Die ferne Frau - Paul Rosenhayn - E-Book

Die ferne Frau E-Book

Paul Rosenhayn

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Beschreibung

Im fernen China wird die Mongoleibahn gebaut. Einar Gunberg konnte sich beim Bau nicht gegen den großen französischen Bauunternehmer Lucien Laporte durchsetzen, der ein billigeres Angebot unterbreitet hat. Doch jetzt wütet unter den Arbeitern die in der Mongolei eigentlich gar nicht vorkommende Schlafkrankheit, und so könnte Gunberg vielleicht doch noch zum Zug kommen. Hat er gar seine Finger bei finsteren Machenschaften im Spiel? Mit Gunbergs Tochter Ebba ist der junge Gerichtsassessor Ove Jens Boye verlobt. Da beginnt die berühmte Opernsängerin Helene Wassiliew einen ganz besonderen Eindruck auf ihn zu machen. Er trifft sie auf einer Abendgesellschaft und muss mit Erschrecken feststellen, wie sie verhaftet wird. Am nächsten Tag begegnet er ihr vor Gericht wieder: Sie steht unter Verdacht, für die sowjetischen Kommunisten zu arbeiten, denn bei ihr fand sich ein Brief mit einem Invasionsplan der bolschewistischen Armee, den sie zweifellos an Mittelspersonen zu übergeben hatte. Sie beteuert ihre Unschuld und fleht um Entlassung, sonst müssten Tausende Menschen sterben ... Ove Jens Boye beschließt, sich für die schöne Frau einzusetzen, deren Zauber er schon halb erlegen ist. Schließlich begibt er sich an ihrer Seite auf eine gefährliche Reise nach Asien. Doch was wird jetzt aus Ebba Gunberg? – Paul Rosenhayns Roman ist eine Mischung aus Abenteuer-, Liebes- und Kriminalroman und vor allem eins: unglaublich spannend!-

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Paul Rosenhayn

Die ferne Frau

Roman

Die ferne Frau

© 1927 Paul Rosenhayn

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592649

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Der nordische Idealist — der abgeklärte Opportunismus des Franzosen — die junge Kraft Asiens stehen im Kampfe für und gegen das neue Werk: die Eisenbahn Europa—Rußland—China.

In dem Augenblick, da der Expreßzug Paris—Peking durch die Wüste Gobi braust — in diesem selben Augenblick vollzieht sich der Beginn einer neuen Geschichte der Menschheit. Dort, wo die beiden größten Länder der Erde zusammenfließen, keimt gierig aus altem Boden junges Leben — werden Kräfte frei, die Jahrtausende in Ketten lagen.

*

Aber die Kultur des Westens wittert den Feind. Jeder neue Fortschritt mobilisiert die Intrigen Europas zu schärferem Kampf: Asien vor den Toren!

*

Jedes dieser Länder bedeutet ein Stückchen meines Lebens. In den waldumhegten Landsitzen Dänemarks liegen die Wurzeln meiner Herkunft — Paris lehrte den Schüler lächelnde Synthese aus Arbeit, Frohsinn und Liebe — und alle Erfüllungen letzter und tiefster Fragen kreisen um das Land des Sonnenaufgangs.

I

Der Beifall rauschte durch das Haus und schlug prasselnd auf die Bühne. Helene Wassiliew lächelte in das Dunkel hinein. Sie verneigte sich, immer mit jenem Unterton eines scheuen Triumphes; dann fiel der Vorhang. Das Licht der Rampe erlosch, das Theater wurde hell.

Gamberg wandte den Kopf zu Ove Jens Boye herum, der in der zweiten Reihe der Loge saß. Er blickte Boye ins Gesicht, das mit einem abwesenden Ausdruck an Ebba vorüber auf die Bühne gerichtet war. Ebba fing den Blick ihres Vaters auf und erhob sich mit einem unmutigen Ruck.

Im Hause wurde es lebendig; der Logenschließer öffnete die Tür.

Ove trat als erster auf den Korridor hinaus.

Der Richter Lystrup, der eben vorüberging, grüßte. Merkwürdig, sein Schritt wurde langsamer. In letzter Zeit begegnete man Lystrup auffallend oft dort, wo Ebba war. Der Gang war erfüllt von Licht und von Menschen.

Ebba übersah es scheinbar, daß ihr Verlobter ihr den Arm bot. Ihr Vater und Richter Lystrup begrüßten sich.

„Wie gefällt Ihnen die Wassiliew?“ fragte Lystrup. „Ist sie nicht fabelhaft? Es ist ihre Glanzrolle: die Mimi. Dabei diese Schwierigkeit: alle singen dänisch, sie als einzige französisch!“

Über die Treppe zum Vestibül flutete der Menschenstrom herauf; das Promenoir füllte sich.

Ove hatte kaum einen Blick von seiner Braut gewandt, die mit ihren Gedanken so völlig beschäftigt schien, daß sie von ihm kaum Notiz nahm.

„… Und Ihre Mongoleibahn?“ begann Lystrup von neuem.

