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Maruzza Musumeci ist eine faszinierende Frau, von der eine geheimnisvolle Macht ausgeht. Als Gnazio ein Foto von ihr sieht, ist er berauscht und verzaubert von ihrer sinnlichen Schönheit. Bei der ersten Begegnung erstarrt er zur Salzsäule und bringt kein Wort heraus. Er muss sie einfach haben und kann sein Glück kaum fassen, als sie einwilligt, ihn, den einfachen Gärtner, zu heiraten. Er baut ihr ein Haus auf der Landzunge, die er gekauft hat, obwohl er das Meer eigentlich gar nicht mag, und eine Zisterne, in der Maruzza ungestört baden kann. Dass seine Frischangetraute behauptet, auf dem offenen Meer geboren und eine Sirene zu sein, nimmt Gnazio als liebenswerte Spinnerei hin. Doch mit der Zeit kommt ihm Maruzzas Verhalten immer sonderbarer vor: Mit ihrer fast hundertjährigen Urgroßmutter redet sie in einer fremden Sprache, und in den Nächten steht sie auf dem Balkon und singt mit gespenstischer Stimme. Auch die Geburt ihrer vier Kinder ändert nichts daran, dass es Maruzza Musumeci immer wieder aufs Meer zieht ...
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Seitenzahl: 163
Andrea Camilleri
Die Frau aus dem Meer
Roman
Deutsch von Moshe Kahn
Rowohlt Digitalbuch
Gnazio Manisco kehrte am dritten Januar achtzehnhundertfünfundneunzig nach Vigàta zurück; er war inzwischen fünfundvierzig Jahre alt, und niemand im Ort wusste mehr, wer er eigentlich war. Und auch er selbst kannte nach fünfundzwanzig Jahren, die er in Amerika zugebracht hatte, niemanden mehr.
Bis er ungefähr zwanzig war, hatte er als Tagelöhner gearbeitet. Mit seiner Mutter und ein paar anderen Tagelöhnern war er von Landgut zu Landgut gezogen, wo hier mal Bäume ausgeputzt werden mussten, da mal Mandeln oder Oliven, Saubohnen oder Erbsen geerntet wurden. Oder sie halfen auch bei der Weinlese.
Über seinen Vater wusste er nichts, nicht das Geringste, außer dass er Cola hieß und nach Amerika gegangen war, als er, Gnazio, noch im Bauch der Mutter war. Der Vater hatte nie wieder Nachrichten nach Hause geschickt, weder gute noch schlechte. Da hatte Gnazios Mutter die Hütte verkauft, die sie im Ort bewohnte. Diese hatte aus einem einzigen kleinen Raum bestanden, weil Tagelöhner am Ende ja doch kein Dach über dem Kopf brauchen, sie schlafen im Freien, unter dem Sternenhimmel, und sollte es einmal regnen, suchen sie Schutz unter einem Baum. Und das Geld hatte sie in ein Tüchlein gewickelt, das sie unter dem Brustlatz versteckte. Am Ende einer jeden Woche zog sie das Tüchlein hervor und steckte den Teil des Lohnes hinein, den sie erübrigen und sparen konnte.
Die Gruppe Tagelöhner, zu der Gnazio und seine Mutter gehörten – denn Gnazio hatte schon mit fünf Jahren für ein Viertel des Lohnes angefangen zu arbeiten –, wurde von Zio Japico Prestia angeführt, der alle nur «Läuse» nannte. Als Gnazio sieben war und hörte, dass er «Laus» gerufen wurde, begehrte er auf.
«Ihr, Zio Japico, habt mich Gnazio zu rufen, ich bin keine Laus!»
«Fühlst du dich etwa beleidigt, wenn ich dich so rufe?»
«Jawohl!»
«Das solltest du nicht. Heute Abend erkläre ich’s dir.»
Wenn Zio Japico der Sinn danach stand, erzählte er nach beendeter Arbeit und bevor es Nacht wurde, Geschichten, und alle hörten ihm zu. Daher erzählte er an diesem Abend die Geschichte von Noah und der Laus.
