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Die Familie Feuchtwanger vollzog im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen spektakulären Aufstieg von der Fürther Provinz ins Großbürgertum der Residenzstadt München. Ein Aufstieg, der undenkbar gewesen wäre ohne vier Generationen starker Frauen, die die Familiengeschicke durch die historischen Wirren lenkten, als knallharte Geschäftsfrauen, zum Teil auch als echte Pionierinnen. Heike Specht erzählt die Geschichte der Feuchtwangers aus der weiblichen Perspektive und berichtet von außergewöhnlichen Lebensentwürfen aus fast 200 Jahren. Denn hinter großen Familien stecken oft mächtige Frauen.
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Felice Schrangenheim (re):
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https://www.jmberlin.de/archiv inv. no. 2006/37/280 © Porträt Felice Schragenheim im Badeanzug am Strand, Berlin 1935 - 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2006/37/279, Schenkung von Elisabeth Wust
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Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte:
Cover & Impressum
Vorwort
Teil I
Matriarchinnen
Im Sommer 1943
Was uns das Patriarchat verschweigt
Im fränkischen Jerusalem
Hanna und ihre Kinder
Eine gute Partie
Die treibende Kraft
Doppelbelastung
Bavaria lässt grüßen
Himmel und Erde im Gleichgewicht
Die wagemutige Frau
Unterm Hochzeitsbaldachin
Im Sommer 1943
Teil II
Hausherrinnen
Im Herbst 1943
Eine Frage der Praxis
Drei Kaiser und ein Prinzregent
Ein Haus führen
Bayerisch-barocke Orthodoxie
Kinderlosigkeit und andere Krisen
Ein Haus in Jerusalem
Im Herbst 1943
Schofar-Töne aus den Wolken
Im Herbst 1943
Teil III
Pionierinnen
Zu Jahresbeginn 1944
Die Welt neu beginnen
Gipserne Antike
Männerschreck
Garten Eden
Standortbestimmung
Der erste Schritt des Zweifels
Ein volles Frauenleben
Im Sommer 1944
Teil IV
Heldinnen
Im Sommer 1944
Weltbeben
Überbetonung des Männlichen
Sieg des Lebens über den Tod
Schüsse vor der Feldherrnhalle
Die Sache der Frau
Der letzte Seder
»Weil uns die Brücke fehlt – der Weg nach Haus«
Sternschnuppenregen
Ende August 1944
Grüne Auen, finsteres Tal
Dank
Auswahlbibliografie
Bildteil
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
In den ersten Tagen des Oktobers 2023 war es in Zürich noch ungewöhnlich warm. Der Sommer, so schien es, ging noch mal in die Verlängerung. Ich saß gerade am letzten Teil des Schlusskapitels dieses Buches. Der Teil, der der härteste ist. Der Teil, vor dem ich mich seit Monaten ein wenig gefürchtet hatte. Fast zweihundert Jahre, die ich diese Familie durch die Geschichte begleite, geht es bei den Feuchtwangers fast nur aufwärts: durch die Zeit, in der die Herrscher Europas nach der napoleonischen Unruhe mit harter Hand wieder Ordnung zu machen suchten; die Regentschaft Ludwigs I. von Bayern, der München in ein Isar-Athen verwandeln wollte; die Epoche der Industrialisierung, in der München zur Großstadt wurde, mochte der exzentrische König Ludwig II. auch noch so viele putzige Märchenschlösser bauen; das leuchtende München der Prinzregenten-Zeit; hinein in den Ersten Weltkrieg und sogar durch die anschließende turbulente Phase der Revolution und Räterepubliken bis in die Zwanzigerjahre, die in München nicht ganz so golden waren wie anderswo. Sicher, es gab Rückschläge, Beinahe-Pleiten, unglückliche Ehen, persönliche Tragödien, aber alles in allem lief es für die jeweils folgende Generation der Familie Feuchtwanger im behaglichen München immer noch ein wenig besser als für die vorhergehende, lebten die Kinder komfortabler und sicherer, glaubten an eine noch hoffnungsvollere Zukunft als die ihrer Eltern und Großeltern. Doch dann reißt der Film. Das Licht flackert noch ein wenig, dann wird die Leinwand schwarz. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts endet die lange Geschichte der Familie in Deutschland, wie die so vieler deutsch-jüdischer Familien. Auf brutale Weise werden sie herausgerissen aus dem Land, das ihren Vorfahrinnen und Vorfahren über Jahrhunderte Heimat gewesen war.
Während sich die Blätter in unserem Garten also nicht dazu durchringen konnten, sich zu färben, die Vögel zwitscherten, als würde das Frühjahr von vorn beginnen, und der See mit milden Temperaturen noch immer jeden Nachmittag die Kinder lockte, saß ich am Schreibtisch an diesem letzten Kapitel der Familiengeschichte und musste vom Weg der verschiedenen Zweige der Familie in die Emigration berichten. Nach England, in die USA, vor allem aber ins britische Mandatsgebiet in Palästina. Am schwierigsten war natürlich die Schilderung der Schicksale jener, für die es keine Rettung gegeben hat, die es nicht mehr geschafft haben, rechtzeitig aus Europa herauszukommen.
Und mitten hinein in dieses letzte Kapitel und in mein Schreiben dieser Seiten explodierte am 7. Oktober eine Nachricht, die die Welt schockierte, eine Tat, die Israel in seinen Grundfesten erschütterte. Das Massaker der Hamas, dessen grauenvolle Details in den folgenden Tagen und Wochen nach und nach in ihrer ganzen Dimension bekannt wurden, erinnerte an schlimmste Mordaktionen und Pogrome, mit denen sich Historikerinnen und Historiker der jüdischen Geschichte leider immer auch auseinandersetzen müssen. Meist aber bleibt uns zumindest der Sicherheitsabstand der historischen Perspektive, der vielen Jahrzehnte oder Jahrhunderte, die seither vergangen sind. Dieser Sicherheitsabstand war nun fort. Die Bilder vom Vergewaltigen, Verstümmeln, Verschleppen und Morden der Hamas am Supernova-Musikfestival und in verschiedenen Kibbuzim im Süden Israels waren entsetzlich gegenwärtig. Während ich darüber schrieb, wie eine junge Frau der Familie Feuchtwanger bei ihrer Verhaftung verzweifelt versuchte, sich vor der Gestapo zu verstecken, verbargen sich Männer, Frauen und Kinder – meine Zeitgenossinnen und -genossen – in den Kibbuzim Beeri, Kfar Aza, Nahal Oz und vielen anderen Orten im Negev in Schränken und Kellern vor den Hamas-Terroristen. Vergangenheit und Gegenwart schnurrten zusammen, spiegelten sich auf verstörende und herzzerreißende Weise.
Viele Feuchtwangers brachten sich in den Dreißigerjahren in Palästina in Sicherheit. Sie bauten den 1948 gegründeten Staat Israel mit auf, einen Staat, der Geflüchteten ein Zuhause geben sollte, den Überlebenden der Pogrome Osteuropas, den vor der nationalsozialistischen Verfolgung Geflohenen, den Überlebenden aus den Lagern und später auch den Vertriebenen und Flüchtenden aus den arabischen Ländern und dem Iran.
Für meine Doktorarbeit über die Feuchtwangers[1], deren Recherche zum Teil auch Grundlage für das vorliegende Buch ist, war ich zu Beginn der 2000er-Jahre oft in Israel und besuchte Nachkommen der Familie. Ich saß mit gastfreundlichen Frauen und Männern bei Tee oder Kaffee in sonnendurchfluteten Appartements strahlend weißer Gebäude im Bauhaus-Stil in Tel Aviv, in gepflegten Häusern mit gerahmten Fotos auf Biedermeier-Kommoden in Rechavia, in mit Büchern und Folianten gefüllten Wohnungen in frommen Vierteln Jerusalems und war dankbar, dass diese Menschen ihre Erinnerungen mit mir teilten. Ihre Resilienz war atemberaubend und hinterließ einen tiefen Eindruck bei mir. Ich las Erinnerungen und Briefe, in denen der Schmerz über den Verlust der Heimat spürbar war, aber auch die Hoffnung, die sich mit dem Neuanfang in Israel verband. Diesen vermeintlich sicheren Hafen, der ja durchaus auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder heftigen Angriffen ausgesetzt war, nun auf diese unfassbar barbarische Art herausgefordert zu sehen, macht mein Herz schwer.
Durch dieses Buch über die Frauen der Familie Feuchtwanger führen drei weibliche Stimmen, die aus der Perspektive der frühen 1940er-Jahre Momentaufnahmen gewähren und so die chronologische Erzählung von fast zwei Jahrhunderten Familiengeschichte immer wieder durchbrechen. Marta Feuchtwanger in Los Angeles, Rahel Straus in Jerusalem und Felice Schragenheim in Berlin stehen im Sturm der Ereignisse. Das riesige Loch, das Verfolgung und Shoah reißen werden, können sie noch gar nicht in vollem Umfang ermessen. Aber jede von ihnen weiß: Etwas ist unwiederbringlich zu Ende gegangen.