Gamberg machte eine kleine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Lucien Laporte hat den Zuschlag bekommen, der große Pariser Bauunternehmer Lucien Laporte. Er hat eine runde Million weniger gefordert als ich. Die chinesische Nordregierung hat übrigens schon die Kulitransporte mobilisiert.“

Von der Fensternische her lächelte Pastor Christiansens Epikuräergesicht; neben ihm stand Rektor Lund: die beiden schienen sich wie gewöhnlich zu streiten. Ove grüßte; zugleich fühlte er, wie der Druck in seinem Herzen zunahm. Der verstohlene Neid, den er rechts und links deutlich spürte, konnte ihn über die Wahrheit nicht hinwegtäuschen: daß er wie ein Gefangener unter diesen Menschen ging. Dort, Pastor Christiansen hatte ihn getauft und konfirmiert — Rektor Lund, neben ihm, im Schmuck seines blonden Vollbarts, begrüßte den Schüler mit seinem steifen Kopfnicken. Seine juristische Karriere hielt Richter Lystrup in Händen, der eben eifrig auf Ebba einsprach — und seinem Schwiegervater, der ihn am Tage seiner Hochzeit als Syndikus in die Firma aufzunehmen versprochen hatte — dem gehörte seine Zukunft. Dieser kleine Raum umschloß den Zirkel seines Lebens. Jeder dieser Männer repräsentierte einen Eckpfeiler. Er mußte lächeln, so wenig ihm danach zumute war: gottlose Kollegen bezeichneten den Richter Lystrup als einen Strebepfeiler der Justiz.

Das Klingelzeichen ging durchs Theater; in die Menge kam Bewegung. Ihm schien, als ob Ebba sich verstohlen nach ihm umsähe. Ove wollte trotz allem die Dinge nicht auf die Spitze treiben und berührte zärtlich ihren Arm.

„Haben Sie gestern die Notiz im Abendblatt gelesen?“ fragte Lystrup, der sich schon der Treppe zuwandte. „In den Kulitransporten, die für den Bau der Mongoleibahn nordwärts geschickt worden sind, ist die Schlafkrankheit ausgebrochen; in der Stadt Kalgan mußten Massenlazarette errichtet werden.“

Gamberg wandte überrascht den Kopf. „Die Schlafkrankheit… in der Mongolei?“

Lystrup nickte. „Man steht vor einem Rätsel.“

Das zweite Klingelzeichen schrillte.

„Nicht wahr,“ fragte Lystrup, der eben Gamberg mit einer Verbeugung die Hand reichte, „falls Lucien Laporte nicht eine bestimmte Strecke der Mongoleibahn bis zu einem gewissen Termin fertigstellt, fällt der Auftrag an Sie?“

Von der Loge her winkte Ebba lachend mit der Hand; Lystrup verabschiedete sich; er hatte seinen Platz irgendwo unten im Parkett.

„Wenn sie jetzt ein zärtliches Wort sagt,“ dachte Ove, „dann ist alles wieder gut.“ Er stand neben ihr und sah sie von der Seite an; aber sie blickte gleichmütig dem Vater entgegen.

Das Haus war noch hell.

„Haben Sie heute das Bild im ‚Magasinet‘ gesehen?“ fragte Gamberg, während der Logenschließer öffnete. „Das Bild von Bob Bantam?“

Boye schüttelte den Kopf. „Ich lese die ‚Politiken‘ selten. Ist das der Bob Bantam, der…“

„… der die Autofahrt durch die Mongolei macht“, nickte Gamberg. „Er war vor einigen Wochen unser Gast.“

„Warum lächelt sie ihrem Vater zu, während er von Bob Bantam spricht?“ fragte sich Ove.

Langsam wurde der Zuschauerraum finster.

Ebbas Profil zeichnete sich deutlich ab gegen das Dunkel des Proszeniums. Wie klar und rein ihre Züge waren!! Sie galt als eins der schönsten Mäd hen von Kopenhagen. Die nordische Herbheit ihres Wesens ließ sie auf den ersten Blick anteillos erscheinen; aber Ove wußte von scheuen Zärtlichkeiten, die eine völlig andere Ebba Gamberg offenbarten.

Die Rampe flammte auf. Das rötliche Licht übergoß Ebbas Züge mit einem warmen und zärtlichen Schimmer. Aus den Girandolen tropfte es farbig durch den Raum; Ebbas blonder Pagenkopf leuchtete in verwirrenden Reflexen. Das Licht erlosch; der Vorhang ging auf.

Bob Bantam, dachte Boye, Bob Bantam… er hat alle jene Eigenschaften, die iah nicht habe. Ganz sicher: er heißt nicht Bantam — welcher Mensch hieße wohl Bantam? Und auch sein Beruf ist völlig anders als der anderer Leute. Welcher Mensch außer ihm machte wohl Autofahrten durch die Kontinente, lediglich zu dem Zweck, den Menschen zu beweisen, daß das Auto Soundso den Strapazen gewachsen sei? Hatte Pannen wie er, Kämpfe mit Eingeborenen, Renkontres mit Schlangen, Krokodilen, Tigern? Wurde gefeiert wie eine Art Roald Amundsen — und ging aus allen Abenteuern mit unbeschädigter Bügelfalte hervor? Aber das war es wohl nicht allein. Sonst würde ein Mann wie Gamberg, dem nichts auf der Welt imponierte als wirkliche Tüchtigkeit, wohl nicht im Ernst so bewundernd von Bob Bantam sprechen. Irgend etwas mußte daran sein, er fühlte es.

