Die Fischerstochter von Clovelly - Rebecca Loebbert - E-Book

Die Fischerstochter von Clovelly E-Book

Rebecca Loebbert

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Beschreibung

Clovelly, ein kleines Dorf an der Küste von Devon, im Jahr 1750: Molly hat nie die Welt jenseits des Dorfes gesehen, in dem sie aufgewachsen ist. Als sie dem Schmuggler Alistair, einem verfolgten schottischen Rebellen, begegnet, erwacht das Fernweh in ihr. Heimlich trifft sie sich mit Alistair und lauscht seinen Erzählungen vom Leben zur See. Doch Molly ist nicht die einzige in Clovelly, die ein Geheimnis hütet. Eine Gruppe Strandräuber treibt in der Gegend ihr Unwesen. Als ein Freund ihres Vaters ihnen zum Opfer fällt, bittet Molly Alistair um Hilfe, ihr Dorf vor den Strandräubern zu beschützen. Doch die Gefahr scheint nicht von außerhalb zu kommen, sondern aus dem Herzen von Clovelly selbst ...

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2022

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In liebevoller Erinnerung an Eli, Wellington und Noah.

Für Jake, Jasper, Charlie, Sammy, Pierre, Peter, Sarah, Kiwi, Pablo, Sinead, Berty, Marmite, Rupert und Molly.

Für die wunderbaren Menschen von Clovelly, besonders Sue und Bart.

Für Mama und Ramona, weil ihr mit mir dort wart.

Inhaltsverzeichnis

CLOVELLY

TEIL 1

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

TEIL 2

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

EPILOG

HISTORISCHE HINTERGRÜNDE

NACHWORT

DANKSAGUNG

ANMERKUNG ZUR AUSSPRACHE

CLOVELLY

Im Westen Devons, einer Grafschaft von England, liegt ein kleines Dorf mit alten Fischerhäusern, einer gepflasterten Straße und einer rauen wie romantischen Vergangenheit.

Clovelly ist weithin bekannt für seine schmale, gepflasterte Straße, die steil hinunter zu dem historischen Hafen führt. Die Jahrhunderte haben das Dorf kaum verändert. Noch immer kann kein Auto die enge „Cobbled Street“ befahren – es gibt eine Parallelstraße zum Hafen hinunter, um Touristen und Waren dorthin zu bringen. In früheren Zeiten verlief einmal ein kleiner Bach von Higher Clovelly durch das Dorf bis hinunter zum Meer, er ist jedoch heute versiegt. Die Cottages sind aus Strohlehm erbaut, und viele von ihnen sind seit ihrer Erbauung kaum verändert worden.

Ein wichtiger Bestandteil des Dorfes waren immer schon die Esel. Bis vor wenigen Jahren haben sie Gepäck für Touristen die Straße hinauf zum New Inn gebracht. Heute wird das meiste von den Dorfbewohnern selbst mit Schlitten gezogen, die Esel machen nur noch kleine Demonstrationen für Touristen. Es wird gezeigt, wie sie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Lasten auf ihrem Rücken getragen haben: u.a. brachten die lieben Vierbeiner Körbe mit Fisch die Pflas-terstraße hinauf, denn Clovelly lebte von der Fischerei; die Männer gingen fischen, oftmals bei Nacht, und die Frauen halfen ihnen die Netze „auszuschlagen“, den Fisch zu sortieren (am häufigsten gab es Hering und Kabeljau) und auf die Eselkörbe zu verteilen. Der meiste Fisch ging nach Bideford, dem nächst größeren Ort; es wurde aber auch Handel mit Wales und sogar Frankreich betrieben. Einmal am oberen Ende von Clovelly angekommen, wurde der Fisch auf Karren für den Weitertransport geladen.

Der Strand von Clovelly ist nicht wirklich attraktiv für Badegäste. Anstelle von Sand besteht er aus Kies und Steinen in den verschiedensten Größen und Formen. Rund um das Dorf fallen steile Klippen ab. Es gibt einen Wasserfall, der bei Ebbe über den Strand zu erreichen ist. In den Felsen verborgen sind viele Höhlen, und Schmuggler nutzten diese als Verstecke.

Rund um Clovelly stehen Wälder, durch die es schöne Spazierwege gibt. Einer von ihnen führt direkt an den Klippen entlang, und man kann die ganze Wanderung über das Meer rauschen hören, wenn man dort entlang geht. Irgendwann gelangt man dann zum Mouthmill Beach, einem weiteren Steinstrand. Ein Bach fließt von der alten Mühle, die dem Strand seinen Namen gibt, bis zum Meer. Außerdem gab es am Mouthmill Beach in früheren Zeiten eine Kalk-brennerei. Auch der Gezeitenfelsen Black Church Rock ist an diesem Strand zu finden, die Geschichten über Schmuggler, die sich um ihn ranken, sind zahlreich. Bei Ebbe vom Strand aus zu erreichen, doch wenn man sich auf einem seiner Vorsprünge niederlässt, muss man aufpassen, dass man nicht die Zeit vergisst, sonst könnte die Flut einem einen trockenen Rückweg zum Strand unmöglich machen.

Bis heute ist Clovelly als Dorf in Privatbesitz und steht komplett unter Denkmalschutz. 1681 erbaute der damalige Besitzer ein Manor House, das 1789 abbrannte und später wiedererrichtet wurde. 1730 kaufte ein Mann namens Zachary Hamlyn Clovelly. 1746 vermachte er es seinem Großneffen James Hammett, der es allerdings erst offiziell übernahm, als Hamlyn 1758 starb. Die Abgaben erhielt der Besitzer des Dorfes normalerweise in Form von Fischen. Die Parish Church wurde 1636 erbaut.

TEIL 1

DAS DORF AM STRAND

I saw three ships a-sailin' in from across the sea Strangers ne’er were welcome but for curiosity But come they did and when they did, ready they did stand And things would never be the same in our village on the sand

When the ships pulled into dock, the villagers did hide When trouble came, it usually was brought upon the tide When the pirates disembarked, they were making plans And from then on, things were not the same in our village on the sand

The smugglers came into our town and many sought to run I stood my ground bravely and came face to face with one Time and travel on the seas weathered face and hand He was different than the others in my village on the sand

He told me of the years he'd spent on the stormy seas But then he spoke a poet's words of philosophy And when he had to leave again, he asked me for my hand And I knew I'd never see again my village on the sand

(Blackmore’s Night)

PROLOG

Schottland, Culloden Moor 16. April 1746

Der beißende Geruch des Todes stieg Alistair in die Nase. Um ihn herum sah er, wie seine Freunde, seine Clans-männer abgeschlachtet wurden. Pferde wieherten. Seines hatte er schon vor längerer Zeit verloren, und so stand er nun, umgeben von Feinden, und schwang sein Broadsword mit tödlicher Kraft.

Er wusste, dass die Schlacht verloren war. Er hatte es von Anfang an gewusst. Dies würde das Ende der Jakobiter-rebellion sein, das Ende von Bonnie Prince Charlies Aufstieg. Der junge Prinz hatte Schottland im vergangenen Herbst vollkommen erobert, das Land, aus dem Charlies Vorfahren stammten. Alistairs Meinung nach hätte er sich damit begnügen müssen. Doch der Prinz war weiter vorgedrungen, hatte sich mit der Hälfte dieser Insel nicht zufrie-dengeben wollen und war weiter bis nach England marschiert. Und nun endete sein Glanz auf dem Feld von Culloden Moor.

„Alistair!“ Er hörte, wie jemand seinen Namen rief, und kämpfte sich in die Richtung. Er erspähte seinen Vater, Connor MacKintosh.

„Alistair!“ Der alte Krieger versuchte, sich drei Gegner alleine vom Hals zu halten. Er war ein guter Kämpfer, doch er war kein junger Mann mehr, er war müde. Blut besudelte seinen Kilt, sein Hemd und sein Gesicht. Alistair stürmte vorwärts und tötete zwei der Angreifer, sein Vater rammte dem Dritten sein Schwert ins Herz.

„Du musst fliehen, Junge!“, rief Connor über den Lärm der Schlacht hinweg. „Der Kampf ist verloren.“

„Was ist mit dir?“, fragte Alistair, der erneut in ein Gefecht verwickelt wurde.

„Ich bin ein alter Mann. Ich werde mit Prinz Charles untergehen“, krächzte Connor, der offensichtlich Mühe hatte, zu sprechen. Er hustete.

„Ich lasse dich nicht allein, Vater“, erklärte Alistair und warf einen Dolch in die Richtung seines Vaters. Das Wurfgeschoss traf den Engländer, der sich von hinten an Connor herangemacht hatte.

„Mein Leben ist gelebt, aber du, Junge, du hast dein Leben noch vor dir!“

„Ich werde nicht gehen. Wenn du mit dem Prinzen untergehst, dann tue ich es auch!“

Alistair streckte seinen Gegner nieder und drehte sich herum. Einen Moment lang sah er seinem Vater in die Augen. Sie hatten dieselbe Farbe wie seine eigenen, doch während Alistairs grüne Augen vor Kampfeslust und Adrenalin glänzten, waren die des alten Mannes müde und matt.

