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Wien. Marianne Altmann, einst ein gefeierter Filmstar, ist schockiert, als sie von Plänen ihrer Tochter Vera erfährt. Diese möchte einen Film über ihre Familie drehen. Marianne fürchtet, dass nun auch die Abgründe der Familie ans Tageslicht kommen könnten, und mit ihnen ein lange zurückliegendes Vergehen. Es reicht zurück ins Jahr 1927, als ihre Mutter Käthe in einem geliehenen Kleid am Theater vorsprach. Der Beginn einer beispiellosen Karriere – und einer verhängnisvollen Bekanntschaft mit Hans Bleck, der zum mächtigen Produzenten der Ufa aufsteigen sollte ...
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Seitenzahl: 609
Das Buch
Wien. Marianne Altmann, einst ein gefeierter Filmstar, ist schockiert, als sie von Plänen ihrer Tochter Vera erfährt. Diese möchte einen Film über ihre Familie drehen. Marianne fürchtet, dass nun auch die Abgründe der Familie ans Tageslicht kommen könnten, und mit ihnen ein lange zurückliegendes Vergehen. Es reicht zurück ins Jahr 1927, als ihre Mutter Käthe in einem geliehenen Kleid am Theater vorsprach. Der Beginn einer beispiellosen Karriere – und einer verhängnisvollen Bekanntschaft mit Hans Bleck, der zum mächtigen Produzenten der Ufa aufsteigen sollte …
Die Autorin
Die Österreicherin Beate Maxian lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Oberösterreich und Wien und arbeitet neben dem Schreiben als Moderatorin und Journalistin sowie als Dozentin an der Talenteakademie. Ihre in Wien angesiedelten Krimis um die Journalistin Sarah Pauli haben eine treue Leserschaft erobert und sind Bestseller in Österreich. Des Weiteren ist Beate Maxian die Initiatorin und Organisatorin des ersten österreichischen Krimifestivals: Krimi-Literatur-Festival.at
BEATEMAXIAN
Die Frau
im hellblauen
Kleid
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Drama (auf der Bühne) ist erschöpfender als der Roman, weil wir alles sehen, wovon wir sonst nur lesen.
(Franz Kafka 1883–1924)
Der Werbespot über verdauungsförderndes Joghurt flimmerte über den Bildschirm.
»Das ist nicht dein Ernst!« Marianne Altmann musterte ihre Tochter mit einem strengen Blick. Die betagte Schauspielerin zwang sich, nicht auch noch missbilligend den Kopf zu schütteln.
»Was?«, fragte Vera, obwohl sie genau wusste, was nun folgte. Ein Vortrag, wofür der Name Altmann stand. Und die Antwort lautete nicht: für verdauungsförderndes Joghurt.
»Der Werbespot!« Ihre Mutter sprach mit einem deutlichen Rufzeichen am Ende des Satzes.
»Ich kenne den Spot.« Vera ging im Wohnzimmer ihrer Mutter auf und ab, drehte dabei die Zettel in der Hand zu einer Rolle zusammen.
»Ist das deine Zukunft?«, fragte Marianne und sah sie vorwurfsvoll an.
»Ich versteh nicht, warum du so ein Theater machst. Es ist ein Werbespot, in dem man mein Gesicht genau zwanzig Sekunden lang sieht.«
»Wir Altmanns machen kein Theater. Wir spielen Theater, seit vier Generationen!« Wieder dieses Rufzeichen in ihrer Stimme. »Das hier …« Sie deutete auf den Bildschirm, wo inzwischen eine Werbung für Hundefutter lief. »Das ist einer Altmann unwürdig. Wenn du schon dein Gesicht an die Werbeindustrie verkaufst, dann zumindest für anständige Produkte.«
»Meinst du Hundefutter?« Vera lächelte süffisant. »Ein verdauungsförderndes Joghurt ist doch ein anständiges Produkt. Ein Appell, der Verstopfung keine Chance zu geben. Ein Manifest für gesunde Ernährung.«
Marianne Altmann ignorierte Veras Zynismus. »Zwei Frauen, die während eines Spaziergangs über ihre Verdauungsprobleme reden. Wer denkt sich so etwas aus?«
»Werbefachleute.«
»Und auch noch zur Hauptsendezeit.«
»Da sehen mich viele Leute.«
»Wenn du dich nackt auf die Kärntnerstraße stellst, sehen dich auch viele Leute.«
»Nur leider ist die Bezahlung schlechter. Und was die Menge an Zusehern angeht, bin ich nicht deiner Meinung. Die Werbung vor dem Hauptabendprogramm sehen mehr.«
»Wie kommen die eigentlich auf dich? Ich meine, eine echte Altmann gibt sich nicht für so etwas her. Das wissen diese Werbemenschen doch.« Sie wedelte mit ihrer Hand Richtung Fernseher, als müsse sie eine lästige Fliege abschütteln.
»Was meinst du eigentlich andauernd mit eine echte Altmann?«, fragte Vera. »Willst du mir sagen, dass ich gar keine echte bin? Dass du und Papa mich adoptiert habt?«
»Mach dich nicht lächerlich«, schimpfte Marianne Altmann. »Wir sind eine angesehene Schauspielerfamilie. Wir drehen keine Werbespots für Joghurt.«
»Mama!« Vera konnte ebenfalls mit einem Rufzeichen am Ende sprechen. »Dass ich dafür keinen Oscar bekomme, ist klar.«
»Pah, einen Oscar! Sogar Bambi würde sich eher …«
»Du weißt genau, dass es bei mir nicht gut läuft«, unterbrach Vera. »Ich bin nicht wie du. Ich muss mir Alternativen zum Theater und Film suchen.« Der maßgebende Durchbruch als Schauspielerin war Vera nie gelungen, und wenn man fünfundvierzig Jahre alt war, wartete die große Karriere selten hinter der nächsten Tür. Zumindest nicht für Frauen. Derweil war Vera attraktiv. Groß gewachsen, schlank, und in ihren braunen Augen konnte man versinken. Ihr ebenmäßiges Gesicht umspielten dunkle Locken, die bis zur Schulter reichten. Sie konnte in der Rolle einer Mitteleuropäerin ebenso überzeugen wie eine Südländerin spielen. Dennoch war ihr die große Schauspielerkarriere verwehrt geblieben. Möglich, dass es an ihrem melancholischen Blick lag, ein Erbe ihres Vaters, oder einfach das Talent fehlte. Sie sollte aufhören, darüber nachzudenken.
Sophie stürmte ins Wohnzimmer. Wie immer, wenn Veras Tochter den Raum betrat, erfüllte ihre Aura das gesamte Zimmer. Mit ihren langen blonden Haaren, den großen blauen Augen und ihrer offenen fröhlichen Art bezauberte sie alle Menschen im Handumdrehen. Sie war Marianne Altmanns ganzer Stolz, weil sie fortführte, was Vera nie gelungen war: im Schauspielerolymp die nächste Generation Altmann zu manifestieren. Die Zwanzigjährige drehte Film um Film in Österreich. Demnächst wollte sie das deutsche Publikum erobern.
Die drei Frauen lebten zusammen in der Villa, die Marianne zu diesem Zweck vor Jahren hatte umbauen lassen. Die Diva bewohnte das Erdgeschoss, die große Wohnküche in ihrem Bereich war Mittelpunkt der Familie. Vera hatte das Stockwerk darüber, und Sophies Reich lag unter dem Dach. Wenn es etwas zu besprechen gab oder man Lust auf Gesellschaft hatte oder einfach ein gemütliches Refugium benötigte, dann suchte man die Küche auf. Mit den weißgoldenen Porzellankacheln, den Arbeitsflächen aus Kirschholz, den weißen Küchenkästen und dem großen Tisch mit acht Stühlen in der Mitte bildete sie seit jeher das behagliche Zentrum der Villa.
»Hab ich etwas verpasst?«, fragte Sophie, ließ sich in einen Sessel fallen und bändigte ihre Haare mit einem Samtband.
»Den Werbespot deiner Mutter.« Die Diva drückte den Knopf der Fernbedienung, und der Bildschirm erlosch augenblicklich.
»Oh, den hab ich schon gesehen.« Sophie strahlte gekünstelt. »Und falls ich mal Verdauungsprobleme habe, bespreche ich sie vertrauensvoll mit dir, Mama, versprochen.« Sie zwinkerte Vera aufmunternd zu und entlockte so ihrer Großmutter ein breites Grinsen.
»Ja, ja, macht euch nur lustig über mich. Ich weiß auch, dass das nicht meine Zukunft sein kann. Deshalb hab ich nachgedacht und in den letzten Wochen hart gearbeitet.« Vera setzte sich und rollte die Unterlagen in ihren Händen auseinander. »Das ist der Beginn eines Drehbuches.«
Mariannes Augenbrauen wanderten nach oben, Vera warf ihr einen Blick zu.
»Ich seh dir an, was du denkst, Mama.«
»Ach! Und was denke ich?«
»Schon wieder so ein ›Vera-Projekt‹.«
»Wovon handelt denn dein Drehbuch?« Misstrauisch betrachtete Marianne die Zettel.
Da nahm Sophie sie ihrer Mutter ab und begann zu lesen. Es handelte sich lediglich um die ersten zwanzig Seiten, das musste vorab genügen, um einen Eindruck zu bekommen.