«Als der Herrgott der Menschen überdrüssig wurde, die immer nur Krieg führten und sich gegenseitig zerfleischten, beschloss er, sie vom Angesicht der Erde zu tilgen und die Sintflut kommen zu lassen. Und über diese Absicht redete er mit Noah, dem einzigen aufrechten und gütigen Mann. Doch Noah wies ihn darauf hin, dass mit den Menschen auch alle Tiere sterben würden, die an der Empörung des Allmächtigen doch keinen Anteil hätten. Da sagte der Ewige zu ihm, er solle ein Holzschiff bauen, das man ‹Arche› nennt, und jeweils ein Paar von allen Tieren, Männchen und Weibchen, darin aufnehmen. So würde die Arche schwimmen, und hinterher, wenn die Sintflut vorüber sei, hätten die Tiere ihre Jungen bekommen können. Noah vermochte es, die Erlaubnis zu erhalten, auch seine Frau und seine drei Söhne in die Arche zu führen, und fragte den Herrgott dann, wie er nur alle Tiere auf dem Erdenrund benachrichtigen könne. Der Allmächtige antwortete ihm, dass er sich darum kümmern wolle. Um es kurz zu machen: Als alle Tiere hineingegangen waren, fing es an zu regnen. Nach drei Tagen hörte Noah eines Nachts, als alle schliefen, ein Stimmchen ganz dicht an seinem Ohr.
‹Patriarch Noah! Patriarch Noah!›
‹Wer ist da?›
‹Zwei Läuse sind wir, Mann und Weib.›
Läuse? Aber wer waren die? Noch nie hatte Noah sie auch nur nennen hören.
‹Wo seid ihr denn, ich sehe euch nicht?›
‹Auf deinem Kopf, inmitten deiner Haare.›
‹Und was macht ihr da?›
‹Patriarch, der König der Welt hat vergessen, auch uns über die Sintflut zu benachrichtigen. Aber wir haben es trotzdem erfahren und sind an dir hochgeklettert.›
‹Doch wovon lebt ihr Läuse denn?›
‹Wir leben von dem Dreck, der auf dem Kopf des Menschen ist.›
‹Da werdet ihr hungers sterben! Ich wasche mir die Haare nämlich jeden Tag!›
‹O nein, Patriarch! Du bist die Verpflichtung eingegangen, alle Tiere zu erretten! Wir haben das Recht, uns zu ernähren, wie alle anderen Tiere auch! Und daher wirst du dich von nun an für die Zeit der Sintflut nicht mehr waschen!›
Und wisst ihr, liebe Leute, warum der Ewige vergessen hatte, die Läuse zu benachrichtigen? Weil die Läuse wie die Tagelöhner sind, bei denen sogar Gott vergisst, dass es sie gibt.»
Als Gnazio diese Geschichte von Zio Japico gehört hatte, schwor er sich, sobald er nur könne, einen anderen Beruf zu ergreifen.
Er war neunzehn, als seine Mutter starb, weil niemand ihr nach dem Biss einer Viper zu helfen vermochte. In dem Tüchlein, in dem sie ihre Ersparnisse aufbewahrt hatte, fand er so viel Geld, wie er es gar nicht erwartet hatte, und so beschloss er, auch nach Amerika auszuwandern.
Doch wie gelangte man nach Amerika, das auf der anderen Seite der Welt lag? Er bat einen seiner Cousins, Tano Fradella, ihm dies zu erklären, denn Tano hatte bereits seine Papiere beisammen und stand kurz vor der Abreise.
«Was braucht man dazu?»
«Zuallererst den Reisepass.»
«Was ist denn das?»
Tano erklärte es ihm. Und er sagte ihm auch, dass man, um einen zu bekommen, ein Gesuch an den Amtsvorsteher von Vigàta richten müsse. Und so präsentierte Gnazio sich vor dem Amtsvorsteher.
«Was willst du?»
«Ich will mir Dokumente ausstellen lassen, um nach Amerika zu fahren.»
«Wie heißt du?»
Gnazio sagte es ihm.
«Wann bist du geboren?»
Gnazio sagte es ihm.
«Wie heißen deine Eltern?»
Gnazio sagte es ihm.
Und er sagte ihm auch, dass seine Mutter gestorben sei und er nicht wisse, ob sein Vater in Amerika noch lebe oder auch schon gestorben sei.