„Flieh, Alistair!“, beschied ihn sein Vater noch einmal, dann schlug eine Kanonenkugel wenige Meter neben den beiden ein. Der Boden bebte und Alistair hatte Mühe, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dann tauchten plötzlich Dutzende von Rotröcken um ihn herum auf.

Alistair brüllte und warf sich dem ersten entgegen. Reiner Hass trieb ihn an und der Wunsch, selbst am Leben zu bleiben. Er schwang sein Schwert und hämmerte auf die Gegner ein. Dann durchzuckte ihn ein stechender Schmerz in der Seite, und Alistair fiel. Er landete unsanft auf dem Rücken. Er erinnerte sich noch daran, dass er jemanden seinen Namen rufen hörte, dann wurde die Welt um ihn herum schwarz.

Alistair erwachte, als ein kalter Wind über ihn fegte. Er öffnete die Augen, konnte jedoch nichts erkennen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er in den Himmel über sich blickte. Ein schwarzer, mondloser Himmel. Der Geruch von Verwesung stieg ihm in die Nase, und er hatte den plötzlichen Drang, sich zu übergeben.

Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, versuchte er, den Kopf zu drehen. Er stöhnte vor Schmerz, sein Kopf drohte zu explodieren. Schließlich gelang es ihm, nach rechts zu schauen. Sein Blick traf die leeren Augen eines Mannes, der neben ihm lag. Vage Erinnerungen an die Schlacht kamen Alistair. Nein, keine Schlacht, Culloden war eher ein Gemetzel gewesen.

Er wusste, dass er hier wegmusste. Die Engländer würden keine Gnade kennen. Vermutlich war der einzige Grund, dass Alistair noch am Leben war, der, dass man ihn für tot gehalten hatte. Probeweise hob er den Arm. Funken explodierten vor seinen Augen. Er biss die Zähne aufeinander und zwang sich, sich auf die Seite zu rollen. Er wartete einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen, dann wälzte er sich auf den Bauch. Halb kriechend, halb robbend bewegte er sich auf den Wald zu, den er von dem Platz aus sehen konnte, an dem er erwacht war. Die Schemen der Bäume wirkten unheimlich, doch Alistair hoffte, sich dort verstecken zu können.

Plötzlich hörte er einen Schrei. Er zwang sich, seinen Kopf in die Richtung zu drehen und erkannte, dass zwei Männer mit einer Fackel durch die Reihen der Toten gingen. Alistair wusste, was das bedeutete: Wenn er den Wald nicht erreichte, ehe man ihn fand, war er ein toter Mann. Da tauchte auf einmal das Gesicht seines Vaters vor seinem inneren Auge auf. Er hatte gewollt, dass Alistair überlebte. Für seinen Vater würde Alistair stark sein, er würde leben und sich an den Engländern rächen. Er kroch schneller und erreichte schließlich den Schutz der Bäume.

In seinem Kopf pochte es, seine Beine waren taub und seine Seite schmerzte höllisch. Er sank gegen einen Baumstamm und atmete schwer. Einen Moment Ruhe würde er sich gönnen. Er musste aufstehen und Distanz zwischen sich und die Rotröcke bringen. Aber er war so unglaublich müde...

Er schloss die Augen. Nur einen Moment ...

Als er sie wieder öffnete, wusste er, dass etwas anders war. Er lag nicht mehr im Wald. Er versuchte, sich aufzurichten, doch ihm tat noch immer alles weh. Er hob den Kopf und stellte fest, dass seine blutigen Kleider verschwunden waren. Stattdessen trug er ein frisches Leinenhemd. Er stöhnte und fasste sich an die schmerzende Schläfe.

„Ihr seid wach“, bemerkte eine Frauenstimme. Dann erschien eine alte Dame vor ihm. Ihre Haut war faltig, aber ihre Augen munter und freundlich.

„Ich fand Euch im Wald, mehr tot als lebendig“, erklärte sie.

Alistair stöhnte erneut. „Wer seid Ihr?“

„Catriona. Mein Mann und meine Söhne zogen mit Prinz Charlie in die Schlacht.“ Ihre Mine verdüsterte sich. „Und Ihr seid?“

„Alistair. Alistair MacKintosh.“

„Ruht Euch aus, Alistair“, befahl Catriona. „Ihr müsst Eure Kräfte schonen.“

Zu gerne kam Alistair der Aufforderung nach. Doch seine Träume waren voller Blut und Tod, Schreie drangen an sein Ohr und Gesichter suchten ihn heim: sein Vater, seine Freunde. Sie alle waren jetzt tot. Und Alistair konnte nur an eins denken: Rache.

KAPITEL 1

Clovelly an der Südküste von England, Frühjahr 1750

Gedankenverloren stand Molly am Strand und betrachtete die blauen Wellen vor sich. Es war ein sonniger Tag und für englische Verhältnisse geradezu warm. Das Meer rauschte leise vor sich hin. Es war kein wirklich schöner Strand, er bestand nicht aus feinem, weichem Sand, sondern aus Steinen in allen erdenklichen Größen, die meisten rund und glattgespült. Molly liebte es, hier zu stehen und in die Ferne zu schauen. An klaren Tagen konnte man Wales am Horizont sehen. Das Meer gab dem Mädchen ein Gefühl von Freiheit. Sie tauchte ihren nackten Fuß ins kalte Nass und lächelte. Eine Möwe drehte über ihr ihre Kreise.

Ein unbekanntes Gefühl machte sich in Molly breit. Sie wusste nicht, woher es kam, aber es war zweifelsohne da. Und es hatte mit dem Meer zu tun. Die Bewohner ihres kleinen Dorfes pflegten zu sagen: Wenn Ärger kommt, kommt er meistens mit den Gezeiten. Fremde wurden als Eindringlinge gesehen, und die Einheimischen mieden sie. Sie machten ihre Geschäfte mit Händlern, manchmal sogar mit Schmugglern, die die felsige Küste Devons gerne wegen der vielen Höhlen und Verstecke nutzten, doch sie waren jedes Mal froh, wenn die Fremden wieder fort waren.

Ein Schnauben hinter ihr erinnerte Molly daran, dass es Zeit wurde, nach Hause zu gehen. Die meisten Bewohner Clovellys hatten einen eigenen Esel, der für sie Lasten von dem kleinen Hafen am Strand die steile Pflasterstraße des Dorfes hinauf- trug. Molly liebte Dandelion, der als Fohlen zu ihren Eltern gekommen war. Mittlerweile war der Esel alt. Sein Fell war stumpf, und bei einem Unfall war ihm das Ohr abgeknickt worden. Doch hinter dieser Erscheinung steckte ein vertrauensvolles, sanftes Tier mit unerschütterlichem Wesen.

Molly drehte sich um und musste feststellen, dass sie Gesellschaft hatte.

„Hallo John.“

„Was tust du alleine hier draußen?“, fragte der Junge und kam zu ihr herüber. Mit neunzehn war er zwei Jahre älter als Molly und gut einen Kopf größer.

„Ich betrachte das Meer.“

„Es ist gefährlich, die Flut kommt bald“, stellte John fest. Er trat näher und lächelte. „Soll ich dich nach Hause begleiten?“

Molly seufzte. Sie wollte noch nicht heim, doch sie wusste, dass ihr Vater und ihr Bruder warteten. „Das ist sehr nett von dir.“

Seite an Seite machten die beiden sich an den anstrengenden Weg die steile Straße hinauf. Dandelion trottete brav neben ihnen her.

„Was fasziniert dich so an dem Meer?“, wollte John auf einmal wissen.

Molly zuckte die Schultern. „Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit.“

„Freiheit?“, fragte ihr Freund.

„Hast du dich nie gefragt, was dort am Horizont ist?“

John runzelte die Stirn. „Nein.“

Er war wie die meisten Dorfbewohner. Er lebte in einer Gemeinschaft, in die er hinein geboren worden war. Es war ihm egal, was sich außerhalb dieser Gemeinschaft abspielte. Molly fragte sich manchmal, warum sie den Drang verspürte, sich zu überlegen, was in der Ferne wartete. Sie hatte keine Erinnerung an ihre Mutter, doch man hatte ihr gesagt, dass sie eine abenteuerlustige Frau gewesen war. Vielleicht war Molly ihr ja ähnlich.

„Sicherheit“, riss John sie aus ihren Gedanken.

„Was?“

„Dieses Dorf bietet dir Sicherheit. Du kennst jeden, dir kann hier nichts passieren. Fremde bringen nichts als Ärger.“

Das Mädchen schwieg. Was hätte sie darauf auch antworten können?

Die Gischt spritzte, als der Bug der Evergiven das Meer vor ihm teilte. Der Wind blies ihm in die langen Haare. Seit Culloden hatte er sie sich nicht mehr kurzgeschnitten, und er mochte es, wenn sie ihm ums Gesicht flatterten.

„Land in Sicht!“, ertönte es vom Ausguck.

„Kapitän, dort vorne muss es sein!“ Alistair wandte sich zur Seite und sah Duncan auf sich zukommen. Wie er selbst hatte Duncan bei Culloden gekämpft und war nur mit knapper Not dem Abschlachten entkommen.

