Die Feuerblume - André Schneider - E-Book

Die Feuerblume E-Book

André Schneider

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Beschreibung

Marisa Mell, 1939 als Marlies Theres Moitzi in der Steiermark geboren, machte in den sechziger und frühen siebziger Jahren eine beispiellose internationale Filmkarriere, die sie von Wien über Berlin, London und Paris nach Rom führte, wo sie mit Stars wie Marcello Mastroianni, Ursula Andress, Jean Marais, Gina Lollobrigida, Helmut Berger und Tony Curtis drehte und durch Casanova '70 (Mario Monicelli), Gefahr: Diabolik (Mario Bava) und Nackt über Leichen (Lucio Fulci) zum Kultstar avancierte. Unter der Regie von Vincente Minnelli sollte sie am Broadway in MATA HARI spielen, Hollywood gab sie einen Korb, weil sie Italien so liebte. Ab 1976 begann ihr langsamer, schmerzhafter Abstieg; sie starb verarmt im Alter von 53 Jahren an Krebs. Diese literarische Annäherung an die Filmschauspielerin Mell (und die Privatperson Moitzi) ist die erste ihrer Art und zeichnet Marisa Mells Weg bis über ihren Tod hinaus nach. André Schneider nähert sich seiner Protagonistin über ihr Werk, und so ist Die Feuerblume auch und vor allem eine filmhistorische Betrachtung des italienischen und spanischen Films jener Epoche. Mit über 140 zum Teil nie veröffentlichen Fotos aus Privatbesitz und einer umfangreichen Filmographie.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuauflage

Vorwort 2013

Die Feuerblume

Coverlove

Das Mädchen aus Graz

Graz – Wien: 1956 bis 1960

Die Filme: Eine Mellographie

Bundesrepublik Deutschland: 1961 bis 1963

Großbritannien

Frankreich

Hollywood und Phantomprojekte

Filmkunst: Mario Monicelli

Pierluigi Torri, Rom & das süße Leben: ab 1966

Gefahr: Diabolik

Mata Hari & der Broadway: Der Wendepunkt

Nackt über Leichen

Film auf Film: 1970 bis 1975

José Antonio Nieves Conde & Stephen Boyd

Die Emaus-Filme

Der Abstieg

Es muss nicht immer Kaviar sein

Filmschrott: 1977 bis 1981

Die verlorenen Jahre: 1982 bis 1989

I love Vienna

Das Nahen der Nacht

Das Vermächtnis

Marisas Fragebögen

Film- und Fernseharbeiten

Theaterarbeiten

Diskographie

Ausstellungen

Bibliographie

Anhang

I. Kritiken (Deutsch)

II. Kritiken (Englisch)

III. Kritiken (Italienisch)

IV. Kritiken (Spanisch)

V. Bräute des Führers (Der Spiegel 2/1961)

VI. Gedreht ist gedreht (Der Spiegel 26/1973)

VII. Marisa Mell (Der Spiegel 22/1992)

VIII. Entrevista a Jorge Grau: »Me gustaría hacer un retrato de Edgar Allan Poe« (Jesús Palop)

IX. »Marta« y »Historia de una traición« (Javier Ludeña Fernández)

X. Bildnachweis / FAIR USE

XI. Bücher, die mir halfen / Quellenangabe

XII. Remerciements

Vorwort zur Neuauflage

Ende Oktober 2013 brachte ich Die Feuerblume heraus. Ohne die Unterstützung eines Verlags, ohne Lektorat und ohne Werbung. Ein Buch für Kenner und Fans von Marisa Mell, ein Herzensprojekt. Ich war zufrieden mit meiner Arbeit.

Kaum war das Buch erschienen, öffneten sich Türen, taten sich neue Informationsquellen auf, erschienen etliche ihrer Filme auf DVD. Ich traf Menschen, die sie noch persönlich gekannt haben. Mit diesem Wissenszugewinn trat eine gewisse Unzufriedenheit ein: Am liebsten hätte ich das ganze Buch komplett neu geschrieben. Doch ich war nach der jahrelangen Arbeit zu müde, das Sujet hatte mich erschöpft. Anstatt also Die Feuerblume zu überarbeiten, machte ich mich daran, Marisa Mell ein anderes Denkmal zu setzen und damit dieses Kapitel meines Lebens abzuschließen: Im Sommer 2015 drehte ich den französischen Film Sur les traces de ma mère, in welchem Marisa posthum meine Mutter »spielte«. Für die Rückblenden verwendeten wir Ausschnitte aus ihren Filmen, überall standen und hingen Fotos von ihr, und unser französischer Produzent sicherte uns die Musikrechte einiger alter Kompositionen von Riz Ortolani und Carlo Savina. Leider, leider ging der Film trotz aller Bemühungen in die Binsen, wurde aber zu meiner Verwunderung recht positiv aufgenommen, sodass ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge Abschied nehmen konnte. Meine DVD- und Bildersammlung schenkte ich meinem Freund Mirko Di Wallenberg, der über die umfangreichste Mell-Sammlung Europas verfügen dürfte, und sagte mir, dass ich irgendwann, wenn meine Zeit es erlaube, die englische Übersetzung des Buches in Angriff nehmen würde.

2020 unterschrieb ich zwei Buchverträge. Mein Verleger bat mich, meine BoD-Veröffentlichungen vom Markt zu nehmen, und so war Die Feuerblume ab März 2021 nicht mehr erhältlich.

Anderthalb Jahre später, am 1. Dezember 2022, erhielt ich eine E-Mail aus Graz: Der Filmemacher Markus Mörth teilte mir mit, dass er an einem Dokumentarfilm über Marisa Mell arbeiten würde und fragte mich, ob er mich für diesen interviewen dürfe. Titel des Films: Die Feuerblume – Die zwei Leben der Marisa Mell. Und plötzlich, ganz unverhofft, stand mein Jahreswechsel ganz im Zeichen Marisas. Ich durchwühlte meinen Fundus, um zu schauen, was ich zur Dokumentation beitragen könnte, und fand die Mata Hari-CD wieder, die ich bereits verloren geglaubt hatte. Meine Lieblingsfilme von ihr hatte ich seinerzeit behalten, und so schaute ich mir La encadenada, Una sull’altra und Alta tensión nach längerer Zeit mal wieder an. Ein paar Aushangfotos fielen mir in die Hände, etliche E-Mails und Zeitungsschnipsel. Ich überlegte, dass es klug wäre, meine biographische Annäherung jetzt noch einmal einer Revision zu unterziehen.

Als ich mich ans Werk machte, stellte ich überrascht fest, dass die Streichungen und Ergänzungen sich wider meiner Erwartungen in Grenzen hielten. Ja, es war noch ein TV-Film aus den Achtzigern, Der Mörder nach Schnitzler, aufgetaucht, in dem Marisa einen winzigen Auftritt gehabt hatte, und ein paar Daten mussten korrigiert werden. In der Zwischenzeit hatte ich die Freude, Venusberg im Kino sehen zu dürfen und die frisch erschienenen, hübsch gestalteten Mediabooks von Train d’enfer und Objectif : 500 millions in meinen Besitz zu bringen. Es waren ein paar Fotos hinzugekommen, die ich gerne teilen wollte. Aber im Großen und Ganzen konnte ich Die Feuerblume im Original belassen. Aus diesem Grunde ließ ich auch das alte Vorwort so stehen, wie es damals war.