«Und du willst ihn in Amerika finden?»
«Ich weiß ja nicht mal, wie er aussieht!»
Der Amtsvorsteher blätterte ein wenig in den Papieren auf seinem Tisch. Dann rief er:
«Blandino!»
«Zu Befehl!»
Der Mann, der nun den Raum betrat, trug die Uniform eines Wachtmeisters.
«Leg dem da Handschellen an!»
«Wieso denn das?», fragte Gnazio völlig verdattert.
«Wehrdienstverweigerung!»
«Was ist denn das: Wehrdienst?»
«Du musst zum Militär gehen.»
«Davon hat mir keiner was gesagt.»
«Die Bekanntmachung für die Einberufung hing überall aus.»
«Ich kann aber weder lesen noch schreiben.»
«Dann hättest du es dir von jemand anderem vorlesen lassen müssen.»
Er saß fünf Tage im Kerker. Am Morgen des sechsten Tages brachte man ihn nach Montelusa, an einen Ort, der «Militärdistrikt» genannt wurde. Dort ließ man ihn sich nackt ausziehen, das erfüllte ihn mit Scham, und er hielt die Hände vor seine Schamteile, und einer im weißen Kittel sagte, nachdem er ihn vorne und hinten untersucht hatte:
«Wehrfähig.»
Da trat einer vor, der war wie ein Marinesoldat gekleidet und hatte ein Schurkengesicht. Der sagte zu ihm:
«Aaach…tung!»
Was sollte das denn bedeuten? Gnazio blickte sich um, er sah nirgendwo Gefahr und fragte ihn:
«’tschuldigung, aber wovor soll ich mich vorsehen?»
Der andere fing an zu brüllen, dass man meinte, er wäre wahnsinnig geworden.
«Einen auf Klugscheißer machen, was? Aber das werde ich dir schon noch austreiben, diesen Kartoffelwitz! Stell dich zu denen da drüben!»
Und er deutete auf eine Gruppe von zehn jungen Männern in Gnazios Alter. Zu denen gesellte er sich.
«Morgen schon werden wir eingeschifft», sagte einer.
«Wieso werden wir eingeschifft?», fragte Gnazio.
«Weil wir Matrosen werden sollen.»
Einschiffen? Aufs Meer hinausfahren? Inmitten von Stürmen? Inmitten von Wellen, die höher waren als ein dreistöckiges Wohnhaus? Auf dem Meer, wo es Kraken gab, die größer waren als eine Karosse, die einen packten und nach unten zogen und ertrinken ließen? Niemals, Signuri! Ausgerechnet er sollte Matrose werden, er, der er das Meer nicht mal auf einem Bild ansehen konnte?! Verzweifelt fing er an zu schreien:
«Matrose, nein! Und auch nicht aufs Meer! Um des lieben Heilands willen – auf keinen Fall Matrose!»
Und er schrie so laut und lärmte so sehr, dass man ihn zum Landser machte.
Als Soldat ging es ihm gut. Er wurde nach Cuneo geschickt, und nach vier Tagen fragte ein Feldwebel, ob es jemanden gebe, der Bäume beschneiden könne. Gnazio verstand nur das Wort «Bäume» und fragte:
«Was bedeutet das: beschneiden?»
Der Feldwebel erklärte es ihm. «Säubern», «ausputzen», das bedeutete «beschneiden».
«Ich weiß, wie man das macht», sagte Gnazio.
Tags darauf arbeitete er auf einem Stück Land von Colonnello Vidusso, einem vornehmen Herrn, dem es gelang, seine Militärdienstzeit auf zwei Jahre zu verkürzen, und der sich persönlich darum kümmerte, ihm die Dokumente für die Abreise nach Amerika ausstellen zu lassen. Kurz: Er schiffte sich ein, da war er gerade zwanzig geworden.
Während der gesamten Reise hielt er sich im Bauch des Dampfschiffs auf, in all den Ausdünstungen der anderen Auswanderer. Das waren Leute, die sich in die Hose schissen und pinkelten, und Leute, die sich ständig erbrachen, doch nie stieg Gnazio nach oben an Deck. Das Meer, das er ringsum hörte, jagte ihm eine solche Angst ein, dass er zitterte, als wäre er vom Terzan-Fieber befallen.