Ich denke in diesen Tagen an die vielen Frauen und Männer der Familie Feuchtwanger, die im 20. Jahrhundert die dunkelste Finsternis gesehen und doch immer wieder Mut gefasst haben. Dieses Buch ist ihnen gewidmet.
Zürich, im November 2023
Pacific Palisades
Der Sternenhimmel über ihr ist endlos. Auch bei ihren nächtlichen Spaziergängen in Sanary hat ihr das mit strahlend leuchtenden Sprengseln übersäte tiefe Blau oft den Atem genommen. Hier aber scheint die Nacht noch unbekannter, die Geräusche geheimnisvoll. Die neue Welt. Für Marta ist sie das wirklich – neu. Und für die vielen Europäerinnen und Europäer, die sich hier seit wenigen Monaten, einigen Jahren, mehreren Generationen tummeln, im Grunde auch. Sie alle blicken in den Nachthimmel und müssen sich erst mal verorten.
Im Grunewald hat Marta regelmäßig die Nacht zum Tag gemacht, die Lichter der Großstadt haben die Sterne verschluckt. Und die Enge Münchens war ohnehin nicht vereinbar gewesen mit dem grenzenlosen Firmament. Als ganz junge Frau, auf ihren langen Reisen in die Schweiz, nach Italien, bis nach Nordafrika hat sie einen Vorgeschmack bekommen darauf, wie groß die Welt, wie endlos der Himmel ist. Seitdem sehnt sie sich nach der Weite dieses Sternenzeltes. Andere finden es vielleicht überwältigend, empfinden Angst bei dem Gedanken, selbst so winzig zu sein in diesem gigantisch großen Universum, Marta verschafft die Vorstellung Sicherheit und Freiheit zugleich. Die Ewigkeit des Sternengewölbes ebenso wie die Natur um sie herum, die majestätischen heimatlichen Alpen, die verspielte Buntheit der Mittelmeerküste oder der rauschende Pazifik, an dessen raue Stimme sie sich noch gewöhnen muss – all das umgibt und umfängt sie, war lange vor ihr da und wird noch lange nach ihr hier sein. Irgendwie beruhigend.
Lions Atemzüge neben ihr sind gleichmäßig. Er schläft schon seit Stunden. Sie wacht. Über ihn und überhaupt. Er liegt da wie ein Kind, ganz ruhig, den Mund leicht geöffnet. Sie wird schon dafür sorgen, dass auch dieses Haus, das hier im Dunkeln neben ihnen emporragt, zu einem Zuhause wird. So wie sie es mit der Wohnung in der Münchner Georgenstraße, der Villa im Grunewald und den Häusern in Sanary-sur-Mer gemacht hat. Jetzt eben Pacific Palisades. Sie weiß, dass er, wie sie selbst, noch immer skeptisch ist, was diesen riesigen Kasten betrifft. »Wie ein Motel«, flüsterte kürzlich ein entsetzter Besucher. Sie sind nicht die Ersten, denen der Makler diese stark in die Jahre gekommene Bude angeboten hat. Peggy Guggenheim und Thomas Mann haben dankend abgelehnt. Brecht findet sowieso, dass man nur in Santa Monica leben kann. Pacific Palisades! Eine Weltreise nach Hollywood – und das bei der aktuellen Benzinknappheit, schließlich ist Krieg.
So unsicher Lion und sie sind, was das Haus betrifft, das seine beste Zeit seit Langem hinter sich zu haben scheint, so überzeugt sind sie von Kalifornien. Das Klima, das Licht, das Meer, die Freiheit zu leben, wie man will – all das passt ihnen sehr. Und Pacific Palisades scheint für sie der perfekte Ort zu sein. Sie haben gern ihre Ruhe, lieben die Natur, ein Bad im Ozean, Essen unter freiem Himmel. Manchmal auch Schlafen unter freiem Himmel. So wie jetzt. Gut, die Tatsache, dass sie in Schlafsäcken auf der Terrasse ihres neuen Hauses liegen, statt in einem der geräumigen Schlafzimmer, ist dem Umstand geschuldet, dass ihr Domizil noch nicht bewohnbar ist. Die Fenster sind allesamt kaputt, überall liegen Scherben, die Räume sind total verschmutzt. Zusammen mit einem jungen Mann, der tagsüber in einer Munitionsfabrik schuftet, schrubbt Marta Abende lang, befördert Gerümpel und Dreck eimerweise nach draußen. Möbel muss sie erst noch beschaffen. Seit Tagen dreht sie ihre Runden, plündert Antiquitäten- und Secondhandläden, besucht Garage-Sales und erkundet auf diese Weise auch ihre neue Nachbarschaft.
Den Rummel von Hollywood, da ist Marta sich sicher, werden sie nicht vermissen. Außerdem – das zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre – entwickelt sich das Haus der Feuchtwangers stets zu einer Art Magnet. Selbst an entlegensten Orten strömten bislang die Besucherinnen und Besucher zu ihnen. Das wird sich auch hier in Pacific Palisades nicht ändern. Marta weiß sehr wohl, dass sie selbst einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat, dass ihre sämtlichen Häuser diese sogartige Wirkung entfaltet haben.
Lion dreht sich um, der Schlafsack raschelt, irgendetwas huscht durchs Gebüsch, ein Nachtvogel ruft. In letzter Minute ist ihnen die Flucht in die USA geglückt. Die Deutschen waren ihnen dicht auf den Fersen. Aber nun sind sie in Sicherheit und haben – dank Lions internationaler Bestseller – die finanziellen Mittel, sich ein neues Heim zu schaffen. Marta ist sich im Klaren darüber, dass sie bei all den Verlusten, die sie in den letzten Jahren erlitten haben, im Grunde Glückskinder sind.
Jeden Tag erreichen sie Bitten um Geld und Unterstützung. Lions Schwestern Henny und Medi, und Rahel, die Witwe seines Großvetters Eli, allesamt eifrige Zionistinnen, sind seit den frühen Hitler-Tagen in Palästina. Sie kommen recht gut allein zurecht. Aber viele von Lions weiteren Geschwistern, Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen suchen nach einem Rettungsanker. Der gute Ludschi, einst angesehener Verleger in München, hält sich mit seiner Familie im englischen Exil gerade mal so über Wasser. Marta sieht ihn noch vor sich, in seiner schönen, geräumigen Wohnung am Prinzregentenplatz, im gediegenen Dreiteiler, die goldene Uhr in der Westentasche, am Kopf einer hübsch gedeckten Tafel, an der alles versammelt war, was im intellektuellen Weimar Rang und Namen hatte. Carl Schmitt hat er verlegt, und Werner Sombart. Wie eine heiße Kartoffel haben sie ihn fallen lassen, als dieses braune Pack an die Macht kam. Jahrelang hatten sie ihn hofiert, nun wollte man sich die Finger nicht schmutzig machen. Der Verlust der Heimat, auch dieser geistigen, traf Ludschi schwer. Und Bubi – im Ersten Weltkrieg der Held der Familie. Sein Soldatenruhm hat ihm nicht viel gebracht. Fortgejagt hat man ihn. Seitdem hängt er in Südamerika fest, ohne Job, ohne Perspektive, ohne Sprachkenntnisse.
So viele Schriftstellerkollegen, die in ihren armseligen Hotelzimmern in London oder New York sitzen und weder die Kraft noch den Auftrag haben, eine Zeile zu Papier zu bringen. Marta schließt die Augen. Aber wie kann sie Schlaf finden, wo die Welt so erfüllt ist von Lärm und Schmerz, so viele Schicksale mit einem Fragezeichen versehen sind?
Sie öffnet die Augen wieder und blickt in den Nachthimmel, als könnte sie dort oben die Antwort finden, als würden dort alle Fäden zusammenlaufen, zu einem hoffentlich guten Ende für alle. Das ist natürlich ein frommer Wunsch, so viel ist Marta klar. Sie hat in den vergangenen vier Jahren seit Kriegsbeginn mehr gesehen und gehört, als ihr lieb ist. Ein paarmal ist sie nur knapp entkommen. Und doch hat sie das Gefühl, dass Lion und sie von dem verbrecherischen Krieg, den ihr Heimatland, das sie davongejagt hat, vom Zaun gebrochen hat, nur gestreift worden sind, während er andere mit voller Wucht getroffen hat.
