Im Mittelpunkt der Mensch – 50 Jahre Deutsche Krebshilfe - Heike Specht - E-Book

Im Mittelpunkt der Mensch – 50 Jahre Deutsche Krebshilfe E-Book

Heike Specht

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Beschreibung

Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung erkrankt im Laufe ihres Lebens an Krebs. Diesen Menschen und ihren Angehörigen zu helfen ist die wichtigste Aufgabe der Deutschen Krebshilfe, die 1974 gegründet wurde. Die geradezu revolutionäre Idee Mildred Scheels hat seitdem viel bewegt: Sie hat nicht nur zu einer Enttabuisierung der Volkskrankheit beigetragen, sondern auch die Forschung und Behandlung nach vorne gebracht. Zum 50. Jahrestag blickt Heike Specht auf die Geschichte dieser Organisation, schaut auf die Herausforderungen der Zukunft und lässt prominente Betroffene zu Wort kommen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Deutsche Krebshilfe; Picture Alliance; Getty Images und Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Motto

1 Vorwort

2 Grußwort

3 Gemeinsam gegen den Krebs

Ein Tabu kommt auf den Tisch

»Ich mache in Krebs«

Ein Kind der Zeit

Mitmachen

Eine Frau nimmt den Kampf auf

Die Deutsche Krebshilfe in Aktion

»Geht nicht, gibt’s nicht!«

Etwas gerät in Bewegung

Gegenwind

Auf Leben und Tod

»Jeder kann etwas tun«

4 »Die Melodie des eigenen Lebens wiederfinden«

5 »Kinder sind ganz eigene Menschen«

6 Leben bis zum Schluss

7 »Krebs ist nicht ansteckend, aber die Angst«

8 »Patienten sind auch nur Menschen«

9 Blick in die Zukunft

10 Nachwort

Adressen und Ansprechpartner

Abbildungsnachweis

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Register

»Die Bekämpfung der Krebskrankheiten ist nicht nur eine Herausforderung an die Medizin. Sie ist eine der großen, uns allen gestellten Aufgaben dieses Jahrhunderts. Wir sollten danach handeln.«

Mildred Scheel, 1979

»Es bedurfte wohl einer Frau und gerade dieser Frau, um verschlossene Türen dort zu öffnen, wo es nötig war, durch Mauern zu gehen und mit Mut und Unbeirrbarkeit die dabei auftretenden Blessuren zu ertragen. Nicht zu fragen, ob ein neuer Weg machbar ist, sondern ob es notwendig ist für den Krebskranken, war ihre Devise.«

Prof. Dr. Max Eder, erster Vorsitzender des Medizinischen Beirates der Deutschen Krebshilfe, über Mildred Scheel, 1985

Die Deutsche Krebshilfe dankt allen herzlich, die an diesem Buch mitgewirkt haben. Es ist den vielen Menschen gewidmet, die den Kampf gegen Krebs und für Krebskranke und ihre Angehörigen in den letzten 50 Jahren zu einer wahren Bürgerbewegung gemacht haben. Ohne sie wäre die wichtige Arbeit der Deutschen Krebshilfe nicht möglich gewesen.

1 Vorwort

Vor über 45 Jahren begann meine Arbeit bei der Deutschen Krebshilfe – und hätte mir damals jemand gesagt, dass ich dieser Organisation bis zum Ende meines Berufslebens treu bleiben würde, ich hätte es mit meinen 22 Jahren nicht für möglich gehalten. Aber genauso kam es.

Als junger Mann leistete ich nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann meinen Zivildienst bei der Deutschen Krebshilfe – und war von der Organisation mit ihrer großartigen Gründerin Dr. Mildred Scheel begeistert. Nach dem Zivildienst wollte ich Betriebswirtschaftslehre studieren, doch auf Wunsch von Mildred Scheel blieb ich bei der Deutschen Krebshilfe – bereut habe ich es zu keiner Zeit.