Vera zögerte. »Es handelt von dir und Papa.« Sie malte einen unsichtbaren Bogen in die Luft. »Das Schauspielerpaar der Sechziger- und Siebzigerjahre. Die glamouröse Liebe einer bildhübschen Wienerin und eines äußerst attraktiven Münchners. Ich hab in meinen Unterlagen gekramt, in den Zeitungsarchiven gestöbert. Die Bunte Münchner Frankfurter Illustrierte schrieb sogar: Die romantischste Verbindung Österreich-Deutschland.« Vera schmunzelte. »Und dann lass ich noch eigene Erinnerungen einfließen. Ich denke, das wird eine wunderbar runde Geschichte. Ach, bevor ich es vergesse: Ich werde auch Regie führen.«
»Aha, du wirst jetzt also Drehbuchautorin und Regisseurin«, stellte Marianne im zweifelnden Tonfall fest.
Vera nickte. Sie hatte nicht mit Jubelrufen seitens ihrer Mutter gerechnet. Marianne Altmann war sechsundsiebzig Jahre alt und seit fünfzehn Jahren weg vom Filmgeschäft. Es war ihre Entscheidung gewesen aufzuhören. Die Rolle der Großmutter lag ihr nicht. Sie wollte, dass ihre Fans, und davon hatte sie nach wie vor viele, sie als schöne, begehrenswerte Frau in Erinnerung behielten und nicht als Oma von Jungschauspielern. Noch heute war sie schlank, feingliedrig und graziös. Ihre gerade, nahezu hoheitsvolle Haltung ließ sie größer erscheinen. Ihre Augen tasteten wach die Umgebung ab, ihr Blick schien selbstbewusst, und ihr Gesicht trug würdige Züge. Das königliche Erscheinungsbild hatte sie ihrer Tochter weitergegeben und diese wiederum ihrer Tochter. »Die stolzen Altmann-Frauen«, betitelte man sie in der Filmbranche. Und genau diese äußerliche und innere Haltung machte einen großen Teil ihres Charmes aus.
Schönheit verging.
Die Einstellung blieb.
»Das liest sich sehr gut«, sagte Sophie.
»Es ist eine Dokumentation.« Vera stand auf. »Können wir in die Küche gehen? Ich hätte Lust auf eine Tasse Kaffee.«
Die Diva erhob sich seufzend, folgte ihr jedoch kommentarlos. Wenn Vera nach Kaffee verlangte, würde sich das Gespräch hinziehen, das wusste sie. Auf der Anrichte in der Küche stand ein frisch gebackener Gugelhupf. Die Leidenschaft zu backen und zu kochen lebte Marianne seit ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit begeistert aus.
»Eine Dokumentation also«, wiederholte sie, als sie nur wenig später mit einer Tasse Kaffee am Esstisch saßen. »Hast du schon mit einem Produzenten darüber gesprochen?«
Vera schüttelte den Kopf. »Es ist noch zu früh. In zwei Wochen bin ich fertig, dann biete ich es an.« Sie nippte an ihrer Tasse, und es war ersichtlich, wie sie sich einen Ruck gab. »Na, was sagst du?« Vera fixierte ihre Mutter mit einem bangen Blick. Ihre Meinung war ihr wichtig.
Die Diva stellte die Tasse ab. »Das ist keine gute Idee.«
Marianne Altmann sah aus dem Küchenfenster, Schneeregen fiel vom Himmel. Ihr Blick ruhte auf den längst abgeernteten Reben des Hanges gegenüber, sie gehörten seit Ewigkeiten zum Weingut ihrer Familie. In den Weinbergen hatte sie mit ihrem Cousin Ferdinand Verstecken gespielt. Von ihrem Vater hatte sie alles über Wein erfahren, was sie als Winzerin hatte wissen müssen – obwohl sie beide wussten, dass sie niemals das Gut führen würde, und Ferdinand es überschrieben bekam. Völlig zu Recht, wenn man die wahre Familiengeschichte betrachtete.
Inzwischen war auch ihr Cousin ein alter Mann, wenn auch nur wenig älter als sie selbst. Das Weingut verwaltete sein Enkel mittlerweile, er baute auf dem Hang Grünen Veltliner an. Ihre liebste Weinsorte. Daneben wuchs der Weißburgunder. Die schweren, tonhaltigen Mergelböden in dieser Region waren die besten für diese Sorte.
»Ich bitte dich, Mama«, drang Veras Stimme an ihr Ohr. »Lies doch erst mal das Drehbuch, bevor du dich festlegst und endgültig Nein sagst!« Sie hatte die letzten Wochen Tag und Nacht daran gearbeitet und es ihrer Mutter zu Neujahr in die Hand gedrückt. Als Zeichen des Neubeginns.
Marianne drehte sich um. Ihre Tochter lehnte mit einer Tasse Kaffee in der Hand an der Anrichte.
Die Tatsache, dass sie nicht sofort Feuer und Flamme für das Filmprojekt gewesen war, sorgte bei Vera seit einem Monat für üble Laune. Sogar Weihnachten hatten sie deswegen gestritten.
»Es tut mir leid, unser Privatleben ist nun mal kein Allgemeingut«, rechtfertigte Marianne ihre Einstellung.
»Du begreifst nicht, worum’s geht.«
Marianne spürte, wie das Gespräch zum wiederholten Mal ins selbe Fahrwasser steuerte.
»Du stehst doch sonst so gern im Mittelpunkt.«
»Tu ich nicht.«
»Ach nein? Mir erschien es als Kind oft so, als drehte sich die Sonne ausschließlich um dich und nicht um die Erde.«
Diese Spitze traf jedes Mal, wenn Vera sie losließ. Marianne Altmann plagte seit jeher das schlechte Gewissen, weil Vera als Kind oft mehr Zeit mit dem Kindermädchen verbracht hatte als mit ihren Eltern.
»Die Erde dreht sich um die Sonne«, berichtigte sie ihre Tochter. »Nicht umgekehrt.«
»Nicht in deinem Universum«, erwiderte Vera.
Marianne presste die Lippen aufeinander. Sie und ihre Tochter standen sich in nichts nach, wenn es darum ging, sich gegenseitig Verletzungen zuzufügen. Diese heilten nur, weil sie am Ende doch das sehr starke Band der Mutter-Tochter-Liebe wieder einte.
Vera stellte ihre leere Tasse in die Spüle und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Marianne zuckte nicht einmal mehr zusammen, als gleich darauf die Wohnungstür krachend ins Schloss fiel.
Ihre Position war eben, vorsichtig mit der Lebensgeschichte umzugehen. Insgeheim stellte sie sich seit Jahren die Frage, wie viele Geheimnisse ihre Familie vertrug. Im Umkehrschluss drängte sich ihr jedes Mal die Frage auf: Verträgt meine Familie die Wahrheit?
Denn darum ging es schlussendlich. Um die Wahrheit, die lange Zeit gut gehütet tief in Mariannes Innerem verborgen lag, nicht wissend, ob sie jemals ans Licht kam und eine Befreiung erfuhr.
Sie dachte an ihre Enkelin Sophie, die sich insgeheim schon in der Rolle der jungen Marianne sah. Ein Bild, das der Diva durchaus gefiel. Sie ähnelte ihr nicht nur äußerlich, sondern kam ihr auch im Wesen nahe.
Marianne überlegte, ob sie der Sache nicht doch zustimmen sollte. Immerhin kam das Projekt ohne ihr Einverständnis wohl kaum zustande, das jedenfalls betonte ihre Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Diva fällte ihre Entscheidungen jedoch niemals aus Gefälligkeit oder aus Lust und Laune heraus. Der Kopf kam bei ihr vor dem Bauch, auch wenn’s um die eigene Familie ging.
Sie drehte sich um und sah wieder aus dem Fenster auf die Weinberge hinüber.
Da tauchte in ihrem Augenwinkel der Postbote am Gartentor auf. Nur von dort konnte man einen Blick auf die gesamte Villa werfen, die hinter einer hohen, mit wildem Wein überwachsenen Gartenmauer verborgen lag. Sie sah auf die Armbanduhr. Halb elf. Er kam pünktlich. Ein letzter Kontrollblick auf die Briefe, dann warf er die Post in den Briefkasten und verschwand wieder hinter der Gartenmauer.
Marianne wartete eine Weile. Der Briefträger sollte nicht im Rückspiegel sehen, dass sie zum Briefkasten eilte. Eine alte Frau, die hinter dem Fenster auf die Post wartete. Es musste ja sonst auf ihn wirken, als sei dies die einzige Abwechslung in ihrem einsamen Leben. Diese Einsamkeit hatte sie jedoch ganz bewusst gewählt. Sie lud selten Gäste ein, weil sie in ihrem früheren Leben genug Treiben um sich herum gehabt hatte. Hielten sich Vera und Sophie im Haus auf, war ihr das genügend Abwechslung.
Noch draußen am Gartentor blätterte Marianne rasch die Kuverts durch, auf der Suche nach einem Umschlag mit schwarzem Rand. In ihrem Alter waren Todesanzeigen keine Seltenheit. Es war nicht angenehm, derartige Nachrichten zu bekommen, doch das Leben fragte nicht danach. Es schickte den Tod, wann immer es wollte, verpackt in einem Kuvert mit einer Briefmarke darauf. Manchmal traf es sogar die Richtigen.
Werbung. Rechnungen. Ein Angebot für eine Seniorenresidenz, wie man Altersheime heutzutage nannte. Wenigstens verschonte sie der Sensenmann mit einer Benachrichtigung.