Aber die Stimme Helene Wassiliews kam dazwischen:jäh waren seine Gedanken, seine Ängste vergessen, und während er auf die Bühne blickte, versank alles andere um ihn herum: die Menschen, der Raum und alle Dinge seines Lebens.

Die Stimme der jungen Diva glitt wie ein silberner Schleier durch das Dunkel. Wie ein Schleier, der die Sinne der Menschen gefangennahm, sie einhüllte; deutlich fühlte Ove, wie ihr das Haus erlag. Jedes Räuspern verstummte; nicht eine leise Bewegung war unter den Tausenden.

Ihre Stimme, ihre Erscheinung trugen ihn zurück in jene Zeiten, da er selbst mit dem Gedanken spielte, ein Künstler zu werden. Er fühlte: die Frau dort unten war Geist von seinem Geist, Blut von seinem Blut. Sie war erfüllt von jenem zärtlichen Mitschwingen mit den Seelen der andern, das die seltsame und leidvolle Gabe des Künstlers ist. Sie kam aus einer Welt, mit der ihn tausend Fäden verbanden. Für die man in seinen Kreisen kein Verständnis hatte, nur das lächelnde Achselzucken des Bürgers. Den Menschen rings um ihn bedeutete Kunst die Abenderholung des fleißigen Verdieners, abhängig von ihm, bezahlt von ihm, angewiesen auf sein Wohlwollen. Wer kam hier wohl auf den Gedanken, ein Künstler zu werden? Doch nur einer, der zu ernster Arbeit nicht taugte. So dachten alle. So dachte Gamberg. So dachte auch Ebba. Gelegentlich hatte er Verse rezitiert: von Grundtvig, von Jens Baggesen; man hatte nachsichtig gelächelt und ein wenig applaudiert; als er sich dann, mutig gemacht, an den Flügel setzte, um eine Suite von Jean Baptiste Lully zu spielen, da hatte sein Schwiegervater beziehungsvoll gelächelt. Um ihm beim Mokka zu erklären, daß er an einem jungen Mann vor allem Zielbewußtsein im Beruf schätze und daß er gegen Dinge, die abseits führten von dem glatten Wege der Karriere, ein ehrliches Mißtrauen empfinde.

Ove fühlte mit jenem sechsten Sinn, daß in diesem Augenblick etwas Merkwürdiges vorging. Er zuckte fast zusammen, in einem Zwange, über den er sich selbst keine Rechenschaft geben konnte:

Helene Wassiliew blickte zu ihm herüber.

Sie wandte ihre Augen von ihm ab in dem gleichen Moment, da er ihren Blick erwiderte; aber ein seltsam befangener Ausdruck trat in ihr Gesicht, und abermals glitten ihre Augen, fast wie gegen ihren eigenen Willen, zu ihm in die Loge.

Er sah schuldbewußt auf Ebba; deutlich erkannte er, daß ihre Züge noch abweisender wurden; er glaubte ein Flimmern in ihren Augen zu sehen.

Plötzlich erhob sich Ebba. „Ich möchte gehen“, sagte sie leise. „Ich habe unerträgliche Kopfschmerzen.“

Die beiden Herren standen auf. Gamberg flüsterte etwas, was Boye nicht verstand.

Leise öffnete Ove die Logentür; das helle Licht des Korridors schoß in den Theaterraum; man blickte zu ihnen hinüber. Ove sah gedankenvoll auf die Bühne; aber die Sängerin schien die kleine Störung nicht zu bemerken.

Während die drei die Treppe hinuntergingen, fragte Ove leise:

„Was ist dir, Ebba?“

Sie schüttelte wie zur Antwort den Kopf.

Irgend etwas war in ihrem Gang, das in seltsamem Widerspruch stand zu der Kühle ihres Wesens. Ihr Gesicht war abweisend — ihr Gang war zärtlich. Sie war fast so groß wie er.

Der Portier gab ein Signal.

„Es ist schade“, sagte Gamberg, während das Auto anzog. Und als ob er sich auf einer Unfreundlichkeit ertappe, setzte er hinzu: „Ich meine, ich hätte dir den Schluß der ‚Bohème‘ gern gegönnt.“

Das Auto fuhr über den lichterfunkelnden Kongens Nytorv; der breite Menschenstrom zwang es zu langsamer Fahrt. Über Kopenhagen lag helle nordische Nacht, erfüllt von Seewind und von ferner und kühler Frische. Unablässig erneute sich der Strom der Promenierenden: von der Skydebane über den Rathausplatz durch die schmale Nygade — über den Amagertorv bis zum Hotel d’Angleterre.

Der Wagen bog hinüber in die Store Kongensgade und raste, in der Richtung des Oeresund, der Langelinie zu. Von Sekunde zu Sekunde schien das Feindselige in der Atmosphäre sich zu verstärken; was drinnen, in der heißen Luft des Theaters, wie eine fiebrige Übertreibung gewesen war, wurde nun, in der Kühle der Nacht, zu fühlbarer Absichtlichkeit.

Die Straßen wurden dunkler. Sanft glitt das Auto in das Grün des Boulevards ein; der Wagen hielt.