Ich bekam früh Einblick in eine medizinische Welt, die seinerzeit vielen Menschen verschlossen war: Die Therapiemöglichkeiten bei Krebs waren begrenzt, und die Versorgung krebskranker Menschen war alles andere als vorbildlich.

Mit Messer – die chirurgische Entfernung von Tumoren war eine der wichtigsten Krebstherapie-Methoden in den 1970er-Jahren – und Strahlentherapie als Ergänzung zur chirurgischen Entfernung des Tumors versuchte man, die Krankheit zu bekämpfen. Manche Krebsarten wurden auch mit einer Chemotherapie behandelt, doch insgesamt stagnierten die Chancen auf Heilung. Für die meisten Patienten war die Diagnose Krebs ein Todesurteil.

Darüber hinaus war die Krankheit ein Tabu, keiner sprach über Krebs – viele wollten es auch gar nicht – und für die Patientinnen und Patienten war es schwierig, an Informationen zu kommen. Die Betroffenen verschwiegen ihr Leiden, und auch zwischen Arzt und Patient fand kaum ein Austausch statt. Aus heutiger Sicht ist das alles nicht mehr vorstellbar.

Mangelnde Erfolgserlebnisse in Forschung und Therapie, aber auch fehlendes interdisziplinäres Denken unter den Ärztinnen und Ärzten führten dazu, dass sich bis dato niemand so recht zuständig fühlte, die Versorgung krebskranker Menschen zu verbessern. Mildred Scheel änderte das – sie wollte mit der Deutschen Krebshilfe eine Bürgerbewegung initiieren: Alle Menschen in Deutschland sollten Verantwortung übernehmen und sich am Kampf gegen den Krebs beteiligen. Und so wie Mildred Scheel es sich vorgestellt hatte, so kam es dann auch – eine Bürgerbewegung war geboren! Alle packten mit an, die Bürgerinnen und Bürger spendeten, die Spendeneinnahmen stiegen und konnten sinnvoll eingesetzt werden und viele, die in der Onkologie Rang und Namen hatten, engagierten sich ehrenamtlich in den Gremien der Deutschen Krebshilfe. Es war einfach unglaublich!

Mit ihrer Arbeit und ihren Förderaktivitäten sowie angestoßenen Initiativen auf allen Gebieten der Krebsbekämpfung hat die Deutsche Krebshilfe seitdem maßgeblich dazu beigetragen, dass ein Tabu gebrochen wurde, es echte Durchbrüche in der Krebsforschung gab, dass die Heilungschancen stiegen und die Lebensqualität der Betroffenen sich erheblich verbesserte.

Aber auch 50 Jahre nach Gründung der Deutschen Krebshilfe ist bei Weitem nicht alles gut. Wir stehen immer noch vor großen Herausforderungen. Immer noch sterben zu viele Menschen an den Folgen dieser Krankheit, und die Zahl derer, die neu an Krebs erkranken, steigt leider – bedingt durch die demografische Entwicklung – ebenfalls.

Das Ziel der Deutschen Krebshilfe ist es, allen Betroffenen Heilungschancen zu ermöglichen. Auf dem Gebiet der Krebsforschung sind wir der wichtigste private Förderer in Deutschland und bringen richtungsweisende Projekte auf den Weg – immer mit dem Anspruch, Herausforderungen mit strategischen und innovativen Ansätzen zu begegnen.

Ein zentrales Anliegen war und ist es auch weiterhin, die Versorgungsstrukturen für Krebsbetroffene zu verbessern und dazu beizutragen, diese weiterzuentwickeln.

Die Entstehung von mittlerweile 15 Comprehensive Cancer Centern (CCC) mit 26 universitären Standorten in Deutschland kann dabei als wirklich bedeutender Meilenstein bezeichnet werden. Dies nicht nur, weil diese Zentren für eine exzellente Versorgung von Krebspatienten stehen, sondern auch, weil die Erkenntnisse aus diesen Spitzenzentren und die dort erarbeiteten Fortschritte Strahlkraft auf wiederum andere Kliniken, Krankenhäuser und Versorgungseinrichtungen haben. Die CCCs tragen damit auch zu einer flächendeckenden Versorgung von Krebspatienten auf höchstem wissenschaftlichem und medizinischem Niveau bei.