2014 veröffentlichte ich mit Sie7en eine Sammlung von Texten, unter ihnen auch ein kurzer Aufsatz über meinen ersten Aufenthalt in Graz:

»Am 23. Oktober 2013 erschien meine biographische Annäherung an die in Österreich geborene und in Italien zum Filmstar avancierte Marlies Theres Moitzi alias Marisa Mell. […] Ein Projekt, für das ich sieben Jahre Blut und Wasser geschwitzt hatte. Unter all meinen schriftstellerischen Taten nimmt Die Feuerblume eine Sonderstellung ein. Mein Respekt und meine Wertschätzung für diese Frau hatten mich zu größter Behutsamkeit verleitet, mit der ich ihr leider viel zu kurzes Leben schälte und entkernte. Dass ich mit dem Resultat so ungewöhnlich zufrieden war, hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal ließen mich die Verkaufszahlen wissen, dass Marisa doch noch nicht ganz vergessen ist; eine freudige Überraschung. Die Zuschriften, die mich erreichten, waren durchweg herzlicher Natur. Man habe meine Liebe für Marisa und ihre Arbeit beim Lesen spüren können, hieß es. Was fasziniert mich gerade an dieser Frau so sehr, dass sie mich nicht loslässt? Ein eminenter Aspekt ist mit Sicherheit dieses Mysterium, das sie zeitlebens mit sich herumgetragen und gepflegt hatte. Zu diesem Geheimnis hatte niemand unbedingten Zugang, selbst ihre engsten Freunde nicht. Bis zum Schluss. Das birgt eine gewisse Tragik in sich, weil sie auf diese Weise immer auch ein wenig einsam war, obwohl sie das Nahsein suchte. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine große Kunst, ein solches Geheimnis zu bewahren, und manchmal geht das eben nur, wenn man konsequent sagt: »Hier ist die Tür zu. Das ist, was ich dir gebe, und da ist alles drin, du musst es nur entblättern und entziffern können.‹ Dieser Dechiffriercode interessiert mich an Marisa Mell – obschon ich weiß, dass ihn niemand jemals knacken wird. Dieser Code war es, der ihr diese hoheitsvolle Würde verlieh; selbst in den zahllosen Nackedeifilmchen, die sie in den 1970ern machte, war sie niemals vulgär. Nur wenige weibliche Stars haben das geschafft, spontan fallen mir nur ein paar Beispiele aus den frühen Tagen der Traumfabrik ein: Louise Brooks, Marlene Dietrich und die Garbo. Letztere war interessanterweise auch Mells Lieblingsschauspielerin. Im Februar 2014 wurde ich nach Graz eingeladen, um an einer Gedenkfeier zu Marisas 75. Geburtstag im Grand Café Kaiserfeld teilzunehmen und aus der Feuerblume zu lesen. Die Veranstalter waren mit Marisa in den Achtzigern befreundet gewesen, hatten sich (erfolglos) bemüht, ihre Karriere wiederzubeleben und saßen in ihren letzten Wochen auch an ihrem Sterbebett. Im Vorfeld hatten wir oft telefoniert, und ich erfuhr viel Neues über sie. Über die Einladung in Marisas Geburtsstadt freute ich mich riesig.

Graz ist eine der schönsten Städte, die ich jemals gesehen habe, vom Klima her fast schon mediterran, architektonisch von Esprit und Ästhetik geprägt und durch die lebendige Theater- und Musikszene auch kulturell obenauf. Die beiden Veranstalter zeigten mir die Stadt und stellten mir Weggefährten von Marisa vor, unter anderem den Produzenten ihres letzten Films sowie den Regisseur Alfred Ninaus. Ich traf eine Frau, die vor rund 30 Jahren als junge Krankenschwester Mells Mutter gepflegt und als Dankeschön von ihr eine schmucke Wildlederhose mit Widmung geschenkt bekommen hatte. Ein älterer Herr erzählte, er habe durch die Zeitung von der Feier erfahren; er hatte mit Marlies/Marisa die Schulbank gedrückt und wohnte in der Nachbarschaft, und obwohl sich die beiden nach dem Abschluss nie wieder gesehen haben, so blieb sie ihm doch in Erinnerung. Ein wahrer Anekdotenregen prasselte auf mich hernieder. Dazu gab es Pasta nach Marisas Originalrezepten. Sie hatte ihre damals noch blutjungen Freunde streng unterwiesen, wie man die verschiedenen Soßen zuzubereiten hatte, damit diese ›richtig italienisch‹ schmeckten. Es waren herrliche Tage und ein denkwürdiger Abend, der mich demütig werden ließ; ich lag anschließend todmüde und hellwach mit fließenden Glückstränen in meinem Hotelbett.

Einen unschönen Aspekt hatte dieses Abenteuer dennoch: Die Veranstalter hatten mich im Vorfeld gebeten, einen Clip aus Marisas besten Filmmomenten zusammen zu schneiden, circa 30 Minuten lang und mit Musiken aus ihren berühmtesten Werken unterlegt. Für diesen Zweck musste ich für drei Tage einen Schnittplatz mieten. Ein Freund machte mir einen Sonderpreis. Kostenpunkt: 750 Euro. ›Kein Problem‹, sagten die Veranstalter, ›das Kulturamt der Stadt Graz trägt sämtliche Kosten der Veranstaltung. Leg du’s nur erstmal aus.‹ Meine Auslagen (wie auch meine Gage) erhielt ich nie, obwohl die Stadt Graz den Herren Veranstaltern bereits Anfang April 2014 alle Kosten – auch meine! – überwiesen hatte. Rief ich an, um mich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, legten die Herren mit einem barschen »Geh scheißen!‹ einfach auf. Ende Mai schrieb ich dem Kulturamt, dass nicht nur ich, sondern vor allem auch die Stadt Graz geprellt wurde. Man bedankte sich herzlich und versprach, der Sache nachzugehen, meinte jedoch, dass man mir nichts versprechen könne. Am Ende fand ich es betrüblich, dass so genannte ›Freunde‹ sich noch über 20 Jahre nach Marisas Tod eiskalt auf ihre Kosten bereichern. Trotzdem habe ich mir einen längeren Aufenthalt in Graz vorgenommen. Eines Tages. Ich möchte Marisas Spur noch einmal aufnehmen.«

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, die englische Übersetzung dieses Buches zu Mells 30. Todestag im Mai 2022 fertig zu haben. Leider kam zu viel Leben, zu viel Arbeit dazwischen. Nun habe ich mir vorgenommen, das Buch bis zum ihrem 85. Geburtstag im Februar 2024 druckfertig zu haben. Bis dahin wird es in Graz und Wien Ausstellungen und Retrospektiven für Marisa Mell gegeben haben, und Markus Mörths Film wird ebenfalls fertig gestellt sein. Es ist ein aufregendes Jahr, in welchem Marisa Mell posthum endlich die Wertschätzung erfährt, die sie zeitlebens so rastlos suchte, und ich denke, sie wäre sehr glücklich zu sehen, wie sehr ihrer gedacht wird.

Vorwort 2013

Der Berliner Spätjuli des Jahres 2006 war entsetzlich heiß, in der Kreuzberger Dachgeschoßwohnung eines befreundeten Regisseurs klebte man förmlich an den weißen Kunstlederpolstern. Für meine Verhältnisse jammerte ich erstaunlich wenig, denn ich war gerade frisch aus Madrid zurück – Madrid im Juli! –, wo ich zweieinhalb Wochen in einem Studentenfilm gespielt hatte; ich war also gewissermaßen ans Schwitzen gewöhnt. Die Hitze hatte mir Schlaf, Appetit, Konzentrationsfähigkeit und Geduld genommen, ich war als Nervenbündel heimgekehrt.

Marisa Mell war in diesen Wochen oft Thema gewesen, passend und unpassend, ich fühlte mich berufen, mit jedem, der das Gespräch mit mir suchte, über sie zu reden. Den befreundeten Regisseur im verklebten Dachgeschoß traf es ganz besonders schlimm, teilte er doch meine Affinität zu etwas obskureren Filmen und ungeborgenen Schätzen. Gemeinsam schauten wir uns viele Trash-Perlen aus den unterschiedlichsten Epochen und Ländern an, Stunden konnten wir uns in Diskussionen an ihnen erbauen.