Ein Schatten huscht vorbei. Angeblich, so der Gärtner, der vor ein paar Tagen hier war, gibt es in der Gegend Schakale und sogar Berglöwen. Sie lächelt und schnalzt leise mit der Zunge wie ihre Mutter früher, wenn Marta mal wieder eine in ihren Ohren besonders dumme Bemerkung gemacht hatte. Wahrscheinlich war es nur eine Katze oder ein Marder, denkt Marta, blickt aber sicherheitshalber noch einmal um sich.
Hier in Amerika scheint alles größer zu sein. Nicht nur die wilden Tiere, die es hier noch in größerer Zahl gibt als im total zersiedelten Europa. Auch die Häuser und die Autos haben gigantische Ausmaße. Wenn sie sich ihren alten Fiat neben einem dieser Straßenkreuzer vorstellt! Und weil die Autos so groß sind, müssen auch die Highways und Straßen breit sein und die Parkplätze. Was Marta jedes Mal aufs Neue fasziniert, sind die Portionen in den Restaurants. Damit hätte sie damals während der turbulenten und doch spartanischen Jahre der Räterepublik und den schlimmen Zeiten der Inflation in München eine ganze Familie satt bekommen. Alles scheint üppiger, großzügiger, freier als in Europa. Mehr Luft, mehr Licht, mehr Farben. Wenn sie an ihre erste gemeinsame Wohnung in Schwabing denkt. An den kleinen Ofen, das knarzende Parkett, die dunkle, enge Küche mit der chronisch leeren Speisekammer. Und doch war auch dort die Stube immer voll gewesen. »Gehen wir noch zu den Feuchtwangers?«, hieß es nach der Theatervorstellung, und dann hatte Marta irgendeinen Snack aus dem Hut gezaubert, Freunde und Bekannte steuerten bei, was sie konnten, eine Flasche Wein, ein bisschen Schinken, ein paar Eier für Omelette.
Sie hört Lions regelmäßige Atemzüge, und langsam gleitet auch sie hinüber und findet endlich den erholsamen Schlaf, nach dem sie sich so sehr sehnt. Ist es das Alter, denkt sie noch, oder die Erschöpfung?
Berlin
Endlich zeigt sich die Stadt wieder von ihrer besten Seite. Der Juli hatte gestrahlt, Sonne pur. Dann war, kaum hatte der August begonnen, erst mal Flaute gewesen. Felice hatte sogar ihren dicken Pulli rausholen müssen, so ungemütlich war es gewesen. Sie hat immer noch nicht alle ihre Sachen herholen können. Irgendwann muss sie noch mal zu »Mutti« ins Riesengebirge fahren und darauf bestehen, dass sie ihre Kleider und sonstigen Besitztümer – viele sind es ja nicht mehr – herausrückt. Wenn man offiziell nicht existiert, kann man leicht übergangen und übervorteilt werden, das hat Felice inzwischen verstanden, und es drückt ihr auf die Laune. Und der bis vorgestern so verregnete August hat ihre Stimmung nicht gerade besser gemacht. Die Kinder sind sich auf die Nerven gegangen in der eigentlich geräumigen Wohnung, aber raus in die Nässe hatten sie auch nicht gewollt. Nur den Kleinsten, Albrecht, hat Felice überreden können, mit ihr durch die Pfützen zu springen. Dabei haben sie sich beide ordentlich schmutzig gemacht. Egal, das war es wert gewesen. Wenigstens eine kleine Ablenkung.
Seit gestern aber, es geht schon fast auf den Altweibersommer zu, ist die Wärme zurück. Altweibersommer, denkt Felice, woher der Begriff wohl kommt? Blühen alte Weiber da noch mal auf? Ignorieren sie eisern, dass ihre Tage gezählt sind? Felice schaut hinunter auf die Straße. Die Nachbarskinder spielen dort schon seit Stunden Krieg. Einige haben einen Schützengraben gebaut, die anderen rennen kreischend darauf zu. Besenstiele sind ihre Gewehre. Kein Wunder, denkt Felice. Was sollen sie auch anderes spielen, sie erleben ja seit Jahren nur noch Krieg. Meldungen von der Front, Bombenangriffe, Luftschutzbunker – diese Dinge, die den Erwachsenen kaum begreiflich sind, bestimmen ihre kleinen Leben und sind Normalität geworden.
Altweibersommer – irgendwo hat sie mal gelesen, dass der Begriff von den schimmernden Spinnenfäden kommt, die besonders im späten Sommer und frühen Herbst auf den Wiesen zu sehen sind und die an das weiße, dünne Haar alter Frauen erinnern. In irgendeinem Kreuzworträtsel, über das Lilly neulich grübelte, wurde danach gefragt – meteorologisches Phänomen mit fünfzehn Buchstaben. Felices Blick sucht Eberhard und Albrecht und findet sie schließlich auf dem Bordstein in der Sonne sitzend. Sie sehen den größeren Jungs, die noch immer Soldaten spielen, andächtig zu. Es ist heiß heute, eigentlich Badewetter, aber zum Schwimmen können sie wohl erst wieder am Wochenende.
Felice schließt die Augen bei dem Gedanken an das kühle Wasser, das Summen der Insekten, das Zwitschern der Vögel. Altweibersommer – einfach noch mal das Leben genießen, verdrängen, dass der Herbst vor der Tür steht. Danach sehnt sie sich. Nicht ans Morgen denken. Im Jetzt sein und bleiben. Aber streng genommen ist sie ja gar nicht im Jetzt. Zumindest nicht hier in Berlin. Schon vor vielen Monaten ist sie durch Freitod aus dem Leben geschieden. Ausradiert, wie so viele ihrer Schicksalsgenossinnen und -genossen hier in der Stadt und im ganzen Land. Andere haben, als das noch ging, ihre Siebensachen gepackt. Ihre Schwester Irene ist in England, ihre Stiefmutter Käte in Palästina, ebenso wie Tante Henny. Onkel Lion und seine Frau Marta sind bis nach Amerika gelangt. Klar, er ist immerhin ein weltberühmter Schriftsteller.
Ich hab die Chance verpasst, denkt Felice und reißt jäh die Augen auf. Macht sie gerade wieder den gleichen Fehler? Altweibersommer enden immer mit Kälteeinbruch. Soll sie sich nicht doch den Freunden anschließen, statt hier das Letzte aus dem Sommer zu quetschen? Andererseits hört sich ihr Plan auch nicht an wie ein Sonntagsausflug. Die Schweizer sind in den letzten Monaten nicht gerade durch übertriebene Gastfreundschaft aufgefallen. Wenn man sie bei dem Versuch, über die grüne Grenze zu gelangen, schnappt und zurückschickt, steht sie schlechter da als jetzt. Momentan ist sie für die Nazis offiziell tot. Und das ist noch der beste Zustand für eine quicklebendige Jüdin im Berlin dieser Tage.
Es ist seltsam, durch die Straßen zu gehen und eigentlich unsichtbar zu sein. Dabei ist Berlin Felices Stadt, hier ist sie geboren, hier ist sie zur Schule gegangen, hier hat sie ihre Leidenschaft fürs Schwimmen entdeckt, hier hat sie sich zum ersten Mal verliebt. Hübsch herausgeputzt und im Partnerlook mit ihrer älteren Schwester ist sie sonntags mit den Eltern durch den Tiergarten spaziert. »Guten Tag, Herr Doktor, guten Tag, Frau Doktor. Wünsche einen schönen Sonntag.« Der Vater hob den Hut, die Mutter grüßte und nickte lächelnd, wenn eine Patientin oder ein Patient vorüberkam.
Wir haben mal zum Stadtbild gehört, denkt Felice, jetzt hat man uns einfach herausgenommen wie unpassende Püppchen aus dem adretten Puppenhaus, das Irene und sie 1929 zu Weihnachten bekommen haben. Wäre es nach ihrer Mutter gegangen, hätte das enorm große Paket unter einem glänzend geputzten Weihnachtsbaum gestanden, aber dagegen sträubte sich ihr Vater hartnäckig. Quasi die letzte Bastion seiner Jüdischkeit. Dabei sind die Berliner Schragenheims alles andere als fromm, vor allem verglichen mit den Familienzweigen aus München und Fürth, den Feuchtwangers und den Strausens. Die Vorfahren ihres Vaters stammen aus den engen Gassen süddeutscher Städte, und nicht wenige halten mit ihren harten Schädeln ebenso entschlossen an ihrer bayerischen Mundart fest wie am strengen Judentum. Onkel Lion natürlich nicht. Das heißt, sein herzhaftes Münchnerisch pflegt er schon, aber mit der Orthodoxie hat er nichts mehr am Hut. Und dennoch verfügt er über enormes jüdisches Wissen, das hat Felice neulich erst wieder festgestellt, als sie seinen Bestseller Jud Süß noch mal gelesen hat. Die Geschichte des Joseph Süß Oppenheimer, der die Spuren seiner Herkunft verwischt und doch aufs Brutalste daran erinnert wird, ist schmerzhaft. Aus heutiger Sicht beinahe visionär, denkt Felice. Egal, ob wir einen Weihnachtsbaum aufstellten oder nicht, für die anderen waren wir immer Juden. Vielleicht hat ihr Vater das gespürt, vielleicht ist das sein Feuchtwanger’sches Erbe, und vielleicht hat er deswegen darauf bestanden, diese letzte Bastion zu halten: Wir wissen, dass wir Juden sind. Dieses Weihnachten 1929 jedenfalls, das ihnen auch ohne Baum ein prächtiges Puppenhaus bescherte, war das letzte, das sie zu viert verbrachten, im Grunde das letzte Weihnachten, an dem die Welt in Ordnung war.