„Hansen kann Sie zurückfahren“, meinte Gamberg.

Aber Ove schüttelte dankend den Kopf. „Ich möchte zu Fuß gehen.“

Im Hause wurde es hell. Ove ging hinüber in den Schatten der Ankersgade.

Bantam… immer noch klang ihm der Name im Ohr. Bob Bantam… „Bantam war unser Tischgast“, hatte Gamberg gesagt. „Vor einigen Wochen ist er bei uns gewesen.“ Und Ebba hatte dazu gelächelt.

Wie hell diese Sommernacht war! Zärtliche Pärchen strichen an ihm vorüber, untergefaßt, mit träumerischen Augen; von der Langelinie her ebbte der Strom der Verliebten zur Stadt zurück. Sie brachten den Duft des Meeres mit, das frohe und tiefe Einssein mit der Natur, jene Durchdrungenheit, die nur der empfindet, der am Meere lebt.

Und er? Ove Jens Boye? Gehörte ihm nicht die Schönste von allen? Machten sich nicht die Leute heimlich auf ihn aufmerksam: das ist der Schwiegersohn des reichen Gamberg! Der künftige Gatte Ebba Gambergs, des schönsten Mädchens von Kopenhagen!!

Du lieber Gott! Wie anders die Dinge wurden, wenn man ihnen auf den Grund ging! Gewiß, er begriff bis heute nicht recht, daß Gamberg Ja gesagt hatte. Aber hatte ihm der Gedanke an Ebba, an seine Braut, eine einzige glückliche Stunde gebracht? Er war skeptisch geworden in der Nüchternheit seines Berufs; deutlich hatte er hinter dem Lächeln der Menschen die Frage gespürt: wie er, der kleine Assessor, zu diesem unerhörten Glück komme. Sein Äußeres? Nun — groß, blond, schlank und blauäugig waren genug andere auch. Seine künstlerischen Neigungen? Seine Liebe zur Musik? Zu den Dichtern? Seine tiefe Liebe zu allen Dingen, die die Härte des Alltags vergessen ließen? Die hinübertrugen in eine bessere, leichtere, freundlichere Welt?

Fast mußte er lachen. Gerade diese Seite seines Wesens, die seine beste, seine echteste, seine tiefste war — gerade die traf auf ein Nichtverstehen, das fast feindselig war. Im Laufe dieser Woche hatte er es mehr und mehr begriffen: daß nichts innerlich Gemeinsames war zwischen ihm und jenen. Ebba lächelte, wenn er von jenen Dingen sprach, die ihm Zweck und Sinn des Lebens schienen. Im Hause Gamberg galten als Postulate eines vorschriftsmäßigen Lebenslaufs: Fleiß — Rechtschaffenheit — Religiosität.

In scharfer Kurve bog die Straße nach Westen ab; die nächtliche Store Kongensgade lag endlos vor ihm — fern drüben flimmerten die Lichter der Stadt.

Das war das Unerträgliche an Gambergs Argumenten: daß sie unangreifbar waren und unwiderleglich. Daß man fleißig sein mußte, war selbstverständlich. Das Gebot der Rechtschaffenheit bedurfte keiner Diskussion. Und selbst die Religiosität, über die sich allenfalls streiten ließ, war letzthin nichts als eine besondere Form eines Moralgesetzes, das jeder anerkennen mußte, der Verständnis für die Gegenseitigkeit aller menschlichen Beziehungen hatte. Aber unerträglich war, daß man diese Grundsätze, diese Primitivität der Lebensauffassung, als Ziel und Zweck alles Lebenskampfes hinstellte. Statt sie an den Anfang der Dinge zu setzen. In dieser betonten Bescheidung, das fühlte er, lag Heuchelei.

Dort kreuzte pompös und schweigend die Fredericiagade seine Straße. Auf den drei goldenen Kuppeln der Alexander-Newsky-Kirche, die byzantinisch-düster in die helle Kopenhagener Nacht wuchtete, schimmerte silbriges Mondlicht. Dahinter … dahinter lag das Gerichtsgebäude — die Stätte der Fron, die ihn sieben Stunden jeden Tag gefangen hielt.

Gefangen hielt — das war es. Die Gitter der Fenster, die schnurgerade aufgereiht waren jenseits des Hofes — diese Gitter waren Symbol und Abbild seines eigenen Eingekerkertseins. Seine Zukunft, seine Kräfte, ja, seine Gedanken waren einem Leben verschrieben, das er nicht begriff. Dessen Notwendigkeit er ablehnte. Das er haßte. Die Interessen der Kollegen, die Freuden einer bürgerlichen Karriere — alles war philiströs, kleinbürgerlich und platt. Und selbst der Abschied von diesem Hause bedeutete nur den Einzug in ein neues Gefängnis. Das darum nicht weniger drückend war, weil seine Traillen vergoldet waren: die Ehe mit Ebba, das Aufgehen in die Ideen Gambergs — die Kapitulation auf Lebenszeit.

Ein offenes Auto bog aus der Fredericiagade in die Straße ein.

„Ove!“ rief eine helle Stimme.

Es waren der junge Willumsen, der Sohn des Großreeders, und der Baron Kirkegaard.