2006 war das Jahr, in dem ich mich intensiver mit Marisa Mell auseinanderzusetzen begann: ich hatte Erika Pluhars erschütterndes Buch Marisa – Rückblenden auf eine Freundschaft zum wiederholten Male gelesen – einer Freundin las ich es eines Nachts sogar laut vor – und hatte zum Sommer hin begonnen, ihre Filme zu sammeln, was sich äußerst finanz- und zeitaufwändig gestalten sollte. Die detektivische Herausforderung war ein großer Reiz, denn von den rund 60 Kinofilmen, die die Mell im Laufe ihrer Karriere gemacht hatte, waren nur sehr wenige regulär auf DVD oder Video erschienen. (Heute, sieben Jahre später, sind es ein paar mehr, das Gros bleibt aber dennoch schwer auffindbar.) Da war ein Geheimnis um diese Frau, das sich nicht entziffern ließ. In vergilbten Film- und Theaterführern fand ich widersprüchliche Informationen über sie, die Gerüchteküche auf diversen Internetseiten schien mit neuen Gossip-Rezepten geradezu zu experimentieren. Oft musste ich heulen, wenn ich in Pluhars Buch las oder an sie dachte. Neben dem Geheimnis war da eine starke, fast irrwitzige Tragik um sie. Eine Frau, die nicht einmal vor ihrer besten Freundin weinen konnte, die vieles, was sie schmerzte, tief in sich vergrub, die hinter ihrer atemberaubenden Schönheit und souveränen Posen Schutz suchte, der, als sie älter wurde, immer fadenscheiniger, brüchiger wurde, bis sie schließlich schutzlos den Elementen ausgeliefert war. Ich glaube, der Schlüsselsatz in dem Pluhar-Buch war: »Du hast dich in deinem schönen Körper versteckt, er sollte deine Sprache sein. Und darum wurdest du sprachlos.« – Kaum jemand, der über Marisa Mell sprach oder schrieb, vergaß, ihre Schönheit zu erwähnen. Selbst der voller Verachtung über sie schreibende Filmkritiker Christian Keßler gab zu: »Ihre Gesichtszüge waren prägnant, von einer fast unanständigen Makellosigkeit. Bei ihr hatte man immer den Eindruck von Eleganz und Hochmut, denen aber eine ständig durchsuppende Sexualität im Wege stand.«

Eine geheimnisvolle, tragisch umwehte Schönheit – Pluhar notierte schon 1957: »So wird man sie später in Filmen sehen, denke ich, so unsagbar schön und gedankenvoll.« –, die, je länger ich mich mit ihr beschäftigte, vor allem eines offenbarte: Stärke. Es gibt eine Art von Stärke, die einen zerbrechen kann. »Starke Menschen lassen sich nicht beugen«, schrieb ich in einem meiner Bücher, »sie werden gebrochen. Oder zerbrechen.« – Marisa Mell konnte, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlte, rigoros sein. Ihre Stärke half ihr, die Alkohol- und Drogensucht – unter schöpferisch tätigen Menschen oder Stars keine seltene Erkrankung – zu besiegen, mit aller Kraft ging sie gegen berufliche Flauten und Armut an, und manchmal, meist zu spät, gelang es ihr auch, sich gegen die Forderungen vermeintlicher Freunde (oder Liebhaber) abzugrenzen. Freunde und Weggefährten haben sie als eine warmherzige Frau in Erinnerung, großzügig bis zur Selbstaufgabe, humorvoll und gescheit. Sie selbst beschrieb sich gelegentlich als »faul« und beklagte »diese Sucht, zu genießen. Diese Trägheit – und der Rest von Kraft dazu benutzt, unrealistischen Vorstellungen hinterherzulaufen.«

Es gab im Laufe meines Cineasten-Lebens einige Frauen, die es mir angetan hatten: Tippi Hedren, Vanessa Redgrave, Kim Stanley, Luise Rainer, Hildegard Knef, Sandra Bernhard, Sharon Stone, Carole Lombard, Jane Fonda, Christine Kaufmann, Rachel Roberts, Frances Farmer, Sharon Tate – und Romy Schneider. Je mehr ich über die Mell herausfand, desto mehr erinnerte sie mich, wenn auch nur »über Ecken«, an Romy Schneider. Im Sommer 2007, ich hatte bereits mit meiner Arbeit an diesem Buch begonnen, schrieb ich folgenden Aufsatz:

»Über beide hab ich bereits geschrieben, allerdings blieb vieles unerwähnt, da ich einiges erst in den vergangenen Monaten in Erfahrung bringen konnte. Manch anderes fiel mir erst in den vergangenen Wochen auf. Zum Beispiel die zahlreichen Gemeinsamkeiten der beiden – und dennoch ist die eine, Romy, nach wie vor in aller Munde, während die andere, Marisa, praktisch vergessen ist. Mit Romy-Biographien könnte man eine ganze Armee totschmeißen!

Beide Frauen hatten ihre Wurzeln in Österreich. Marisa Mell kam als Marlies Theres Moitzi in Graz zur Welt, die Schneider als Rosemarie Albach ein halbes Jahr vor ihr in Wien (ihr Vater war Wiener, ihre Mutter Augsburgerin, sie selbst behielt bis zu ihrem Tod die deutsche Staatsbürgerschaft). Sowohl Marlies als auch Romy wurden von ihren Müttern großgezogen – zu denen beide zeitlebens ein arg gespaltenes Verhältnis hatten. Die Väter wurden schmerzlich vermisst.

Überlappungen gab’s auch im späteren Leben zuhauf. Die enorme Sprachbegabung zum Beispiel – Romy sprach zwei, Marisa vier Fremdsprachen fließend –, dann Alain Delon – Schneider war mit ihm verlobt, Mell 1962 mit ihm im Bett – und Bob Evans, Filme mit Michel Piccoli – Schneider machte sechs, Mell immerhin zwei mit ihm –, und den internationalen Durchbruch in der Kinosaison 1968/69 – Romy in Frankreich mit Sautets Les choses de la vie (Die Dinge des Lebens), Marisa in Italien mit Danger: Diabolik von Mario Bava und Una sull’altra von Lucio Fulci. Beide spielten glanzvoll die Kaiserin Elisabeth von Österreich: Romy Schneider unter Visconti, Marisa Mell in einem dokumentarisch angelegten Fernsehfilm des ORF. Beide drehten ungefähr 60 Kinofilme – bei der Mell kamen noch einige TV-Arbeiten hinzu –, hatten depressive Neigungen (bei Romy Schneider würde man heute von einer bipolaren Störung sprechen) und betäubten diese mit Tabletten, Alk, Kokain und Männern. Das Schicksal hat es beiden von allen Seiten kräftig gegeben, und auch mit dem lieben Geld hatten beide kein glückliches Händchen, am Ende waren sie pleite (Mell) bzw. verschuldet (Schneider).

Von Schönheit möchte ich an dieser Stelle gar nicht sprechen, denn an schönen Frauen mangelte es beim Film nie. ›Schön waren sie ja alle‹, sagte Marlene Dietrich.

Romy Schneider war auf ihre Weise die erfolgreichere Schauspielerin; immerhin 13 Jahre lang war sie die begehrteste Schauspielerin des französischen Autorenkinos, und es wären noch mehr geworden, wenn der Tod nicht alles ruiniert hätte. War sie auch die bessere Schauspielerin? Das lässt sich schwer sagen. Ihre Begabung war außergewöhnlich, ihre Ausstrahlung ungeheuer intensiv und ihr Ehrgeiz stark wie eine Elefantenherde in Feuersbrunst. Die ersten beiden Punkte treffen in vollem Umfang auch auf die Mell zu, nur ehrgeizig war sie weiß Gott nicht. Dafür hatte sie am Max-Reinhardt-Seminar eine grundsolide Schauspielausbildung erhalten, etwas, das Romy Schneider fehlte. (Schneider selbst beklagte sich später mehrmals darüber.) Am Ende ihres Lebens vermerkte die Schneider, nur zehn ihrer Filme seien ›gut‹, und leider sei kein ›großer‹ Film dabei gewesen. Was leider wahr ist. Lediglich Les choses de la vie hat’s zum Klassiker gebracht. Dabei drehte sie mit den ganz großen Regisseuren: Visconti, Welles, Preminger, Losey, Costa-Gavras, Dassin, Woody Allen und Terence Young, um nur einige zu nennen. Ihre Filme waren vielleicht nicht ›groß‹, aber doch (meist) anspruchsvoll, und fast immer gelang es ihr, eine spannende Charakterrolle zu ergattern. Dieses Glück hatte Marisa Mell nicht. Ihre Regisseure – Luigi Zampa, Nando Cicero, Sergio Grieco, Umberto Lenzi, Mario Bava, Lucio Fulci, Basil Dearden, Ken Russell – sind nur Kinokennern mit einem sehr speziellen Geschmack ein Begriff. Ihre besten Filme, wie zum Beispiel Casanova 70 von Mario Monicelli, haben heute bestenfalls Kultstatus unter Freunden des ›besonderen Films‹ erreicht, aber ein Klassiker ist nicht dabei. Marisas Karriere war, zumindest auf den ersten Blick, eine Aneinanderreihung von Absurditäten, Fehlentscheidungen und Pleiten. Die schlimmste war ihr Engagement am Broadway: in der Titelrolle als Mata Hari erntete sie herbe Verrisse, das Stück wurde nach einigen Probevorführungen in der Provinz abgesetzt und schaffte es gar nicht an den Broadway. Von dieser Katastrophe erholte sich die sensible Mell, die mit großem Trara und Presserummel als kommender Broadway-Star angekündigt worden war, nie. Einen beruflichen Misserfolg hatte Romy Schneider übrigens nie erdulden müssen, zumindest in Frankreich war jeder ihrer Filme ab 1970 ein Erfolg bei Kritik und Publikum. Und während La Schneider in Paris eine Charakterrolle nach der anderen meisterte, hüpfte La Mell in Spanien und Italien von einer Bikinirolle zur nächsten.

