der Glasschale. »Was machst du also den ganzen Tag, wenn du nicht mit deiner schönen Frau zu Mittag isst?«

»Ich verbringe möglichst viel Zeit mit meinen Kindern.«

»Langweilst du sie schon?«

»Anscheinend nicht.«

»Keine Sorge, bald ist’s so weit.«

»So spricht ein alter Junggeselle.«

»Das hat seine Vorteile, weißt du?«

»Sag mir einen einzigen.«

»Lass mich kurz nachdenken, dann fällt mir bestimmt einer ein.« Julian trank seinen ersten Bellini aus und griff nach dem zweiten. »Und wie steht’s mit deiner Arbeit?«, erkundigte er sich.

»Ich habe drei Akte von meiner Frau gemalt.«

»Du Ärmster. Taugen sie was?«

»Tatsächlich sind sie nicht schlecht.«

»Drei originale Allons würden auf dem freien Markt richtig Geld bringen.«

»Sie sind nur für mich bestimmt, Julian.«

Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und ein gut aussehender schwarzhaariger Italiener in engen Jeans und einer Steppjacke von Barbour kam herein. Er setzte sich an einen Nachbartisch und bestellte mit dem Akzent eines Süditalieners einen Campari Soda.

Julian betrachtete die Olivenschale. »Hast du in letzter Zeit was gereinigt?«

»Meine gesamte CD-Sammlung.«

»Ich meinte Gemälde.«

»Die Tiepolo Restoration Company hat vor Kurzem vom Kultusministerium den Auftrag erhalten, Giulia Lamas Vier Evangelisten in der Kirche San Marziale zu reinigen. Chiara sagt, dass ich diese Arbeit übernehmen darf, wenn ich mich weiterhin gut betrage.«

»Und wie viel kassiert die Tiepolo Restoration Company dafür?«

»Frag lieber nicht.«

»Vielleicht kann ich dich mit etwas locken, das ein bisschen lukrativer ist?«

»Zum Beispiel?«

»Eine prachtvolle Szene am Canal Grande, die du in ein, zwei Wochen wieder in Form bringen könntest, während du den Kanal von deinem Atelier aus vor Augen hast.«

»Zuschreibung?«

»Oberitalienische Schule.«

»Wie präzise«, murmelte Gabriel.

Die »Schule«-Zuschreibung war die unverbindlichste Bezeichnung für die Herkunft eines Altmeistergemäldes. Im Fall von Julians Venedigbild bedeutete sie, dass der Künstler irgendjemand war, der damals irgendwo in Oberitalien gearbeitet hatte. Die Bezeichnung »von« markierte das andere Ende des Spektrums. Sie bedeutete, dass der Kunsthändler oder das Auktionshaus der Überzeugung war, das angebotene Werk stamme von dem genannten Künstler. Dazwischen lagen viele subjektive und manchmal auch spekulative Zuschreibungen, die von dem respektablen »Werkstatt von« bis zu dem vieldeutigen »nach« reichten. Sie alle hatten gemeinsam, dass sie potenzielle Käufer anlocken und zugleich den Verkäufer vor juristischen Schritten schützen sollten.

»Bevor du hochnäsig ablehnst«, sagte Julian, »solltest du wissen, dass du mit dem Honorar dein neues Segelboot bezahlen könntest. Sogar zwei Boote.«

»Für ein Gemälde dieser Art ist das zu viel.«

»In den vergangenen Jahren hast du viele Kunden an mich verwiesen. Dafür möchte ich mich jetzt revanchieren.«

»Das wäre nicht ethisch.«

»Ich bin Kunsthändler, Schätzchen. Hätte ich was für Ethik übrig, würde ich bei Amnesty International arbeiten.«

»Hast du das mit deiner Partnerin besprochen?«

»Sarah und ich sind keine richtigen Partner«, sagte Julian. »Mein Name steht vielleicht noch an der Tür, aber heutzutage spiele ich nur eine Nebenrolle.« Er lächelte. »Auch das verdanke ich wahrscheinlich dir.«

Es war Gabriel gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass die ehemalige CIA-Agentin und promovierte Kunsthistorikerin Sarah Bancroft die Geschäftsführung von Isherwood Fine Arts übernahm. Und er hatte einiges dafür getan, dass ihr vor Kurzem geäußerter Heiratswunsch Wirklichkeit wurde. Aus Gründen, die in der Vergangenheit ihres Mannes lagen, fand die Trauung in einem sicheren MI6-Haus auf dem Land in Surrey heimlich statt. Julian hatte zu den wenigen geladenen Gästen gehört. Gabriel, der mit Verspätung aus Tel Aviv eingetroffen war, war Brautführer gewesen.

»Wo befindet dein Meisterwerk sich also?«, fragte er.