Das Auto stoppte. Kirkegaard stieß den Schlag auf. „Eine Frage: bist du im Frack?“

„Im Smoking“, antwortete Ove lachend.

„Hm —.“ Kirkegaard sah sich ratsuchend zu Willumsen um. Der nickte.

„Komm mit.“

„Wohin?“

„Ins d’Angleterre. Geschlossene Gesellschaft. Aber sehr lustig. Theater.“

Ove blickte zögernd die Straße hinunter — aber schon stieg Willumsen aus und drängte ihn mit sanfter Gewalt auf den Vordersitz.

Das Auto zog an.

„Warst du nicht heut abend in der ‚Bohème‘?“

Ove nickte.

„Was ist eigentlich mit diesem Lystrup?“ fragte Kirkegaard kopfschüttelnd. „Überall, wo deine Braut ist, sieht man den Herrn Untersuchungsrichter Lystrup mit Sicherheit auftauchen. Warum läßt du dir das gefallen?“

„Er ist sein Vorgesetzter“, lachte Willumsen.

„Gib acht — er wird dich bei ihr ausstechen.“

„Der?“ wiederholte Willumsen. „Der möchte sich nur beizeiten als Dritter für den Familientisch anmelden. Das macht er immer so bei seinen Assessoren.“

„Merkwürdig“, dachte Ove. „Diese Frivolitäten hätten mich vor zwei Monaten zur Raserei gebracht. Heute höre ich sie an und muß beinahe mitlachen.“

Das Auto überquerte den Kongens Nytorv und hielt vor dem Hotel.

„Zu wem gehen wir eigentlich?“ erkundigte sich Ove auf dem Wege zum Fahrstuhl. „Schliellich muß man doch wissen, bei wem man zu Gaste ist.“

Willumsen wies auf den Blumenstand. „Geben Sie uns Lillebil-Nelken, Fräulein. Für dreißig Kronen.“

Die Drei fuhren in den ersten Stock hinauf.

„Zu wem wir gehen?“ wiederholte der Baron zerstreut. „Ja so, das weißt du ja noch gar nicht. Also, du warst doch heute abend in der ‚Bohèm‘.“

„Er hat natürlich nur Augen für seine Ebba gehabt“, lachte Willumsen.

Ein Boy nahm die Garderobe ab und stieß die Tür eines Saales auf, aus dem Stimmengewirr und Lachen kam.

„Also wir führen dich hier… aber da ist sie sie schon“, unterbrach sich Willumsen und drängte Ove vorstellend ins Zimmer. Vor ihm stand Helene Wassiliew.

„Dies ist Assessor Boye“, sagte Kirkegaard auf Französisch.

Helene Wassiliew reichte Ove die Hand und sagte lächelnd:

„Sie können ruhig Dänisch mit mir sprechen; meine Mutter war eine Jütländerin.“

Ove küßte Helenes Hand und sagte ein paar Worte, deren Banalität ihn selbst in Verwunderung setzte. Er war sonst von jener gesellschaftlichen Sicherheit, die das Merkmal kultivierter Skepsis ist: das Zusammentreffen von Menschen, die sich im Grunde nichts zu sagen hatten, heischte gewisse Formen. Hier, er gestand es sich: hier, zum ersten Male in seinem Leben, verließ ihn diese Sicherheit. Er fühlte plötzlich, daß er, fast ohne es zu wissen, diese ganze Zeit über an Helene Wassiliew gedacht hatte.

Sie stand immer noch vor ihm, und ein Lächeln stieg in ihren Augen auf. In diesen dunklen, tiefen, leuchtenden Augen — in denen ein Ausdruck lag, den er nicht verstand. Sie sah jünger aus als auf der Bühne. Jünger und schöner, dachte er bei sich.

„Sie waren im Theater?“ fragte sie, im Tonfall der Mimi von vorhin.

„Ich saß unmittelbar an der Bühne.“

Sie neigte lächelnd den Kopf. „Ich glaube, ich habe Sie gesehen.“

Etwas schoß ihm zum Herzen. Etwas Heißes und Erregendes.

„Wirklich?“ fragte er leise.

„Sie sind im dritten Akt gegangen?“

Er nickte schuldbewußt. „Meine… Fräulein Gamberg, die mit uns in der Loge saß, fühlte sich nicht wohl.“

„Nehmen Sie ein Glas Sekt?“

Sie winkte dem Kellner, der eben mit dem Tablett vorüberging, und nahm zwei gefüllte Gläser.

Von drüben grüßte jemand herüber. Ove winkte zurück; er wußte im Augenblick nicht, wer der Grüßende war, aber irgend etwas in seinem Hiersein verursachte ihm eine unerklärliche Beklommenheit.

Helene Wassiliew mochte in der Mitte der Zwanzig sein, vielleicht auch älter. Obwohl sie von brünettem Typ war, wirkte sie doch fast nordisch; das tiefe Dunkel ihrer Augen unterstrich seltsam die Helligkeit ihrer Erscheinung. Während sie sich zur Seite neigte, um mit der Frau des Attachés ein paar Worte zu wechseln, sah er ihr weiches Profil, dem das kurze dunkle Haar etwas Fremdartiges gab.