Privat ging’s bei beiden Ladies hoch her, wenn auch hier mit Unterschieden. Nicht ohne Koketterie schrieb Romy Schneider: ›Wer behauptet, dass Nymphomanie eine Krankheit ist?‹ – ›Die Presse hat aufgehört, ihre Liebhaber zu zählen!‹, lästerte eine deutsche Gazette, und der Journalist Will Tremper schimpfte sie ›eine streunende Vagina‹. Sie hatte, wie jeder andere auch, one night stands und ein paar Affären mit Bruno Ganz, Richard Harris und so weiter. Sie hatte Spaß, warum auch nicht. Marisa Mell, genusssüchtig und lebensfroh (die depressiven Tiefs traten bei ihr erst aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit in den Achtzigern auf), hatte den ebenso, nur mit einem irgendwie ›schweren‹ Unterton. Zu ihren Liebhabern zählten Warren Beatty, Roman Polanski, Alexander Onassis, Stephen Boyd und der Schah von Persien. Oft waren diese Affären allerdings missglückte Beziehungsversuche, ein Klammern und Kämpfen. Sie teilte das Schicksal vieler bildschöner Menschen: ›Jeder wollte mich haben, aber keiner wollte mich behalten‹, soll sie einmal gesagt haben. Geheiratet wurde sie, im Gegensatz zur Schneider, nie.

Was die Bisexualität, die zahllosen Stars nach ihrem Ableben von der Presse medienwirksam attestiert wird, angeht, da wird Romy Schneider heute nachgesagt, dass sie gerne dann und wann mal eine Auster erforschte. Marisa Mell war da weniger umtriebig, obwohl Ann Smyrner in einem Interview durchklingen ließ, die Mell sei ihr 1965 nicht unbedingt abgeneigt gewesen. Aber gut, wie auch immer: Beide haben sich zu dem Thema nie öffentlich geäußert, obwohl die Schneider 1976 in einem Interview mit Alice Schwarzer unter vier Augen durchklingen ließ, dass sie hoffe, ›irgendwann einmal den Mut zu haben, mit einer Frau zu leben‹.

Kokain war ein guter Freund vieler Filmschaffender in den Siebzigern. Romy und Marisa waren keine Ausnahmen. Auch Beruhigungsmittel und das eine oder andere alkoholische Getränk drehten ihre Runden durch ihre schönen Körper. Doch hier zeigt sich einer der gravierenden Unterschiede zwischen den Aktricen: Mell kriegte die Kurve und kämpfte. Sie kämpfte erfolgreich. Romy Schneider war Mitte der siebziger Jahre bereits im klinischen Sinne tablettenabhängig und Alkoholikerin. Sie gab sich, je nach Blickwinkel, auf oder hin und trieb beinahe mutwillig ihrem frühen Tod entgegen. Mell disziplinierte sich, trank nur noch Wasser und rührte kein weißes Pulver mehr an. Sie rappelte sich auf, spielte Theater und arbeitete sich aus dem Tief empor – dann kam leider der Krebs.

Fazit: Beruflich gesehen war Marisa Romy light, privat war Romy Marisa light. Oder umgekehrt. Ich muss sagen, wenn ich Romy Schneider nicht so lieben würde, wäre ich vermutlich nie auf Marisa Mell gestoßen.«

Heute, im Sommer 2013, ist mein Wissen über Marisa Mell bedeutend umfangreicher, es werden ganz andere Zusammenhänge erkennbar. Romy Schneiders Leben wurde quasi »von Anfang an« von der Journaille begleitet, ihre Eltern waren berühmte Ufa-Stars, und sie selbst war kaum 15 Jahre alt, als sie zum ersten Mal selbst vor der Kamera stand. Der exorbitante Erfolg der Sissi-Trilogie machte den Teenager bereits zu Lebzeiten zur Legende. Als sie mit 20 aus dem Mief des Adenauer-Deutschlands nach Paris ging, watschte die für ihre Häme bekannte deutsche Presse sie ab. Als sie mit 30 zu einem der größten Stars Frankreichs geworden war, goutierte man das hierzulande mit einer Melange aus Neid und Missgunst. Ihr früher Tod mit 43 machte sie zum Mythos, unantastbar, verklärt. Zu Lebzeiten verkannt und unterschätzt, im Tode glorifiziert. Wie bei der armen Marilyn Monroe. Bis heute erscheinen immer neue Biographien, Bildbände, verloren geglaubte Schätze.

Marisa Mell stammte »aus einfachen Verhältnissen«, niemand aus ihrer Familie hatte auch nur entfernt etwas mit dem Showbusiness zu tun, ihr Aufwachsen war in diesem Sinne geerdeter, normaler, behüteter – sofern man das von einer Kindheit in den Kriegsjahren sagen kann. Sie ging den allgemein üblichen Weg von der Schule über die Schauspielschule zum staatlich subventionierten Theater und schließlich zum Film. Ein mit Sissi vergleichbarer Erfolg, der sie in den Superstar-Olymp gehoben hätte, blieb ihr verwehrt (oder erspart, je nach Auffassung). Als sie starb, war sie der breiten Öffentlichkeit bereits aus dem kollektiven Gedächtnis gerutscht – im krassen Gegensatz zur Schneider, die auf dem Höhepunkt ihrer Popularität starb. Eine Mythenbildung blieb aus, dafür erreichte sie posthum eine Art Kultstatus, als Ende der 1990er Mario Bava und Lucio Fulci wiederentdeckt wurden und das Subgenre des Giallo (vor allem in den Vereinigten Staaten) ein neues following fand. Eine Marisa-Mell-Biographie erschien jedoch nie.

Ich unternahm über die Jahre einige Anläufe einer »klassischen Biographie« über Marisa Mell – und scheiterte stets an meiner fehlenden journalistischen Distanz. Ich bin kein Journalist, und Marisa Mells Leben und Sterben berührte mich allzu sehr, um klarsichtig darüber schreiben zu können. Im Zuge meiner Recherchen stieß ich auf mehrere dunkle Flecken in ihrer Vita – wie beispielsweise ihre zwei Schwangerschaften oder ihre späte »Pornokarriere« aus Geldnot –, die sie selbst gerne eliminiert hätte. (Sie hatte einiges unternommen, um diese Kapitel zu verdrängen bzw. geheim zu halten.) Mein Dilemma: als Mensch, der sie lieb gewonnen hatte, wollte ich nicht darüber schreiben, als Biograph wäre es falsch und unehrlich, diese Dinge zu verschweigen. Also wählte ich einen anderen Weg und suchte den Zugang über ihr »Werk«. All den Falschheiten, die über sie gedruckt wurden – und die sie selbst (etwa in ihrer Autobiographie Coverlove) verbreitet hatte –, all den Gerüchten und Halbwahrheiten stehen ihre Filme als »Fakten« gegenüber. Als Filmliebhaber kam mir diese Lösung am nächsten.

Die Fakten aus Romy Schneiders Leben sind alles in allem sehr leicht zugänglich und zusammentragbar. Ihre Filme sind leicht erhältlich. Wenn man sie auf dem üblichen Wege nicht findet, so gibt es doch alle auf der großen Romy-Fanseite im Netz. Mit den Mell-Filmen hat man’s ungleich schwerer. Ihre Filme sind fast ausschließlich B- oder C-Movies, nicht zu vergleichen mit Schneiders Schaffen. Bei vielen Mell-Filmen lief das Copyright irgendwann aus und wurde nicht erneuert, sodass die Streifen heute public domain, öffentliches Eigentum, sind. Heißt im Klartext: Jeder, der irgendwo ein altes Videoband von Violent Blood Bath (zum Beispiel) findet, kann den Film veröffentlichen. Wo das Original-Negativ ist oder ob es überhaupt noch wo ist, ist nicht ermittelbar. Die meisten italienischen und spanischen Produktionsfirmen aus der damaligen Zeit existieren schon lange nicht mehr, die Archive sind aufgelöst, oft gibt es nicht einmal mehr Set- oder Publicityfotos. Vereinzelt sind noch Plakate oder Pressehefte (meist aus Privatbesitz) aufzutreiben, Kritiken gibt es in den Archiven der großen Tageszeitungen natürlich auch noch. Aber wo findet man Filme wie Les libertines, Infamia oder Un ombra nell’ombra? Da wird so schnell keine reguläre DVD aufgelegt werden. Es kostete mich über zwei Jahre, viel Kohle, Sitzfleisch und Mühe, um wenigstens 26 ihrer Filme aufzutreiben; die fehlenden kamen (fast alle) in den folgenden Jahren dazu. Die Importe fanden aus Griechenland, Finnland, Spanien, Italien und den USA ihren Weg zu mir, es wurden Fernsehsender und private Sammler bemüht, für eine DVD-R (eine schwarz gebrannte DVD) zahlte man locker mal 50 Euro.