Zurück im Haus, legte sie die Briefumschläge auf den Küchentisch, Prospekte wanderten ungesehen auf den Stoß fürs Altpapier. Im Wohnzimmer holte sie aus dem Bücherregal das Fotoalbum mit alten Setaufnahmen, Kinokarten und Fotos von vertrauten Kollegen hervor und setzte sich damit aufs Kanapee. Normalerweise wühlte sie nur dann in Erinnerungen, wenn eine Todesanzeige ins Haus geflattert war. Heute machte sie eine Ausnahme. Sie wollte eine besondere Erinnerung heraufbeschwören, nicht die alten Zeiten, und nicht darüber trauern, wie viele ihrer Wegbegleiter nicht mehr auf Erden weilten. Sie trachtete danach, ein verloren geglaubtes Gefühl wiederzufinden. Eine Sinnesempfindung, die jeder kannte, der diesen Beruf ergriffen hatte.
»Warum sind Sie Schauspielerin geworden?«, war eine Frage gewesen, die sie im Laufe ihres Lebens häufig gehört hatte. Als Antwort hatte sie stets dieselbe Phrase gedroschen: »Weil es meine Bestimmung war«, und ein breites Lächeln an den Fragesteller gerichtet. »Ich glaube, der Beruf hat mich gesucht, nicht ich den Beruf.«
In Wahrheit, so musste sie zugeben, war es die Sucht nach Aufmerksamkeit gewesen, nach Ruhm, nach Erfolg und danach, im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Mutter Käthe fungierte als ihr Vorbild. Der Triumph war nicht zufällig gekommen, sie hatte hart daran gearbeitet.
Ein Schwarzweißfoto zeigte Marianne im Dirndlkleid. Sie spielte in ihrer ersten großen Rolle ausgerechnet die Tochter eines Heurigenwirts, die sich unsterblich in einen Leutnant der Kaisergarde verliebte. Ein beliebtes Thema in den Fünfzigerjahren. Auf einem anderen Bild lag sie auf einer Wiese, in kurzen Hosen, Trägertop und mit riesigem Hut. Ein Film über eine selbstbewusste Frau, die auf der Suche nach der wahren Liebe von einer turbulenten Situation in die nächste stolperte. Ein Publikumserfolg und der Beginn ihrer Filmkarriere.
Marianne legte das Album zur Seite, blieb eine Weile nachdenklich sitzen und dachte noch einmal über das Projekt ihrer Tochter nach. Ob es richtig war, noch einmal vor die Kamera zu treten und Filmluft zu inhalieren? Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich geehrt, dass ihr Leben im Mittelpunkt einer Spielfilmdoku stehen sollte.
Ihr Blick wanderte zu einem bestimmten Bild an der Wand. Es zeigte sie in jungen Jahren in dem hellblauen knielangen Kleid ihrer Mutter. Marianne hatte das Kleid nur für diese eine Aufnahme angezogen. Die Idee war aus einer Laune heraus entstanden. Obwohl es sich dabei um eine Schwarzweißfotografie handelte, erinnerte sich Marianne an die Farbe des Kleides, als wäre das Bild erst gestern aufgenommen worden. Eri Klein, ihre Maskenbildnerin, hatte sie fotografiert. Ihr tragischer Tod verfolgte Marianne bis heute in ihren Träumen. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und seufzte schwer. Es war schrecklich mit den Erinnerungen. Sie hielten einem die begangenen Fehler sowie das Alter schonungslos vor Augen.
Es wurde langsam Zeit, dass auch sie über den Tod nachdachte, und darüber, was blieb, wenn sie ging. In diesem Moment gestand sie sich ein, dass sie im Unterbewusstsein längst beschlossen hatte, Veras Filmprojekt zu unterstützen. Ihre Teilnahme berechtigte sie zudem, der Familienbiografie ihren persönlichen Stempel aufdrücken.
Bedächtig erhob sie sich und ging in ihr im englischen Stil eingerichtetes Schlafzimmer. Marianne mochte die britische Lebensweise, sie verkörperte für sie einen exquisiten Geschmack. Auf einem schön restaurierten Frisiertisch standen Fotos ihrer Lieben. Vera mit Sophie im Arm. Marianne, Vera und Sophie im Tiergarten. Sophie mit Schultüte, im Kleid für den Maturaball und auf der Bühne. Die Bilder ihrer Mutter ruhten seit einiger Zeit in einer Truhe mit anderen Erinnerungsstücken. Darunter befanden sich Dokumente und Fotos, die sie zu gegebener Zeit hervorholen wollte.
Sie öffnete die Tür zu ihrem begehbaren Kleiderkasten. Die Regale und Kleiderstangen waren aus altem Mahagoniholz gefertigt. Ganz hinten, in einem durchsichtigen Kleidersack, hing das alte Kleid aus hellblauem Baumwollstoff, das eine Freundin ihrer Mutter geschneidert hatte. Ein Teadress mit weißem Samt am Ausschnitt und einem für damalige Verhältnisse modernen Zipfelrock, der in Kniehöhe endete. Obwohl es mit der Zeit ein wenig Farbe verloren hatte, erkannte man nach wie vor die einstige Schönheit des kostbaren Stücks. Es grenzte an ein Wunder, dass es die vielen Jahre nahezu unbeschadet überstanden hatte.
Marianne griff nach dem Bügel und nahm das Kleid heraus. Sie hielt es sich vor Augen und wog ihre Idee ab. Im Grunde genommen war ihr der Gedanke an jenem Tag gekommen, als Vera ihr das erste Mal von dem Projekt erzählt hatte. Sie nickte unwillkürlich und beschloss in dem Moment ihre Zustimmung, jedoch unter einer Voraussetzung: Die Erzählung der Altmann-Familie musste schon eine Generation früher mit der jungen Käthe Schlögel und dem hellblauen Kleid beginnen. Vera sollte sich von der Idee verabschieden, lediglich über sie und Fritz zu berichten. Die Schauspielerinnen-Dynastie sollte im Mittelpunkt stehen.
Sorgsam legte sich Marianne das Kleid über den Arm, ging zurück ins Wohnzimmer und hängte es vors Bücherregal. Sie wollte sofort damit beginnen, die wichtigsten Stationen im Leben ihrer Mutter aufzulisten. Energiegeladen setzte sie sich an den Sekretär. Ein wertvolles Stück, das sich seit vielen Jahrzehnten nicht ganz rechtmäßig im Besitz ihrer Familie befand. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deshalb nicht. Das war mit ihrer Mutter gestorben.
Es regnete. Ausgerechnet heute, dachte Käthe Schlögel. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, um den Plan zu verwirklichen, den sie seit Wochen geschmiedet hatte. Und jetzt dieses scheußliche Wetter. Sie stand in der offenen Haustür, hielt einen Regenschirm in der Hand und spähte vorsichtig auf die Straße hinaus. Dann drehte sie sich um. Ihre Eltern durften nichts mitbekommen, weil ihr Plan sonst kläglich scheitern würde, noch bevor sie ihn in die Tat umsetzen konnte. Der wachsame Blick aus ihren blauen Augen suchte wieder aufmerksam die Umgebung ab. Unsicher strich sie sich eine unsichtbare Strähne aus der Stirn, derweil steckten ihre fast hüftlangen blonden Haare fest geflochten unter einem dunkelgrauen Kopftuch fest. Ihr Erscheinungsbild passte zum Wetter, denn auch ihr hochgeschlossenes Kleid war grau und verbarg ihre schlanke Figur. In langweiliges Grau gehüllt, fühlte sie sich nahezu unsichtbar. Ein Auto lieferte sich einen erbitterten Kampf mit einem Pferdefuhrwerk. Der Wagen fuhr zu knapp vorbei, die beiden Rappen erschraken und bäumten sich auf. Der Kutscher hatte alle Hände voll zu tun, seine Tiere unter Kontrolle zu halten, und die Fässer auf dem Anhänger drohten hinunterzufallen. Als der Wagen überholte und sich vor den Tieren einreihte, schlugen die Hufe der Pferde hart auf dem Kopfsteinpflaster auf. Es klang wie ein Schuss. Der Fahrer erschrak, verriss das Fuhrwerk ein wenig. Eine Frau auf dem Gehsteig stieß einen spitzen Schrei aus und sprang zur Seite. Sie drohte mit wüsten Gesten, während ein Passant beherzt nach dem Zaumzeug griff und die Rappen beruhigte. Der Kutscher schickte dem davonfahrenden Auto wilde Flüche hinterher.
Käthe betete stumm, dass der Aufruhr auf der Straße nicht die Aufmerksamkeit ihrer Mutter erweckt hatte und sie aus dem Lokal auf das Trottoir lockte. Doch auch einen Moment später blieb alles hinter ihr ruhig.
Käthe verließ ihren Posten und blieb am großen Fenster des Gemüseladens stehen, der direkt an das Wohnhaus in der Josefstädterstraße anschloss. Das Geschäft gehörte ihren Eltern, und sie konnte nur hoffen, dass diese ihren Aufbruch nicht bemerkten. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe. Auf gar keinen Fall wollte sie Rechenschaft ablegen müssen. Eigentlich sollte sie in diesem Augenblick im Laden stehen und ihrer Mutter beim Verkauf helfen, doch sie hatte Kopfschmerzen vorgetäuscht und sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Käthe war der Ansicht, dass ihre Mutter die kleine Unaufrichtigkeit sehr wohl durchschaut, jedoch geschwiegen hatte. So war das immer schon gewesen. Schon als sie ein kleines Kind gewesen war, hatte sie über ihre sich abrupt rosa färbenden Wangen hinweggesehen. Vielleicht nahm ihre Mutter aber auch an, dass Käthe ihre Tage hatte und deshalb unpässlich sei. Doch darüber würde Alma Schlögel niemals mit ihrer Tochter sprechen.