Unten auf der Straße weint ein Kind. Felice versichert sich: Es ist weder Albrecht noch Eberhard. Die beiden sitzen immer noch auf dem Bordstein, inzwischen spielen sie »Schere, Stein, Papier«. Um welche knifflige Frage es wohl geht?, überlegt Felice. Ein bisschen macht sie es ja wie die Jungs. Gehen oder bleiben? Schere schlägt Papier, aber Papier schlägt Stein. Wie soll sie sich entscheiden? Lilly fleht sie an, nicht zu flüchten, sondern hier bei ihr und den Kindern zu bleiben. Derweil tut Lillys Mann Dienst fürs Vaterland. Felice muss grinsen. Sie selbst kümmert sich aufopferungsvoll um die Gattin dieses tapferen Wehrmachtssoldaten. Wenn der arme Günther wüsste, wie aufopferungsvoll! Die Verlockung ist wirklich groß, hierzubleiben bei dieser Frau, den süßen Kindern, in der komfortablen, großzügigen Wohnung in bester Lage – Lillys Mutterkreuz sei Dank.
Lilly macht gern Pläne, Felice ist nicht wohl dabei. Für einen winzigen Moment kann man sich zwar einreden, dass alles normal ist, aber nicht lange genug, um Zukunftspläne zu schmieden. Das macht Lilly oft misstrauisch und wütend, dann quält sie Felice mit ihrer Eifersucht. Dabei denkt Felice durchaus ans Morgen, auch wenn dieses Morgen womöglich ohne sie stattfindet.
Felice lässt den Blick über die Häuserdächer schweifen. Sie hat nie irgendwo anders als in Berlin gelebt. Diese Stadt und ihre Menschen kennt sie in- und auswendig. Dachte sie zumindest lange. Zur Wahrheit gehört aber leider, dass nicht nur die Stadt sich verändert hat – an allen offiziellen Gebäuden, aber auch an einigen Privathäusern hängen Hakenkreuzflaggen, in der Innenstadt entsteht an jeder Ecke ein neuer monströser Bau mit überdimensionierten Säulen und finster dreinblickenden Adlern. Die Architektur des Tausendjährigen Reiches muss von Leuten erdacht sein, die unter einem gigantischen Minderwertigkeitskomplex leiden. Aber auch die Menschen erkennt Felice manchmal kaum wieder. Und nicht nur, weil viele diese abscheulichen Uniformen tragen. In den ersten Monaten des Krieges war das Triumphgeheul angesichts der schnellen Siege im Blitzkrieg nicht auszuhalten. Inzwischen jubelt kaum noch einer. Spätestens seit Stalingrad glauben nur noch die hartgesottenen Nazis und Nazissen an den Endsieg. Die anderen tun natürlich den Teufel, laut auszusprechen, was sie denken. Aber Fliegeralarm, Ausgangssperren, Verdunkelung, Nächte im Bombenschutzkeller und dazu die immer dürftiger werdenden Speisezettel sind nicht dazu angetan, die Stimmung zu heben. Jeder und jede will nur überleben. Auch Felice. Wenn sie nur wüsste, wie sie es anstellt.
Jerusalem
Die Mädchen stürmen lärmend hinaus auf den Hof. Rahel bleibt im Klassenzimmer zurück und schaut ihnen nach. Einige reihen sich ein in die Schlange an der Essensausgabe, andere haben ein Vesper dabei. Vesper – Rahel lächelt still in sich hinein. Sie denkt, träumt und spricht noch immer ganz überwiegend Deutsch. Süddeutsch, um genauer zu sein. In ihrem Kopf hört sie die schöne dunkle Stimme ihrer Mutter: »Rahele, hast du dein Vesper dabei?« Sie sieht sich als junges Mädchen, die Haare zu langen Zöpfen geflochten, den Tornister über den Schultern durch die herrschaftlichen Straßen der Residenzstadt Karlsruhe eilen. Nur nicht zu spät kommen. Alle Augen waren ohnehin auf die merkwürdige Handvoll Blaustrümpfe gerichtet, die das neuartige Mädchengymnasium besuchten. Da durfte man sich nichts zuschulden kommen lassen, denn die meisten Karlsruher fragten sich: Wozu das Ganze? Wo die Mädle doch eh heirateten und Kinder bekamen?
Das milchige Licht der Sonne fällt durch die Jalousien in den Raum. Zum Glück halten die dicken Mauern des altehrwürdigen Hauses die schlimmste Mittagshitze draußen. Im von einem herrlichen Orangenbaum beschatteten kleinen Patio plätschert ein fröhlicher Brunnen und verbreitet angenehme Kühle. Die Osmanen wussten schon, wie man es sich in diesem Klima hübsch macht. Bei den neumodischen Bauhaus-Appartementblöcken dagegen, die die Genossen da in Tel Aviv hochziehen, hat Rahel Zweifel. Sie sind schick und modern, aber passen sie nicht viel mehr nach Charlottenburg, Spandau oder in den Wedding als ans Mittelmeer?
Sie packt ihre Unterlagen in die Mappe aus dunklem Rindsleder, die ihr Eli einst geschenkt hat. Ein Relikt aus einer anderen Zeit – wie ich, denkt sie. Sie sollte sich auch etwas zu essen besorgen. Großen Hunger hat sie nicht. Die Temperaturen schlagen ihr auf den Magen, aber immerhin ist es eine trockene Hitze. Letzte Woche war sie in Tel Aviv. Ihr geblümtes Sommerkleid klebte an ihr, ihre Frisur war eine Katastrophe. Die Feuchtigkeit da unten am Meer setzt einem zu. Das kann nicht mal die Schönheit des Sandstrandes wettmachen. Allein die Tatsache, dass die Tel Aviver Chaverim offene Ohren für ihr Projekt gehabt haben, hat ihre Laune wieder gehoben. Der Yishuv brauche beherzte Tatkraft, hat man sie wissen lassen. Man werde sie gern unterstützen. Mit dieser Zusage und einer Tüte frischer Datteln, die sie auf dem Bahnhof günstig erstand, hat sie sich auf den Heimweg nach Jerusalem gemacht.
Als sie auf ihrer ersten Palästina-Reise am Bahnsteig in Jaffa das Ziel Jerusalem angeschlagen sah, hatte sie es kaum glauben können. Es war ihr alles so unwirklich vorgekommen. Ebenso gut hätte dort Garten Eden stehen können. Inzwischen ist ihr die Bahnstrecke wohlvertraut. Aus der mediterranen Hafenstadt Jaffa schnauft die Dampflokomotive durch Tel Aviv, vorbei an Lod und Ramleh und schlängelt sich schließlich keuchend durch die judäischen Berge hinauf. Beim Anblick Jerusalems, der goldenen Stadt, verschlägt es Rahel aber immer noch regelmäßig die Sprache.
Sie lässt die fröhlichen Mädchenstimmen hinter sich und macht sich auf den Weg zum Markt. Sie muss noch ein paar Kleinigkeiten für heute Abend einkaufen. Das Haus wird voll werden. Wie in München ist auch in Jerusalem ihr Heim zu einem Treffpunkt geworden. Olim Chadaschim, Neueinwanderer, wie sie es einst war, Durchreisende, aber auch Sabras, die Alteingesessenen, kommen gern zu ihr. Hier gibt es immer eine vernünftige Mahlzeit, inspirierende Gespräche und, nicht zuletzt, Neuigkeiten aus aller Welt – auch wenn diese seit Jahren mehr als deprimierend sind. Rahel ist eine leidenschaftliche Gastgeberin. Sie liebt das zwanglose Kommen und Gehen, das weit besser zu der improvisierten Lebensart hier in Palästina passt als ins doch eher förmliche Karlsruhe oder München. Nur ist sie jetzt allein.