»Unter Bewachung in London.«

»Gibt es einen Termin?«

»Hast du andere dringende Aufträge?«

»Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Wie du meine nächste Frage beantwortest.«

»Du willst wissen, was wirklich mit meinem Gesicht passiert ist?«

Gabriel nickte. »Diesmal die Wahrheit, Julian.«

»Ein Lampenpfahl hat mich angefallen.«

»Schon wieder?«

»Ja, leider.«

»Bitte erzähl mir, dass das in einer Nebelnacht in London passiert ist.«

»Tatsächlich war’s gestern Nachmittag in Bordeaux. Dort bin ich auf Einladung einer Frau namens Valerie Bérrangar hingefahren. Angeblich wollte sie mir etwas über ein Gemälde erzählen, das ich vor Kurzem verkauft habe.«

»Doch nicht der van Dyck?«

»Doch, genau der.«

»Gibt’s da ein Problem?«

»Keine Ahnung. Leider ist Madame Bérrangar auf der Fahrt zu unserem Treff tödlich verunglückt.«

»Und der Vorfall mit dem Laternenpfahl?«, fragte Gabriel.

»Zwei Männer auf einem Motorrad haben versucht, mir meine Aktentasche zu entreißen, als ich auf dem Rückweg ins Hotel war. Zumindest hat’s so ausgesehen. Wer weiß«, sagte Julian, »vielleicht wollten sie mich auch umbringen.«

4

SAN MARCO

Auf dem Markusplatz spielte ein Streichquartett müde für die letzten Gäste des Caffè Florian.

»Ob sie auch was anderes als Vivaldi spielen können?«, fragte Julian.

»Was hast du gegen Vivaldi?«

»Ich verehre ihn. Aber wie wär’s zur Abwechslung mit Corelli? Oder Händel, wenn’s recht ist?«

»Oder Anthonis van Dyck.« Gabriel blieb vor der Auslage eines Geschäfts in den Arkaden am Südrand des Platzes stehen. »In dem Artikel in ARTnews hat nicht gestanden, wie du zu dem Gemälde gekommen bist. Auch der Käufer ist nicht identifiziert worden. Aber der Kaufpreis ist prominent herausgestellt worden.«

»Sechseinhalb Millionen Pfund.« Julian lächelte versonnen. »Jetzt musst du fragen, wie viel ich für das verdammte Ding gezahlt habe.«

»Das wollte ich gerade tun.«

»Drei Millionen Euro.«

»Also hast du weit über hundert Prozent Gewinn gemacht.«

»Aber so funktioniert der zweite Kunstmarkt, Schätzchen. Händler wie ich spüren falsch bezeichnete, im Depot gelandete oder unterbewertete Gemälde auf und bringen sie auf den Markt – idealerweise mit genug Flair und Fanfare, um einen oder mehrere reiche Interessenten anzulocken. Und vergiss nicht, dass ich hohe Unkosten hatte.«

»Für lange Mittagessen in Londoner Nobelrestaurants?«

»Tatsächlich haben die meisten in Paris stattgefunden. Ich habe das Gemälde in einer Galerie im Achten gekauft. Ausgerechnet in der Rue La Boétie.«

»Hat diese Galerie einen Namen?«

»Galerie Georges Fleury.«

»Hast du dort schon früher gekauft?«

»In rauen Mengen. Monsieur Fleury ist auf französische Gemälde aus dem 17. und 18. Jahrhundert spezialisiert, aber er führt auch holländische und flämische Altmeister. Er pflegt ausgezeichnete Beziehungen zu den ältesten und reichsten Familien Frankreichs. Zu Leuten, die von Kunstwerken umgeben in zugigen Châteaux leben. Er meldet sich bei mir, wenn er etwas Interessantes findet.«

»Wo hat er das Porträt einer Unbekannten gefunden?«

»In einer alten Privatsammlung. Genauer wollte er sich nicht erklären.«

»Zuschreibung?«

»Anthonis van Dycks Manier.«

»Dahinter kann sich alles Mögliche verbergen.«

»Richtig«, bestätigte Julian. »Aber Monsieur Fleury hat geglaubt, die Hand des Meisters zu erkennen. Er hat mich hinzugezogen für eine zweite Meinung.«

»Und?«

»Ich habe gleich beim ersten Blick darauf dieses Kribbeln im Nacken gespürt.«

Sie traten unter der Arkade hervor ins schwindende Nachmittagslicht. Links von ihnen ragte der Campanile auf. Gabriel dirigierte Julian stattdessen nach rechts, an der reich geschmückten Fassade des Dogenpalasts vorbei. Auf der Ponte della Paglia mischten sie sich unter eine Touristengruppe, die die Seufzerbrücke angaffte.

»Suchst du irgendwas?«, fragte Julian.

»Du weißt, was die Leute über alte Gewohnheiten sagen.«

»Meine sind größtenteils schlecht, fürchte ich. Du dagegen bist der disziplinierteste Mensch, den ich kenne.«

Jenseits der Brücke lag der Sestiere Castello. Sie hasteten an den Souvenirkiosken am Riva degli Schiavoni vorbei, dann folgten sie dem Durchgang zum Campo San Zaccaria mit dem Dienstgebäude der hiesigen Carabinieri. Dort hatte Julian einst eine schlaflose Nacht in einem Vernehmungsraum im ersten Stock verbracht.