Ein paar Herren kamen aus dem Nebenzimmer; eine Kollegin entführte Helene; sie protestierte lachend gegen die tönenden Lobeshymnen; dann verschwand ihre grazile Gestalt im Gewühl.

Ove ging hinüber zum Rauchtischchen, um sich eine Zigarette zu nehmen; da war der Fremde von vorhin wieder, und nun erkannte Ove in ihm einen Funktionär der politischen Polizei.

„Nun…?“ fragte jener lächelnd und präsentierte ihm ein brennendes Zündholz.

Zu seinem Erstaunen spürte Ove wieder jenes Unbehagen in sich aufsteigen.

Der andere sah mit einem halben Blick zu Helene hinüber, die mit dem jungen Baron Kirkegaard ein paar Takte tanzte.

„Ich glaube, es gibt heute abend noch eine Überraschung.“ Seine Stimme hatte einen so seltsam drohenden Klang, daß Ove überrascht den Kopf wandte.

„Achtung!“ Der Direktor klopfte an sein Glas. „Auf Wunsch des Fräulein Wassiliew wird Herr Molander eine Suite spielen.“

Das Summen verstummte; Helene selbst schlug das Notenblatt auf; Molander, der dänische Partner Helenes, begann zu spielen.

Fast mit Bestürzung erkannte Ove die Suite von Jean Baptiste Lully. Sein Lieblingsstück. Seine Suite…

Drüben saß Helene, gedankenvoll vor sich niederblickend. Er ging leise um das Rund des Zimmers zum Flügel. Sie hob die Augen:

„Meine Lieblingsmusik.“

Die Suite von Lully — ihr Lieblingsstück! Diese Suite, die in ihm klang in Tagen und Nächten… diese Suite, die man im Hause Gamberg abgelehnt hatte…

Er fühlte, wie ihr Blick auf ihm ruhte. Die Tür zum Nebenzimmer war offen; er ging hinüber; dort standen bequeme Ledersessel. Durch das schweigende Halbdunkel, das ihn umgab, rieselte die leise Melodie wie tropfendes Wasser. Dort drüben stand Helene; deutlich sah er die schlanke Linie ihrer Gestalt. Die Töne spannen ihn ein; geheimnisvoll und lockend verschmolzen die Dinge ineinander; er glaubte Stimmen zu hören, die seinen Namen flüsterten, Schritte klangen, Rauschen wie von Seide streifte sein Ohr. Er hielt die Augen geschlossen und trank den Duft dieser verheißungsvollen Nacht.

Die Musik hatte geendet; er schreckte auf, Stimmen schwirrten durcheinander, jemand lachte; es war Helene. Dann sprach eine Stimme, die er nicht kannte, von Dingen, die ihn nicht interessierten; er verstand die Worte: „In der Mongolei ist die Schlafkrankheit ausgebrochen…“

Helene Wassiliew trat in den Lichtkreis, und er hörte sie fragen:

„In der Mongolei…? Wissen Sie Näheres?“

„In Kalgan: unter den chinesischen Arbeitern, die die Bahn bauen sollen.“

„Wie ist das möglich, Herr Doktor: in der Mongolei… Schlafkrankheit?“

Merkwürdig: deutlich hörte Ove zitternde Erregung in ihrer Stimme.

„Wir stehen vor einem Rätsel“, antwortete der andere. Wahrscheinlich ein Arzt, dachte Ove.

„Es sieht fast aus, als ob der Erreger der Schlafkrankheit eingeschleppt worden wäre.“

„Ist es möglich, daß… ein… eine Absicht…?“

Eine kleine Pause entstand. Dann antwortete der andere:

„Ja. Es ist möglich.“

Fremde Stimmen mischten sich ein, lachend und protestierend; man umringte Helene, augenscheinlich um sie einem Gespräch zu entziehen, das niemanden interessierte.

Wieder setzte leise Musik ein — ein Nokturno von Tschaikowsky. Seltsam, alles in Helenes Bannkreis war Geist von seinem Geist — sie dachte mit seinen Gedanken — aus gleichen Tiefen kamen ihre Empfindungen…

Türen schlugen, das Anschwellen der Gespräche verriet, ohne daß er ein Wort verstand, feierliches Abschiednehmen. Er starrte in das Dunkel hinein — immer deutlicher spürte er den zärtlichen Rausch, der ihn erfüllte.

Und dann kam wieder jener leichte Schritt, das Parkett knarrte, und eine Stimme, die er kannte, sagte:

„Gute Nacht, einsamer Träumer!“

Verwirrt sprang er auf; Helene reichte ihm die Hand. Er sah im halben Licht, das schräg auf sie fiel, daß sie bleich war.

„Gute Nacht“, erwiderte er leise. „Seien Sie nicht böse — ich habe mich zurückgezogen, es war eine Unhöflichkeit. Aber ich konnte von hier die Lieder hören — Ihre Lieblingslieder, die man gespielt hat — und ich konnte meinen Gedanken nachhängen, während dort drinnen von gleichgültigen Dingen gesprochen wurde.“

Sie sah ihn an. „Und womit beschäftigten sich diese Gedanken?“

„Wenn ich es Ihnen sagen würde, so würden Sie darin eine… eine neue… ich finde das Wort nicht… Sie sind müde, Fräulein Wassiliew. Ich bitte um Verzeihung.“

Sie sah sich unruhig um. Auf seinen fragenden Blick schüttelte sie den Kopf. „Es ist jemand da, der mich zu sprechen wünscht. Einer der Gäste — ich hatte ihn kaum bemerkt.“ Damit reichte sie ihm die Hand, die er küßte; sie entzog sie ihm hastig. „Sie müssen gehen.“

Er trat auf den Korridor hinaus; in der Tür begegnete ihm der Kommissar, der mit kurzem Gruß an ihm vorüber ins Zimmer ging.