Wie gut sie sich früher ergänzt haben, Eli und sie. Gemeinsam Menschen einen Abend lang einen Tisch zu bereiten, das Heim zur Verfügung zu stellen, um zu essen und zu trinken, sich auszutauschen und zu diskutieren – daran zeigt sich, ob man als Paar funktioniert, davon ist Rahel überzeugt. Themen aufzubringen, die dem anderen Freude machen, Geschichten zu beginnen, die der andere zu Ende erzählen kann, den anderen strahlen und sich selbst von ihm ins rechte Licht rücken lassen, das ist wahre Liebe. Sie konnten sich damals in München vor Gästen oft nicht retten. Vor allem die Freitag- und die Seder-Abende waren legendär. Wer immer aus der jüdischen Welt nach München kam, schaute bei den Strausens vorbei. Die zionistische High Society ohnehin: der Präsident der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann, der Schriftsteller Nachum Sokolow, der Religionsphilosoph Martin Buber, die Vorreiterin der jüdischen Sozialarbeit Hannah Thon, der geistige Vater Tel Avivs Arthur Ruppin und so viele mehr.
Rahel macht vor einem riesigen Stand mit Tomaten halt. Rot, saftig und verlockend. In ihrem Starnberger Gärtchen hat sie mit viel Liebe auch Tomaten gezogen, aber an das hiesige Aroma reichten sie nicht heran, so viel steht fest. »Kama se? Wie viel kosten die?« Ihr deutscher Akzent ist nicht zu überhören, sie ist fest entschlossen, sich dieses Mal nicht übers Ohr hauen zu lassen. Kundig prüft sie die Früchte mit Daumen und Zeigefinger. Der Verkäufer will ihr ein ganzes Kilo aufschwatzen, aber sie schüttelt entschieden den Kopf. Ein halbes reicht. Frisch verheiratet war sie vor vielen Jahren als junge Frau das erste Mal im Land. Wie gern wäre sie damals geblieben, und um wie viel leichter wäre es gewesen, sich mit Mitte zwanzig neu zu erfinden als mit Mitte fünfzig? Sie betrachtet Erez Israel als ihre Heimstätte, seit sie damals auf dem Zionistischen Kongress Feuer gefangen hat, aber das Leben hier ist nicht leicht, selbst für sie. Hinzu kommt die Schmach, als Jecke betrachtet zu werden, die es einzig und allein aus Not hierher verschlagen hat. Hitler wollte euch nicht!
Sie blickt auf die Uhr. Schon Viertel vor zwei. Keine Zeit mehr für einen frisch gepressten Granatapfelsaft am Stand der alten Palästinenserin im langen schwarzen Kleid mit den bunten Stickereien an Brust und Ärmeln. Wir dürften etwa gleich alt sein, denkt Rahel, zwei alte Weiber, müde vom Getöse der Weltpolitik. Wenn Rahel einen Stopp bei ihr einlegt, wechseln sie immer ein paar Worte – Arabisch, Hebräisch, Englisch, Französisch –, irgendwie verstehen sie sich. Aber heute muss Rahel zurück. In fünfzehn Minuten beginnt ihr nächster Kurs. Diese jungen Mädchen sind eine andere Generation, sie haben Dinge gesehen, die Rahel sich gar nicht vorstellen kann. Mit dem bloßen Leben sind sie davongekommen. Rahel hört ihre Geschichten und ist jedes Mal wieder fassungslos. Ihre einzige Hoffnung ist die Jugend ihrer Schülerinnen. Ihr Drang zu leben ist unbändig. Trotz ihrer schlimmen Erlebnisse sind sie neugierig, flexibel, akzeptieren all das Neue, das auf sie einprasselt. Kaum ein paar Monate im Land, plappern sie schon Iwrit, Hebräisch. An manchen Abenden stellt sich sogar eine gewisse Leichtigkeit ein, es gibt Musik, Tanz, erste Flirts. Und genau hier kommt Rahel ins Spiel.
Die Sonne steht hoch am Himmel, schnellen Schrittes eilt sie durch die Straßen. Heute Nachmittag steht eine wichtige Lektion auf dem Lehrplan, geradezu lebenswichtig für junge Frauen. Das werden ihre Schülerinnen noch lernen, vielleicht hat die eine oder andere schon ihre Erfahrungen gemacht, und vielleicht nicht nur gute. Rahel erinnert sich an die ersten Aufklärungskurse, die sie in München gehalten hat, damals noch mit langem Rock, hochgeschlossener Spitzenbluse und aufgestecktem Haar. Das ist über dreißig Jahre her. Die Welt war eine andere. Aber ein paar Dinge ändern sich nur sehr langsam oder nie. In der Nachbarschaft tuschelte man fleißig, und die Münchner Verwandtschaft ihres Mannes hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: Schlimm genug, dass Elis Frau berufstätig ist, Gynäkologin noch dazu, jetzt spricht sie auch noch öffentlich über Dinge, die nur Mann und Frau angehen.
Ja, denkt Rahel, früher, als das Leben einer guten Jüdin darin bestanden hatte, ihrem Mann eine gute Frau zu sein und eine möglichst große Kinderschar zu versorgen, da konnte man diesen Dingen ihren Lauf lassen. Sie zögert, denn auch in früheren Zeiten gab es Frauen, die ungewollt schwanger wurden, die einfach nicht mehr Kinder wollten, die Gewalt erfahren haben oder deren Gesundheitszustand eine weitere Schwangerschaft nicht zuließ. In jüngster Zeit aber, in der die Welt aus den Fugen zu geraten scheint, in der Familien auseinandergerissen werden und junge Menschen allein in völlig fremder Umgebung stranden, da können derlei Fragen über Leben und Tod entscheiden. Die Stimmen der Mädchen dringen über den Hof bis auf die Straße. Tatsache ist, dass immer noch viele junge Leute wenig Ahnung haben von Sexualität und Verhütung. Und am Ende ist es immer die Frau, die verlassen dasitzt mit einem Kind im Bauch – in vielen Fällen ist sie selbst noch ein Kind. Wie oft hat Rahel das erlebt!
Durchgeschwitzt und durstig erreicht sie ihr Büro und stellt rasch ihre Einkäufe ab. Die Sekretärin hat die Fensterläden zugemacht. Durch die Ritzen wirft das helle Sonnenlicht schmale Streifen in den abgedunkelten Raum. Eigentlich sollte man jetzt ein Mittagsschläfchen machen, denkt Rahel und schaut sehnsüchtig zu dem abgesessenen dunkelgrünen Samtsofa an der Wand. Als sie ihre Praxis vor ein paar Jahren aufgegeben hat, hat sie vorgehabt kürzerzutreten, hin und wieder ein paar Tage am Strand, Ausflüge ans Tote Meer oder in den Negev, tatsächlich arbeitet sie heute fast mehr als zuvor. Ihre Kurse liegen ihr besonders am Herzen. Rahel versucht, den Mädchen ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, und hofft, dass ihre zahlreichen Nichten und Neffen, die es in aller Herren Länder verschlagen hat, ebenso gut aufgenommen werden. Von einigen hat sie seit vielen Monaten nichts gehört.
Sie trinkt hastig ein paar Schlucke Wasser. Einmal mehr ist sie dankbar, dass sie all ihre Kinder nach Erez Israel gebracht hat. Ein schneller Schnitt – so hatte sie ihren Aufbruch in diesem gespenstischen Frühjahr 1933 erlebt. Da spricht die Ärztin in ihr, wenn infiziertes oder bösartiges Gewebe entfernt werden muss, dann rasch und sauber. Rahel greift sich ihre Ledermappe und eilt Richtung Klassenzimmer. Aber kann man mit chirurgischer Präzision die Heimat aus einem Menschen heraussezieren?, überlegt sie, während ihre Schritte auf den frisch gewienerten Holzdielen des langen Korridors widerhallen.
All den Generationen vor ihr, die aufs Engste verwoben gewesen sind mit der Sprache, der Küche, der Landschaft, dem Schicksal dieses Deutschlands, das nun für immer verloren ist, wie könnte sie es ihnen erklären? Seit vielen Hundert Jahren hatten die Vorväter und Vormütter im Süden Deutschlands gelebt, unter Kaisern, Markgrafen, Domprobsten, später unter Königen, Kanzlern und schließlich unter einem »Führer«, der mit diesem Dasein ein Ende machte. Seit man sich erinnern konnte, waren die Ahninnen und Ahnen in deutschen Landen wie selbstverständlich geboren und aufgewachsen, hatten geheiratet, hatten glänzende Geschäfte gemacht und schwere Pleiten einstecken müssen, hatten sich gezankt und geliebt, hatten Kinder bekommen und ihre Toten begraben.
Selbstverständlich!, Rahel schüttelt den Kopf, nichts ist selbstverständlich. Nicht mehr. Wir lebten in Deutschland, denkt sie, als sie die Tür zum Klassenzimmer öffnet – aber damit ist jetzt Schluss.