Bereits seit den späten 1970er-Jahren ist uns auch die psychoonkologische und -soziale Versorgung ein großes Anliegen. Die Förderung von Modelleinrichtungen durch die Deutsche Krebshilfe hat dazu beigetragen, dass sich dieses für die Onkologie wichtige Fach in Deutschland etablieren konnte. Mit einem im Jahr 2008 initiierten Förderprogramm hat die Deutsche Krebshilfe zudem die ambulanten Versorgungsstrukturen im psychosozialen Bereich nicht nur erheblich verbessert, sondern auch mit dafür Sorge getragen, dass psychosoziale Krebsberatungsstellen inzwischen durch die Krankenversicherungen regelfinanziert sind.

Auch in der Palliativmedizin waren wir Wegbereiter. Seit unserem Anstoß 1983 mit der Errichtung der ersten Palliativstation am Universitätsklinikum Köln haben wir zahlreiche Projekte, Programme und Initiativen erfolgreich auf den Weg gebracht, um die Palliativmedizin in Deutschland zu implementieren.

Die Krebsprävention war bereits in der Vergangenheit ein wichtiges Thema der Deutschen Krebshilfe und wird in Zukunft einen noch höheren Stellenwert für uns einnehmen. Denn Expertinnen und Experten zufolge wären rund 40 Prozent aller Krebsneuerkrankungen durch eine gesunde Lebensweise vermeidbar. Krebs mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorzubeugen, muss im Kampf gegen diese Krankheit daher immer oberste Priorität haben. Wir sind davon überzeugt, dass eine erfolgreiche Prävention aber nur gelingen kann, wenn sie alle gesellschaftlichen Bereiche und Lebenswelten durchdringt und wir Menschen bereits vom Kindesalter an für dieses wichtige Thema sensibilisieren. Hier wird allerdings in Zukunft auch die Politik in hohem Maße gefordert sein. Die Errichtung eines Nationalen Krebspräventionszentrums in Heidelberg – gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum – ist eine wichtige Etappe, um Forschung und Implementierung der Krebsprävention nachhaltig zu stärken. Unsere maßgebliche Förderung dieses Zentrums sehen wir hier als essenzielle Investition in die Zukunft.

Liebe Leserin, lieber Leser, 50 Jahre Deutsche Krebshilfe bedeutet 50 Jahre der Mensch im Mittelpunkt, 50 Jahre Unterstützung von Menschen für Menschen. Es freut mich sehr, dass wir zu unserem Jubiläum zusammen mit dem Piper Verlag dieses informative und lebendige Buch herausgeben.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und hoffe, dass Sie auch weiterhin an unserer Seite sind.

Ihr Gerd Nettekoven

Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe

2 Grußwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich erinnere mich gerne an das Jahresende 2020. Damals fragten mich Dr. Joachim Faber, der Vorsitzende des Stiftungsrates, und Gerd Nettekoven, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe, ob ich mir vorstellen könnte, die Präsidentschaft der Deutschen Krebshilfe, dieser hoch angesehenen Organisation, zu übernehmen. Diese Anfrage erfüllte mich mit tiefem Stolz. Meine Entscheidung stand schnell fest, obwohl ich angesichts der großen Verantwortung, die mit diesem Amt verbunden ist, zunächst auch Bedenken hatte. Kann ich dieses Amt ausfüllen? Verfüge ich über ausreichend Kapazitäten, mich dieser wichtigen Aufgabe zu widmen? Das waren Fragen, die mich bewegten. Doch natürlich überwog mein Wunsch, zu helfen und zu unterstützen. Denn wie könnte ich mich besser für krebskranke Menschen einsetzen als in Funktion der Präsidentin der Deutschen Krebshilfe? Heute bin ich sehr froh, dass ich dieses mir anvertraute Amt im März 2021 übernommen habe und das Wirken der Deutschen Krebshilfe begleiten und auch mitgestalten darf.