In New York suchte er Tano Fradella auf, der Maurer geworden war, weil es in dieser Stadt keine Ländereien gab. So wurde auch Gnazio Maurer.
Was waren das nur für Häuser, die man da in Amerika baute? Riesig hoch, und zwar derart, dass einem ganz schwindlig werden konnte, wenn man im dreißigsten Stock arbeitete und sich der Gefahr aussetzte, in die Tiefe zu stürzen. Doch wenn er durch die Straßen ging, sah Gnazio viele Bäume und viele schöne Gärten.
«Wer kümmert sich eigentlich um die Bäume und die Gärten?», fragte er eines Tages Tano Fradella.
«Die, die sich darum kümmern, sind Leute, die vom New Yorker Rathaus bezahlt werden.»
«Und wo ist dieses Rathaus?»
«Hör zu, Gnazio, dich nehmen die da nicht!»
«Und wieso?»
«Vor allem, weil du weder schreiben noch lesen kannst. Und dann, weil du nicht ihre Sprache sprichst.»
Am nächsten Tag, der ein Sonntag war, erklärte ihm ein Landsmann, dass in der Mott Street, ganz in der Nähe von seiner und Tanos Behausung, eine Lehrerin wohne, Signorina Consolina Caruso, die Unterricht zu Hause gab. Am selben Tag sprach Gnazio bei Signorina Consolina vor, die um die siebzig war und spindeldürr, mit einem Gesicht, das aussah wie ein Totenschädel mit Brille, mit einem Wort: gar nicht nett. Sie verabredeten, was die Stunden kosten und wann sie stattfinden sollten. Die Lehrerin gab ihm jeden Abend von acht bis neun Unterricht, zusammen mit einem kleinen Jungen von sieben Jahren, der viel leichter lernte als er und lachte, wenn Gnazio einen Fehler machte.
Kurzum, nach drei Jahren Unterricht schrieb Gnazio die Bewerbung an das Rathaus. Die Bewerbung wurde angenommen, man brachte ihn in einen Garten, man sah, wie er arbeitete, und eine Woche später wurde er als Gärtner eingestellt.
Sie zahlten ihm zwar nicht viel, doch es reichte aus, und außerdem war es ein sicheres Einkommen.
So kam es, dass nicht wenige alte Frauen von Brooklyn anfingen, eindeutige Bemerkungen zu machen:
«Gnazio, vielleicht ist es jetzt an der Zeit, wo man eine Familie gründen sollte.»
«Sag mal, Gnazio, willst du denn gar nicht heiraten?»
Und bald fielen auch die ersten Namen:
«Da gäbe es eine tüchtige junge Frau, die Tochter von Minicu Schillaci …»
«Ich möchte dich mit Ninetta Lomascolo bekannt machen, die wirklich ein fabelhaftes Mädchen ist …»
Doch Gnazio feixte nur und gab keine Antwort.
In Amerika zu heiraten bedeutete, in Amerika zu sterben. Aber da wollte er nicht sterben, er wollte in seine Heimat zurückkehren und im Angesicht eines Olivenbaums die Augen für immer schließen.
Wenn sich bei ihm die Lust auf Frauen meldete, weil er schließlich ein heißblütiger junger Mann war, sagte er Tano Fradella Bescheid, der in Weiberfragen genügend Erfahrung besaß. Der ging dann aus dem Haus und kehrte nach einer Stunde mit zwei Mädchen zurück, und man musste schon blind sein, wenn man ihre Schönheit nicht erkannte.
Eines Morgens, als es noch dunkel war, kam er von der Trauerwache für Signorina Consolina zurück, die gestorben war, die Arme. Da schlurfte ein garstiger, verdreckter Alter aus einem Hauseingang auf ihn zu – sein Atem stank derart nach Wein, dass einer, allein weil er in seiner Nähe stand, schon besoffen wurde – und packte ihn am Revers.
«Hör zu, Landsmann, zahl mir ein Gläschen!», sagte er mit flehender Stimme.