Mit Auguste Hahn aus Frankfurt, so die Legende, kam die Hässlichkeit in die Familie Feuchtwanger. Mütter flüsterten es ängstlich ihren Töchtern ins Ohr, und die Worte hallten fortan nicht nur in den Köpfen der jungen Mädchen wider, sondern schwirrten emsig durch die guten Stuben der Familie und die Gassen Münchens. Väter und Söhne feixten bei einer Maß Bier, witzelten über die schiache Auguste – ja, eine Augenweide sei sie nicht gerade gewesen. Der arme Jacob Löw Feuchtwanger! Von Generation zu Generation gab man diese Geschichte weiter, wie eine teure Brokattischdecke mit einem hartnäckigen garstigen Fleck, den auch die entschlossenste Wäscherin nicht auszubürsten imstande war. Ein kleiner Makel in der sonst so ruhmreichen Geschichte der Feuchtwangers, schließlich stieg man im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer bedeutenden Unternehmerfamilie in der herausgeputzten Residenzstadt München auf und zählte noch im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unangefochten zur Hautevolee der dortigen jüdischen Gemeinde. Und doch gab man die Anekdote unermüdlich zum Besten, eine Anekdote auf Kosten einer Frau wohlgemerkt. Und zwar keiner unwichtigen. Ganz im Gegenteil.
Auguste Feuchtwanger geht es damit wie vielen Frauen in der Geschichte. Man verschleiert ihre Leistungen, macht sie lächerlich, lässt ihren Beitrag einfach unter den Tisch fallen oder schreibt sie ganz aus den Chroniken heraus. Frauen tauchen über viele Jahrhunderte in den Quellen kaum auf, Unternehmen laufen nicht auf ihren Namen, Familien auch nicht. Manchmal könnte man fast meinen, Geschichte, auch Familiengeschichte, würde von Männern und von Männern allein geschrieben werden.
Wenn man etwas über die andere Hälfte der Menschheit erfahren möchte, jene fünfzig Prozent, die nicht im Dreiteiler, mit Hut, Stock und Monokel daherkamen, sondern im Laufe der letzten zweihundert Jahre mit langem Rock, an dessen Zipfel nicht selten mindestens ein Kleinkind hing, mit elegantem Kleid und aufwendiger Aufsteckfrisur oder mit provokanter Marlene-Hose, knallrotem Lippenstift und keckem Bubikopf, muss man schon sehr genau hinschauen, muss Überliefertes hinterfragen, lieb gewonnene Storys und Gerüchte auf den Kopf stellen und kräftig schütteln, muss hineinhorchen in das sich überlagernde Stimmengewirr aus den letzten Jahrhunderten. Und man muss seinen Blick auf Lebenswelten richten, die die »große« Geschichte lange als unwürdig betrachtet und daher geflissentlich übergangen hat. Themen wie Schwangerschaft und Geburt, Kindererziehung und Haushalt, Menstruation und Wechseljahre, Liebe und Partnerschaft – all das bestimmte den Alltag der Menschen oft viel unmittelbarer als ein entfernter Friedensschluss, ein nach langem Ringen geschlossenes Konkordat oder ein neuer König auf dem Thron. Und doch machen wir immer wieder die Erfahrung, dass derlei Themen, gerade wenn sie aus dem weiblichen Erlebens- und Erfahrungsbereich stammen, wenn überhaupt, nur mit sehr spitzen Fingern angefasst werden, während man sich nicht scheut, noch den hundertsten Soldatenstiefel, den abgelegensten Schlachtenverlauf und den abseitigsten Reichstagsbeschluss akribisch zu notieren und hingebungsvoll zu interpretieren.
Vor allem aber muss jeder und jede, der oder die sich auf die Spur der Frauen macht, das Schweigen identifizieren und benennen. Ganz auffällig nämlich ist, was im Zusammenhang mit der guten Auguste – wie auch immer es um ihre äußerliche Attraktivität nun bestellt sein mochte – beschwiegen wurde. Tatsache ist, dass Jacob Löw Feuchtwanger aus dem provinziellen Fürth ohne die Frankfurter Bankierstochter wohl kaum eine Chance gehabt hätte, sich im aufstrebenden München niederzulassen, geschweige denn ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Augustes Mitgift, die familiären und geschäftlichen Verbindungen, die sie in die Ehe einbrachte, und auch ihr Know-how schufen zweifellos das Fundament für den glänzenden Aufstieg der Familie. Von wegen der arme Jacob Löw Feuchtwanger!
Wie aber erklärt man sich dieses chronische Kleinreden, ja zuweilen das hartnäckige Verschweigen des Beitrags der Frauen und das nonchalante Übersehen weiblicher Lebenswelten in weiten Teilen der Geschichtsschreibung? Nun, das Patriarchat hat uns mindestens fünf Jahrtausende lang seinen Stempel aufgedrückt und steckt uns noch immer in den Knochen. Was Männer für wichtig hielten, wurde politisch verhandelt, in den Kirchen gepredigt, in Liedern und Gedichten besungen, in Romanen beschrieben – und es ging in die Geschichte ein. Epen, Chroniken und Geschichtsbücher berichteten von Helden, erklärten die (Männer-)Welt und sorgten so dafür, dass diese nicht infrage gestellt wurde.
Es ist kein Geheimnis, dass der Blick des Berichtenden das Berichtete ganz maßgeblich prägt, das fängt schon bei der Auswahl des Themas an. Die eigenen Zeitumstände, die eigene Biografie und das eigene Geschlecht bestimmen ganz unübersehbar unseren Zugriff auf ein Thema. Deshalb wurden Kriege im männlichen Narrativ lange als bloße Abfolge von Schlachten erzählt, während man das Leid der Zivilbevölkerung, der Frauen und Kinder, ausblendete. Und deshalb schrieben männliche Historiker traditionell gern Abhandlungen über große Männer. Man erhoffte sich vielleicht – bewusst oder unbewusst –, dass deren Glanz ein wenig auf einen selbst abstrahlte. Die Bedeutung eines Bismarck, eines Churchill, eines Adenauer wertete auch den Biografen auf, so wohl die Strategie der Autoren.
Kein Wunder also, dass die lange übersehene und beschwiegene Hälfte der Menschheit in Literatur, Film und – ja – auch in der Geschichtsschreibung, erst dann so richtig in den Blick gerät, wenn es ausreichend Frauen gibt, die ihre Geschlechtsgenossinnen auf die Agenda setzen. Gerade beim Thema Familiengeschichte tappten wir lange in die immer gleichen Klischee-Fallen. Höchste Zeit also, lieb gewonnene und eingefahrene Seh- und Hörgewohnheiten gegen den Strich zu bürsten.
Überspitzt gefragt: Was wollte uns das Patriarchat verschweigen? Nun, seit Abrahams Zeiten spricht alle Welt vom Erzvater, was aber, wenn in Wahrheit die Erzmutter die Fäden zusammenhielt? Im Anfang waren Auguste, Fanny, Hanna …
Ganz Europa schaute in diesem Frühjahr 1770 nach Paris beziehungsweise zunächst mal nach Wien. War es wirklich wahr, dass die beiden mächtigsten europäischen Herrscherhäuser, die sich seit Jahrhunderten in herzlicher Feindschaft gegenübergestanden hatten, ihre Kinder vermählten? Waren Furcht und Abscheu der Österreicher gegenüber dem kriegerischen Fritz in Potsdam wirklich groß genug, ihre Tochter dem Franzosen an den Hals zu werfen? Sicher, bereits einige Jahre zuvor hatten die beiden mächtigsten Frauen Mittel- und Westeuropas, Maria Theresia von Österreich und Madame de Pompadour, die langjährige Mätresse des französischen Königs Ludwig XV., mit dem sogenannten Renversement des Alliances eine diplomatische Zeitenwende angestoßen und eine Annäherung zwischen den Habsburgern und den Bourbonen angebahnt. Aber dass man sowohl in Wien als auch in Paris bereit war für eine royale Ehe auf allerhöchster Ebene, erstaunte doch.
Zwischen dem preußischen König, Friedrich dem Großen, der aus seinem tiefen Unbehagen gegenüber Frauen im Allgemeinen und erfolgreichen Frauen im Besonderen kein Geheimnis machte, und Maria Theresia herrschte von jeher keine Zuneigung. Schließlich hatte Friedrich nach dem Tod von Kaiser Karl VI. dessen Pragmatische Sanktion, wonach seine älteste Tochter ihm auf dem Thron folgen sollte, in den Wind geschlagen und die junge Herrscherin brutal angegriffen. Hatte er aber gehofft gehabt, Maria Theresia würde sich überrumpeln und beklauen lassen, musste er bald einsehen, dass er in der Habsburgerin ein ebenbürtiges Gegenüber gefunden hatte. Die Wienerin lehrte ihn und ganz Europa in den Schlesischen Kriegen, dass das Habsburgerreich kein Selbstbedienungsladen war. Sicher, die Abneigung Maria Theresias gegenüber dem einzelgängerischen, schrulligen Preußen war nicht zu übersehen, aber die Feindschaft zu Frankreich reichte weiter zurück, war von Generation zu Generation weitergegeben worden wie die berühmte Habsburger Unterlippe.