»Wie geht’s deinem alten Freund General Ferrari?«, fragte er. »Reißt er noch immer Fliegen die Flügel aus? Oder hat er ein neues Hobby gefunden?«

General Cesare Ferrari war Kommandeur des Carabinieri-Dezernats für die Verteidigung des Kulturerbes, besser als Kunstdezernat bekannt. Seine Zentrale stand in Rom an der Piazza di Sant’Ignazio, aber drei von Ferraris Leuten waren in Venedig stationiert. Fahndeten sie nicht nach gestohlenen Kunstwerken, überwachten sie den ehemaligen israelischen Spionagechef und Auftragskiller, der unauffällig in San Polo lebte. General Ferrari hatte dafür gesorgt, dass Gabriel eine permanente, aber stets widerrufliche Aufenthaltserlaubnis in Italien erhielt. Daher versuchte Gabriel, ihn bei guter Laune zu halten, was nicht immer einfach war.

Neben dem Dienstgebäude der Carabinieri lag die Kirche, nach der der Platz benannt war. Zu den vielen monumentalen Kunstwerken im Hauptschiff gehörte eine Kreuzigungsszene, die van Dyck während seines sechsjährigen Studienaufenthalts in Italien gemalt hatte. Gabriel stand mit einer Hand am Kinn und leicht schräg gehaltenem Kopf davor.

»Du wolltest mir noch etwas über die Provenienz des Gemäldes erzählen.«

»Mir war sie gut genug.«

»Und das heißt?«

»Beschrieben wurde ein Porträt aus den späten Zwanzigerjahren des 17. Jahrhunderts, das im Lauf der Zeit von Flandern nach Frankreich gelangt ist. Ohne auffällige Lücken oder Unstimmigkeiten.«

»Musste es restauriert werden?«

»Monsieur Fleury hat es reinigen lassen, bevor er’s mir gezeigt hat. Dafür hat er einen eigenen Mann. Nicht deines Kalibers, versteht sich, aber nicht schlecht.« Julian durchquerte das Hauptschiff und blieb vor Bellinis majestätischem Altargemälde stehen. »Das hast du wunderbar hinbekommen. Der alte Giovanni würde dir applaudieren.«

»Glaubst du?«

Julian warf ihm einen milde tadelnden Blick über die Schulter zu. »Bescheidenheit steht dir nicht, mein Lieber. Über deine Restaurierung dieses Werks hat die ganze Kunstwelt gesprochen.«

»Ich habe länger dafür gebraucht als Giovanni, als er’s gemalt hat.«

»Die Umstände waren schwierig, wenn ich mich recht erinnere.«

»Das waren sie oft.« Gabriel blieb neben Julian vor dem Altargemälde stehen. »Vermute ich richtig, dass Sarah und du wegen der Zuschreibung eine zweite Meinung eingeholt habt, sobald das Gemälde in London eingetroffen war?«

»Nicht nur eine zweite Meinung. Auch eine dritte, vierte und fünfte. Und alle Experten waren sich darüber einig, dies sei ein Werk van Dycks, nicht eines seiner Jünger. Binnen einer Woche waren wir mitten in einem Bietergefecht.«

»Wer war der glückliche Sieger?«

»Masterpiece Art Ventures. Ein auf Kunstwerken basierender Hedgefonds, den Sarah noch aus ihrer New Yorker Zeit kannte. Ein gewisser Phillip Somerset.«

»Den Namen habe ich schon mal gehört.«

»Der Fonds kauft und verkauft Unmengen von Gemälden. Alles von Altmeistern bis zu zeitgenössischer Kunst. Somerset erzielt für seine Investoren regelmäßig fünfundzwanzig Prozent Rendite, von der er einen beträchtlichen Anteil kassiert. Und er kann recht streitsüchtig sein, wenn er glaubt, ihm sei Unrecht geschehen. Leute zu verklagen, ist sein liebster Zeitvertreib.«

»Deshalb bist du eilig nach Bordeaux gereist, nachdem eine Unbekannte dir einen ziemlich mehrdeutigen Brief geschrieben hatte.«

»Tatsächlich hat Sarah mich dazu überredet. Was den Brief betrifft, dachten die Kerle auf dem Motorrad offenbar, er sei in meiner Aktentasche. Daher haben sie versucht, sie mir zu entreißen.«

»Vielleicht waren sie gewöhnliche Straßenräuber, weißt du? Kriminalität gehört zu den wenigen Wachstumsindustrien, die es in Frankreich noch gibt.«

»Sie waren keine.«

»Woher weißt du das so sicher?«

»Als ich aus dem Krankenhaus ins Hotel zurückgekommen bin, war mein Zimmer durchsucht worden.« Julian schlug sich leicht auf die Brusttasche seines Sakkos. »Zum Glück haben sie nicht gefunden, was sie gesucht haben.«

»Von wem durchsucht?«

»Von zwei gut gekleideten Männern. Sie haben dem Pagen fünfzig Euro dafür bezahlt, dass er sie in mein Zimmer lässt.«