Ich hab ein Geheimnis, dachte Käthe, während sie den Kopf vorstreckte und durch die Geschäftsvitrine lugte. Ihre Mutter stand mit dem Rücken zur Auslage und packte gerade Erdäpfel für eine Kundin ein. Ihr Vater war nicht im Laden. So schnell sie konnte, schummelte sich Käthe vorbei, ohne ihre Mutter dabei aus den Augen zu lassen. Wenige Meter weiter raffte sie mit einer Hand ihr knöchellanges graues Kleid hoch und lief so schnell sie konnte die Straße entlang. Das Regenwasser spritzte an ihren Beinen hoch, der Schirm schwang über ihrem Kopf hin und her. Käthe ignorierte die tadelnden Blicke der ihr entgegenkommenden älteren Damen am Gehweg. Gleich nachdem sie in die Lange Gasse eingebogen war, blieb sie stehen und verschnaufte kurz. Sie hatte es geschafft.
Die Wohnung ihrer Freundin Anita Weinmann lag in der Lange Gasse. Gerade als Käthe die schwere Eingangstür aufdrücken wollte, wurde sie von innen geöffnet, und der Geruch von Schmierseife schlug ihr entgegen. Die Hausmeisterin drängte sich mit ihrem Eimer vorbei, um das Schmutzwasser auf die Straße zu leeren. Käthe betrat das feucht glänzende Stiegenhaus und lief, so schnell es der rutschige Belag zuließ, die Stufen ins dritte Stockwerk hinauf.
Anita wartete schon in der offenen Eingangstür auf sie. Der eng anliegende graue Rock und die helle Bluse unterstrichen ihre Weiblichkeit. Ihre langen dunklen Haare trug sie wie Käthe zu einem Haarkranz geflochten.
»Da bist du ja endlich, komm rein!« Anita fasste sie an den Händen und zog sie in die kleine Wohnung, die aus einer Wohnküche und einem Schlafraum bestand. Die Toilette und das Bad auf der Etage teilte sie sich mit der jungen Familie von nebenan und einer älteren Frau, die am Ende des Gangs wohnte. Die Bassena zum Wasserholen lag zum Glück direkt vor der Wohnungstür.
Anita nannte die Wohnung ihr kleines Paradies. Ihre Eltern bewirtschafteten mehrere Weinberge in Grinzing und unterstützten ihre Tochter finanziell. Das Gut würde einmal ihrem Bruder Alois gehören. Käthes Vater August Schlögel hoffte seit jeher auf eine Verbindung zwischen Alois und seiner Tochter. Käthe jedoch empfand für Anitas Bruder lediglich geschwisterliche Gefühle, und sie meinte, dass es sich umgekehrt genauso verhielt. Alois hatte sich jedenfalls ihr gegenüber nie anders verhalten als ein Bruder zu seiner Schwester. Sie verstanden sich gut, doch mehr war da nicht. Außerdem genoss Anitas Bruder sein Junggesellendasein viel zu sehr, als sich Gedanken über eine etwaige Heirat zu machen.
Anita hatte den Beruf Damenschneiderin erlernt und träumte davon, einen eigenen Salon zu besitzen, in dem die Damen von Welt ein und aus gingen. Aus dem Grund war Käthe auch nicht überrascht gewesen, als Anita sie vor wenigen Wochen bat, an ihr Maß nehmen zu dürfen. Käthe glaubte, dass ihre Freundin ein Modell anfertigen wollte, das sie ihren Kunden als Beispiel ihrer Nähkunst zeigen konnte. Derweil hatte sie ein Kleid für Käthe genäht, das Alma Schlögel niemals billigen würde. Es war unverschämt modern, endete in Kniehöhe und zeigte Dekolletee. Ein Geschenk von Anita und perfekt für Käthes Pläne.
Nun war es fertig und lag auf dem Sofa drapiert, als warte es nur darauf, von einer Prinzessin getragen zu werden. Anita hatte es aus einem so intensiven hellblauen Stoff gefertigt, wie Käthe ihn noch nicht gesehen hatte. Sie trat heran und strich ehrfürchtig mit den Fingerspitzen über den zarten Baumwollstoff.
Ihre Freundin schien ebenso aufgeregt zu sein wie sie selbst, denn Käthe sah, wie Anitas grüne Augen glänzten. Sie überreichte ihr das Kleid, als wär es ein kostbarer Schatz.
»Schnell, zieh’s an! Ich möchte dich endlich darin sehen.«
Rasch schlüpfte Käthe aus ihren Schuhen und dem hochgeschlossenen Alltagskleid, und nur wenige Augenblicke später fühlte sie sich wie eine andere, wie eine bessere Persönlichkeit.
»Du siehst jetzt schon aus, als wärst du eine berühmte Schauspielerin«, behauptete Anita, während sie den rückseitigen Reißverschluss zuzog und Käthe anschließend eingehend von allen Seiten betrachtete. »Jetzt bin ich doppelt froh, dich zum Vorsprechen überredet zu haben. Solange du im stillen Kämmerlein spielst, wirst du es niemals auf die Bühne schaffen.«
Anita hatte Käthe vor Wochen den Ausschnitt einer Zeitung auf den Tisch gelegt. Die Anzeige besagte, dass im Volkstheater am Weghuberpark Laiendarsteller als Statisten und für kleinere Rollen gesucht wurden. Interessierte sollten sich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit am Theater einfinden. Und dieser Tag war heute, es war also bald so weit. Ihre Chance, hatte Anita gemeint, und Käthe sah es ähnlich, auch wenn ihr das Herz schon jetzt bis zum Hals klopfte.
»Warte! Mit denen kannst du doch nicht ins Theater gehen«, sagte Anita und deutete auf die Schnürstiefel, die Käthe soeben anzog. Ihre Freundin bückte sich und drückte ihr Pumps mit Knöchelriemchen in die Hand. Käthe wechselte die Schuhe.
»Du wirst es schaffen, da bin ich mir ganz sicher«, gab ihr Anita mit auf den Weg, als Käthe nach ihrem Schirm griff. Sie umarmte ihre Freundin und war unsagbar glücklich in dem Moment.
Als sie die Haustür öffnete, goss es noch immer in Strömen. Deshalb ging Käthe nicht zu Fuß, sondern nahm die Straßenbahn, obwohl das Volkstheater nicht weit entfernt lag. Im Inneren der Waggons dampfte es. Durchnässte Kleidung drängte sich an durchnässte Kleidung. Es roch nach feuchten Stoffen und Haaren, Tabak und Leder. Eine Frau stieg Käthe auf den Fuß. Kein Wort der Entschuldigung.
Käthe kam mit nassen Pumps und Strümpfen im Theater an. Auch von ihrem Kleid tropfte das Regenwasser. Sie überlegte, wieder umzukehren, doch dann ermahnte sie sich stumm, nicht klein beizugeben, und suchte den Bühneneingang. Sie klopfte an die Tür, ein alter grauhaariger Mann öffnete und bedeutete ihr, rasch einzutreten.
»Trockne dich doch erst einmal ab, Mädchen«, meinte er und reichte ihr ein Handtuch.
Käthe versuchte verzweifelt, ihre Waden und den unteren Rand ihres Baumwollkleides trocken zu bekommen. Es gelang ihr nur mäßig, ein dunkler Schmutzrand am Saum blieb.
»Jetzt komm schon!«, mahnte sie der Alte zur Eile. »Die warten schon.«
Während sie dem Mann hinterherstolperte, versuchte sie, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen. Wer immer die waren, es klang, als dürfte man sie keine Sekunde länger warten lassen.
»Bleib hier stehen, bis du aufgerufen wirst«, brummte er.
Käthe stand hinter der Bühne in einem langen, kahlen Gang ohne Dekoration und Atmosphäre. Mit ihr warteten noch drei andere junge Frauen. Sie waren sehr hübsch, und es schien, als kämen sie aus gutbürgerlichem Haus. Feindselig sahen sie Käthe an. In ihren Augen war sie eine, die ihnen ein mögliches Engagement wegschnappte. Das bezweifelte Käthe jedoch, weil sie die drei wesentlich verführerischer fand als sich selbst. Die Lippen der Frauen waren rot geschminkt, und ihre offenen Haare schmiegten sich in Wellen um ihre aparten Gesichter. Doch keine von ihnen sprach ein Wort, und Käthe überlegte, ob es vielleicht doch an etwas anderem lag. Sah man ihr vielleicht an, dass sie die Tochter von Gemüsehändlern war? Womöglich titulierten sie sie innerlich als Bauerntrampel.
Käthe senkte den Blick und wollte am liebsten wieder umkehren. Doch der Alte hatte sie hierher durch ein finsteres Labyrinth aus Gängen mit dunklen kahlen Wänden geführt, und es schien ihr unmöglich, allein wieder hinauszufinden.
Kurz darauf kam noch ein Mädchen zu ihnen hinter die Bühne. Sie schien um eine Spur jünger als Käthe zu sein. Achtzehn vielleicht. Sie lächelte entwaffnend, reichte allen die Hand. »Else Novak«, stellte sie sich vor, und Käthe dachte, wie bezaubernd sie doch ist. Sie hatte ein schmales Gesicht und trug ihre dunkelbraunen Haare modern kurz, mit einem Seitenscheitel und in Wasserwellen gelegt.
Käthe kam sich plötzlich albern vor mit ihrer geflochtenen blonden Bauernkrone. In dem Augenblick war ihr klar, dass Else Novak schon jetzt mehr wie ein Star wirkte, als sie es je sein würde. Sie fühlte sich plötzlich, als hätte sie sich in eine ihr völlig fremde Welt verirrt. Meine Güte, dachte sie sich in diesem Moment, was hast du dir nur dabei gedacht? Glaubst du wirklich, neben diesen Frauen bestehen zu können?