Nun allerdings pfiffen die Spatzen in Paris und Wien von den Dächern, dass es bald ein neues glamouröses Königspaar geben würde, das die beiden vornehmsten Häuser Europas verbinden würde. Sollte Friedrich in seinem Möchtegern-Versailles in der brandenburgischen Steppe doch vor Zorn mit dem Militärstiefel auf den hübsch getäfelten Parkettboden stampfen. Sanssouci – im Gegenteil! Diese Heirat war für den Hohenzollern definitiv Grund zur Sorge.
Total überraschen konnten die Nachrichten von der anstehenden Vermählung der habsburgischen Erzherzogin Maria Antonia mit dem französischen Königssohn Ludwig August den Alten Fritz freilich nicht. »Bella gerant alii, tu felix Austria nube – Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate« war nicht umsonst von jeher das Erfolgsrezept der österreichischen Dynastie. Ja, man hatte sich schon in den vorangegangenen Jahrzehnten durch Verträge und Ehen mit dem Hause der Bourbonen verbandelt, aber diese Partie war doch immerhin ein Coup, auf den bis vor Kurzem nicht viele gewettet hätten. Die Tochter der mächtigen Habsburgerin würde niemand Geringeres werden als die Königin von Frankreich.
Auch in der altehrwürdigen jüdischen Gemeinde von Fürth nahm man diese merkwürdige Verbindung höchster dynastischer Familien mit einigem Interesse zur Kenntnis. Man konnte nur mit dem Kopf schütteln. Der Bräutigam war nicht mal anwesend, als Erzherzogin Maria Antonia, von ihrer Familie liebevoll Antoine genannt, den langen von hohen gotischen Bögen überwölbten Gang der Wiener Augustinerkirche entlangschritt. Ganz allein stand sie vor dem goldenen Altar in der prächtigen, aber bitterkalten Kirche und gab ihr Ehegelöbnis ab. Das gerade mal vierzehnjährige Mädchen wurde anschließend durchs halbe Reich gefahren und bei Straßburg den Franzosen übergeben. Man könnte auch sagen: ausgeliefert.
Viele Fürther Jüdinnen und Juden, gerade die Hautevolee der Gemeinde, die sich zu einem beträchtlichen Teil aus Familien zusammensetzte, die rund einhundert Jahre zuvor aus Wien geflohen waren, sahen in arrangierten und strategischen Ehen durchaus das Mittel der Wahl, wenn es galt, eine junge Frau beziehungsweise einen jungen Mann unter den Traubaldachin zu bringen. Aber das Schicksal der blutjungen Habsburgerin, die zunächst wie ein Fremdkörper am Versailler Hof wirkte, bot doch Stoff für allerlei Klatsch und Tratsch. Maria Antonias Urgroßvater hatte die Juden einst aus Wien vertrieben, nun war Marie-Antoinette, wie sie inzwischen genannt wurde, in Paris selbst eine Unerwünschte, eine misstrauisch Beäugte, eine Fremde. Viele Fürther Juden gönnten es ihr wohl von Herzen.
Der Gedanke an Wien mit seinen pompösen Plätzen, den einschüchternden Palästen und Prachtbauten, seien sie zur Ehre Gottes oder zum Ruhme der Monarchie erbaut, jagte den Fürther Juden einen Schauer über den Rücken. Man hatte die Brutalität und Willkür der Habsburger schmerzhaft zu spüren bekommen. Viele Jahrzehnte lang hatten die sich ihren Luxus und ihre Kriege von jüdischen Hoffaktoren finanzieren lassen, doch als Unglück über das Land hereinbrach, war es nur zu bequem gewesen, den Juden die Schuld in die Schuhe zu schieben und sich auf diese Weise überaus lästiger Gläubiger zu entledigen.
Die Stadt Wien aber hat einen hohen Preis bezahlt für diesen blutigen Braindrain, das wenigstens tröstete die Exilierten. Die Juden waren verschwunden aus dem Herzen des Habsburgerreiches und mit ihnen ihr Know-how, ihre Kontakte, ihr Geld. Fürth dagegen erblühte seit dem Zuzug der Wiener, das konnte jedermann sehen. Die Kehilla, die jüdische Gemeinde, war beachtlich gewachsen. Hier gab es eine Jeschiwa, die in der gesamten jüdischen Welt hochgeschätzt wurde. Nicht nur aus dem Reich strömten Schüler an die fränkische Talmud-Hochschule, sondern auch aus Frankreich, Polen und dem Baltikum. Vor dem jüdischen Gericht, dem Bet-Din, wurden nicht nur kleine Streitereien der Hiesigen verhandelt, man suchte bei den Fürther Gelehrten auch Rat in brenzligen Präzedenzfällen von internationaler Bedeutung. Die ortsansässigen hebräischen Buchdruckereien versorgten Gemeinden weltweit mit biblischen Kommentaren und rabbinischen Schriften.
Die Stadt, in der die beiden Flüsse Rednitz und Pegnitz zusammenfließen, hatte von der Aufnahme der Wiener Juden zweifellos profitiert. Das mussten sogar die Christen einsehen. Und taten es auch. Die Stadt Fürth lag am Schnittpunkt dreier Interessenphären: der selbstbewussten freien Reichsstadt Nürnberg, die innerhalb ihrer Mauern zwar gern den Kaiser beherbergte, aber keine Juden duldete, des Markgrafen von Ansbach und des Domprobsts von Bamberg. Sie alle tolerierten die Ansiedlung von Juden in Fürth, die Bamberger förderten diese geradezu. Der Domprobst machte der jüdischen Gemeinde immer wieder großzügige Zugeständnisse. So durften sie selbst entscheiden, wer sich bei ihnen niederließ, sie hatten mit dem Bet-Din ihre eigene Gerichtsbarkeit, mit dem von ihnen selbstständig bestimmten Rabbiner ihren eigenen Geistlichen, ihren Friedhof, eigene Schulen, koschere Metzgereien und Bäckereien und selbstverständlich ein traditionelles Badehaus, eine Mikwe.
Den Titel »fränkisches Jerusalem« fand manche und mancher zwar etwas hochgegriffen, aber das Maß an Selbstbestimmung, das hier herrschte, war selten im Reich. Klar, der Bamberger und auch die feinen Nürnberger versuchten ihnen immer mal wieder reinzureden, aber am Ende ließ man die florierende Kehilla in Fürth doch meist ihr Ding machen. Die jüdischen Unternehmen waren ein nicht unbedeutender Wirtschaftsfaktor, die Gemeinde entsandte zwei Vertreter in den Stadtrat, und die Fürther Beiträge zum jüdischen Geistesleben konnten es mit Prag und Frankfurt spielend aufnehmen. Wie selbstbewusst die Juden in der Stadt auftraten, illustriert eine Begebenheit aus dem späten 17. Jahrhundert. Im Jahre 1693 beschwerte sich die jüdische Gemeinde, dass die Nachtwächter ihren allabendlichen Ruf mit den Worten »Ihr lieben Christen« einleiteten und die Juden damit ausschlossen, obwohl sie ebenso wie die Christen der Stadt an der Besoldung der Nachtwächter beteiligt waren. Der Protest war erfolgreich, und die Nachtwächter änderten ihren Ruf in »Ihr lieben Herren«. Was die Fürtherinnen – Jüdinnen und Christinnen –, die nun eindeutig nicht angesprochen waren, dazu sagten, ist leider nicht überliefert.[2]
Nicht annähernd so spektakulär wie die Wiener Vermählung sorgte im ausgehenden 18. Jahrhundert eine anstehende Hochzeit, die sich etwa zeitgleich in Fürth anbahnte, ihrerseits für einigen Gesprächsstoff. Jakow Arieh ben Mosche Schulhof, so raunte die Bäckersfrau über die frisch gebackenen Brezeln und Challah-Brote hinweg, habe das große Los gezogen.