»Wie viel hat der Page von dir bekommen?«

»Einen Hunderter«, antwortete Julian. »Wie du dir denken kannst, habe ich eine ziemlich unruhige Nacht verbracht. Als ich morgens aufgewacht bin, hat ein Exemplar der Zeitung Sud Ouest vor meiner Tür gelegen. Nachdem ich die Meldung über einen tödlichen Verkehrsunfall ohne Fremdbeteiligung südlich von Bordeaux gelesen hatte, habe ich hastig meine Sachen gepackt und den nächsten Zug nach Paris genommen. So konnte ich den Elf-Uhr-Flug nach Venedig nehmen.«

»Weil du heißhungrig auf Oliven in Harry’s Bar warst.«

»Tatsächlich habe ich mich gefragt …«

»… ob du mich dazu überreden könntest, in Erfahrung zu bringen, was Valerie Bérrangar dir über das Porträt einer Unbekannten von Anthonis van Dyck erzählen wollte.«

»Du hast Freunde in hohen französischen Regierungskreisen«, sagte Julian. »Somit könntest du absolut diskret ermitteln, was dazu beitragen würde, einen Skandal zu vermeiden.«

»Und wenn ich Erfolg habe?«

»Das dürfte von der Art der Informationen abhängen. Gibt es bei dem Verkauf wirklich ein juristisches oder ethisches Problem, zahle ich Phillip Somerset unauffällig die sechseinhalb Millionen zurück, bevor er mich vor den Kadi zerrt und meinen einst so glänzenden Ruf zerstört.« Er hielt Gabriel Madame Bérrangars Brief hin. »Von dem Ruf deiner lieben Freundin Sarah Bancroft ganz zu schweigen.«

Gabriel zögerte, dann nahm er den Brief an sich. »Ich brauche die Zuschreibungen deiner Experten. Und natürlich Fotos des Gemäldes.«

Julian zog sein Smartphone aus der Tasche. »Wohin soll ich sie schicken?«

Gabriel gab ihm eine Adresse bei Proton Mail, dem Schweizer Provider von verschlüsselten E-Mails. Wenig später konnte er auf seinem abhörsicheren Handy ein hochaufgelöstes Foto der blassen Wange der Unbekannten studieren.

Zuletzt fragte er: »Hat einer deiner Experten sich das Craquelé genauer angesehen?«

»Warum fragst du das?«

»Du erinnerst dich an das komische Gefühl, das du hattest, als du das Bild zum ersten Mal gesehen hast?«

»Natürlich.«

»Mir geht’s ganz ähnlich.«

Julian nahm sich für die Nacht ein Zimmer im Gritti Palace. Gabriel begleitete ihn bis vors Hotel, dann ging er zum Campo Santa Maria del Giglio weiter. Nirgends war ein Tourist zu sehen. Als habe sich ein Abfluss geöffnet, dachte er, und sie ins Meer hinausgeschwemmt.

Am Westrand des Platzes, in der Nähe des Hotels Ala, lag eine schmale dunkle Gasse. Gabriel folgte ihr zur Vaporetto-Anlegestelle und gesellte sich zu drei weiteren Fahrgästen – ein wohlhabend aussehendes skandinavisches Paar und eine abgeklärt wirkende Venezianerin von etwa vierzig Jahren – in dem Wartehäuschen auf dem Ponton. Die Skandinavier steckten die Köpfe über einem Stadtplan zusammen. Die Venezianerin beobachtete, wie eine Linie 1 aus Richtung San Marco herankroch.

Als das Schiff anlegte, ging die Venezianerin, von den Skandinaviern gefolgt, als Erste an Bord. Alle drei setzten sich in die Kabine. Gabriel blieb wie gewöhnlich draußen hinter dem Ruderhaus stehen. So konnte er beobachten, wie ein einzelner verspäteter Fahrgast aus der Gasse gerannt kam.

Schwarzes Haar. Eng sitzende Jeans. Eine Steppjacke von Barbour.

Der Mann aus Harry’s Bar.

5

CANAL GRANDE

Der Unbekannte betrat den Fahrgastraum und nahm in einer der blaugrünen Sitzschalen aus Kunststoff in der ersten Reihe Platz. Er war größer, als Gabriel ihn in Erinnerung hatte, athletisch gebaut, in der Blüte seines Lebens. Anfang dreißig, höchstens Mitte dreißig. Die üble Wolke, die er hinter sich herzog, kennzeichnete ihn als Raucher. Seine links leicht ausgebuchtete Jacke zeigte, dass er bewaffnet war.

Zum Glück hatte auch Gabriel eine Schusswaffe – eine Beretta 92FS, eine 9-mm-Pistole mit Griffschalen aus Walnussholz. Die trug er mit Wissen und Einverständnis von General Ferrari und den Carabinieri. Trotzdem war er entschlossen, diese Situation ohne Waffengebrauch zu bereinigen, denn jede Gewalttätigkeit, selbst wenn sie in Notwehr geschah, konnte dazu führen, dass ihm die Aufenthaltserlaubnis entzogen wurde, was einer Ausweisung aus Italien gleichkam.