„Seht Ihr den Felsen dort? Ich denke, dass ist Black Church Rock.“ Alistair nahm das Fernrohr entgegen, das Duncan ihm hinhielt, und blickte hindurch. Es war zwar mitten in der Nacht, doch der Mond strahlte so hell, dass es ihm nicht allzu schwer- fiel, die Felsen und den Strand zu erkennen. Der schwarze Felsen stach aus dem Meer heraus, dahinter erhoben sich die Klippen.

„Ein perfekter Ort“, bemerkte der Kapitän. Dann rief er zum Ausguck hinauf: „Kannst du so etwas wie eine Höhle erkennen, Graham?“

Der Junge namens Graham war erst sechzehn. Er war selbst noch zu jung gewesen, um sich der Rebellion von Bonnie Prince Charlie anzuschließen, doch sein Vater und seine Brüder waren im Dienst des Prinzen umgekommen. Graham war geflohen, als die Engländer nach der von den Jakobitern verlorenen Schlacht die Highlands geplündert und alle Familien von Rebellen getötet oder in die Sklaverei verfrachtet hatten.

„Es sieht so aus, als seien mehrere Einbuchtungen im Felsen, aber es könnten natürlich auch nur Schatten sein. Ein Steinstrand umgibt ihn.“

„Ein Strand?“, fragte Duncan stirnrunzelnd.

„Vielleicht ein Gezeitenfelsen“, überlegte Alistair.

Sie segelten weiter, und bald ragte der schwarze Felsen vor ihrem Schiff auf. Alistair griff sich in die roten Locken und band sie sich geschickt zu einem Zopf zurück. In seinen grünen Augen lag ein gefährliches Funkeln. Aye, dieser Ort war genau richtig für seine Art von Geschäften. Freihandel, wie Schmuggler ihr Geschäft selbst gerne nannten. Die Höhlen und Spalten im Black Church Rock boten ein ideales Versteck für Waren, notfalls auch für die Schmuggler selbst.

Iain gesellte sich zu ihm und Duncan. Der alte Mann grinste. „Gut gemacht, Kapitän! Wie habt Ihr von diesem Ort erfahren?“

Alistair zuckte mit den Achseln. „Ich habe meine Quellen.“

„Auch ein alter Seebär wie du kann nicht alle Orte entlang der britischen Küsten kennen“, meinte Duncan lachend und spielte damit auf Iains Vergangenheit als Kapitän eines Handelsschiffes an, ehe er nach Schottland zurückgekehrt war, um sich dem jungen Prinzen Charles anzuschließen. Duncan MacDonald und Iain Cameron waren die beiden Männer, denen Alistair aus seiner Crew am nächsten stand – und denen er am meisten vertraute. Auch an Grahams Loyalität zweifelte er nicht, doch der Junge war unerfahren, wenn auch mutig. Bei den anderen sechs war er sich nicht sicher, ob sie ihm bis zum Ende die Treue halten würden.

„Hugh“, rief er. Ein breitschultriger Ire mit rotem Gesicht und einer Pockennase kam herüber.

„Du fährst mit Iain und mir im Beiboot herüber. Wir wollen uns diesen Strand und seine Felsen einmal genauer ansehen.“

„Aye, Kapitän!“

Sie lösten die Taue, die das kleine Boot hielten. Alistair schwang sich über die Reling und landete geschickt auf dem schwimmenden Boden. Mit wenigen kräftigen Ruderschlägen waren die drei Schmuggler an dem schwarzen Felsen angelangt. Das Meer hatte im Laufe der Jahrhunderte die Rillen und Höhlen ausgespült. Spalten und Nischen waren teils sichtbar, teils gut versteckt. Alistair kletterte über den Rand des Bootes. Das Wasser reichte ihm fast bis zu den Knien. Obwohl es windstill war, brachen sich die Wellen laut an dem Felsen, der spitz aus dem Wasser ragte. Gemeinsam mit Iain und Hugh zog er das Boot an Land. Über ihnen ragten die Klippen auf, steil und drohend. Überall in dem Gestein fanden sich ideale Plätze, um Beute zu lagern. Der Strand selbst bestand aus Steinen in verschiedensten Größen. Ein kleiner Bach teilte ihn, der leise vor sich hin murmelnd seinen Weg ins Meer fand. Alistair atmete die frische Brise ein. „Ich habe das Gefühl, dass dies der Ort ist, an dem wir sein sollen.“

„Wenn Ihr meint, Kapitän.“ Hugh kratzte sich am Hinterkopf. „Ein gutes Versteck, das muss ich zugeben.“

Aye, es war ein gutes Versteck. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das Alistair nicht recht in Worte zu fassen vermochte. Etwas was an diesem Ort gab ihm ein Gefühl von Heimat. Vielleicht lag es daran, dass die Felsen und Klippen dieselbe raue Schönheit bargen wie die Highlands, aus denen er stammte.

„Es gibt ein Dorf, nur um diesen Felsen herum“, erklärte Alistair seiner Mannschaft. Wir werden nächste Nacht dorthin gehen.“

„Meint Ihr, die Dörfler werden Geschäfte mit uns machen?“, fragte Frederick skeptisch. Er war der einzige Engländer an Bord des Schiffes, und somit war das Vertrauen der anderen Männer in ihn schwach. Er mochte ein Deserteur sein, aber das änderte nichts an der Tatsache, welches Blut in seinen Adern floss. Alle anderen hatten viel Leid durch seine Landsleute erfahren. So bohrten sich auch nun bei dieser simplen Frage durchdringende Blicke in ihn. Alistair ignorierte das Misstrauen seiner Crew und zuckte bloß die Achseln.

„Vielleicht. Auf alle Fälle möchte ich mir das Dorf ansehen.“

„Es gefällt mir nicht, dass es so nah an unserem Versteck ist“, grunzte Hugh.

„Wenn du dich waschen und nicht zwanzig Meilen gegen den Wind stinken würdest, würde es das Risiko, entdeckt zu werden, senken.“ Der Mann mit den blonden Engelslocken, den geschwungenen Brauen und leuchtenden Augen nannte sich Wesley. Alistair wusste, dass das nicht sein richtiger Name war. Er vermutete, dass der Mann ein verfolgter Schotte war wie er selbst. Auch er hatte seinen Männern nie seinen Clansnamen genannt. Zweifelsohne war Wesley von Adel, das hörte man an seiner Art zu reden und merkte es auch an seinem Verhalten. Obwohl er sichtlich daran gewöhnt war, Befehle zu erteilen statt zu gehorchen, richtete er sich stets nach Alistairs Anweisungen.

„Verdammter Schotte“, rief Hugh aus. Bevor die Sache eskalieren konnte, ging Alistair dazwischen.

„Iain hat das Kommando, während ich weg bin. Duncan, du kommst mit, ebenso wie du, Wesley.“ Dann wandte er sich an einen schmalen Mann mit schwarzem Zopf. „Drake, du wirst mich ebenfalls begleiten.“

Drake nickte. Er war ein Grenzländer. Soweit Alistair wusste, war sein Vater Engländer und hatte seine Mutter bei einem der Raubzüge, wie sie im Grenzland an der Tagesordnung waren, entführt. Als er merkte, dass sie sein Kind erwartete, schickte er sie fort. Drake hatte geschworen, Rache an den Engländern zu nehmen, weil sie die Ehre seiner Mutter geraubt hatten.

Alistair betrachtete die übrigen Männer an Bord, den jungen Graham, Frederick, Hugh und Lachlan. Lachlan war ein MacLeod von der Isle of Lewis. Als illegitimer Sohn des Lairds hatte er sich Prinz Charlies Rebellion angeschlossen. Seltsamerweise jedoch waren seine Erzählungen über seine Erlebnisse auf dem Schlachtfeld von Culloden sehr vage, und Alistair wurde den Verdacht nicht los, dass der Mann sich aus dem Getümmel zurückgezogen hatte, als die Sache heikel wurde. Doch es war nicht an ihm zu richten, der Mann war nur seinem Gewissen und Gott Rechenschaft schuldig. Als letztes Mitglied seiner Crew blieb noch „Der Saint“, wie alle ihn bloß nannten. Ein abtrünniger Priester, der zwar im Gegensatz zu allen anderen an Bord keine Ahnung vom Umgang mit einer Waffe hatte, dafür aber hervorragend kochen konnte. Außerdem war er ein Meister im Spionieren.

„Wenn es dunkel ist, brechen wir auf“, entschied Alistair.

„Noch eine Frage, Kapitän“, wandte Iain ein.