Betroffen sah Ove sich um. Was bedeutete das? Der Gruß des Beamten war knapp und kühl gewesen; er kannte diese Art: das war ein amtlicher Gruß.

Der Boy kam ihm entgegen, schon mit Hut und Mantel wartend. Während er Ove beim Ankleiden behilflich war, blickte der Boy in ängstlicher Gespanntheit auf die Tür, durch die der Kommissar gegangen war.

Ove trat auf den weiten Platz hinaus, der sich müde und verschlafen vor ihm dehnte. Die Fröhlichkeit war verstummt; das lachende Gewimmel war zurückgeebbt in die dunklen Straßen, über denen nun der Schlaf der tiefen Nacht lag. Schon meldete sich bleiche Helle am Himmel, der Widerschein der Mitternachtssonne, der nächtens bis über das sommerliche Seeland leuchtet.

Ove ging quer über den Kongens Nytorv. Ein Signal gellte; vor dem Hotel hielt ein geschlossenes Auto. Ove wandte sich um; zwei Herren stiegen aus, die er zu kennen glaubte: zwei vierschrötige Gestalten. Sie gaben dem Chauffeur eine Weisung und gingen ins Hotel hinein, mit kurzen militärischen Schritten.

Die Front des Hauses lag in tiefem Dunkel; nur aus den Fenstern eines Zimmers des ersten Stocks drang Lichtschein. Irgend etwas lag in der Atmosphäre, das ihn beunruhigte. Was wollten diese beiden Männer — er wußte jetzt, wer sie waren — was wollte der Kommissar? Auf wen bezogen sich seine Worte: ‚Es gibt heute abend noch eine Überraschung‘? Er war zurückgekehrt, als alle Gäste fort waren — was bedeutet das alles?

Fast mußte er über sich selbst lächeln: das waren seine überreizten Nerven, nichts anderes. Er war übermüdet, durchschüttelt von überraschenden und überwältigenden Dingen — Liebe, Furcht — Verzweiflung und Hoffnung — und nun, mit dem Gutenachtgruß, war die Reaktion gekommen. Morgen früh, im Lichte des grauen Werktags, sahen die Dinge aus, wie sie immer aussahen: nüchtern, primitiv, ohne Komplikationen.

Er versenkte die Hände in die Manteltaschen und setzte den Weg fort, der Bredgade zu. Ein Klang kam aus dem Dunkel der Nacht; er blieb erschreckt stehen.

Während er sich umwandte, wußte er, daß dieser Klang eine Täuschung seiner Sinne gewesen war. Gleichwohl fühlte er die Realität, die hinter diesem Warnruf stand: seine Nerven hatten reagiert auf einen Vorgang, der jenseits der Wahrnehmung lag.

Aus dem Hotel trat Helene Wassiliew; rechts und links von ihr gingen die beiden Männer von vorhin; ihr auf den Fersen folgte der Kommissar. Die Vier stiegen ins Auto. Ove schüttelte mit einer nervösen Bewegung die lähmende Bestürzung ab und stürmte über den Platz. Aber schon setzte sich das Auto in Bewegung; Boye hastete keuchend ins Hotelvestibül, wo der Nachtportier aufgeregt mit ein paar Bediensteten sprach. „Fräulein Wassiliew?“ wiederholte der Portier und deutete mit schrägem Blick durch die Glastüren in den dämmernden Morgen hinaus. „Fräulein Wassiliew ist soeben verhaftet worden.“

Boye stellte eine betroffene Frage.

„Wir wissen es nicht, mein Herr. Wir wissen es nicht.“

Oves eiskalte Finger krampften sich zitternd um das Messing der Drehtür. Er taumelte; fast zog die Schwere seiner Glieder ihn zu Boden.

Der große Platz war menschenleer; drüben verschwand eben das rote Licht des Wagens im dämmrigen Grau der Straße.

II

Die Kollegen standen plaudernd vor den Türen, als Ove Jens Boye über den Korridor ging.

Die Unfreundlichkeit eines mürrischen Wochenbeginns lag in der Luft, die erfüllt war von staubiger Wärme. Durch die hohen Fenster zeichnete sich bleigrauer Himmel, unterbrochen von den schweren Konturen der Häuser, die den Blick begrenzten; drüben, jenseits des Hofes, starrten vier Etagenreihen vergitterter Fenster in den Morgen.

Ein paar Kollegen riefen Boye heran; sie erzählten Liebesabenteuer — die neuesten Witze aus dem Tivoli — Seglergeschichten vom Sund. Sie waren von gleichmütiger Frische, rosig und bedenkenlos. Dann kam Richter Lystrup vorbei; er winkte Boye vergnügt mit der Hand; man wußte nicht recht: war das Kollegialität oder verhohlener Spott.