Dann hörte sie ihren Namen, und wenige Augenblicke später stand sie dort, wo sie schon immer hatte stehen wollen. Auf der Bühne, die die Welt für sie bedeutete.
Scheinwerfer blendeten sie. Es roch nach Staub und altem Stoff. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Die Angst zu versagen schnürte ihr die Kehle zu. Sie starrte in den Zuseherraum. In der zweiten Reihe saßen zwei Männer. Käthe glaubte, in einem von ihnen den Theaterdirektor zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Es war zu dunkel.
»Bitte schön!«, hörte sie eine männliche Stimme, und Käthe begann das zu spielen, was sie glaubte, am besten zu können. Eine Kammerzofe. Als zwölfjähriges Mädchen war sie heimlich in eine Probe ins Theater in der Josefstadt geschlichen, und es war ihr schlagartig bewusst geworden, dass die Bühne ihre Zukunft sein sollte. Ihre Augen hatten förmlich an Helene Thimig geklebt, die die Smeraldina in Der Diener zweier Herren dargestellt hatte. Das Stück hatte nach den Renovierungsarbeiten zur Wiedereröffnung des Theaters auf dem Programm gestanden. Seit damals hatte Käthe diese Rolle geübt, und nun hatte sie Gelegenheit, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Immer wieder war sie zum Rathaus gelaufen, wenn es einen Empfang gab, und hatte davon geträumt, genau so ein wichtiger Ehrengast zu sein.
Als Sechzehnjährige hatte sich Käthe dann heimlich einer Laienschauspielgruppe angeschlossen. Dazu ermutigt hatte sie ihre Lehrerin, die ihre Begabung erkannt und es ihrer Mutter gegenüber erwähnt hatte, wann immer sie in den Gemüseladen zum Einkaufen kam. Doch Alma Schlögel hatte immer nur den Kopf mit dem geflochtenen Haarkranz geschüttelt, woraufhin Käthe schließlich zu spielen aufgehört hatte. Doch der Traum, Schauspielerin zu werden, hatte sie nie wieder losgelassen.
Nach zehn Minuten war alles vorbei. »Bitte warten Sie hinter der Bühne«, lautete der einzige Satz, den man an sie richtete. Dann hörte sie, wie jemand Else Novaks Namen rief. Die anderen drei Frauen schienen verschwunden zu sein. Für Käthe begann, was man wohl als die schlimmste Zeit nach dem Vorsprechen bezeichnen konnte. Warten. Zuerst blickte sie auf die große Uhr an der Wand und zählte die Sekunden. Als daraus fünf Minuten geworden waren, wandte sie den Blick Richtung Bühnenaufgang. Von Else Novak war nichts zu sehen.
Im nächsten Moment glaubte Käthe, erbrechen zu müssen. Sie schluckte die eingebildete Übelkeit hinunter und atmete mehrmals tief durch. Dann kreiste wieder der Gedanke, dass es dumm gewesen sei hierherzukommen, in Endlosschleife durch ihren Kopf. Sie war fast entschlossen, das Gebäude einfach zu verlassen, doch dann tauchte vor ihrem inneren Auge Anitas enttäuschtes Gesicht auf.
Endlich kehrte Else zurück. Ihre Mimik verriet nicht, ob es gut oder schlecht für sie gelaufen war. Käthe stellte keine Fragen, und sie wechselten kein einziges Wort miteinander. Die anderen ließen sich immer noch nicht blicken. Die Anspannung war deutlich zu spüren. Es war heiß und die Luft stickig.
Käthe musste husten und wischte sich ihre schweißnassen Hände unauffällig am Kleid ab.
Schließlich tauchte ein Mann auf. Er trug eine beige Bundfaltenhose, dazu einen gemusterten Pullover. Schätzungsweise war er nicht viel älter als sie, höchstens Ende zwanzig. Das dunkle Haar mit Pomade nach hinten gestrichen, das markante Gesicht glatt rasiert, lächelte er sie beide spitzbübisch an. Er war sicher einen Kopf größer als sie und Else. Seine harten Züge um den Mund herum und sein selbstbewusstes Auftreten schüchterten Käthe ein. Sie war sich nicht sicher, ob er vorhin auch im Zuseherraum gesessen hatte.
»Mein Name ist Hans Bleck, ich bin der Regisseur.« Er versuchte, Käthe in die Augen zu sehen, und ließ ihren Blick nicht mehr los.
Käthe bemühte sich, es zuzulassen, doch es war ihr unangenehm. Sie war es nicht gewöhnt, dass man sie so unverhohlen anstarrte, und schlug die Augen nieder.
Käthe lief, als wäre der Teufel hinter ihr her. Der weite Rock des Kleides umwehte sie. Sie lief und weinte dabei. Blicke streiften sie, bedauernde, fragende und herablassende. Sie ignorierte sie alle, verfolgte zielstrebig ihren Weg zu Anitas Wohnung.
Die Freundin wartete schon ungeduldig im Türrahmen, als sie endlich schwer atmend bei ihr auftauchte.
»Was ist passiert?« Ihre Stimme klang alarmiert, sie sah Käthes verweinte Augen.
»Sie haben mich … genommen. Ich …«
»Ich hab’s gewusst! Ich hab’s gewusst!«, rief Anita erfreut und tänzelte auf dem Flur herum wie ein kleines Kind. Sie umarmten sich, tanzten im Kreis und weinten beide vor Freude.
»Die Welt steht dir offen, Käthe!« Anita wischte sich die Tränen von der Wange. »Berlin, München und vielleicht sogar Amerika.«
»Erst einmal Wien«, wehrte Käthe lachend ab.
Anita zog sie in die Wohnung. »Alois ist da. Er hat zwei Flaschen unseres besten Weines mitgenommen. Mit dem stoßen wir jetzt auf deinen Erfolg an.«
»Hast du etwa …«
»Natürlich hab ich ihm von dem Vorsprechen erzählt. Und ich hab übrigens keine Sekunde lang an deinem Erfolg gezweifelt.«
»Hallo Käthe!« Lächelnd kam er auf sie zu und küsste sie auf beide Wangen. »So wie ihr beiden euch aufführt, kann das nur heißen, dass sie dich genommen haben. Gratuliere.«
»Danke, Alois.«
Anitas Bruder war gut aussehend, er war eineinhalb Köpfe größer als seine Schwester, und seine grünen Augen standen im Kontrast zu seinem tiefschwarzen Haar.
»Ich hab Grünen Veltliner mitgenommen«, sagte er. »Den magst du doch auch?«
»Aber ja, natürlich! Ich will mich nur schnell umziehen.« Während sie sich im winzigen Schlafzimmer ihrer Freundin umzog, hörte sie, wie Alois die Flasche entkorkte und Wein in die Gläser goss.
»Ich hab leider nicht viel Zeit«, sagte Käthe, als sie zurück in die Wohnküche kam. »Meine Eltern warten sicher auf mich. Die haben wahrscheinlich schon längst bemerkt, dass ich nicht mit Kopfschmerzen im Bett liege.«
Anita zuckte mit den Achseln, reichte Käthe ein Glas und stieß ihres dagegen. »Na und! Dafür hast du doch wunderbare Neuigkeiten. Da verzeihen sie dir deine kleine Lüge sicher.«
Käthe machte ein schiefes Gesicht. »Glaub ich nicht. Du kennst die Einstellung meiner Eltern Theaterleuten gegenüber. Meine Mutter denkt, die kämen direkt aus der Hölle.«
Sie lachten, weil sie alle Alma Schlögels Gepflogenheit kannten, sogleich ein Kreuz zu schlagen, wenn jemand aus der Truppe ihr Geschäft verließ. Insgeheim war es natürlich eine Angewohnheit, die Käthe zutiefst ärgerte und sie jedes Mal zu der Bemerkung veranlasste: »Aber ihr Geld nimmst du schon.« Worauf ihre Mutter sie stets mit einem verächtlichen Blick strafte und ihr irgendeine Hausarbeit auftrug.
»Und mein Vater wird wieder behaupten, ich sei eine Träumerin, die ihre Zeit verplempert«, fügte Käthe hinzu und nahm einen Schluck Wein.
Anita zuckte erneut mit den Achseln. »Bist du ja auch. Eine Träumerin, die ihren Traum lebt. Was soll daran schlimm sein?«
»Apropos Hölle«, Alois zwinkerte Anita zu. »Wie lange willst du eigentlich noch in diesem winzigen Loch wohnen bleiben, liebe Schwester?«
»Diese Frage hat dir doch sicher unser Vater aufgetragen.«
Alois grinste.
»Mir gefällt es hier«, sagte Anita. »Und du weißt sehr gut, dass ich nicht wieder nach Grinzing ziehen werde, damit Vater mich Tag und Nacht beaufsichtigen kann.«
Käthe kannte die Debatte zur Genüge. Anitas Vater Otto Weinmann war ein milder und gutherziger Mann, der stolz auf die Arbeit seiner Tochter war und sie unterstützte. Dennoch hätte er sie lieber unter seiner Aufsicht gehabt, um auf ihren guten Ruf zu achten und einen passenden Bräutigam für sie auszuwählen. Am liebsten wäre ihm da ein befreundeter Weinbauer, dessen Weinsortiment sich gut in das der Weinmanns einreihte. Der Eigensinn seiner Tochter kam diesen Plänen jedoch in die Quere. Eine eigene Wohnung in Wien bedeutete Unabhängigkeit. Zudem wusste er, dass Anitas Freund Alfred, ein junger Gendarm, bei ihr übernachtete, wann immer sie beide Lust dazu hatten, und sie sich deshalb keine Vorhaltungen und Moralpredigten anhören mussten.