„Aye?“

„Was machen wir mit dem Schiff? Wenn wir uns mit dem Boot hier am Strand versteckt halten, wo verbergen wir es? Es kann wohl kaum hier vor der Küste offen treiben bleiben.“

Alistair hatte seinem Kontaktmann dieselbe Frage gestellt und der hatte ihm auch darauf eine Antwort gegeben. „Etwa eine halbe Seemeile in diese Richtung“, er deutete in die entgegengesetzte Richtung zu dem Dorf, „gibt es eine große Gezeitenhöhle. Du sagtest doch, du kennst Fingals Cave auf Staffa?“ Alistair selbst kannte die gewaltige Gezeitenhöhle, die sich im Grunde im Inneren der kleinen schottischen Insel Staffa befand, nur aus Erzählungen, doch Iain hatte einmal berichtet, wie er auf eben jener Insel eine Nacht verbracht hatte. Damals, als er noch zur See gefahren war. Als er nickte, fuhr Alistair fort: „Nun, genauso eine Höhle muss es dort auch geben.“

„Dann segeln wir jetzt also ostwärts und suchen diese Höhle?“

„Du hast es erfasst, mein Freund. Dort verstecken wir das Schiff und kommen dann mit zwei Booten zurück. Während wir uns das Dorf ansehen, darfst du schauen, welche der Höhlen an diesem Strand hier uns am besten als Unterschlupf dienen kann. Denk dran, sie muss groß genug für zwei Beiboote sein.“

Iain nickte. „Aye, Kapitän.“

Ein silberner Vollmond beschien das Meer.

„Was tust du da?“, fragte Wesley stirnrunzelnd, als Drake sich bekreuzigte und stumm vor sich hin betete.

„Ich will die Meerjungfrauen von uns fernhalten“, erklärte dieser leicht genervt und fuhr fort mit seinem Gemurmel.

„Es gibt keine Meerjungfrauen“, beschied ihn Duncan.

„Was weißt du schon, Highlander“, fuhr Drake ihn an.

„Vergiss es“, meinte Wesley. „Er glaubt an jeden Quatsch, den man Kindern erzählt, um ihnen Angst zu machen.“

Der vernichtende Blick, den Drake dem blonden Mann zuwarf, hätte selbst Milch sauer werden lassen. Alistair betete, dass seine Männer sich zusammenreißen würden, wenn sie erst an Land gegangen waren.

„Benehmt euch gefälligst wie Männer“, wies er sie an.

Die dunklen Umrisse einer Hafenmauer zeichneten sich im Mondlicht ab. Sie verlangsamten die Ruderschläge und lauschten gespannt. Sie umrundeten die Mauer und erkannten schemenhaft den Strand und eine Reihe Häuser, die sich eine steile Straße hinauf erstreckte. Lautlos zogen die vier Männer das Boot an Land. Vorsichtig schlichen sie um eine Häuserecke und sahen die gepflasterte Straße hinauf.

„Das ganze Dorf schläft“, bemerkte Drake flüsternd.

Sie huschten weiter, der Mond beschien den Hafen. Einige Fischerboote trieben auf den Wellen, die leise heran-rollten.

„Ein friedlicher Ort“, stellte Wesley fest.

„Friedlich“, schnaubte Duncan. „Wahrscheinlich wissen diese Menschen gar nicht, dass es eine Welt jenseits ihres Dorfes gibt.“

„Meinst du, dass wir hier jemanden finden werden, mit dem wir handeln können?“, flüsterte Wesley in Alistairs Richtung.

„Ich weiß es nicht“, gestand er. „Wenn ich wüsste, ob es hier einen Wirt gibt, der gegen etwas unversteuerten Whisky und Brandy nichts einzuwenden hätte...“

„Wer will das wissen?“ Die drei Schotten und Hugh fuhren herum. Ein dunkler Schatten musterte die Männer aus einiger Entfernung. Alistair hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte er den Mann nicht bemerkt? Er konnte sich doch sonst auf seine Sinne verlassen! Doch nun war es ohnehin zu spät.

„Nennt mich Alex“, sagte er und benutzte bewusst die englische Form seines Namens. „Und mit wem haben wir die Ehre?“

Alistair konnte fast spüren, wie der Mann lächelte. „Nennt mich Den Wirt.“

Sam betrachtete den hochgewachsenen Mann ihm gegenüber. Sein Haar war lang und schimmerte rötlich im Mondlicht.

Wie so oft in letzter Zeit hatte Sam nicht schlafen können. Wenn er endlich Ruhe fand, dann träumte er eigenartige Dinge, beunruhigende Dinge… Also hatte er noch ein wenig frische Luft schnappen wollen. Die Nacht war klar und hell. Er war aus seiner Tür getreten und hatte auf das Meer geschaut, als seine alten, aber noch immer wachen Augen eine Bewegung auf dem Wasser ausgemacht hatten. Er hatte sich in dem Schatten versteckt, um zu beobachten, wer oder was da auf den Strand zukam. Dann hatte er die Männer erkannt und eine Ahnung bekommen. Der Mann hatte unversteuerten Alkohol erwähnt und somit Sams Verdacht bestätigt. Die Männer waren Schmuggler und hofften, hier Geschäfte machen zu können.

Sam wusste noch nicht recht, was er darüber denken sollte. Auf der einen Seite war es eine günstige Gelegenheit, an hoffentlich gute Brände oder Wein zu kommen. Andererseits hatte er seine seltsamen, beunruhigenden Träume im Kopf – Träume, die er nicht deuten, voller Wirrungen und dunkler Gesichter, die er nicht erkennen konnte.

Er strich sich über den grauen Bart. Den Dörflern würde es ganz und gar nicht gefallen, wenn Schmuggler in ihrem Dorf landen und somit den langweiligen, friedlichen Alltag durcheinander brachten …

Zum Teufel, dachte Sam. All die Jahre und ich bin doch keiner von ihnen.

Etwas in ihm regte sich, was er seit sehr langer Zeit nicht gespürt hatte. War es Abenteuerlust? Eine Art jugendlicher Leichtsinn, der in seine alten Knochen kroch? Oder lediglich der Wunsch, nicht wie die anderen Dörfler zu werden, etwas von dem Geist seiner Vergangenheit am Leben zu erhalten?

Zum Teufel, dachte er nochmal.

Dann fragte er: „Was habt Ihr mir anzubieten, Alex?“

Molly warf sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Der Mond schien durch ihr Fenster und sie konnte hören, wie der Wind um das kleine Fischercottage blies. Schließlich seufzte sie und setzte sich auf. Mit nackten Füßen schlich sie zum Fenster. Das Meer brach sich im silbrigen Licht an den Klippen. Dunkel zeichneten sich die Silhouetten von Häusern und Bäumen draußen ab. Ein merkwürdiges Ziehen machte sich in Molly breit. Eine Sehnsucht, hinaus in die beleuchtete Nacht zu gehen, die frische Brise auf der Haut zu spüren. Woher kam dieses fremde Gefühl?

Einen Moment lang kämpften dieses Gefühl und die Vernunft in ihr, doch schließlich schlang Molly sich ihren Umhang um die Schultern und, entgegen dem gesunden Menschenverstand, trat sie aus der Haustür. Es zog sie die steile Straße hinunter, in Richtung Wasser. Was war nur los mit ihr?

Sie hatte den Hafen fast erreicht, da sah sie mehrere Gestalten, die sich im blassen Mondlicht vor ihr abzeichneten. Sie duckte sich hinter eine Hauswand und beobachtete die fünf Männer. Vier von ihnen standen in einer Gruppe, ein einzelner ihnen gegenüber. Molly atmete langsam und spitzte die Ohren. Der Wind trug nur Bruchteile von dem, was gesagt wurde, zu ihr herüber.

„... Vertrauen sollten ...“

„... einem Engländer!“

„… handeln will … muss ich … doch wohl?!“

Ihr stockte der Atem, als sie die tiefe Stimme erkannte. „... nicht verraten ... hohe Steuern ... Vorteil!“ Bei genauerem Hinsehen erkannte sie nun die einzelne Gestalt, die vom Mondlicht beschienen wurde. Das grau melierte Haar, die hagere Gestalt ... Der Mann war der Besitzer des Gasthauses, das sich im Hafen befand. Sam oder Miserable Sam, wie er genannt wurde. Ein Umstand, den er seiner stetigen schlechten Laune verdankte. Molly hätte sich nicht erinnern können, den Mann jemals lachen gesehen zu haben. Sie keuchte auf, schlug sich aber schnell die Hand vor den Mund. Einer der Männer schaute in ihre Richtung. Sie duckte sich tiefer in den Schatten des Hauses und hielt den Atem an. Dann drang eine raue, aber warme Stimme an ihr Ohr. „Dachte ... hätte gehört ...“

Als nach einigen Minuten noch nichts geschehen war, wagte sie es, noch einmal in Richtung Hafen zu spähen. Die Männer schienen wieder in ihr Gespräch vertieft zu sein. Nach einigen heftigen Gebärden mit der Hand nickte Sam schließlich. Dann schüttelte er einem der anderen Männer die Hand. Sam drehte sich um und machte sich davon in Richtung seines Wirtshauses. Die vier Gestalten verharrten noch eine Weile am Hafen und unterhielten sich. Allerdings flüsterten sie so leise, dass Molly kein Wort verstand. Dann gingen sie am Strand entlang davon. Molly atmete auf und sank mit dem Rücken an die Wand auf den Boden. Was um alles in der Welt ging da vor sich? Eines war sicher, Molly hatte etwas gesehen, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Wer waren diese Männer? Und was hatte Sam mit ihnen zu schaffen? Der alte Mann traute Fremden genauso wenig wie alle anderen im Dorf. Oder kannte er die Männer?