Der Palazzo Venier dei Leoni, Sitz der Peggy Guggenheim Collection, glitt von rechts nach links durch Gabriels Blickfeld. Die beiden Skandinavier stiegen an der Haltestelle Accademia aus, die Venezianerin am Ca’Rezzonico. San Tomà, Gabriels Haltestelle, würde als nächste kommen. Er blieb jedoch unbeweglich hinter dem Ruderhaus stehen, als das Vaporetto kurz anlegte, um einen einzelnen Fahrgast aufzunehmen.

Als die Fähre ablegte, sah er kurz zu den hohen Fenstern seiner neuen Wohnung auf, aus denen bernsteingelbes Licht fiel. Seine Kinder saßen vermutlich noch über ihren Hausaufgaben, während seine Frau das Abendessen zubereitete. Bestimmt machte sie sich Sorgen wegen seiner langen Abwesenheit. Aber er würde bald heimkommen. Er hatte nur noch eine Kleinigkeit zu erledigen.

Das Vaporetto überquerte den Kanal, um die Haltestelle Sant’Angelo zu bedienen, dann kehrte es nach San Polo zurück und legte in San Silvestri an. Diesmal stieg Gabriel aus, verließ den Ponton und verschwand in einem unbeleuchteten Durchgang. Hinter sich hörte er Schritte – den Klang der Schritte eines athletischen Mannes in der Blüte seines Lebens. Vielleicht, sagte Gabriel sich, geht’s doch nicht ganz gewaltfrei ab.

Er verfiel ins lässige, nicht übereilte Tempo seiner nachmittäglichen Streifzüge durch die Stadt. Trotzdem musste er zweimal vor Schaufenstern haltmachen, damit sein Verfolger wieder zu ihm aufschließen konnte. Der Mann war kein professioneller Überwachungskünstler, das war offensichtlich. Und er schien das Labyrinth aus Straßen und Gassen dieses Viertels nicht zu kennen, was Gabriel einen eindeutigen Heimvorteil verschaffte.

Er bewegte sich in Richtung Nordwesten weiter – über den Campo Sant’Aponal, an den Einmündungen vieler schmaler Gassen vorbei, über eine bogenförmige Brücke –, bis er einen Hof erreichte, der auf drei Seiten von Wohnhäusern umgeben war. Weil Gabriel wusste, dass diese verfallenden Gebäude unbewohnt waren, hatte er seinen Verfolger absichtlich hierhergelockt.

Er verschwand in einer dunklen Ecke und horchte auf die näher kommenden Schritte. Es dauerte nicht lange, bis der Mann im Durchgang zur Straße erschien. Noch einige Schritte weiter, dann blieb er im Mondschein stehen und sah sich um. Als ihm klar wurde, dass es hier keinen anderen Ausweg gab, machte er kehrt und wollte gehen.

»Suchen Sie etwas?«, fragte Gabriel auf Italienisch.

Der Mann fuhr herum und wollte instinktiv in seine Jacke greifen.

»Tun Sie’s lieber nicht.«

Der Mann erstarrte.

»Warum beschatten Sie mich?«

»Das tue ich nicht.«

»Sie waren in Harry’s Bar. Sie waren auf dem Vaporetto. Und jetzt sind Sie hier.« Gabriel trat aus den Schatten. »Zweimal kann ein Zufall sein. Aber nicht dreimal.«

»Ich suche ein Restaurant.«

»Sagen Sie mir den Namen, dann bringe ich Sie hin.«

»Osteria da Fiore.«

»Viel zu weit entfernt.« Gabriel trat einen Schritt näher. »Bitte greifen Sie noch mal nach Ihrer Waffe.«

»Wozu?«

»Damit ich kein schlechtes Gewissen habe, wenn ich Ihnen die Nase, den Unterkiefer und mehrere Rippen breche.«

Der Italiener drehte sich wortlos zur Seite, hob abwehrend die linke Hand und stemmte die rechte Faust in die Hüfte.

»Also gut«, sagte Gabriel resigniert seufzend. »Wenn Sie darauf bestehen.«

Charakteristisch für das als Krav Maga bekannte israelische Selbstverteidigungssystem sind ständiges Angreifen, gleichzeitige offensive und defensive Techniken und völlige Skrupellosigkeit. Geschwindigkeit geht über alles. Typische Kämpfe dauern nicht lange – oft nur wenige Sekunden – und enden mit Sieg oder Niederlage. Kommt ein Angriff ins Rollen, hört er erst auf, wenn der Gegner völlig kampfunfähig ist. Bleibende Schäden sind häufig. Auch zu tödlichen Verletzungen kann es kommen.

Kein Teil des Körpers wird ausgespart. Tatsächlich werden Krav-Maga-Kämpfer sogar angehalten, ihre Angriffe auf empfindliche, verwundbare Regionen zu konzentrieren. Gabriels Eröffnungszug bestand aus einem brutalen Tritt an die linke Kniescheibe seines Gegners, bevor er mit aller Gewalt auf den Innenrist seines rechten Fußes trat. Als Nächstes nahm er sich die Genitalien und das Sonnengeflecht vor, bevor er Kehle, Nase und Kopf mit Handkantenschlägen und Ellbogenstößen bearbeitete. Dem jüngeren, größeren Italiener gelang es nicht, auch nur einen einzigen Tritt oder Schlag anzubringen. Aber auch Gabriel kam nicht unverletzt davon. Seine rechte Hand pochte schmerzhaft, vermutlich von einem Haarriss – für einen Krav-Maga-Kämpfer das Gegenstück zu einem Eigentor.