Ove blieb ostentativ bei den Plaudernden stehen, obwohl es neun Uhr war.

Er kam mit einer kleinen Verspätung aufs Amtszimmer. Lystrup saß mit hochrotem Kopf über einem Aktenstück; als Boye eintrat, nickte er ihm eifrig zu.

„Es gibt eine interessante Vernehmung, Herr Assessor. Einen Fall… können Sie ermessen, was das bedeutet? Einen wirklichen und wahrhaftigen internationalen Fall!! Raten Sie einmal, wer in einer Minute hier vor uns stehen wird!“

Ove fühlte das würgende Klopfen seines Herzens. Er wußte nur zu gut — aber er vermochte nicht ein Wort herauszubringen.

Lystrop drückte den Knopf. Dann zog er den Taschenspiegel und glättete die Krawatte in der hohlen Hand.

„Helene Wassiliew“ sagte er; er sprach das Wort, als ob er einen Leckerbissen auf der Zunge zergehen ließe. „Helene Wassiliew… in einer Sache… in einer Sache, sage ich Ihnen… Hören Sie, Assessor: Sie müssen mir sekundieren. wir müssen einmal zeigen, was wir können. Ich ermächtige Sie, jede Frage zu stellen, die Ihnen einfällt. Verstehen Sie? Jede Frage, die Sie für förderlich halten. Für förderlich im Sinne der Untersuchung… Wenn es gelingt, sie zu überführen, Boye, wenn es uns gelingt, etwas Gravierendes aus ihr herauszubringen: dann bin ich in einem halben Jahr bei der Regierung. Und Sie amtieren hier an meiner Stelle.“

Auf der Treppe, die vom Hof heraufführte, hörte man Schritte, die näher kamen; Ove fühlte, wie der Schlag seines Herzens zu einem irren Rasen wurde.

„Und was…“ — er erschrak über seine eigene Stimme — „… und was… liegt gegen sie vor?“

Lystrup machte ein Gesicht, aus dem man tausend Dinge herauslesen konnte. „Soviel ich in der Geschwindigkeit aus den Akten ersehen kann, ist sie eine… eine…“

Es klopfte.

Auf Lystrups Herein ging die Türe auf; zwei Beamte meldeten: „Helene Wassiliew!“

Sie trat ein. Die Beamten zogen sich auf einen Wink des Richters zurück und schlossen die Tür hinter sich. Helene, bleich, die dunklen Augen von fiebrigem Glanz erfüllt, trat auf eine Handbewegung Lystrups an die Barriere. Sie war noch in Abendtoilette; offenbar hatte man ihr nicht die Zeit gelassen, sich umzukleiden. Völlig abwesend blickte sie durch die Dinge hindurch; sie gewahrte Boye nicht. Ja, es schien, als ob sie den Sinn ihres Aufenthalts in diesem Raum kaum begriffe.

„Wünschen Sie einen Dolmetscher?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Bitte nehmen Sie Platz.“

Helene blieb unbeweglich stehen, den Blick durch das Grau der Wand hindurch in unendliche Fernen gerichtet.

Lystrup schlug das Aktenstück auf; beim Rascheln des Papiers zuckte sie zusammen. Ove kannte diesen Trick Lystrups: die Nerven des zu Vernehmenden langsam und systematisch zu irritieren.

„Sie hatten gestern in Ihrer Garderobe im großen Zwischenakt Besuch?“

Helene antwortete nicht.

Lystrup wiederholte, ein wenig schärfer im Ton:

„Den Besuch eines Herrn.“

Er fixierte sie drohend. Von seinem Blick angezogen wandte sie ihm das Gesicht zu. Erstaunt sagte sie:

„Nun ja.“

Lystrup lächelte. „Dieser Herr hat Ihnen ein Bild gebracht. Stimmt das, Fräulein Wassiliew?“

„Gewiß.“

„Dieses Bild stellt Sie, Fräulein Wassiliew, dar. In Ihrer Rolle als Königin der Nacht — im Sternenmantel. Geben Sie dies zu?“

Indem sie verständnislos den Kopf schüttelte sagte sie:

„Warum sollte ich es nicht zugeben?“

In Lystrups Gesicht trat ein Ausdruck, den Boye nur zu gut kannte.

„Wollen Sie die Güte haben, uns zu sagen, wer der Herr war, der Ihnen das Bild gegeben hat?“

Helene, betroffen von Lystrups Ton, erwiderte leise:

„Ich habe den Herrn nie in meinem Leben gesehen. Soviel ich weiß, war es ein Maler, der nach einer kleinen Photographie von mir dies Bild gemalt und es mir zum Geschenk gemacht hat.“

Der Richter erhob sich. „Warum sagen Sie die Unwahrheit?“ rief er in lautem Ton, mit einer Stimme, in der aufrichtige Entrüstung zitterte; diesen Tonfall hielt Lystrup für solche Zwecke parat, in denen es galt, das Opfer zu überrumpeln.

Helene, weniger erschrocken als erstaunt, sagte mit abweisendem Gesicht:

„Ich wüßte keinen Grund, die Unwahrheit zu sagen. Der Herr hat sich mir unter einem Namen vorgestellt, den ich nicht verstanden habe.“