„Ich hatte mir doch gedacht, dass ich etwas gehört habe.“

Molly fuhr hoch und keuchte erschrocken. Vor ihr stand eine hünenhafte Gestalt und versperrte ihr drohend den Fluchtweg. Sie war eingeklemmt zwischen dem Mann und der Hauswand! Fieberhaft sah sie sich um.

„Du brauchst nicht zu fliehen“, erklärte der Mann, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Die Stimme klang zwar hart und rau, aber zugleich lag etwas in ihr, was Molly ein vertrautes Gefühl gab. Und noch etwas, der Akzent des Mannes war ihr fremd.

„Wer bist du?“, fragte er nun. Als Molly nicht antwortete, ging er vor ihr in die Hocke. Sie wagte den Blick zu heben. Die Augen, in die sie schaute, verschlugen ihr fast den Atem. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass sie von einem satten Grün waren. Sie funkelten aufgeweckt.

„Ich tue dir nichts, Mädchen.“

Ihr Verstand sagte ihr, dass sie ihm nicht glauben sollte. Er war ein Fremder, eine Gefahr. Alles in ihr schrie danach zu fliehen. Doch irgendwie schien ihr Kopf in letzter Zeit nicht über ihr innerstes Gefühl siegen zu wollen.

„Was wollt Ihr?“, stieß sie schließlich gedämpft hervor. Er runzelte die Stirn.

„Was ich will? Nun, in erster Linie bin ich ein Händler. Ich treibe Handel mit eurem Wirt.“

„Was für Handel?“

„Ich verkaufe ihm einige Waren.“

„Was für Ware?“

Sie meinte, so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. „Du bist ganz schön neugierig.“ Er legte den Kopf schief. „Ich bin Alex. Und du?“

Sollte sie ihm ihren Namen nennen? Unschlüssig schwieg sie einen Moment, dann fiel ihr etwas ein. Statt auf seine Frage einzugehen, fragte sie: „Wo sind Eure Freunde?“

„Meine Freunde?“ Alex grinste. „Nun, meine Begleiter sind zu unserem Boot gegangen. Ich sollte ihnen gleich folgen, sonst kommen sie zurück, um mich zu suchen.“

„Warum geht Ihr dann nicht zu ihnen?“

„Weil du uns offenbar beobachtet hast und, wer weiß, vielleicht hast du ja auch etwas gehört?“ Seine Augen musterten sie eindringlich.

„Ich habe nichts verstehen können“, log sie.

Alex' Blick bohrte sich in sie. Schließlich nickte er. „Wirst du uns verraten?“

„Verraten?“ Fast hätte Molly gelacht. „An wen denn?“

„Jedenfalls nicht an den Wirt. Aber weiß ich, wer in eurem Dorf das Sagen hat?“

Sie schüttelte den Kopf. Natürlich hätte sie jemandem von Alex und den drei anderen Männern erzählen können. Ihrem Vater oder John zum Beispiel. Aber aus irgendeinem Grund wollte sie es nicht. Vielleicht war es das Spannende daran, ein Geheimnis zu haben. „Ich erzähle keinem von Euch.“

Ihr war, als versuche Alex ihr in die Seele zu blicken. „Na schön. Ich glaube dir. Verrätst du mir denn deinen Namen, bevor ich jetzt gehe?“

„Warum sollte ich das tun?“, wollte sie wissen.

Alex seufzte, dann erhob er sich. „Du hast recht, es gibt für dich keinen Grund, mir zu vertrauen.“ Einen Augenblick noch betrachtete er sie. „Ich glaube, wir werden uns wiedersehen. Ich weiß nicht, warum, aber es wird so sein.“

Er wandte sich zum Gehen, und Molly erhob sich. Als sie den Mann nun von hinten sah, wie er sich langsam entfernte, wusste auch sie es. Ja, ihre Wege würden sich wieder kreuzen, da war auch sie sich sicher. Dann, wie von selbst, murmelte sie ihren Namen. Sie sah, wie Alex stehen blieb.

„Mein Name ist Molly“, sagte sie, etwas lauter. Sie meinte zu erkennen, dass er nickte, doch er drehte sich nicht um. Dann ging er weiter und sie sah ihm hinterher, während der Wind ihr Haar zerzauste.

Molly. Alistair probierte, wie sich der Name auf seiner Zunge anfühlte. Er hatte sich in eine Decke gewickelt und starrte vor sich her in die Dunkelheit. Molly. Es klang melodisch und unschuldig, doch zugleich auch nach jemandem mit Neugier und Offenheit.

Der Name passt zu dem Mädchen, fand Alistair. Er zog die Stirn kraus. Warum dachte er an sie? Das Mädchen konnte sie verraten, und wenn man ihn und seine Mannschaft fangen würde – nun, er wusste, was dann mit Schmugglern wie ihnen geschah. Dennoch war er sicher, dass er sich auf das Wort des Mädchens verlassen konnte. Wenn sie ihm versprach zu schweigen, dann würde sie es. Er kannte Dörfer wie dieses, wo die Menschen am liebsten unter sich blieben und nie über die Grenzen ihres Ortes hinaus gingen. Doch Molly schien ihm nicht wie eines dieser gewöhnlichen Dorfmädchen. Was hatte sie dort draußen bei Nacht nur getrieben?

Alistair nahm einen Schluck Whisky. Die Wellen brachen sich an den steilen Klippen und er hörte das laute Rauschen, wenn sie heran rollten und sich überschlugen. Es war ein beruhigendes Geräusch, Alistair lächelte. Er war für die See geboren. Er war als Krieger erzogen worden und später mit Bonnie Prinz Charlie in die Schlacht gezogen. Nun endlich führte er das Leben, das ihn erfüllte.

„Du siehst müde aus, Molly“, stellte Isaac fest.

Das Mädchen zuckte nur die Schultern und unterdrückte ein erneutes Gähnen. Nachdem sie in der vergangenen Nacht heimgekehrt war, hatte sie wach gelegen und über ihre Begegnung nachgedacht. Was trieb Sam mit den fremden Männern? Sie kannte den mies gelaunten Mann schon ihr ganzes Leben, und er war niemand, der unüberlegt oder aus einer Laune heraus handelte. Aber woher kannte er jene Männer? Oder hatte er doch eine Seite an sich, die Molly bisher verborgen geblieben war?

Und dann dieser Fremde. Alex, wie er sich nannte. Sie war nicht ganz sicher, ob es sein wahrer Name war. Er hatte ihr ein wenig Angst gemacht, als er plötzlich vor ihr aufgetaucht war. Und dennoch hatte er etwas an sich, das sie ihm vertrauen lassen wollte. Seine Augen hatten ein Funkeln in sich und sie meinte, dass er seinen Feinden gegenüber ein gefährlicher Mann sein konnte. Und dennoch hatten seine Augen auch etwas Beruhigendes, Sanftes an sich. Molly glaubte nicht, dass Alex ihr etwas antun würde – falls sie sich je wiedersähen. Er hatte gesagt, dass sie sich wieder begegnen würden, aber woher konnte er das wissen?

„Was ist los, Molly?“, unterbrach ihr Bruder ihre Grübeleien. Isaac war zwanzig und im Gegensatz zu Molly, die das dunkle Haar ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte, so blond wie ihr Vater. Auch dessen harte Züge hatte er. Einzig die Augenfarbe der Geschwister war von demselben hellen Blau.

„Nichts“, log sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich bin bloß müde. Ich habe nicht gut geschlafen vergangene Nacht.“

Isaac runzelte die Stirn und betrachtete sie eingehend. „Ist es John?“

Molly wäre fast der Becher aus der Hand gefallen. „Was?“

„Ich weiß, ihr seid Freunde, aber will er vielleicht mehr? Bedrängt er dich?“

„Nein!“, rief Molly energisch. Sie wusste, dass Isaac den ein Jahr jüngeren John nicht mochte, aber traute er ihm so etwas zu? „Es hat nichts mit John zu tun. Ehrlich nicht.“

„Was dann?“

Als sie schwieg, kam er zu ihr herüber. „Komm schon, Molly. Du kannst mir alles erzählen, das weißt du doch! Wie früher.“

Sie lehnte sich an ihn, und er schloss sie in die Arme. „Ich weiß, danke. Aber ich bin kein Kind mehr, Isaac. Du und Vater habt genug zu tun. Mach dir keine Sorgen um mich.“

Nachdem Isaac gegangen war, um sich mit ihrem Vater am Hafen zu treffen, machte Molly sich an ihre tägliche Arbeit. Sie putzte im Haus, reinigte Dandelions Stall und bereitete eine warme Mahlzeit vor. Sie überlegte, ob wohl an diesem Abend die fremden Männer wieder am Hafen sein würden. Sie versuchte, gegen die Neugier anzukämpfen, doch schließlich gab sie auf. Nachdem Isaac und ihr Vater eingeschlafen waren, zog sie ihren Mantel fest um sich und lief auf Zehenspitzen hinaus und die gepflasterte schmale Straße hinunter.