Mit den Fingern der linken Hand ertastete er den Puls seines zu Boden gegangenen Gegners und überzeugte sich davon, dass er noch atmete. Dann griff er in die Jacke des Mannes und fand, dass er tatsächlich bewaffnet war – mit einer Beretta 8000, der Standardpistole von Offizieren der Carabinieri. Bestätigt wurde Gabriels Verdacht durch den Dienstausweis, den er bei dem Bewusstlosen fand. Vor ihm lag Capitano Luca Rossetti vom Commando carabinieri per la tutela del patrimonio culturale in Venedig.

Vom Kunstdezernat …

Gabriel steckte die Pistole in das Schulterholster und den Dienstausweis in die Jackentasche zurück. Dann rief er die hiesige Dienststelle der Carabinieri an, um zu melden, auf einem Hof am Campo Sant’Aponal liege ein Verletzter. Das tat er anonym, mit unterdrückter Anrufernummer und mit venezianischem Akzent. Mit General Ferrari würde er sich vormittags auseinandersetzen. Im Augenblick kam es darauf an, eine plausible Geschichte zu erfinden, die Chiara seine verletzte Hand erklären würde. Die fiel ihm ein, als er die San-Polo-Brücke überquerte. Er könne nichts dafür, würde er ihr erklären. Der verdammte Laternenpfahl habe ihn angefallen.

6

SAN POLO

Fünf Minuten später stieg Gabriel auf der Treppe zu seiner Wohnung der appetitliche Duft von Kalbfleisch, das in Wein und Gewürzen köchelte, in die Nase. Er gab den Code auf dem Tastenfeld ein und öffnete die Tür – beides mit der linken Hand, während seine rechte in der Jackentasche blieb. Dort blieb sie auch, als er ins Wohnzimmer trat, wo er Irene mit einem Bleistift in der Hand und angestrengt gerunzelter Stirn auf dem Teppich liegend antraf.

Gabriel sprach sie auf Italienisch an. »In deinem Zimmer steht ein schöner Schreibtisch, weißt du?«

»Ich arbeite lieber auf dem Fußboden. Da kann ich mich besser konzentrieren.«

»Woran arbeitest du?«

»Mathe, Dummerchen.« Sie sah mit den Augen seiner Mutter zu Gabriel auf. »Wo warst du so lange?«

»Ich hatte eine Besprechung.«

»Mit wem?«

»Einem alten Freund.«

»Arbeitet er beim Dienst?«

»Wie kommst du bloß auf diese Idee?«

»Weil das alle deine alten Freunde tun.«

»Nicht alle«, sagte Gabriel und sah zu Raphael hinüber. Der Junge fläzte auf dem Sofa, und seine dicht bewimperten jadegrünen Augen starrten beunruhigend intensiv aufs Display einer Videokonsole. »Was spielt er?«

»Mario.«

»Was?«

»Das ist ein Computerspiel.«

»Warum macht er keine Hausaufgaben?«

»Er ist schon fertig.« Irene deutete aufs Arbeitsheft ihres Zwillingsbruders. »Sieh nur selbst.«

Gabriel machte einen langen Hals, um Raphaels Rechenaufgaben kontrollieren zu können. Zwanzig rudimentäre Gleichungen mit Additionen und Subtraktionen, alle beim ersten Versuch richtig gelöst.

»Warst du gut in Mathe, als du klein warst?«, fragte Irene.

»Sie hat mich nicht besonders interessiert.«

»Was ist mit Mama?«

»Die hat römische Geschichte studiert.«

»In Padua?«

»Richtig.«

»Studieren Raphael und ich später auch mal dort?«

»Bist du für solche Pläne nicht noch ein bisschen zu jung?«

Sie leckte seufzend einen Zeigefinger an, um in ihrem Arbeitsheft umzublättern. In der warmen Küche war Chiara eben dabei, eine Flasche Brunello di Montalcino zu entkorken. Aus dem Bluetooth-Lautsprecher auf der Arbeitsfläche kam Andrea Bocellis Stimme.

»Diesen Song habe ich schon immer geliebt«, sagte Gabriel.

»Fragt sich nur, warum.« Chiara benutzte ihr Smartphone, um den Ton leiser zu stellen. »Willst du irgendwo hin?«

»Wie bitte?«

»Weil du noch deine Jacke anhast.«

»Ich bin ein bisschen ausgekühlt, das ist alles.« Er beugte sich zum Sichtfenster des Backofens von Vulcan hinunter. Im Rohr stand die orangerote Kasserolle, in der Chiara Ossobuco zubereitete. »Was habe ich getan, um das zu verdienen?«

»Ich wüsste einen oder zwei Gründe. Oder drei«, fügte sie hinzu.