Was man zu sehen kriegt, wenn man einen Marisa-Mell-Film in den Rekorder legt, trotzt bisweilen jeder anständigen Beschreibung. Der Kreuzberger Regisseur (der mit der Dachgeschosswohnung) meinte nach dem gemeinsamen Genuss von L’osceno desiderio trocken: »Man sieht ihr an, dass sie genau weiß, was für einen Mist sie da verzapft. Das macht sie in meinen Augen sehr sympathisch.« – Als sie L’osceno desiderio drehte, hatte sie ihre besten Filmjahre bereits hinter sich und wusste das auch.

Weil ich so viele Wochen auf ihn warten musste, war Historia de una traición ein persönliches Highlight für mich. Eine souveräne Regie, souveräne Darsteller – und trotzdem alle andere als ein souveräner Film, der sich in seinen Verschachtelungen und Wendungen selbst aus den Augen verliert. – In Bella, ricca, lieve difetto fisico cerca anima gemella wird sie als Transe konsequenterweise von einem Mann synchronisiert, ihr Habitus und ihr äußeres Erscheinungsbild bleiben allerdings durchgängig feminin. Den Film schräg zu nennen, wäre eine Untertreibung. – Einer meiner Lieblingsfilme aus den Siebzigern ist und bleibt La encadenada von Manuel Mur Oti, vermutlich auch, weil es einer meiner ersten Mell-Filme war. Den Film gab es sowohl bei Something Weird Video als auch bei Sinister Cinema zu bestellen. (Inzwischen sind es sogar einige Anbieter mehr.) Zeitweise plante ich sogar ein Remake dieses Films, dessen Struktur mich nach wie vor gefangen nimmt. Der Kameramann war kein geringerer als José Luis Alcaine, der heute zum festen Mitarbeiterstamm Almodóvars gehört. Dass La encadenada überhaupt fertig gestellt wurde, kommt einem Wunder gleich: Da der Produzent des Films (Espartaco Santoni) sein Team nicht oder nur teilweise bezahlt hatte, waren viele für den Schnitt dringend benötigte Aufnahmen nicht gedreht worden. Für die Cutterin Rosa Salgado und Regisseur Mur Oti entwickelte sich die Arbeit im Schneideraum zu einem Alptraum.

Dies ist also keine Biographie, vielleicht ist es eine Art »Filmbiographie«. Ich persönlich finde den Ausdruck »Annäherung« am stimmigsten. Vor allem ist es ein Buch von einem Fan für Fans.

Obschon ich den Fokus auf ihre Film-, Fernseh- und Theaterarbeit legen möchte, ist mir sehr daran gelegen, einige Fehlinformationen über Marisa Mell aus der Welt zu schaffen, die nach wie vor kursieren. Selbst ihr Nachruf im Spiegel [Siehe Anhang VII: Marisa Mell.], an und für sich ein »seriöses Blatt«, ist fehlerhaft: so spielte sie nicht mit Woody Allen und Peter O’Toole in What’s New, Pussycat? (das war Romy Schneider) und starb auch nicht an Schilddrüsenkrebs (es war Kehlkopfkrebs, aber das liegt ja nicht weit auseinander).

Ihre eigenen Schilderungen in Coverlove sind, wie man’s auch drehen und wenden möchte, mit Vorsicht zu genießen, das Buch birst nur so vor Halb- und Unwahrheiten, Ungenauigkeiten, Verdrehungen, Vertuschungsversuchen, Selbstbetrug und Sensationshascherei. Es liest sich wie eine Promi-Klatschspalte in Buchform. Man kann das Machwerk ruhigen Gewissens einen »Ausverkauf« nennen; Mell schrieb das Buch einzig aus dem Grund, weil sie Geld brauchte und verramschte das, was die Leute jahrzehntelang von ihr medial gewohnt waren: das nimmersatte, Männer verschlingende Vollweib. Coverlove ist über weite Strecken nichts weiter als eine Aneinanderreihung ihrer Männergeschichten. Wer etwas über den Menschen Marlies Moitzi erfahren möchte, wird ebenso enttäuscht wie jene, die sich für ihr Filmschaffen interessieren. Die Filme bis 1965 werden (teilweise) mit Titel erwähnt, es gibt ein paar Anekdötchen und prima Fotos, man erfährt (immerhin), wie sie Fremdsprachen lernte, dass sie eine gläubige Katholikin war und für Curd Jürgens schwärmte; das längste Kapitel ist ihrem Hund Rocco gewidmet, und einmal erzählt sie sogar einen jüdischen Witz. Verlässlichere Quellen bilden das Pluhar-Buch und die Memoiren einiger Weggefährten wie Senta Berger, John Phillip Law, Helmut Berger oder Vincente Minnelli, in denen sie erwähnt wird. [Siehe Anhang XI: Bücher, die mir halfen.]

Bei der Recherche waren mir zwei liebe Freunde, ihres Zeichens selbst große Marisa-Fans, behilflich: Thomas H. und Mirko Di Wallenberg, der den umfangreichen, herrlich grünen Marisa-Mell-Blog im Netz betreibt und über ein riesiges Archiv verfügt. Diesen beiden Menschen möchte ich dieses Buch auch widmen. Sie waren (und sind) mir mit ihrem Wissen und ihrem Eifer eine wirklich große Unterstützung.

Von Anfang an war klar, dass das Buch reich bebildert sein sollte – eine Marisa-Mell-Biographie ohne Fotos war nicht vorstellbar. Da mit Copyright-Fragen viel Schindluder getrieben wird – so gibt es beispielsweise eine »Bildagentur«, die in betrügerischer Absicht im Netz unterwegs ist und behauptet, das Urheberrecht auf alle Mell-Fotos aus späteren Jahren zu haben –, haben wir uns bei der Auswahl der Bilder ausschließlich in privaten Sammlungen bedient. Dabei habe ich in der Hauptsache nach Fotos gesucht, die weniger bekannt sind, und nach Möglichkeit welche, die nicht gestellt sind (Natürlichkeit ist bei Star-Portraits äußerst rar, da nicht gefragt). Ich denke, uns ist eine gute, breit gefächerte Auswahl gelungen. [Siehe Anhang X: Bildnachweis.]

Mit diesem Buch endet für mich (vorerst) ein jahrelanger Prozess des Sammelns und Recherchierens, des Anhäufens und Zusammentragens. Viel Ballast kann ich nun endlich »abwerfen«, indem ich ihn mit Ihnen teile. Vielen Dank im Voraus.

So, und nun möchte ich Sie einladen, Marisa Mell ein wenig besser kennen zu lernen und wünsche Ihnen viel Spaß dabei.

Die Feuerblume

Marisa Mell

Wenn ich ein Bildsynonym für sie finden müsste, wären es wohl die flüchtig flackernden Blüten einer Feuerblume, heiß und leuchtend, ungreifbar und zerstörerisch, blühend, weich und duftend, versengend – vergänglich – verblühend. Ein Kranz kleiner Flämmchen, ein wogendes, kurzes Brennen, bevor die Blume in aufsteigendem Rauch verendet.