Als Alois Käthe nachschenken wollte, lehnte sie dankend ab. »Ein anderes Mal gerne. Ich muss jetzt wirklich gehen.«
Sie stand auf und fuhr noch einmal sachte mit den Fingern über das hellblaue Kleid, das sie wieder aufs Sofa zurückgelegt hatte.
»Vergiss nicht, es gehört dir«, sagte Anita. »Du kannst kommen und es anziehen, wann immer du möchtest. Und falls deine Eltern doch anders reagieren, als du denkst, holst du es gleich mit nach Hause.« Sie nahm Käthe noch mal in den Arm und küsste sie zum Abschied auf beide Wangen.
Vor dem Gemüseladen verlangsamte Käthe ihre Schritte und seufzte. Jetzt war es also so weit. Sie musste ihren Eltern so schonend wie möglich beibringen, dass man ihr am Volkstheater eine kleine Rolle angeboten hatte. Ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild. Zum Glück trug sie wieder ihr hochgeschlossenes graues Alltagskleid. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ihre Eltern sie in dem hellblauen knielangen Kleid gesehen hätten.
Käthe stieg die Treppe in die Wohnung empor. Ihre Eltern warteten bereits mit dem Abendessen auf sie.
»Wo warst du?«, fragte Alma Schlögel streng.
Käthe errötete und schlug die Augen nieder. »Im Deutschen Volkstheater. Vorsprechen. Und … sie haben mich genommen«, presste sie heiser hervor. So, jetzt war es ausgesprochen.
Sie setzte sich an den Tisch und versuchte, ihre Aufgeregtheit zu verbergen, doch sie sah, wie zwei Augenpaare sie entgeistert anstarrten, als sei sie nicht ganz bei Trost. Es war ihre Mutter, die ihre Sprache als Erste wiederfand.
»Schuld sind die Erbsen«, sagte sie und legte den Löffel beiseite. »Ich hab immer gesagt, es ist nicht normal, dass ein Kind mit Erbsen spielt«, lamentierte sie.
Käthe rollte mit den Augen. Sie war mit diesem Satz aufgewachsen und konnte ihn nicht mehr hören. Immer dann, wenn sie etwas tat, das ihren Eltern missfiel, mussten die Erbsen herhalten. Kunststück, sie war nun mal in einem Gemüseladen groß geworden!
Manchmal ertappte sich Käthe bei dem Gedanken, ihre Mutter mit einer Erbse zu vergleichen. Alma Schlögel war nicht sehr groß, dafür genauso rund wie die grüne Hülsenfrucht. Sie hatte eine Figur, die im Lauf der Jahre aus dem Ruder gelaufen war. Dennoch sah man ihr an, dass sie einmal sehr hübsch gewesen sein musste. Immer noch konnte man aus ihren Worten den Akzent ihrer Ahnen heraushören, die aus Ungarn kamen.
Alma war 1887 in Budapest geboren und im Kaiserreich Österreich-Ungarn aufgewachsen. 1904 zog die Familie nach Wien, und mit 19 lernte sie den um neun Jahre älteren Gemüsehändler August Schlögel kennen und lieben. Es bedurfte keiner großen Überredungskünste von seiner Seite, und wenige Monate später war sie schwanger. Alma und August heirateten, weil sie das sowieso vorgehabt hatten, und zogen in die Zweizimmerwohnung über dem Geschäft in der Josefstädterstraße. 1907 kam Käthe zur Welt. Sie wuchs zwischen Erdäpfeln, Paradeisern und Erbsenschoten zu einer aparten jungen Frau heran, mit Blick auf den Bühneneingang des Theaters in der Josefstadt.
Von Kindesbeinen an versuchte Käthe, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, und spielte diese auf dem alten Holztisch im Hinterzimmer des Gemüseladens nach. Als Figuren dienten Erbsenschoten. Doch nicht das Spiel mit den Hülsenfrüchten hatte ihr Herz endgültig für die Bühne entflammt, es waren die täglich im Theater aus und ein gehenden Schauspieler. Einmal sah sie sogar den Theaterdirektor Max Reinhardt persönlich. Die Gesichter der Männer und Frauen, ihr Auftreten und ihr Gang faszinierten Käthe. So wollte sie auch werden.
Doch von alldem wollten ihre Eltern nichts wissen.
»Menschen wie wir sind nicht für den Ruhm geboren«, behauptete ihre Mutter und bekreuzigte sich wieder einmal. Das tat sie immer, wenn sie Unheil von sich und der Familie abhalten wollte. Alma Schlögel nannte das Schauspielervolk verkommen, sie las die Artikel in der Zeitung, bevor sie Petersilie oder Karotten darin einwickelte. Und daher glaubte sie auch zu wissen, was sich hinter den prachtvollen Kulissen der Theater abspielte. »Sodom und Gomorra«, wetterte sie, obwohl einige der Schauspieler regelmäßige Kunden bei ihnen waren. Doch seit dem Theaterskandal im Februar 1921, zu dem Arthur Schnitzlers Der Reigen führte, fühlte sie sich in ihrem Verdacht bestätigt. Die zehn erotischen Dialoge über die Mechanik des Beischlafs ließen aufgebrachte Demonstranten das Volkstheater stürmen und Zuschauer Stinkbomben werfen. Die Erinnerung an dieses Ereignis kramte sie bei jeder Gelegenheit hervor, um ihrer Tochter den schlechten Charakter dieser Leute zu demonstrieren.
Käthe wandte sich an ihren Vater: »Und, freust du dich wenigstens für mich?«
»Du willst wirklich Schauspielerin werden?«, fragte August Schlögel, als höre er davon zum ersten Mal. »Das geht nicht.«
»Warum soll das nicht gehen?«, fragte Käthe.
»Weil das kein Beruf für dich ist.«
»Und was ist ein Beruf für mich?«, fragte sie zornig. Sie kannte diese Diskussionen zur Genüge. Ihr Vater vertrat die althergebrachte Meinung, dass Frauen keinen Beruf brauchten, sondern Kinder gebären und für Ordnung im Haus sorgen sollten. Käthe las für ihr Leben gerne, was er stets mit Argwohn beobachtet hatte. Wann immer er sie mit einem Buch erwischte, trug er ihr eine »ordentliche« Arbeit auf. Bücher zu kaufen und zu lesen war für ihn vertane Arbeitszeit, und dafür wollte er sein schwer verdientes Geld nicht verschwendet wissen.
Dass seine Frau den ganzen Tag mit im Geschäft stand und somit auch einem Beruf nachging, ließ er als Argument nicht gelten. »Hör auf zu träumen«, herrschte er sie an, wann immer Käthe diese Beweisführung einbrachte.
»Was tust du uns an, Kind?«, lamentierte ihre Mutter, stand auf, um den Tisch abzuräumen und den Abwasch zu machen. Käthe hatte noch nicht mal was gegessen.
Ihr Vater saß nur schweigend da, rot vor Zorn im Gesicht.
Am 15. Juli brannte der Justizpalast in Wien, und an diesem Morgen gab es kaum ein anderes Thema im Gemüseladen.
»Jetzt bekommen die da oben endlich einmal, was ihnen gebührt«, wetterte eine Stammkundin. Dabei reckte sie ihren Zeigefinger wie eine dünne Karotte in die Luft.
»Das Schattendorfer Urteil ist aber auch eine Ungeheuerlichkeit«, stimmte eine Frau in den Tenor ein.
Ein Geschworenengericht hatte Mitglieder der Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs überraschend freigesprochen. Diese hatten bei einem Zusammenstoß mit Sozialdemokraten im Burgenland einen kroatischen Hilfsarbeiter und ein sechsjähriges Kind erschossen. Unzählige Menschen hatten gegen das Urteil demonstriert, das Justizgebäude ging in Folge in Flammen auf. Am Ende des Tages gab es neunundachtzig tote Demonstranten, fünf tote Polizisten und mehrere Hundert Verletzte zu beklagen.
»Das ist kein gutes Zeichen für die Zukunft«, sagte August Schlögel. »Es werden noch dunkle Zeiten auf uns alle zukommen.«
Doch Käthe, die an diesem Tag im Laden aushalf und Zeugin der Gespräche wurde, interessierte die Politik nicht. Sie schwebte im siebten Himmel. Die ersten Proben waren gut gelaufen. Die Rolle lag ihr, als wäre sie extra für sie geschrieben worden. Johann Nestroys Posse Das Haus der Temperamente stand auf dem Spielplan, und sie spielte Isabella, das Stubenmädchen. Dass Else Novak mit der Marie eine größere Rolle bekommen hatte, kümmerte sie nicht. Sie war seit ihrer ersten Begegnung davon überzeugt, dass Else ob ihrer aparten Erscheinung die bessere Schauspielerin werden würde. Zudem fühlte Käthe, dass noch viele Rollen auf sie warteten. Sie stand doch erst am Beginn ihrer Karriere und wollte sich deswegen nicht den Kopf schwer machen. Sie empfand große Freude darin, täglich im Theater ihr hellblaues Kleid anzuziehen, das war vorerst Belohnung genug, denn viel Geld gab es nicht für eine Anfängerin.