Sam beobachtete, wie sich fünf Gestalten aus dem Dunkel näherten. Jetzt würde sich zeigen, ob er den Schmugglern vertrauen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass er mit Männern wie diesen verkehrte. Doch der Anführer, Alex, schien ihm ein gefährlich intelligenter Mann zu sein. Mit ihm sollte man es sich nicht verscherzen.

Sam war Fremden gegenüber zunächst meist misstrauisch, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Dörflern verspürte er keine Abneigung. Früher einmal war Sam selbst zur See gefahren. Dort hatte er im Dienste König Georges die Küste bewacht. Schließlich war ihm das passiert, was den meisten Männern irgendwann passierte: er hatte eine Frau kennengelernt. Für sie hatte er das Leben in der Armee aufgegeben, hatte sich in ihrem Dorf niedergelassen und war mit ihr bis zu ihrem Tod glücklich gewesen. Nun hatte er Clovelly seit gut dreißig Jahren nicht mehr verlassen. Er lebte alleine, und seine zumeist schlechte Laune hatte ihm auch im Dorf nicht wirklich Freunde beschert. Nun, wo diese Männer mit dem fremden Akzent mit ihm verbotene Geschäfte führen wollten, verspürte er etwas von dem Nervenkitzel, den er damals so genossen hatte.

Die Gestalten kamen näher, und Sam erkannte Alex an der Spitze. Er war hochgewachsen und muskulös, und alles an seinem Auftreten wies auf eine kriegerische Vergangenheit hin. Insgeheim fragte der ältere Mann sich, welche Geschichte der junge Mann wohl zu erzählen hatte.

„Ladet die Fässer in das Boot“, wies Alistair seine Truppe an. Er beobachtete, wie Whisky und Brandy verladen wurden. Er hoffte nur, der Wirt würde sein Wort halten und alleine am Hafen auf sie warten. Und Molly – würde sie auch wieder dort sein? Sich wie vergangene Nacht versteckt halten und sie beobachten?

„Wer soll Euch begleiten, Kapitän?“, fragte Wesley, und seine blonden Locken sahen im Mondlicht fast weiß aus.

„Du kommst mit. Und ihr, Duncan und Frederick.“

„Bitte, lasst mich auch mitkommen!“, bat Graham.

Alistair blickte den Jungen skeptisch an. Er hatte keinerlei Erfahrung mit nächtlichem Handel. Wegen seiner jungen Jahre hatte Alistair ihn bislang stets auf dem Schiff zurückgelassen. „Ich weiß nicht“, meinte er nachdenklich.

„Ich werde Euch ganz sicher nicht zur Last fallen“, erklärte Graham eifrig.

Alistair lächelte. Graham erinnerte ihn an sich selbst, als er in dem Alter gewesen war. Unerfahren, aber von einer unersättlichen Abenteuerlust getrieben, dazu verdammt, sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Der Junge musste seine Erfahrungen machen, also nickte Alistair schließlich.

„Danke, Kapitän“, rief Graham und seine Augen funkelten aufgeregt.

Die fünf Männer stiegen zu den Fässern in das kleine Beiboot und trieben hinaus über das ruhige Wasser. Sie redeten nicht, sondern stießen schweigend die Ruder ins Wasser. Einzig Wesley pfiff leise vor sich hin. Wieder warf der Mond sein silbriges Licht auf die Welt und erleuchtete den Schmugglern den Weg.

„Was tust du da?“, flüsterte Frederick, als Graham seltsam zu zucken begann. Der Junge antwortete nicht, sondern griff sich ins Hemd und fluchte dann leise.

„Du hast das stinkende Vieh doch nicht etwa mitgenommen?!“, stellte Duncan ungläubig fest.

„Sonas hat Angst, wenn ich ihn alleine zurücklasse“, verteidigte sich Graham und zog endlich seine Hand aus dem Hemd zurück. In seiner geschlossenen Faust wand sich die kleine Ratte.

„Er ist kein Hund“, bemerkte Frederick. „Dass du dem Tier sogar einen Namen gegeben hast!“

„Sonas ist mein Freund und er ist zahm“, erklärte Graham unbeirrt und streichelte das Tier, das sich in seiner Hand beruhigt hatte. Schließlich schob er es zurück unter das Hemd.

Alistair hörte zu; ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seine Lippen. Graham wollte ein Krieger sein, aber eigentlich war sein Wesen sanft und friedlich. Er hatte die Ratte Sonas genannt, was Glück bedeutete. Er sah das Tier wirklich als einen Glücksbringer, und seit er die Ratte gezähmt hatte, ging er nirgends ohne sie hin. Wie er es aushielt, das Tier unter dem Hemd in einem Beutel am Gürtel zu halten, den er um den Bauch trug, war Alistair jedoch schleierhaft. Das Tier musste doch beißen?!

Die fünf Männer schipperten weiter, und bald hatten sie den Strand Clovellys erreicht. Wortlos gingen sie an Land. Wesley und Graham blieben am Boot zurück, um die Ware zu bewachen, während Alistair mit Duncan und Frederick in Richtung Hafen eilte. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit.

„Ihr habt Euer Wort gehalten“, bemerkte der Wirt.

„Und Ihr das Eure“, gab Alistair zurück.

Der Wirt lachte freudlos. „Mir scheint, Ihr seid genauso vorsichtig wie ich.“

„Nur ein Narr vertraut blind“, erklärte Alistair stirn-runzelnd.

„Wie wahr“, stimmte der Wirt zu. „Also wo ist die Ware?“

„Sie wartet am Strand. Wenn ich das Geld habe, schicke ich meine Begleiter, um sie zu holen.“ Dann fügte er hinzu: „Ich bleibe bei Euch, damit Ihr sicher sein könnt, dass ich Euch nicht über das Ohr haue.“

„Woher weiß ich, dass Ihr nicht verschwindet, sobald ich Euch das Geld gebe?“

„Zweifelt Ihr am Wort meines Kapitäns?“, kam es von Frederick. Alistair hob beschwichtigend die Hand, doch der Wirt sah eher interessiert aus, ein wenig verblüfft vielleicht, aber nicht ärgerlich.

„Ihr seid Engländer“, bemerkte er.

„Ganz recht“, erklärte Frederick. „Aber meine Loyalität gilt ...“

Alistair schluckte. Läge Frederick so viel an Loyalität, wäre er wohl kaum desertiert. Doch bevor der Engländer den Satz beendet hatte, unterbrach ihn der Wirt.

„Ich hatte nicht vor, Euch zu beleidigen oder Euren Kapitän. Im Gegenteil, ich glaube, er und ich verstehen uns sogar sehr gut.“

„Aye“, stimmte Alistair zu. „Und ich verstehe Eure Bedenken.“

Der Wirt zog die Mundwinkel in die Höhe und zog einen Beutel Geld aus dem Gürtel. Er warf ihn Alistair zu und dieser warf einen kurzen Blick auf den Inhalt.

„Die Anzahlung“, meinte der Ältere. „Den Rest gibt es, wenn ich die Ware habe.“

Alistair nickte zufrieden. „Also gut, holt die Fässer“, wies er Frederick und Duncan an.

„Eure Männer sind Euch in der Tat ergeben.“ In der Stimme des Wirts schwang so etwas wie Bewunderung mit.

Alistair zuckte die Schultern. Er ertappte sich, wie sein Blick in die Richtung wanderte, wo sich am Vortag Molly versteckt hatte. Bildete er sich den dunklen Schatten nur ein?

Es dauerte nicht lange, da brachten Frederick, Duncan, Wesley und Graham die Fässer herbei. Der Wirt kostete den Inhalt. „Der ist gut“, bemerkte er.

„Dachtet Ihr, wir verkaufen Euch Tand?“, fragte Duncan, und seine Stimme klang ein wenig drohend.

„Aber nein, versteht mich doch nicht immer falsch“, seufzte der ältere Mann und förderte einen weiteren Beutel Geld zu-tage.

Alistair nickte zufrieden, als er ihn einsteckte. „Gerne auf eine weiterhin gute Beziehung“, verabschiedete er sich.

„Es war mir eine Freude, mit Euch Geschäfte zu machen, Alex“, gab der Wirt zurück.

Auf dem Weg zurück zum Boot warf Alistair noch einmal einen Blick in die Schatten, wo er Molly gestern gesehen hatte. Er erinnerte sich an den Mut in ihrer jungen Stimme, das Glänzen ihrer Augen. Aye, sie war ein besonderes Mädchen. Und er würde sie wiedersehen.

Molly hielt den Atem an. Noch nie hatte sie Sam, Miserable Sam, lachen gehört. Es war ein leises Lachen, aber Molly hatte es deutlich vernommen. Die Männer sprachen leise, aber dennoch verstand sie genug, um sich zusammenreimen zu können, dass es Schmuggler sein mussten, die mit Sam Handel trieben. Brandy und Whisky, soweit sie mitbekam. Wieder fragte sie sich, woher Sam diese Männer kannte. Es war offensichtlich, dass er den Männern nicht vollkommen vertraute, ebenso wenig wie sie ihm.