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Coverlove

Die 1980er waren für Marisa Mell hauptsächlich von Geldnöten und Arbeitslosigkeit geprägt. In den Jahren 1981 und 82 war sie komplett ohne Engagement, und auch in den Folgejahren gab es für sie nicht viel mehr als beruflichen Kleckerkram – wie etwa ein 30sekündiger Gastauftritt in der TV-Serie Kottan ermittelt. Um ihr Leben in Rom fürderhin finanzieren zu können, hat sie in diesen Jahren »viele Dummheiten gemacht«, wie Erika Pluhar 2009 zu Protokoll gab. Mit den Dummheiten waren wohl Mells Plattenaufnahme Lady O. / Slave of Love, ihre Partizipation als innocent bystander auf Orgienfotos in italienischen Pornomagazinen (es gibt leider noch andere, eindeutigere Bilder von ihr in derartigen Blättern) und ihr Erinnerungsbuch Coverlove gemeint. Diese Unternehmungen waren in der Tat töricht, da kurzsichtig und in finanzieller Not entschieden. Es waren Dinge, die sie – wie man nur allzu klar hören, sehen und lesen kann! – nicht machen wollte. Retrospektiv gesehen haben diese kläglichen Geldbeschaffungsmaßnahmen ihr nicht genützt – es gab kaum Geld dafür –, aber sehr geschadet, denn auch heute, 21 Jahre nach ihrem frühen Tod, haftet ihrem Ruf etwas Anrüchiges, Verderbtes an.

Unter dem Arbeitstitel »Es muss nicht immer Sünde sein…« hatte sie mithilfe einer Ghostwriterin im Oktober 1987 im Alter von 48 Jahren ein Buch fertig gestellt, das man mit viel Wohlwollen vielleicht eine »Autobiographie« nennen könnte. Es begann mit den Worten: »Er schlug bei mir ein wie ein Blitz. Er, das war Alain Delon!«, und endete 199 Seiten später mit den denkwürdigen Zeilen: »Fast alle meine Liebesgeschichten hatten eine lange Anlaufzeit. Alle meine Beziehungen, auch die negativ verlaufenden Erfahrungen, waren schließlich doch positiv für mich, denn auf jeden Fall habe ich immer den ganzen Mann erlebt.«

Das Buch erschien drei Jahre später im mittlerweile eingegangenen Grazer Verlag Edition Strahalm unter dem Titel Coverlove und verkaufte sich, nun ja, mäßig. Heute ist der Schmöker längst vergriffen und nur noch ab und an bei Ebay zu ersteigern. All jenen, die kein Exemplar besitzen und glauben, etwas verpasst zu haben, darf ich an dieser Stelle sagen: Sie haben nichts verpasst.

Es ist unwahrscheinlich, dass Coverlove jemals einem Lektorat vorgelegt wurde. Dagegen sprechen nicht zuletzt der verworrene Schreibstil und die unzähligen Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler. Auch der Umschlagtext dürfte von der Autorin stammen und vom Verlag ungeprüft abgedruckt worden sein, er ist im selben Stil gehalten und strotzt ebenso von einer mangelhaften Grammatik. Mehr möchte ich auf das Formale nicht eingehen. Es ist eine Qual, das Buch zu lesen.

Inhaltlich sieht es nicht besser aus. Marisa Mell erzählt nicht ihre Geschichte, erlaubt keinen Einblick in ihr »wahres Ich« und bilanziert auch nicht. Der Leser erfährt eigentlich nichts über sie, sie spricht kaum über ihre Herkunft, und nur wenig über ihre Arbeit. Coverlove hat keine Struktur, und man merkt der Autorin ihre Lustlosigkeit an. Ungefähr bis zu ihrem 25. Lebensjahr reißt sie die Kapitelchen (oft sind es nur zwei, drei Seiten) noch halbwegs runter, danach scheint sie endgültig das Interesse verloren zu haben. Den Blick starr aufs Honorar gerichtet, betätigt sie sich olympiareif im name-dropping: zuweilen erinnert das Buch an ein Who-is-Who des internationalen Jetsets. Da sich die Öffentlichkeit – auch aufgrund von Mells Mithilfe – ab einem gewissen Punkt ihrer Karriere (circa 1968?) mehr für ihr Privat-, als ihr Berufsleben interessiert hatte und sich derartige Interviews stets gut verkauft hatten, schlachtete Marisa Mell für Coverlove noch einmal ihr Liebesleben aus und gab eine ganze Reihe Anekdoten aus ihrem Schlafzimmer preis. Komischerweise ist dieser schamlose Ausverkauf des Privaten alles andere als persönlich: sie schreibt über ihre Erlebnisse, als sei sie eine unbeteiligte Zuschauerin, als ginge sie das Geschehen eigentlich nichts an. Wahre, ehrliche Sentiments entdeckt man allerhöchstens zwischen den Zeilen, etwa wenn sie allzu offensichtlich den Versuch unternimmt, aus einer »Niederlage« einen »Sieg« zu basteln. Streckenweise wird der Leser Anflüge von Fremdscham nicht abwehren können, wenn sie zum Beispiel in dem Kapitel »Die Liebe erwacht« über ihr erstes Mal schreibt (»Unendlich langsam und zärtlich drang er in mich ein…«) oder über ihr amüsant-erotisches Abenteuer mit den Katner-Zwillingen Witold und Tadeusz berichtet (»Alle Spießer werden mir diese Geschichte sicher übel nehmen.«), die sich, ohne es ihr zu sagen, bei ihr »abgewechselt« hatten. Auf den mangelhaften Erfolg des Buches angesprochen, antwortete die Mell in ihrem letzten Fernsehinterview 1991 allen Ernstes: »Man sagte mir, es sei zu diskret gewesen, deswegen ist es kein Bestseller geworden.« – Bei aller Liebe: Diskretion kann man Coverlove weiß Gott nicht vorwerfen. Betrübend offenherzig schreibt Marisa Mell über ihre Liebschaften, one night stands oder Beziehungen mit namhaften Playboys wie Alain Delon, Roman Polanski, Warren Beatty, Bob Evans oder dem Schah von Persien, ferner breitet sie ihre Affären mit Michel Piccoli, Walter Giller, Helmut Berger, dem brasilianischen Schönheitschirurgen Ivo Pitanguy und Fiat-Geschäftsführer Gianni Agnelli aus; Don Jaime de Mora y Aragón, der hübsche spanische Schauspieler Julián Mateos und Alexander Onassis finden immerhin Erwähnung. Über ihre Liaison mit John Phillip Law geht sie in dem Buch ebenso hinweg wie über ihre längeren Beziehungen mit Espartaco Santoni (circa 1973-75) und Gianni Macchia (circa 1977-80); auch das Intermezzo mit dem Pianisten Maurizio Libardo bleibt unerwähnt. Dafür schildert sie ausführlich die vergeblichen Annäherungsversuche Darryl F. Zanucks und Frank Sinatras sowie ihr erfolgloses Schwärmen für Jean Marais (schwul), Curd Jürgens (verheiratet) und Anthony Perkins (schwul und verheiratet). Der sensible Stephen Boyd hatte es ihr besonders angetan. Auf ihn möchte ich in diesem Buch etwas ausführlicher eingehen, wie auch auf den Mann, mit dem sie ihre längste, intensivste und schlussendlich auch schmerzhafteste Beziehung hatte: Pierluigi Torri, der wohl der wichtigste Mann in ihrem Leben war.

1959, sie war nach damals geltendem Gesetz noch nicht volljährig, heiratete sie einen Jugendfreund, den Schweizer Banker Henri Tucci, den sie liebevoll bei dessen Nachnamen nannte: »der Tucci«. Die Ehe wurde bereits nach wenigen Jahren wieder geschieden, und in Coverlove findet sie auch kaum Erwähnung. In einem Interview von 1983 resümierte sie: »Ich war einmal mit einem sehr netten Mann verheiratet. Aber da wir uns fast schon als Kinder kennen gelernt hatten, kannten wir einander zu gut, und daran ist unsere Verbindung wohl gescheitert. Dazu kam mein Beruf, das viele Herumreisen. Wir sind aber auch heute noch gute Freunde.« – Erika Pluhar beschreibt in ihren Erinnerungen den »Tucci« als einen »schlanken, fast zierlichen Mann mit dunklem Haar und blasshäutigem Gesicht« und verzeichnet, dass die Beziehung von »einer etwas gelangweilten Stimmung zwischen den beiden« geprägt gewesen sei:

»›Er ist nett‹, sage ich.

›Nicht wahr? Und Gott sei Dank hat er einen gesunden Beruf, hat mit Banken und Geld zu tun und nichts mit der Kunst.‹

›Liebst du ihn?‹ frage ich und weiß gleichzeitig, dass diese Frage meinen Zweifel daran enthüllt. Marlies scheint das nicht aufzufallen.

›Ja, sehr‹, antwortet sie prompt.