«Hast du denn noch nicht genug gesoffen? Du bist doch schon am frühen Morgen sternhagelvoll!», entgegnete Gnazio und versuchte die Hände des anderen von seinem Jackett zu lösen.
«Was geht’s dich an, ob ich besoffen bin?»
Vielleicht war es die Art, wie sie miteinander redeten, der Tonfall, dass sie stehen blieben und sich ansahen.
«Wo bist du her?», fragte der Alte.
«Aus Vigàta. Und du?»
«Ich auch. Wie heißt du?»
«Gnazio. Und du?»
«Cola. Cola Manisco. Also, was ist? Gibst du mir jetzt einen aus oder nicht?»
«Nein», sagte Gnazio und gab seinem Vater einen Stoß, der ihn gegen die Hauswand warf.
Und er drehte sich nicht um, als der Alte anfing zu krakeelen und zu schreien, er wäre ein Schweinehund und der Sohn einer Hurensau. Und über dieses Vorkommnis redete er mit niemandem, auch nicht mit Tano Fradella.
Und ebenso redete er mit niemandem über ein anderes Vorkommnis.
Er wusste, in Brooklyn gab es gewisse Leute, Leute, die etwas zählten, hartgesottene Typen, mit einem Wort: hochgestellte Mafiosi, aber mit denen hatte er nie gemeinsame Sache machen wollen.
Eines Tages – es war just der Tag seines vierundvierzigsten Geburtstags, und er trank ein bisschen Wein in einem store – nahm ihn einer von denen, der Jack Tortorici hieß, beiseite und ließ ein paar Worte fallen.
«Meine Freunde und ich brauchen einen, der uns einen Gefallen tut.»
«Wenn ich kann …»
«Kannst du, kannst du. Du arbeitest doch im Lincoln Park?»
«Ja.»
«Kennst du den Teil des Parks, der auf die Achtunddreißigste geht?»
«Ja.»
«Da stehen doch zwanzig Bäume, erinnerst du dich?»
«Sicher.»
«Uns reicht’s, wenn du zehn von ihnen absterben lässt. Um die anderen zehn kümmert sich jemand anders.»
«Sie sollen absterben? Wieso das denn?»
«Dann können da Hochhäuser gebaut werden.»
«Und wie lässt man die absterben?»
«Durch Gift, das du von uns kriegst. Es ist flüssig, man muss nur die Erde da begießen, wo die Wurzeln sind. Und nach drei Monaten …»
Gnazio wurde bleich.
«Da habt ihr euch den Falschen ausgesucht! Ich bringe weder Christenmenschen um noch Bäume.»
Tortorici sah ihn genau an, sagte aber nichts, sondern wandte ihm den Rücken zu und ging.
Drei Tage später schickte man ihn zum Arbeiten in den Lincoln Park, wo er einen Iren ablösen sollte, der O’Connor hieß.
Als er ankam, kletterte der Ire gerade von einer Kiefer herunter, die an die dreißig Meter hoch war, und sagte zu ihm, dass nur noch die Äste an der Spitze auszuputzen wären.
Doch Gnazio kletterte nicht gleich auf den Baum. O’Connor hatte das abgesägte Geäst einfach so herumliegen lassen, da nahm Gnazio es und stapelte es gleich unter der Kiefer ordentlich auf. Danach legte er den Sicherheitsgurt an und kletterte hinauf. Als er auf Höhe der Zweige war, die er beschneiden sollte, band er den Sicherheitsgurt los und hielt sich an dem Ast fest, der sich über ihm befand. Es war nur ein winziger Augenblick, der Ast knackt laut, und im Nu wird Gnazio klar, dass der Ast so beschnitten ist, dass er sein Gewicht nicht aushält. Das war sicher O’Connor!, denkt er noch, dann stürzt er ab.
Zu seinem Glück war er auf dem Stapel von Zweigen und Ästen gelandet, den er selbst aufgeschichtet hatte, sonst wäre er auf der Stelle tot gewesen. So brach er sich nur das Bein.
Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, sagte der Arzt, dass er für alle Zeit, die ihm zum Leben verbliebe, humpeln würde.
Doch wie viel Zeit würde ihm noch zum Leben verbleiben? Das war die eigentliche Frage.