Plötzlich drehte sich einer der Männer in ihre Richtung. Ihr blieb fast das Herz stehen. Hatte man sie schon wieder entdeckt? Nein, dieses Mal war sie so vorsichtig gewesen. Der Mann, der zu ihr schaute, war Alex. Was für ein eigenartiger Mann. Jemanden wie ihn hatte Molly noch nie zuvor getroffen. Fast war sie enttäuscht, als Alex mit den vier anderen Schmugglern in der Dunkelheit verschwand, ohne dass sie noch einmal mit ihm gesprochen hätte. Was war nur los mit ihr? Er war nicht nur ein Fremder, er war ein Schmuggler. Ein Verbrecher. Und doch verspürte Molly ein eigenartiges Gefühl von Vertrauen zu dem fremden Mann.

An diesem Morgen besuchte Molly ihre Freundin Keira. Keira war so alt wie Molly, und seit frühester Kindheit waren die beiden gute Freundinnen. In letzter Zeit sahen sie einander jedoch nur selten. Keiras Mutter war schwer krank seit ihrer letzten Fehlgeburt. Im Dorf wurde getuschelt, welche Sünden die Frau auf sich geladen haben mochte, dass sie ihre letzten fünf Kinder alle verloren hatte. Molly wusste es besser. Insgeheim macht sie Keiras jähzornigen Vater dafür verantwortlich. Mehr als einmal hatte sie mitangesehen, wie er seine Kinder und seine schwangere Frau schlug. Mollys Vater mochte streng sein, aber er hatte seine Familie niemals misshandelt. Bei David sah das anders aus. Er kümmerte sich nicht darum, dass jedermann die roten Striemen auf den Gesichtern seiner Kinder und Frau sehen konnte. Eine blutige Nase, aufgeplatzte Lippen – was kümmerte es ihn. Molly vermied es, ihn zu treffen. Doch sie wusste, dass David mit den anderen Fischern ausgefahren war, und so nutzte sie die Gelegenheit.

Als Keira ihr die Tür öffnete, erschrak Molly. Die Freundin war immer eine Schönheit gewesen, mit leuchtenden blauen Augen und goldenen Wallelocken. Jetzt lagen tiefe Schatten unter den Augen, die Haut war blass, und sie war ungesund dünn geworden. Als sie Molly sah, hellte ihre Miene sich ein wenig auf.

„Keira“, begrüßte Molly das Mädchen und umarmte sie schnell, damit Keira den entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht sah. Was war David bloß für ein Mensch? fragte sie sich.

„Es tut gut, dich zu sehen“, flüsterte Keira leise.

Molly löste sich von ihr und folgte ihr in das kleine Haus. Es ähnelte Mollys eigenem Zuhause und den meisten Häusern des Dorfes. Klein, aber gemütlich. Ein Feuer brannte im Herd, über dem in einem Topf Wasser köchelte.

„Wie geht es deiner Mutter?“, wollte Molly wissen.

Ein Schatten huschte über Keiras Gesicht. „Nicht gut. Ich habe das Gefühl, dass sie dieses Mal ... aufgehört hat zu kämpfen. Ich glaube, manchmal wünschte sie, sie wäre bei ihren Kindern. Nicht bei mir und Oscar. Sondern bei all den anderen.“

Ihre Stimme war so leise, dass Molly sie kaum verstand. Instinktiv glitt ihr Blick zu der geschlossenen Tür zu ihrer Rechten. Dahinter lag das Schlafzimmer.

„Unsinn, sie liebt dich und Oscar“, meinte Molly und drückte der Freundin die Hand. Oscar war Keiras älterer Bruder. Auch wenn er äußerlich nach dem Vater kam, so hatte er doch dasselbe sanfte Wesen wie Keira und ihre Mutter.

„Das schon. Aber manchmal habe ich das Gefühl, sie erkennt uns gar nicht.“ Aus der Stimme sprachen die unge-weinten Tränen, und Molly bewunderte ihre Stärke.

Doch das nächste, was Keira sagte, ließ sie aufhorchen. „Ich habe überlegt wegzugehen.“

„Was?“, entfuhr es dem dunkelhaarigen Mädchen.

„Ich ... wenn Mutter ... wenn sie ... dann habe ich keinen Grund zu bleiben.“

„Und was ist mit Oscar? Er wird sich schreckliche Sorgen machen, genau wie ich. Wo willst du hin, so ganz alleine?“

Einen Moment zögerte sie. Molly spürte, dass sie ihr etwas verheimlichte. „Was ist es, Keira?“

„Ich wäre nicht alleine.“

Ein weiterer Moment des Schweigens verging, ehe es aus Keira herausplatzte. „Toby.“

„Toby?“ Mollys Augen weiteten sich. Toby war bloß ein Jahr älter als sie beide, dennoch fuhr er seit vielen Jahren mit seinem Vater Bert zum Fischen hinaus. Er hatte noch einen jüngeren Bruder, Peter. Als kleine Kinder hatten Molly und Keira manchmal mit Toby gespielt, doch als ältester Sohn hatte er schnell Verantwortung übernehmen müssen und keine Zeit mehr mit den Mädchen verbracht. Wie also kam Keira darauf, dass er sie begleiten würde?

„Er kam vor einigen Wochen, um nach meiner Mutter zu fragen. Wie du weißt, ist seine Mutter bei Peters Geburt gestorben, also weiß er, wie ich mich fühle. Da Bert mit David manchmal gemeinsam hinausfährt, weiß er, wann ich alleine bin und kommt zu mir. Oscar ist ja ohnehin nie tagsüber hier, seit er Jim mit der Farm hilft. Vater ist zwar noch immer ungehalten darüber, dass Oscar sich weigert, Fischer zu werden, aber ich glaube, er hat erkannt, dass Oscars Neigung zu Übelkeit auf dem Wasser keine gute Eigenschaft für jemanden dieses Berufes ist. Nun ja, immer wenn ich alleine bin und Toby Zeit hat, kommt er. Er tröstet mich und ist so nett, so verständnisvoll. Molly, ich hätte nie gedacht, einmal solche Gefühle für jemanden haben zu können. Aber neulich, neulich sagte er mir, dass er mich liebt und ich... ich liebe ihn auch.“

„Keira, ich ...“, begann Molly zu stammeln. Wie sollte sie ihrer Freundin sagen, dass sie diesen Mann nicht lieben durfte. Niemals würde ihr Vater der Heirat zustimmen. Toby war in Davids Augen kein Mann, sondern so verweichlicht wie eine Frau. Das Sanfte, Liebe im Charakter des Jungen sah er als Schwäche an, genau wie bei seinen beiden eigenen Kindern. Und fortlaufen konnten die beiden auch nicht so leicht.

„Wie wollt ihr überleben?“, sagte sie endlich. „Was wollt ihr essen und wo wollt ihr wohnen?“

„Uns fällt schon etwas ein“, entgegnete Keira. „Toby ist schlau und begabt. Er würde Arbeit finden und ich vielleicht auch.“

Nur ungern wollte Molly dem blonden Mädchen seine Träume nehmen. Mehr als jeder andere verdiente sie ein glückliches Leben. Und dennoch wollte sie nicht, dass sie sich in einer Illusion verlor.

Doch Molly kam nicht zum Antworten, da ein schriller Schrei sie beide zusammenzucken ließ. Vier Augen richteten sich auf die Tür zum Schlafzimmer. Das Schreien hielt an. Hysterisch, panisch, schmerzerfüllt. Keira seufzte und erhob sich von ihrem Stuhl. Ich werde nach ihr sehen. Ich glaube, du gehst besser. Vater hat Besucher verboten, und ich weiß nicht, wann er zurückkommt.“ Beinahe schon drängte sie sie zur Tür. Molly wurde das ungute Gefühl nicht los, dass es nicht nur darum ging, dass David zurückkommen konnte. Was war mit Keiras Mutter? Doch sie erkannte, dass es besser wäre zu gehen und umarmte die Freundin zum Abschied.

Da Mollys Vater Jake mit Isaac erst in ein paar Stunden zurückkommen würden, entschloss Molly sich, einen Spaziergang zu machen, um den Kopf klar zu bekommen und die Gelegenheit nutzen, ein paar Kräuter für das Abendessen zu sammeln. Sie schlug einen Weg entlang der Klippen ein, der sie zum Mouthmill Beach bringen würde, einem Strand, der nach der alten Mühle benannt war, die dort in der Nähe stand. Unzählige Male war sie diesen Weg gegangen. Leise sang sie vor sich hin, als sie einen Fuß vor den anderen setzte. Hin und wieder bückte sie sich, um etwas zu pflücken. Sie genoss die Stille, die ihr erlaubte, auf all die Geräusche der Natur zu lauschen. Wie kraftvoll sich die Wellen an den Klippen brachen! Molly blieb stehen und starrte sehnsüchtig in die Weite. Gefährlich nah stand sie am Abgrund, wo es mehrere hundert Fuß in die Tiefe ging. Wie gefährlich die See doch war und wie schön zugleich. Unwillkürlich dachte sie an den fremden Mann, den Schmuggler. Alex. Er war wie die See. Sie fürchtete sich ein wenig vor ihm, dennoch war sie fasziniert und verspürte eine ungeahnte Anziehungskraft, die von ihm ausging. Schnell verdrängte sie den Gedanken an ihn und setzte ihren Weg fort. Endlich erreichte sie den steinigen Mouthmill Beach. Wie sie es oft tat, zog sie die Schuhe aus und warf sie in die Wiese, die sich vor dem Strand befand. Die gesammelten Kräuter legte sie dazu. Dann raffte sie den Rock und balancierte über die teils rutschigen Steine in Richtung des Wassers. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie eine Gestalt entdeckte, die in geringer Entfernung vor ihr am Strand stand. Es war an sich kein großer Strand, da er zu beiden Seiten von Felswänden begrenzt wurde. Der einzige Fluchtweg für Molly war also der Pfad, den sie gekommen war. Als sie sah, dass die Gestalt auf sie zukam, war ihr erster Impuls zu rennen. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Wie angewurzelt stand sie da und starrte auf den Mann, der immer näherkam. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie erkannte, wer er war.