Seit einigen Wochen nahm Käthe privaten Schauspielunterricht, den ihr Vater zähneknirschend bezahlte. Obwohl er ganz und gar dagegen war, wie er nicht müde wurde zu betonen. Die Investition lohnte sich jedoch. Schon nach wenigen Vorstellungen flogen Käthe die Herzen des Publikums und der Kritiker gleichermaßen zu. Die Beliebtheit brachte dem Gemüseladen sogar neue Kundschaft, aber auch das ignorierte August Schlögel geflissentlich. »Die wären auch so gekommen«, brummte er. »Wir haben schließlich die beste Ware im Bezirk.«
Doch die Gleichgültigkeit ihrer Eltern konnte Käthe im Moment nichts anhaben. Jeden Morgen schnappte sie sich die Journalien, die der Zeitungsjunge vorbeibrachte, noch bevor ihr Vater mit seiner Morgenlektüre beginnen konnte. Sie durchforstete die Kritiken, und dann war es so weit. Die Tageszeitung Neues Wiener Journal hatte sie erwähnt. »Eine bemerkenswerte Probe ihres Könnens legte die junge Käthe Schlögel ab«, las sie sich selbst laut vor. »Das bodenständige Spiel dieses bodenständigen Talents wird man sich merken müssen.«
Ihre Hände zitterten, ihr Herz pochte wild. Sie wischte sich Freudentränen vom Gesicht. »Ich hab es geschafft«, jubelte sie innerlich. Ihr Name stand in der Zeitung, auf derselben Seite wie die ganz Großen ihrer Zunft. Was für ein großes Geschenk. Sie wurde gelobt, wenngleich auch nur in diesen beiden Nebensätzen. Das war bedeutungslos.
In den nächsten Monaten verbrachte Käthe viel Zeit mit Else. Ihre neue Freundin führte sie nach und nach in eine ihr bis dahin völlig fremde Welt ein. Das Café Museum in der Operngasse war so eine Welt. Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee und verführerischen Mehlspeisen, dazu beißender Zigarrenrauch. Der Gastraum war auch heute gut besucht. Bei ihrem ersten Besuch war Käthe damit beschäftigt zu realisieren, im selben Raum zu sitzen, in dem auch Joseph Roth, Leo Perutz oder Robert Musil bereits Kaffee getrunken hatten. Inzwischen war sie einige Male da gewesen, und die Aufregung hatte sich gelegt.
»Die Kritiker loben zwar deine Natürlichkeit«, sagte Else mit einem etwas spitzen Unterton, während sie dem Kellner bedeutete, noch eine Melange zu wollen, »aber trotzdem musst du nicht das brave, langweilige Mädel aus der Vorstadt bleiben. Du solltest dich endlich auch optisch anpassen.«
Käthe glaubte, in ihren Worten einen Anflug von Feindseligkeit zu hören. Möglicherweise weil Else bisher noch kein einziges Mal in den Gazetten erwähnt wurde und sie doch viel hübscher und moderner war als sie. Käthe schimpfte sich stumm eine Närrin. Ihrer Freundschaft konnte das nichts anhaben. Bereitwillig ließ sie sich kurzerhand direkt vom Café zu Elses Friseurin schleifen. Dort verabschiedete sie sich von ihren langen blonden Zöpfen, und ihr neuer Kurzhaarschnitt wurde zeitgemäß mit einem Seitenscheitel versehen. »Das betont dein schmales Gesicht und deine ausgeprägten Wangenknochen«, sagte die Friseurin. Als Draufgabe mattierte sie Käthes Gesicht mit einem elfenbeinfarbenen Puder.
»Jetzt siehst du endlich wie eine erwachsene Frau aus«, sagte Else, als sie das Endergebnis wohlwollend begutachtete.
Käthes Eltern hingegen drückten ihre Missbilligung lautstark und unverhohlen aus, als sie ihnen am Abend gegenübertrat. Ihr Vater bekam einen Tobsuchtsanfall, und ihre Mutter schlug entsetzt die Hände vor den Mund.
»Du siehst aus wie eine dieser …« Alma ließ das unausgesprochene Wort im Raum stehen, doch sie alle wussten, welche Art Frauen gemeint waren. Sie zwang Käthe, sich zumindest die Farbe von ihrem Gesicht zu waschen. Gegen die Frisur konnte sie jedoch wenig ausrichten: Die Zöpfe waren ab.
Obwohl Käthe selbstbewusst zu ihrer äußerlichen Veränderung stand, sie sogar durchaus gelungen und bezaubernd fand, beugte sie sich dem Willen ihrer Eltern. Sie legte zu Hause keinen Gesichtspuder mehr auf, und Lippenstift trug sie ausschließlich auf der Bühne. Dass sie sich im Theater schminkte, verschwieg sie ihren Eltern jedoch. Und da die beiden nie zu einer Aufführung kamen, blieb es auch lange Zeit ihr Geheimnis.
Woran sich Käthe jedoch ungeachtet aller modernen Ansprüche nicht gewöhnen konnte, war Elses Privatleben. Extrem lebhaft war es, und auch kompliziert. Sie hatte zur gleichen Zeit mehrere intime Freunde, und keiner wusste von der Existenz des anderen. Ein perfekt durchdachter Wochenplan half, Begegnungen zu vermeiden. Käthe hatte Mühe, ihre Namen auseinanderzuhalten, Else nannte sie alle Schatz.
Käthe selbst war, so schien es, immun gegenüber den Avancen ihrer männlichen Kollegen. Sie quotierte sämtliche Annäherungsversuche mit verächtlichen Blicken. Derweil sie sich insgeheim einen Verehrer wünschte, erschienen ihr die bisherigen Kontaktaufnahmen des männlichen Geschlechts zu derb. Sie mochte nicht, wenn ihr einer im Vorbeigehen einen Klaps auf den Po gab. Die anderen Mädchen mochten dies lustig finden, sie fand es entwürdigend.
»Du bist viel zu prüde«, zog Else sie in solchen Momenten auf. »Wenn du so weitermachst, wirst noch als alte Jungfer sterben.« Und dann beschrieb sie wieder einmal, mit welcher Lust die Männer sie nahmen und wie sie versuchten, auch ihre Lust zu befriedigen. Käthe tat, als wolle sie nichts davon hören und hielt sich die Ohren zu, wenn Else allzu detailliert ihre Bettgeschichten erzählte. In Wahrheit sog sie die Geschichten auf und erinnerte sich gerne an die Erzählungen, wenn sie nachts allein in ihrem Bett in der elterlichen Wohnung lag.
»Die Erotik gehört zum Theater wie das Theater zur Erotik«, erklärte Else, wenn Käthe sie darum bat, den Mann vorher aus der Wohnung zu schicken, bevor sie kam. Käthe konnte es nicht leiden, fremden Kerlen in Hose und Unterhemd gegenüberzutreten. Im schlimmsten Fall trugen sie nicht einmal das. Einmal begegnete Käthe einem Schauspielkollegen, dem sie abends in einem sehr ernsthaften Stück ins Antlitz blicken musste. Sobald er auf der Bühne nach ihrer Hand gegriffen hatte, war ihr eingefallen, dass diese Finger wenige Stunden zuvor Elses nackten Körper liebkost hatten.
Die meisten Verehrer waren allerdings reiche, selbst ernannte Kunstförderer. Den Männern schien es nichts auszumachen, dass Käthe sie in dieser Situation sah, denn sie lachten, wenn sie ihre Verlegenheit bemerkten.
Als sie sich wieder mal darüber beschwerte, erzählte ihr Else die Geschichte der Fiakermilli. Die Volkssängerin und Kurtisane aus der Vorstadt hatte ein bewegtes Leben geführt, nicht nur, was die Männer anbelangte. Sie trat in Männerkleidung auf, kurzen Hosen und Stiefeln, und dafür brauchte sie im vorigen Jahrhundert noch eine polizeiliche Genehmigung.
»Die Frau hat zu leben gewusst und harmlose Tanzveranstaltungen zu Orgien umfunktioniert«, sagte Else. »Oder glaubst du, Victor Léon hätte ihr sonst ein literarisches Denkmal gesetzt?«
»Aha, das ist es also«, konterte Käthe. »Du willst ein literarisches Denkmal.«
»Sei nicht so unzugänglich.« Else wusste genau, dass Käthe verstand, worauf sie hinauswollte. Doch sie feierte keine Orgien und trat auch nicht in zwielichtigen Schuppen in der Vorstadt auf. Dennoch bekam Else großzügige Geschenke von ihren Verehrern: Pelze, Perlen und Reisen.
Auch eine Art Bezahlung.
Ein eiskalter Wind blies durch die Gassen der Stadt. Käthe zog ihren Wollschal fest um ihre Schultern. Als sie vor Elses Wohnungstür ankam, hoffte sie, ihre Freundin ausnahmsweise einmal alleine anzutreffen. Sie wollte mit Else in Ruhe etwas Wichtiges besprechen. Käthe wünschte sich, in der nächsten Saison eine größere Rolle angeboten zu bekommen, und das musste sie Hans Bleck klarmachen. Else schien einen guten Draht zu dem Regisseur zu haben und konnte ihr vielleicht wertvolle Tipps geben, wie sie das Gespräch mit ihm am besten anlegen sollte.
Als Else die Wohnungstür öffnete, trug sie noch immer ihren Schlafrock.
»Es ist elf Uhr.« Käthe trat ein und legte Mantel und Mütze ab. Es war warm, Kohlen heizten die Wohnung.
»Na, und? Ist doch egal, oder müssen wir ins Theater?«
Käthe schüttelte den Kopf.
»Na siehst du. Nimm dir Tee, wenn du möchtest.«
Sie goss sich eine Tasse ein und bemerkte zwei leere Champagnerflaschen am Küchenboden.
Ihre Freundin nahm eine Zigarette aus der silbernen Dose, zündete sie an und blies den Rauch in ihre Richtung.