»Wann können wir essen?«

»In ungefähr einer halben Stunde.« Sie schenkte zwei Gläser Brunello ein. »Reichlich Zeit, in der du mir alles über dein Gespräch mit Julian erzählen kannst.«

»Darüber würde ich gern nach dem Essen reden, wenn’s recht ist.«

»Gibt’s ein Problem?«

Er drehte sich ruckartig um. »Wie kommst du darauf?«

»Wo Julian die Hand im Spiel hat, gibt es meistens eines.« Chiara musterte ihn prüfend. »Und du bist sichtlich beunruhigt.«

Gabriel beschloss nicht ohne Gewissensbisse, am sichersten sei es, seine Verstimmung auf Raphael zu schieben. »Dein Sohn hat mich beim Heimkommen ignoriert, weil er von seinem Computerspiel hypnotisiert war.«

»Ich hab’s ihm erlaubt.«

»Warum?«

»Weil er für seine Matheaufgaben kaum fünf Minuten gebraucht hat. Seine Lehrer halten ihn für hochbegabt. Sie wollen ihn für eine Spezialförderung vorschlagen.«

»Von mir hat er das jedenfalls nicht.«

»Von mir auch nicht.« Chiara gab ihm ein Glas Wein. »In deinem Atelier liegt ein Päckchen. Könnte von deiner Freundin Anna Rolfe sein, denke ich.« Sie lächelte kühl. »Entspann dich bei etwas Musik, dann geht’s dir besser.«

»Danke, mir fehlt nichts.«

Mit dem Weinglas in der linken Hand zog Gabriel sich ins Bad zurück, wo er seine verletzte rechte Hand im Licht der Spiegelleuchte gründlich untersuchte. Der stechende Schmerz bei einer vorsichtigen Berührung ließ wenigstens einen Haarriss im fünften Mittelhandknochen vermuten. Die Schwellung war unübersehbar, aber vorerst gab es noch keinen sichtbaren Bluterguss. Als Minimum wären sofortige Schienung und Eisbeutel angezeigt gewesen. Weil das unter den Umständen nicht möglich war, blieben Gabriel als Therapie nur Alkohol und Schmerztabletten.

Er nahm ein Fläschchen Ibuprofen aus dem Spiegelschrank, kippte einige der smaragdgrünen Kapseln in seine Hand und spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter. In seinem Atelier fand er ein Päckchen vor, das ihm die Deutsche Grammophon geschickt hatte. Es enthielt zwei CDs mit Mozarts großartigen Violinkonzerten, die sich dadurch auszeichneten, dass die Solistin die Geige spielte, für die Mozart sie komponiert hatte.

Gabriel legte die erste CD ein, drückte PLAY und trat an seine Staffelei. Dort blickte er auf eine schöne junge Frau, die nackt auf einem Brokatsofa drapiert war und deren melancholischer Blick dem des Betrachters begegnete – in diesem Fall dem des Künstlers, der sie gemalt hatte. Gibt es ein Problem? Nein, dachte er, während seine Hand schmerzhaft pochte. Überhaupt kein Problem.

Gabriel schaffte es, sich die Klavierkonzerte KV207 und KV211 anzuhören, bevor Chiara ihn ins Speisezimmer rief. Das Essen auf dem Tisch sah wie für Bon Appétit arrangiert aus: der Risotto, das geschmorte Gemüse, das von Olivenöl glänzte, und natürlich die geschmorten Kalbshaxen in gehaltvoller Tomatensoße mit Wein und Gewürzen. Das Fleisch war wie immer sehr zart, sodass Gabriel mit einer Hand essen und die andere auf dem Schoß liegen lassen konnte. Seine Brunello-und-Ibuprofen-Therapie wirkte so gut, dass er kaum etwas spürte. Er ahnte allerdings, dass die Schmerzen verstärkt zurückkommen würden, wenn die Wirkung abflaute – vermutlich irgendwann gegen drei Uhr morgens.

Chiaras Augen glänzten im Kerzenlicht, während sie die Unterhaltung bei Tisch lenkte. Diplomatischerweise sprach sie Raphaels mathematische Begabung an, woraus eine Diskussion darüber entstand, wie sein Talent nützlich eingesetzt werden könnte. Irene, die Umweltschützerin der Familie, schlug vor, ihr Bruder solle Klimawissenschaftler werden.

»Wieso?«, fragte Gabriel sie.

»Hast du den UN-Bericht über globale Erwärmung gelesen?«

»Du vielleicht?«

»Wir haben im Unterricht darüber gesprochen. Signora Antonelli sagt, dass Venedig untergehen wird, weil das Grönlandeis schmilzt. Sie sagt, dass sich alles hätte verhindern lassen, wenn die Amerikaner nicht das Pariser Klimaschutz-Abkommen aufgekündigt hätten.«

»Darüber kann man geteilter Meinung sein.«

»Sie sagt, dass es jetzt zu spät sei, eine bedeutende Erhöhung der globalen Temperaturen zu verhindern.«

»Da hat sie allerdings recht.«

»Wieso haben die Amerikaner das Abkommen aufgekündigt?«

»Der Mann, der damals ihr Präsident war, hat den Klimawandel für einen Schwindel gehalten.«