Alistair hatte beobachtet, wie Molly die Schuhe ausgezogen hatte und dann langsam in seine Richtung kam. Im Stillen dankte er Gott dafür, dass er entschieden hatte, die Boote ein wenig entfernt vom Strand zwischen den Felsen zu verbergen. Iain hatte einen schmalen Gang gefunden, der es ihnen erlaubte, bei Ebbe trotzdem trockenen Fußes zu den Booten zu gelangen, bei Flut ging ihm das Wasser bis kurz unter die Knie.

Trotz dieser kleinen Unannehmlichkeit war es die beste Lösung, wie er jetzt sicher wusste; näher am Strand war die Gefahr, dass sie entdeckt wurden, einfach zu groß. Die Männer selbst hatten eine Höhle gefunden, deren Eingang nur ein enger Spalt und von außen kaum zu sehen war, doch deren Inneres sich über zwei größere Ebenen erstreckte. Insgeheim dachte Alistair, dass sie wie gemacht war als Behausung. Seine Mannschaft war gerade dort, nur er hatte nach einigen Fässern sehen wollen, die sie am Vortag in den Spalten des Black Church Rock versteckt hatten. Nun, bei vollkommener Ebbe, lag der Felsen blank und war vom Strand aus zugänglich. Er hatte schon instinktiv seinen Dolch gezogen, als er jemanden kommen sah. Da hatte er Molly erkannt und sich entschieden, sie anzusprechen. Auf keinen Fall durfte sie durch Zufall herausfinden, dass der Black Church Rock den Schmugglern als Versteck diente.

Alistair hatte befürchtet, dass Molly die Flucht ergreifen würde, sobald sie ihn sah, doch stattdessen blieb sie reglos stehen und starrte ihn bloß an. Dann stand er vor ihr und sah in Augen von der Farbe des Meeres in seinem Rücken. Einen Moment ruhte sein Blick still auf ihr, dann meinte er fast beiläufig: „Guten Tag, Molly.“

Als sie schwieg, fuhr er fort. „Ein wundervoller Tag für einen Spaziergang. Die See ist heute ruhig und klar. Und für Mai ist es herrlich warm.“

Das Mädchen sagte noch immer nichts, sondern spähte nun an ihm vorbei. Alistair unterdrückte ein Lächeln; sie war nicht dumm und ahnte vermutlich, dass sein Schiff und die Schmuggelware nicht allzu weit entfernt waren.

„Hast du etwas verloren?“, fragte er schmunzelnd.

„Was tut Ihr hier?“, wollte sie wissen.

„Ich gehe spazieren“, meinte er mit einem unschuldigen Schulterzucken. „Und du?“

„Ich habe Kräuter gesammelt“, erklärte sie leichthin und schaute wieder über seine Schulter.

„Du solltest nicht alleine unterwegs sein. Weißt du nicht, dass das gefährlich ist?“

Wie er erwartet hatte, richtete sich ihr Blick mit einem Funkeln auf ihn. „Warum? Meint Ihr, ich könnte vielleicht von einem Schmuggler entführt werden?“

„Vielleicht.“ Wieder zuckte Alistair die Achseln. Er freute sich, als nun ein Lächeln auf Mollys Gesicht trat. Es war das erste Mal, dass sie ihn anlächelte, und es machte sie noch hübscher. Dann meinte sie: „Vermutlich sollte ich dann besser gehen.“

Sie wandte sich um, aber einem plötzlichen Instinkt folgend, legte Alistair ihr eine Hand auf den Arm. „Warte.“

„Was habt Ihr?“, fragte Molly und starrte auf seine Hand. Hastig zog er sie wieder fort.

„Ich habe mich gefragt, was dich wohl dazu treibt, allein herumzulaufen. Jetzt, aber vor allem nachts. Was hast du dort unten am Hafen gewollt?“

„Ich wüsste nicht, was Euch das angeht“, kam die ausweichende Antwort.

„Nichts“, stellte er fest. „Und doch, du könntest mich jederzeit verraten.“

Eine genervte Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Ich habe Euch doch bereits gesagt, dass ich nichts verraten werde.“

„Warum solltest du mich schützen wollen?“

„Was lässt Euch glauben, dass es um Euch geht?“

„Dir liegt also der Wirt am Herzen“, stellte Alistair mehr fest, als er fragte.

„Ich vertraue ihm.“

„Und was ist mit mir? Vertraust du mir?“

Ihr Nein kam etwas zögerlich, und Alistair bemerkte es. Er grinste. Konnte es sein, dass Molly die Anziehungskraft zwischen ihnen beiden genauso spürte wie er?

„Erzähl mir von eurem Dorf“, forderte er sie auf.

„Warum sollte ich? Wollt Ihr uns ausrauben?“

Alistair merkte, dass er so bei ihr nicht weiterkam. Also sagte er frei heraus, was er fühlte: „Du bist nicht wie die meisten Dorfmädchen, die ich kenne.“

„Kennt Ihr viele?“

Hatte er eine Spur Eifersucht in ihrer Stimme entdeckt? Nein, sicher hatte er sich verhört. Trotzdem antwortete er mit einem Lächeln. „Ein paar.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wie auch immer, es ist mir egal. Ich sollte jetzt gehen.“ Wieder wandte Molly sich ab. Dieses Mal hielt er sie nicht fest, doch er wollte noch immer nicht, dass sie ging.

„Sehen wir uns wieder?“, fragte er.

„Ich weiß nicht“, gab sie zurück und setzte dann langsam einen Fuß vor den anderen, fort von ihm. Alistair schaute ihr hinterher. Sie sammelte ihre Schuhe und Kräuter vom Boden auf und begann zu laufen, ohne sich noch einmal umzuschauen, bis sie außer Sichtweite war.

KAPITEL 2

Der Regen prasselte auf das Dorf nieder. Der Wind heulte und rüttelte an dem kleinen Haus. Seit langem hatte Molly kein solches Unwetter mehr erlebt. Sie machte sich Sorgen um ihren Vater, der am Morgen zum Fischen hinausgefahren und bisher nicht zurückgekommen war. Still betete sie vor sich hin, dass er unversehrt war und irgendwo Unterschlupf gefunden hatte.

Um sich zu beruhigen, gesellte sie sich zu ihrem Esel in den winzigen Stall am Haus. Dandelion kaute genüsslich auf etwas Stroh herum und interessierte sich gar nicht für das Tosen draußen. Er war ein stets entspanntes Tier, und Molly kraulte ihn hinter dem geknickten Ohr, wo er es am liebsten hatte. Dandelion schnaubte wohlig. Das gleichmäßige Geräusch seines Kauens hatte eine entspannende Wirkung auf Molly.

„Er wird zurückkommen, ganz sicher. Das tut er immer“, meinte sie, mehr zu sich selbst als zu dem Esel. Dandelion antwortete mit einem weiteren Schnauben. Um sich abzulenken, begann Molly leise zu singen. Es war ein Kinderlied eigentlich, aber sie mochte die einfache Melodie und den Text. Ein Seemann fuhr hinaus aufs Meer und geriet in Seenot. Er strandet auf einer kleinen Insel, wo eine Frau ihn findet und pflegt. Sie ist eine Frau aus dem Meer, die sich in den Seemann verliebt. Da sie aber sterben muss, wenn sie zu lange an Land bleibt, bittet sie ihn, mit in ihren Unterwasserpalast zu kommen. Molly wusste zwar, dass die Folge sein musste, dass der Seemann selbst ertrinkt, doch sie änderte die letzten Verse, so wie ihre Mutter es getan hatte, als sie noch klein war. In Mollys Version des Liedes geht er mit ihr und verwandelt sich nach einem Kuss ebenfalls in einen Meermann.

Molly zuckte zusammen, als die Tür knarrte. „Warum sitzt du denn hier bei dem Esel?“, fragte Isaac und musterte sie prüfend.

„Was machst du hier? Warum bist du nicht bei Vater?“ War Jake etwas zugestoßen? Nein, dann würde Isaac sicher nicht so ruhig sein!