»Und, hast du gut geschlafen?«, fragte Käthe so leichthin wie möglich. Ein eisiger Sturm war lautstark über Wien hinweggezogen und hatte ihr den Schlaf geraubt.
»Ja, sehr gut sogar.« Else zwinkerte ihr zu.
In dem Augenblick öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer, und Hans Bleck erschien. Als er Käthe sah, strich er provokant mit der Hand über seine Brust und grinste. Der Mann war gut gebaut, und das trug er stolz zur Schau. Der Gürtel baumelte offen am Bund seiner hellgrauen Bundfaltenhose. Das Weiß seines Feinrippunterhemdes betonte seinen cognacbraunen Körper.
Käthe warf Else einen erschrockenen Blick zu.
»Hast du noch nie einen Mann im Unterhemd gesehen? Bist du Jungfrau, oder was?« Bleck lachte, als wäre es etwas Unanständiges, sich nicht sofort jedem Mann hinzugeben.
Sosehr sich Käthe in beruflicher Hinsicht gegen die Fesseln ihres Elternhauses wehrte, so sehr hing sie an den moralisch konservativen Werten ihrer Eltern. Sie wollte erst mit einem Mann schlafen, wenn sie sich sicher war, dass es nicht nur bei einer Nacht bleiben würde.
Käthe wusste nicht, was sie mehr schockierte. Dass Else mit einem verheirateten Mann und zweifachen Familienvater ins Bett stieg, dessen jüngster Spross Franz gerade einmal ein Jahr alt war, oder mit welcher Offenheit Bleck die Affäre auslebte. Konnte er nicht wenigstens vorgeben, als wäre ihm die Situation peinlich?
In dem Moment begriff sie, weshalb Else die besser bezahlten Rollen zugesprochen bekam.
»Komm heute vor der Vorstellung in meinem Büro vorbei«, sagte er da zu ihr.
Käthe hielt den Atem an.
Bleck lachte schallend, dann endlich streifte er sein Hemd über. »Nein, nicht was du glaubst. Obwohl … was denkst du, Else? Soll ich deiner Freundin einmal zeigen, was ein richtiger Mann ist?«
Else lachte. »Lass sie in Ruhe, Hans!«
Bleck war inzwischen angezogen. »Sagt dir der Name Jakob Rosenbaum etwas?«, fragte er.
Käthe hatte den Autor vor zwei Monaten zufällig kennengelernt. Er war hinter die Bühne gekommen, um seinem Freund Walter Janisch zu dessen Schauspiel zu gratulieren. Sie erinnerte sich an einen gut aussehenden, groß gewachsenen Mann im dunkelblauen eleganten Anzug. Er erschien ihr schüchtern, denn er hatte ihr kaum in die Augen gesehen, als sie einander vorgestellt wurden. Später erfuhr sie, dass Jakob Rosenbaum auf der Bühne kleinerer Theater stand, bevor er begann, selbst Stücke zu verfassen. Man hatte ihn jedenfalls nicht in die Rolle des draufgängerischen Liebhabers zwingen können, er hatte vielmehr den bedachten Buchhalter oder einen etwas tollpatschigen Kellner oder Hausdiener gespielt.
»Völlig talentfrei und dementsprechend erfolglos«, hatte Walter lachend das Schauspiel seines Freundes kommentiert. »Aber schreiben kann er verdammt gut.«
Jakob Rosenbaum hatte danebengestanden und peinlich berührt gelächelt. Sein sympathisches Lächeln war Käthe ebenfalls in Erinnerung geblieben.
»Er ist ein junger Autor«, fuhr Bleck fort, weil Käthe nicht reagierte und er daraus schloss, dass sie den Namen noch nie gehört hatte. »Ein Jude«, betonte er des Weiteren, als ob es wichtig wäre. »Er schreibt ganz passable Stücke, ist ein verdammt guter Beobachter, der Zeitströme in seine Dramatik aufnimmt. Das ist klug. Es wird noch dauern, bis man seinen Namen in einem Satz mit Stefan Zweig oder Hofmannsthal erwähnt.« Bleck hielt kurz inne, dann zog er sich das Jackett an. »Vielleicht wird das aber auch nie passieren. Wer weiß, was die Zukunft bringt.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie auch immer. Mir gefällt sein Stil. Jedenfalls kam er gestern Nachmittag in mein Büro. Sein neues Stück soll am Deutschen Theater in Prag uraufgeführt werden. Er inszeniert es selbst.« Bleck schüttelte den Kopf.
Käthe gelang es nicht zu entschlüsseln, ob er dies aus Bewunderung oder Missbilligung tat.
»Und jetzt zu dir, meine Liebe«, fuhr Bleck fort. »Er hat dich spielen sehen und meint, die Rolle der Marianne würde zu dir passen.« Er drehte sich zu Else und kniff sie in den Po. Sie schrie gekünstelt auf und brach dann in ein glucksendes Lachen aus.
»Ich weiß zwar nicht, warum er ausgerechnet dich auf der Bühne bemerkt hat, wo Else doch auch da war …« Er machte eine Pause, als müsse er darüber nachdenken. »Ich frag mich jedenfalls, warum er unbedingt dich haben will, weil …«
»Welche Marianne?«, unterbrach ihn Käthe und stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab. Sie ärgerte sich über sein Geschwätz, denn sie wusste, dass Else sehr viel hübscher war als sie selbst. Womöglich kam es Rosenbaum nicht nur auf die äußeren Merkmale an. Manchmal reichte Schönheit alleine eben nicht aus …
Käthe spürte Blecks Blick über sich wandern. Er lachte kurz auf, wurde dann abermals ernst.
»Begreifst du es nicht?« Seine Stimme hatte einen leicht aggressiven Ton. »Er bietet dir eine Rolle in seinem neuen Stück an. Es heißt Marianne.«
»Und warum kommt er damit nicht zu mir?«, fragte Käthe schroffer als gewollt, senkte dann sofort wieder ihren Blick.
»Hättest du Lust für ein paar Monate nach Prag zu gehen?«, ignorierte er die Frage. »Wie du weißt, läuft dein Vertrag im Volkstheater in vier Monaten aus. Danach hieße es, sofort deine Sachen zu packen, denn Premiere ist schon im übernächsten Mai.«
Prag. Sie sollte ans Theater nach Prag gehen? Die Nachricht kam so überraschend, dass Käthe im ersten Moment nicht wusste, was sie sagen sollte. Ihr Herz klopfte aufgeregt, am liebsten hätte sie vor Freude laut aufgeschrien. Auf der anderen Seite wunderte sie sich darüber, wie leicht Bleck sie ziehen ließ. War sie doch nicht so gut, wie manche Kritiker meinten? Wollte er sie bei seiner nächsten Inszenierung möglicherweise sowieso nicht mehr im Ensemble haben? Ihre Gedanken fuhren Karussell. Selbstzweifel und Versagensängste gaben sich die Hand. Sie versuchte ruhig zu bleiben und setzte sich. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie fast die Tasse umschmiss.
Als Hans Bleck gegangen war, gab Käthe ihrer Empörung bezüglich des Verhältnisses zwischen Else und ihm Ausdruck.
»Warum machst denn so einen Aufstand deswegen?« Ihre Freundin gab sich unbeeindruckt.
»Also weißt, Else. Ein verheirateter Mann! Muss das sein? Noch dazu ist er unser Regisseur.«
Else hob eine der beiden Champagnerflaschen vom Boden auf und wedelte damit vor Käthes Gesicht hin und her. »Wirst auch noch draufkommen, dass vieles im Leben leichterfällt, wennst den richtigen Mann an dich ranlässt. Wennst was zu bieten hast.« Sie sah Käthe ernst an. »So haben Frauen früher Politik gemacht. Das ganze verfluchte Talent nützt dir nichts, gar nichts, wenn der Regisseur dir nicht an die Wäsche will.«
Vera wanderte vor ihrem Schreibtisch auf und ab, behielt dabei den Desktop ihres PCs im Blick. Der Ordner beinhaltete das Drehbuch für die Spielfilmdokumentation über ihre Eltern. Roland Bleck als möglichen Produzenten einzusetzen, lag ihr schwer im Magen. In Ermangelung anderer Produzenten kam sie nicht umhin, diese Option ihrer Mutter beizubringen. Sie brauchte das Projekt, nicht nur aus finanziellen Gründen. Ihre Karriere als Schauspielerin ging seit Jahren kontinuierlich bergab.
Im Moment erstellte Vera eine Liste jener Personen, die sie interviewen wollte. Neben ihrer Mutter und Max Horvat standen die Gesellschaftsreporterin Karin Böhler sowie die einstige Filmkritikerin Maria Ludwig zur Diskussion. Zeitgleich überlegte sie, welche Fragen sie selbst über ihre Eltern beantworten wollte. Da Vera keine Geschwister hatte, oblag es ihr, vor der Kamera aus ihrer Kindheit zu erzählen. Über ihre Mutter, die Ehrgeizige, und über ihren Vater, den Lebemann. Fritz Altmanns Leben hatte nicht nur aus Arbeit bestanden, zeitlebens hatte er vieles leichter als ihre Mutter genommen. Obwohl er kein einzigartiger Schauspieler war, flogen ihm die Herzen der Frauen zu. Er hatte Ausstrahlung und war charmant. Mit Sicherheit wollten die Menschen, die sich diese Dokumentation ansahen, einen Blick hinter die Kulissen der berühmten Schauspielerfamilie werfen. In den Sechzigerjahren befand sich das Kino in der Krise, doch davon spürten die beiden nicht viel. Sie waren gut gebucht zu dieser Zeit.