›Ich brauche einen Menschen, der auf mich aufpasst‹, fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu. Und das erinnert mich an ihre Bemerkung über den Freund, den wir während der Schauspielschulzeit alle den ›ständigen Begleiter‹ nannten. […]

›Ich hätte nie gedacht, dass du so schnell heiraten würdest‹, sage ich und betrachte dabei wieder einmal ihre Hände, die eine Zigarette hervorholen und anstecken. Bewundernd verfolge ich das Gleichmaß und die Perfektion ihrer Bewegungen.

›Tja, Schatzerl‹ – es klingt wie ein kleiner Seufzer –, ›ich auch nicht.‹«

»Ich brauche einen Menschen, der auf mich aufpasst.« – Das klingt, als hätte sie einen wohlwollenden Rat ihrer Mutter befolgt, als sie diese Vernunftehe einging. Bereits auf der Schauspielschule hatte sie, wie die Pluhar schildert, einen Freund gehabt, in den sie nicht wirklich verliebt gewesen zu sein schien:

»Ich finde es aufregend genug, Theaterspielen zu lernen und Menschen zu beobachten. Ich habe noch keine Lust, mich in sie zu verlieben. Vor allem nicht in Mitschüler, die mir genau so unfertig erscheinen wie ich mir selber.

Marlies sieht das ähnlich wie ich, glaube ich. Obwohl sie einen festen Freund hat. Mir kommt es nicht so vor, als wäre sie in ihn verliebt. Die beiden machen auf mich den Eindruck eines alten Ehepaares, und eigentlich verstehe ich nicht, dass Marlies diese Verbindung erträgt, ja, vielleicht sogar wünscht. ›Ich mag nicht allein sein‹, hat sie gesagt, als ich sie einmal danach fragte. Sie sagte es abschließend, und ich fragte nicht weiter.«

Das Zusammensein mit einem verlässlichen Menschen, den man zwar mag, aber nicht liebt, schützt vorm Alleinsein und bringt eine gewisse Balance mit sich, eine gemütliche Sicherheit. Die hohen Wellen, die eine starke Verliebtheit zu schlagen vermag, können gerade für einen jungen, noch nicht fest in sich selbst verankerten Menschen verheerend-destruktive Folgen haben; man braucht Kraft, um einer Verliebtheit standzuhalten. Die junge Marisa hatte dies intuitiv begriffen und schien diesen rationalen Weg auch ernsthaft gehen zu wollen. Immerhin tat sie es ein paar Jahre. Der Schritt aufs Standesamt ist schließlich ein ernsthafter, das muss ihr auch damals schon klar gewesen sein. Die ersten Ausbruchsversuche ließen jedoch nicht lange auf sich warten, sie hießen Delon und Giller und sorgten dafür, dass ihre Ehe mit Henri Tucci 1963 oder 64 geschieden wurde, just, als Mell ihre internationale Karriere antrat.

In Coverlove scheint sie »den Tucci« mit ungewohnter Diskretion schützen zu wollen; so gibt es zwar ein Foto, auf dem die beiden gemeinsam zu sehen sind – es handelt sich um ein Szenenfoto aus dem nicht fertig gestellten Kurzfilm Simlicius, Simplicissimus (1961), in dem die beiden mitwirkten –, Tucci allerdings steht mit dem Rücken zur Kamera.

Die englische Schauspielerin Vanessa Redgrave verfasste in ihrer exzellenten Autobiographie diese aufschlussreichen Sätze: »Das Aufschreiben der eigenen Geschichte ist eine Übung in Genauigkeit. Es entsteht die starke Neigung, die Vergangenheit so darzustellen, wie man sie gerne haben möchte. Die Erinnerung ist unzuverlässig. Ich muss ganz konsequent alle meine Daten nachprüfen, und wenn ich das tue, entdecke ich viele Überraschungen und Widersprüche, und einige weiße Flecken. Dieses Nachprüfen von Daten und Dokumenten, Tagebüchern, Briefen und Zeitungen setzt einen Prozess in Gang, in dem ein eklektisches Durcheinander von guten und schlechten Erinnerungen auseinander fällt und sich neu formiert.«

Was für schöne, treffende Zeilen! Unser Gedächtnis ist abstrakt, Erinnerungen überlappen sich oft, werden nicht immer in korrekte Relationen gesetzt, vieles verwischt, wird unklar. Marisa Mell hat sich beim Schreiben von Coverlove derartige Gedanken nicht gemacht. »Ich habe nie etwas aufgeschrieben, so für mich«, erzählte sie Erika Pluhar. Es gab also, mit anderen Worten, keine hilfreichen Notiz- oder Tagebücher, die eine für ein »seriöses« Buch unerlässliche Recherche ermöglicht hätten. Und so haben sich einige Fehler eingeschlichen, von denen ich wenigstens ein paar korrigieren möchte: Masquerade wurde lange vor Danger: Diabolik gedreht (und nicht umgekehrt), es ist unmöglich, dass Marisa Mell und Walter Giller 1963 zu Morricones Musik zu Once Upon a Time in the West (Spiel mir das Lied vom Tod) Liebe gemacht haben, da der Film und sein Soundtrack erst 1968 erschienen, Warren Beatty spielte nicht die Hauptrolle in What’s New, Pussycat? (das waren Peter Sellers, Peter O’Toole und Woody Allen), und ihre Liaison mit Alexander Onassis kann niemals im Februar 1973 gewesen sein, da er bereits im Januar bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Kleine Fehler, gewiss, aber auf rund 200 Seiten summieren sie sich ganz schön und geben insgesamt ein Zerrbild wieder.

Trotzdem: Da sich von Marisa Mell so gut wie keine aufschlussreichen Interviews erhalten haben, habe ich mich entschlossen, einige Passagen von Coverlove hier abzudrucken, allerdings nicht unkommentiert. Gerade über ihre Familie, die Kindheit in Graz und die frühen Jahre ihrer Karriere gibt es kaum andere Quellen. Vielleicht ist es auch in gewisser Weise »erfrischend«, Marisas O-Töne zu lesen. Kombiniert mit anderswo gefundenen Informationen lässt sich doch immerhin ein erkennbares Bild des Menschen Marlies Moitzi skizzieren.

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Das Mädchen aus Graz

»Ihr Gesicht ist blasser als sonst. Sie raucht heftig. Sie hat von ihrer Mutter erzählt. Sie erzählt oft von ihrer Mutter, aber meist nur in Andeutungen. Ich fühle bei diesen Erzählungen eine Mischung aus Zärtlichkeit und tiefer Abwehr.«

Erika Pluhar, Marisa – Rückblenden auf eine Freundschaft

Marlies Theres Moitzi wurde am 24. Februar 1939 im steirischen Graz geboren, ihre Mutter Wilma brachte sie um 1:15 Uhr zur Welt.

Wilma Moitzi war eine starke, für damalige Verhältnisse ungeheuer selbständige und unabhängige Frau, die astrologieinteressiert und erzkatholisch war. Die christliche und astrologische Prägung, die die kleine Marlies durch ihre Mutter erhielt, bestimmte ihr gesamtes Leben; selbst als erwachsene Frau traf sie kaum eine wichtige Entscheidung, ohne zuvor ihren Astrologen konsultiert zu haben, und sie pilgerte regelmäßig zu Wallfahrtsorten, um dort zu beten und zu meditieren. Auch das Streben nach Unabhängigkeit sollte das Mädchen von ihrer Mutter übernehmen. Aber lesen wir doch mal ganz rasch, was Marlies/Marisa selbst zu ihrer Geburt schreibt:

»Ich kam an einem 24. Februar um ein Uhr nachts zur Welt. Somit war ich im Zeichen des Fisches, Aszendent Skorpion, geboren. Zumindest glaubte ich mein halbes Leben daran, bis sich zufällig herausstellte, dass ich nicht um ein Uhr, sondern um ein Uhr fünfzehn geboren worden war, und dass sich somit auch mein Aszendent geändert hatte. Aus dem Aszendent Skorpion wurde somit ein Aszendent Schütze. Fische-Geborene haben eine künstlerisch-sensible Ausstrahlung und neigen zum Okkulten. So steht es wenigstens in den Lehrbüchern der Astrologie.«

Soweit ihre Schilderungen in Coverlove. – Über Mells Kindheit ist nicht allzu viel bekannt, sie selbst hält sich diesbezüglich weitestgehend bedeckt. Man könnte also annehmen, es war eine »ganz normale Kindheit« – aber was ist das, eine »normale« Kindheit?