Dabei hatte alles zunächst einmal mit einer Tragödie begonnen. Wenige Monate zuvor war Schulhofs Frau Rebekka Sarah, Tochter des Mendel, im Kindbett gestorben. Keine Seltenheit in dieser Zeit. Nicht umsonst lautete ein zeitgenössisches französisches Sprichwort: »Femme grosse a un pied dans la fosse«, die schwangere Frau steht mit einem Fuß im Grab. Manchmal starb das Kind, manchmal die Frau, manchmal starben beide auf einen Schlag. Aber Jakow war jung, tüchtig und machte was her. Dass er sich wieder verheiraten würde, stand außer Frage. Witwer fanden meist schnell eine neue Frau. Das war oft schlicht eine Notwendigkeit, denn wenn eine Gebärende oder eine frisch Entbundene im Kindbett starb, wurden im Grunde drei »Stellen« vakant: die der Ehefrau, die der Mutter und die der Geschäftspartnerin. Die allermeisten Fürther Juden und Jüdinnen trieben Handel – mit Gold, Silber, Messing, Kupfer, Tuch oder Lebensmitteln, manche verliehen Geld, andere betrieben ein Handwerk mit dazugehörigem Ladengeschäft, wie besagte gut informierte Bäckersfrau. Allein um seine Kinderschar zu versorgen und den Laden am Laufen zu halten, musste sich so manch trauernder Witwer schnell wieder auf dem Heiratsmarkt umsehen.
Jakow Arieh ben Mosche Schulhof dürfte also erleichtert gewesen sein, als sich, recht rasch nachdem er seine Rebekka begraben hatte, eine neue Partie für ihn am Horizont abzeichnete. Und was für eine! Hanna Fränkel aus dem Wiener Fränkel-Clan, zweiundzwanzig Jahre alt, ausgestattet mit einer ordentlichen Mitgift und besten Kontakten in die vornehmsten Gemeinden des Reiches, sollte seine nächste Braut werden.
Die Fränkels, 1670 aus Wien vertrieben, waren eine der einflussreichsten jüdischen Familien am Ort und unterhielten sogar eine eigene Synagoge. Dass es Jakow Schulhof gelang, in diese altehrwürdige Familie einzuheiraten, spricht für den sozialen Status der Schulhofs und die Ambitionen des jungen Mannes. Die Schulhofs stammten nicht aus Wien, sondern aus dem kleinen Örtchen Feuchtwangen an der Sulzach, etwa eine Tagesreise von Fürth entfernt. Mitte des 16. Jahrhundert waren die Feuchtwanger Juden ausgewiesen worden, und viele fanden in Fürth Aufnahme. So wohl auch die Vorfahren Jakow Schulhofs.
Wie viele Juden in Fürth lebte die Familie rund um den Schulhof, also den Hof um die beiden großen Synagogen – auch Schul genannt. Feste Nachnamen gab es damals noch nicht, um aber Verwechslungen zu vermeiden, fügte man dem Vornamen meist den Namen des Vaters bei, also in Jakows Fall: Ben Mosche, Sohn des Mosche, und manchmal auch noch einen deutschen Namen, der die Person einem Beruf oder einem Ort zuordnete. Da aber immer mehr Juden am Schulhof wohnten und sich ebenfalls nach ihm benannten, ging Jakow Schulhof offenbar dazu über, sich nach dem Ursprungsort seiner Vorfahren zu benennen und wurde zu Jakow Feuchtwanger.
Der erste Feuchtwanger war geboren und damit auch der Stammvater jener Familie, die wir im Folgenden durch die Jahrhunderte begleiten wollen. Nicht weniger wichtig als der Stammvater aber war die Stammmutter: Hanna Feuchtwanger, geborene Fränkel. Im Gegensatz zur bereits erwähnten Marie-Antoinette, die mit ihrer Vermählung ihrer gewohnten Umgebung beraubt wurde und in einem fremden Land, an einem unbekannten Hof mit kompliziertem Protokoll und exotisch wirkenden Zeremonien ein völlig neues Leben beginnen musste, blieb Hanna auch als Frau Feuchtwanger mehr oder weniger die Alte. Sie wohnte weiterhin in ihrem Geburtsort, dort, wo sie alle Welt kannte und alle Welt sie kannte.
Wichtiger aber noch war, dass ihr Netzwerk bestehen blieb. Die engen Bande zu ihren Eltern, den Geschwistern, der erweiterten Familie – all das nahm sie mit in die Ehe, und all das verlieh ihr von Anfang an einen machtvollen Status. Ja, sie wurde die Frau des Jakow Feuchtwanger, aber sie blieb eine Fränkel-Tochter, während Marie-Antoinette das Schicksal ungezählter Frauen in der langen Geschichte des Patriarchats teilte. Ihre Herkunft stattete die Habsburgerin zwar mit Bedeutung aus, aber in der Welt von Versailles war sie allein und ihre natürlichen Verbündeten – Mutter, Geschwister, Onkel und Tanten, Freundinnen und Freunde – weit weg. Marie-Antoinette litt wie so viele Frauen in den letzten 5000 Jahren an den Auswirkungen der patrilokalen Kultur[3]: Die Frau zog nach der Hochzeit zur Familie des Mannes und verlor ihr ursprüngliches soziales Netz. Im Falle Marie-Antoinettes fällt das besonders auf. Zum einen, weil sie das Kind der wohl mächtigsten Frau Europas war, zum anderen, weil ihre Geschichte besonders dramatisch endete. Während ihre Herkunftsfamilie in Wien weiterhin das dynastisch-monarchische Leben pflegte, das Habsburger seit Jahrhunderten als gottgegeben betrachteten, wurde Marie-Antoinettes Welt in den 1790er-Jahren von der Revolution hinweggefegt, und sie starb unter der Guillotine.
Hanna Feuchtwanger dagegen konnte in Fürth den Grundstein zu einer Dynastie der anderen Art legen – sicher nicht vergleichbar mit den Habsburgern, nicht mal mit den Rothschilds, die sich etwa zur gleichen Zeit von Frankfurt aus ihren Weg an die Spitze des europäischen Finanzwesens bahnten –, aber doch zu einer bedeutenden Familie, die im Laufe der folgenden zweihundert Jahre erfolgreiche Kauffrauen, Bankiers, Ärztinnen, Wissenschaftler, Schriftsteller, Vordenkerinnen und Verleger hervorbringen sollte.
Der Fürther Kosmos war klein. Jede kannte jeden, und jeder kannte jede. Rund um den Schulhof brummte das jüdische Leben. Jeschiwa-Studenten eilten mit wehenden Zizit, Gebetsfäden, und bepackt mit dicken Folianten durch die Gassen, gegenüber der Neuschul lag die Rabbinerwohnung, hier suchte man Rat, wurden Besprechungen abgehalten, in den Läden ringsum wurden Waren feilgeboten, man tauschte Geschäftliches aus oder hielt einen Tratsch. War das Leben im jüdischen Fürth ohnehin geprägt von großer Vitalität und Betriebsamkeit, so legte die Geschäftigkeit am Freitagmorgen noch einen Zahn zu. Dienstmädchen erledigten die letzten Einkäufe, das Haus wurde auf Vordermann gebracht, Essen gekocht und warm gestellt, Kauffrauen und -männer führten in aller Eile noch die letzten Gespräche der Woche, notierten, kalkulierten, bestellten Waren, lieferten Bestellungen aus, die Bäckersfrau verkaufte die letzte Challah, die Metzgersfrau die letzte Lammkeule und die letzten Hühnerherzen, dann schlossen sie die Läden, wischten hastig durch und machten sich rasch auf, den Schabbat in Empfang zu nehmen.
So hektisch der Freitag auch gewesen sein mochte, sobald die Dunkelheit herabzudämmern begann, schaffte sich eine gewisse Feierlichkeit Raum. Man schlüpfte in die guten Gewänder, und während die Männer in die Synagogen strömten, versammelten sich die Frau des Hauses, die älteren Mädchen und die kleineren Kinder in der guten Stube. Dort entzündete die Mutter die Kerzen und segnete ihr Haus und ihre Familie: »Gesegnet seist Du, Gott, unser Gott, König des Universums, der uns geheiligt hat durch Seine Gebote, und uns befohlen hat, das Licht des heiligen Schabbats zu entzünden.«
Während Männer im traditionellen Judentum eine Vielzahl von rituellen Aufgaben erfüllen müssen, haben jüdische Frauen lediglich drei zentrale religiöse Pflichten: das Entzünden der Schabbat-Kerzen, das peinlich genaue Einhalten der Nidda, der Reinheitsgebote nach Menstruation und Niederkunft, und das Verbrennen einer kleinen Menge des freitäglichen Challah-Teiges in Erinnerung an das Opfer im Tempel. Seit der Tempel zerstört worden war und die Juden in der Diaspora lebten, bildete das Haus das Zentrum der weiblichen Religiosität, während die Männer sich zum Gebet und Schriftenstudium in Stuben und Synagogen versammelten. Das Zuhause war die Sphäre der Frau. Sie war zuständig für den Frieden in der Familie. Das war keine Kleinigkeit, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Herrin des Hauses meist eine enorme Doppelbelastung trug.