»Wie kann man das nur glauben?«

»Bei Amerikanern, die am äußersten rechten Rand stehen, kommt das häufig vor. Aber können wir nicht von etwas Angenehmerem reden?«

Es war Raphael, der ein neues Thema aufgriff. »Was bedeutet eigentlich woke?«

Gabriel sah zu ihm hinüber und antwortete, so gut er eben konnte. »Das ist ein Wort, das aus der schwarzen Community in den Vereinigten Staaten kommt. Ist jemand woke, befasst er sich besonders mit Problemen wie Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit.«

»Bist du woke?«

»Offensichtlich.«

»Dann bin ich’s auch, glaub ich.«

»An deiner Stelle würde ich das für mich behalten.«

Nach dem Essen erboten die Kinder sich, das Geschirr abzutragen, was sie fast ohne Streit und ohne Bruch schafften. Chiara schenkte ihnen den Rest des Weins ein und hielt ihr Glas ans Kerzenlicht.

»Womit sollen wir anfangen?«, fragte sie. »Mit deinem Gespräch mit Julian oder dem neuen Tattoo an deiner rechten Hand?«

»Das ist kein Tattoo.«

»Dann bin ich erleichtert. Was also?«

Gabriel legte seine rechte Hand vorsichtig auf den Tisch.

Chiara verzog das Gesicht. »Sieht grässlich aus.«

»Ja«, sagte Gabriel niedergeschlagen. »Aber du solltest den anderen Kerl sehen.«

7

SAN POLO

»Hast du schon versucht, einen Pinsel zu halten?«

»Ich weiß nicht, ob ich das jemals wieder kann.«

»Wie schlimm sind die Schmerzen?«

»Im Augenblick«, sagte Gabriel, »spüre ich überhaupt nichts.«

Er saß auf einem Hocker an der Kochinsel und hielt seine Hand in eine Schüssel mit Wasser, in dem Eiswürfel schwammen. Wider Erwarten war die Schwellung davon nicht zurückgegangen, sondern schien im Gegenteil sogar schlimmer zu werden.

»Du solltest sie wirklich röntgen lassen«, sagte Chiara.

»Und wenn der Orthopäde fragt, wie ich sie mir gebrochen habe?«

»Wie denn?«

»Bei einem Handkantenschlag, nehme ich an.«

»Wo ist er gelandet?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen.«

»Weißt du bestimmt, dass du ihn nicht umgebracht hast?«

»Ihm fehlt weiter nichts.«

»Wirklich?«

»Na ja, er erholt sich bestimmt bald wieder.«

Chiara griff seufzend nach Valerie Bérrangars Brief. »Was, glaubst du, wollte sie Julian erzählen?«

»Mir fallen mehrere Möglichkeiten ein«, antwortete Gabriel. »Angefangen mit etwas, das auf der Hand liegt.«

»Und das wäre?«

»Das Gemälde hat ihr gehört.«

»Wieso ist sie dann nicht zur Polizei gegangen?«

»Wer sagt, dass sie’s nicht getan hat?«

»Julian hat doch bestimmt das Art Loss Register konsultiert, bevor er das Gemälde auf den Markt gebracht hat.«

»Kein Händler kauft oder verkauft ein Kunstwerk, ohne zuvor nachzuschlagen, ob es irgendwo gestohlen wurde.«

»Außer, der Händler will nicht wissen, ob es gestohlen wurde.«

»Unser Julian ist keineswegs vollkommen«, sagte Gabriel, »aber er hat nie wissentlich ein gestohlenes Gemälde verkauft.«

»Nicht mal in deinem Auftrag?«

»Meines Wissens nicht.«

Chiara lächelte. »Möglichkeit Nummer zwei?«

»Das Gemälde ist der Familie Bérrangar im Krieg geraubt worden und war seither verschollen.«

»Glaubst du, dass Valerie Bérrangar Jüdin war?«

»Habe ich das behauptet?«

Chiara legte den Brief weg. »Möglichkeit Nummer drei?«

»Entsperre mein Handy.«

Chiara gab sein Passwort mit vierzehn Stellen ein. »Was sehe ich hier?«

»Einen Ausschnitt aus dem Porträt einer Unbekannten.«

»Gibt es da ein Problem?«

»Woran erinnert dich das Craquelé-Muster?«

»Baumrinde.«

»Und was sagt dir das?«

»Das weißt du besser als ich.«

»Craquelé, das an Baumrinde erinnert, ist typisch für flämische Maler«, erläuterte Gabriel. »Van Dyck war natürlich ein flämischer Maler. Aber er hat mit Materialien gearbeitet, die damals von seinen Zeitgenossen in Holland verwendet wurden.«

»Wodurch sein Craquelé mehr holländisch als flämisch aussieht?«

»Korrekt. Schau dir auf der Website der britischen National Gallery das Doppelporträt Lady Elizabeth Thimbleby and her sister an, dann weißt du, was ich meine.«

»Ich verlasse mich auf dich«, antwortete Chiara, die mit beiden Daumen auf seinem Smartphone schrieb.

»Was suchst du?«

»Den Artikel in der Zeitung Sud Ouest