Am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Die kleine Marlies wurde also förmlich in die Katastrophe hineingeboren. Eine Kindheit im Krieg. Nun blieb das vergleichsweise recht ländliche Graz verhältnismäßig lange außen vor, dennoch: Die meisten Luftangriffe auf österreichische Städte hatten Graz zum Ziel. Nicht weniger als 57 Angriffe wurden von den Alliierten geflogen, 7.733 Gebäude wurden zerstört, etwa 2.000 Menschen starben, 1.500 weitere wurden verletzt.

Über Schilderungen dieser Art geht Marisa Mell in ihrem Buch hinweg, sie beschreibt eine Idylle zwischen Ballettschule und dem Kinderchor der Don Bosco-Kirche. Sie wuchs »wohlbehütet« auf, »mit Cousine, Tante, Hund, Katzen und Klosterschule«. Das Kind war musisch außerordentlich begabt: Marlies spielte Klavier, zeichnete, schrieb Gedichte und besuchte vier Jahre lang die Ballettklasse von Ilse Hye. Marlies war eine Träumerin, phantasiebegabt und klug. Schon, wenn man ihr ein Märchen einmal vorgelesen hatte, konnte sie es auswendig und fehlerfrei nacherzählen. Wilma Moitzi hielt ihre Tochter für ein Wunderkind und schickte sie bereits mit fünf Jahren in die Schule. Dort galt sie bald als »begabt, aber zu verträumt«: »Ich lernte leicht, aber ungern. Also war ich stets eine mittelmäßige Schülerin. Gut war ich nur in den weniger ›zählenden‹ Fächern wie Zeichnen, Musik, Religion und Turnen. Mathematik war mir ein Greuel«, fasste sie ihre Schulerfahrungen zusammen.

Wilma Moitzi arbeitete zeitweilig als Schulwartin in einer Grazer Schule, und so lebte das kleine Mädchen die ersten Jahre in der Dienstwohnung im Schulgebäude. Später wohnten Mutter und Tochter einige Jahre bei Wilmas Schwester in der Trondheimgasse 12 im Grazer Bezirk Lend. Ab 2003 hatte die Stadt Graz für wenige Jahre eine Gedenktafel an diesem Haus angebracht: »Zur Würdigung von Marisa Mell (1939-1992) – Schauspielerin – Schön war sie und sie hatte Talent. Sie genoss ihre Berühmtheit und Männer lagen ihr zu Füßen. Ein Traumleben voller Glamour – die Liebe kam zu kurz. Der Film riss, als sie nicht mehr makellos sein konnte. Trondheimgasse 12 – Ehemaliger Wohnort.«

Mutter Wilma konzentrierte sich neben ihrem Beruf – ab Mitte der Vierziger arbeitete sie als ranghohe Rentenprüferin in einer Versicherungsanstalt – ganz auf die Erziehung ihrer Tochter, die sie gern als Angestellte in einer Bank gesehen hätte. Nach der Volks- kam für Marlies also die Handelsschule, doch ihr vehementer Widerstand gegen die Mathematik ließ sich nicht brechen. Also sollte sie wenigstens Maschineschreiben und Stenographie lernen. Als Ausgleich dafür – quasi nebenher und »ihrer künstlerischen Ader wegen« (O-Ton Mutter Moitzi) – durfte das Mädchen ab 1954/55 eine Schauspielschule besuchen, die Theaterschule Gaudernak. Dazu aber kommen wir später ausführlicher. Was ist eigentlich mit Marlies’ Vater? Über ihn lassen sich nur wenigen Zeilen finden:

»Warum ich immer nur meine Mutter erwähne, ist ganz einfach erklärt.

Ich war ein Einzelkind und bin nur bei ihr aufgewachsen. Als ich kaum vier war, hatten sich meine Eltern getrennt. Mein Vater war leitender Direktor einer großen Bergbaugesellschaft. Da er kurz nach der Trennung von meiner Mutter wieder heiratete und noch fünf andere Kinder zeugte, sah ich ihn ziemlich selten. Trotzdem war mein Verhältnis zu meinem Vater den Umständen entsprechend ausgesprochen gut. Ich war noch sehr jung, als mein Vater starb. Mit meinen Halbgeschwistern bin ich so gut wie nie zusammengekommen. Sie haben sich auch nie darum bemüht.«

Das ist alles, was Mell über ihren Vater schreibt, aber es reicht, um Aufschluss zu bieten. Mit drei, vier Jahren sind Kinder äußerst perzeptiv. Die Trennung der Eltern muss ein Schock für das kleine Mädchen gewesen sein; zeitlebens sollte Marisa Mell an ihren Verlassensängsten zu knabbern haben – und gleichzeitig »rächte« sie sich (unbewusst) an »den Männern« (und deren Frauen), indem sie sich häufig verheiratete Männer als Partner aussuchte und sie nach kürzester Zeit verließ. Längerfristige Beziehungen, nach denen sie sich einerseits geradezu verzehrend sehnte, sabotierte sie, indem sie fremdging.

Der abwesende Vater und die berufstätige Mutter: für die Tochter ein Aufmerksamkeitsdefizit, das sie als Erwachsene geradezu manisch auszugleichen suchte. Wie viele Stars aus dem Showbiz dürstete sie nach den Blitzlichtern, die brauchte Schlagzeilen, um sich lebendig zu fühlen, immer und immer wieder die kurzlebige Bestätigung von außen. Leider ist Ruhm nie von Dauer, sondern ein ständiges Auf und Ab. Wer als Star sein Wohloder gar sein Dasein auf den treibsandigen Ruhm baut, ist eigentlich schon verloren. In ihrer Ruhm-Studie Scheinweltfieber untersucht die Schauspielerin und Autorin Christine Kaufmann eben genau dieses Phänomen, dem auch Marlies/Marisa zum Opfer fiel. – Dieses Gefühl der Betäubung, der Agonie, wenn ihr die Aufmerksamkeit versagt blieb, der Sturz in die Depression, als in ihren Vierzigern der Stern verloschen war.

Und Freundschaften? »Schulfreundinnen waren bei meiner Mutter nicht sehr beliebt«, schreibt sie. »Sie wollte, dass ich mehr lerne, und so gingen die schönsten Ansätze zu so genannten ›lebenslangen‹ Freundschaften meist schnell in die Brüche.« – Eine Kindheit ohne Freunde also. Erst in der Wiener Schauspielschule, weit weg von Mutter Wilma, schloss Marlies erste Frauenfreundschaften, doch selbst hier zeigt sich eine Besonderheit: »Mittlerweile haben wir uns angefreundet, ohne jedoch eine gewisse Distanziertheit aufzugeben«, schreibt Erika Pluhar, mit der sie ihre längste und beständigste Freundschaft (35 Jahre) verband, in ihrem Buch Marisa – Rückblenden auf eine Freundschaft.

Marlies/Marisa opferte sich in Freundschaften regelrecht auf, war empathisch und sprichwörtlich »immer für dich da« – und ließ trotzdem niemals jemanden wirklich an sich heran. Während sie anderen ihr offenes Ohr und ihre Schulter zum Anlehnen lieh, erlaubte sie es sich nicht, vor anderen zu weinen oder gar um Hilfe zu bitten – »ja niemandem zur Last fallen!« –, und so blieb sie letzten Endes selbst in Freundschaften, selbst in Beziehungen immer allein. Die Tiefe erfuhr sie fast ausschließlich in ihrer Spiritualität und in ihrem Glauben. – Interessanterweise übertrug sich dieses Einzelgängerinnentum auch auf ihre Arbeit: Meist wurde sie als femme fatale eingesetzt, als einsame, oft zwielichtige Einzelkämpferin, als Verführerin oder hingebungsvolle Geliebte. Diese Rollen meisterte sie mit links. Unglaubwürdig wurde es, wenn sie die Ehefrau spielte – oder die Mutter. Ihre Mutterrollen – ob als Kaiserin Elisabeth, in Senza via d’uscita oder Traficantes de pánico – füllte sie nie ganz aus, und neben ihren Filmehemännern Renzo Montagnani, Francisco Rabal, Frank Wolff oder Chris Avram wirkte sie – im Gegensatz zu ihren Liebhabern – »abwesend«. Fast nie sah man sie in einem Film in Freundschaften; wenn sie Sylva Koscina küsst, Erika Blanc umarmt oder mit Helga Liné plaudert, vermisst man jede Vertrautheit, nichts wirkt da organisch oder echt: Filmpartnerinnen als Requisite.