Ganz sicher würde Jack Tortorici wieder versuchen, ihn umbringen zu lassen, zumal es ihm ja beim ersten Mal nicht gelungen war.
Sie konnten ihn gar nicht am Leben lassen, sie hatten ja Angst, er würde reden. Sie mussten ihn zwangsläufig umbringen, da gab es kein Vertun.
Also beschloss er, seine Arbeit zu kündigen und anderswo hinzuziehen. Der Bürovorsteher, der ein Neapolitaner war und De Francisco hieß, sagte, dass es ihm leidtäte, denn er wäre ein tüchtiger Placker gewesen, aber was nun aus dem Geld werden sollte?
«Was für Geld?»
«Mann, Junge, wach auf! Das Geld, das du von der Versicherung bekommen musst.»
Gnazio war ganz verblüfft, daran hatte er überhaupt nicht gedacht.
«Wirklich? Und wie viel steht mir zu?»
«Eine Kiste voller Dollars, Junge.»
Gnazio ging schnell nach Hause, packte den Koffer, ließ einen Zettel für Tano da, mit den Worten, er würde nach Vigàta zurückkehren und sich bis dahin ein Zimmer außerhalb von Brooklyn nehmen.
Zwei Monate später hatte die Versicherung ihm einen Koffer voller Dollars geschickt, genau wie der Neapolitaner gesagt hatte, da ging er an Bord, blieb immer in der Kabine, die er sich mit drei anderen Männern teilte, und machte während der gesamten Reise kein Auge zu: teils wegen des Meeresrauschens, das ihm den Angstschweiß auf den Körper trieb, teils weil er fürchtete, jemand könnte ihm im Schlaf seine Dollars stehlen.
In Vigàta wohnte er im Haus eines entfernten Verwandten, Sciaverio, der ihm ein Zimmer zur Miete gab. Der Fußboden bestand aus festgestampfter Erde, sodass Gnazio in der Nacht, so leise er konnte, ein Loch unter seiner Bettstelle grub und die Dollars darin versteckte.
Er begann die Nachricht zu verbreiten, dass er ein Stück Land kaufen wolle. Dann, nach langem Suchen, erfuhr er, dass zehn Salmen zu verkaufen seien, das waren etwa sechzehn Morgen, und zwar in Ninfa, und dass der Preis äußerst günstig sei.
Sobald er sah, wo dieses Stück Land lag, wurde ihm beklommen ums Herz.
Der Ortsteil Ninfa war eine Art Landzunge, die ins Meer hineinragte wie der Bug eines Dampfschiffs, und die zum Verkauf stehenden zehn Salmen waren genau diese Landzunge, die an drei Seiten vom Meer umgeben war, nur eine Seite grenzte an ein anderes Stück Land. Genau genommen an eine unbefestigte Straße. Doch an jener dem Land zugewandten Seite befand sich eine Sarazenenolive, und es hieß, sie sei über tausend Jahre alt. Genau der Baum, den man im Augenblick des Todes anschauen will.
Und es war dieser Olivenbaum, der Gnazio am Ende dazu brachte, das Stück Land zu kaufen.
Aber seltsam war die Sache doch. Die zehn Salmen hatten seit langer Zeit brachgelegen, sie waren von Gestrüpp überwuchert, und die Mandelbäume, die noch da standen, hielten sich nur mühsam am Leben, sie waren ausgedörrt, verbrannt, in schlechtem Zustand.
Aber die Erde war gut, Gnazio hatte sie Spanne für Spanne probiert und sich einen Krug Wein mitgebracht. Nach jedem Schritt bückte er sich, nahm ein Bröckchen Erde zwischen Daumen und Zeigefinger, legte es sich auf die Zunge und kostete es. Die Erde durfte weder zu bitter noch zu salzig, weder zu süß noch zu fein schmecken, und auch nicht zu stark nach Versengtem oder nach zu viel Frische.
«Der Geschmack von Erde, fein und reich,/ist der Natur einer Frau in allem gleich», hatte er Zio Japico sagen hören, als er noch Tagelöhner war. Jedes Mal trank er einen Schluck Wein, um sich den Mund auszuspülen, tat einen Schritt, bückte sich erneut und nahm wieder eine Prise.