Auch ich selbst habe schmerzhafte Erfahrung mit der Krankheit Krebs gemacht. Mein Ehemann und Vater meiner Kinder erkrankte in den 1990er-Jahren an Krebs und ist daran auch verstorben. Wir haben seine Krebserkrankung damals verschwiegen. Zum einen, weil meine Familie und ich viel Wert auf unsere Privatsphäre legten. Zum anderen aber auch, weil diese Erkrankung in den 1990er-Jahren oftmals noch ein Stigma war. Wir hatten das Gefühl, dass die Diagnose Krebs bedeutet, als Krebs-Betroffener kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mehr zu sein. Dies war für uns alle auch psychisch eine sehr belastende Situation.

Die Gründung der Deutschen Krebshilfe vor 50 Jahren durch Dr. Mildred Scheel – eine außergewöhnliche Frau – fiel in eine Zeit, in der mit Krebs weitestgehend tabuisierend umgegangen wurde. Auch die moderne Krebstherapie und -versorgung – so wie wir sie heute kennen – befand sich erst in den Anfängen. Das besondere Anliegen der Deutschen Krebshilfe war es daher, Krebsbetroffenen und ihren Angehörigen greifbare Hilfe bei der Bewältigung der Erkrankung zu geben, zur Entstigmatisierung von Krebs beizutragen, über das Thema umfassend zu informieren sowie wegweisende Forschungs- und Versorgungsprojekte zu fördern.

Dank der ungebrochenen Spendenbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger konnte die Deutsche Krebshilfe in den letzten 50 Jahren wahrhaft Großes leisten. Als Präsidentin der Deutschen Krebshilfe bin ich unglaublich stolz, sagen zu können, dass die mannigfachen Förderungen und Initiativen unserer Organisation maßgeblich dazu beigetragen haben, die Versorgung von krebskranken Menschen nachhaltig zu verbessern.

Doch nicht nur das. Der Deutschen Krebshilfe ist es dank ihres visionären Blicks auch gelungen, die richtigen Weichen für innovative und zukunftsweisende Versorgungskonzepte von Krebsbetroffenen zu stellen.

Im Mittelpunkt der Mensch – 50 Jahre Deutsche Krebshilfe – bereits der Titel dieses bewegenden Buches verheißt einen ganz wunderbaren Lesegenuss. Tauchen Sie ein in die Geschichte der Deutschen Krebshilfe – von den Anfängen mit ihrer bemerkenswerten Gründerin Dr. Mildred Scheel über die Entwicklungen in der Palliativmedizin und Kinderonkologie bis hin zu Geschichten von Botschaftern der Deutschen Krebshilfe.

Um die Arbeit der Deutschen Krebshilfe auch künftig erfolgreich meistern zu können, sind wir weiterhin auf Ihre Unterstützung angewiesen. Bitte bleiben Sie uns daher auch in Zukunft treu.

Ich wünsche Ihnen von Herzen eine inspirierende und anregende Lektüre.

Ihre Anne-Sophie Mutter

Präsidentin der Deutschen Krebshilfe

3 Gemeinsam gegen den Krebs

Eine Bürgerbewegung wird fünfzig – der Blick zurück

Ein Tabu kommt auf den Tisch

Als ich ein Kind war, fiel bei einer Unterhaltung an der opulent gedeckten Kaffeetafel mit Torte und Goldrandservice meiner Großmutter wie aus heiterem Himmel das Wort »Krebs«. Ich horchte auf. Noch weit in die Achtzigerjahre hinein fand man für schlimme Krankheiten oft eher harmlos klingende Bezeichnungen, niemand sprach etwa von Demenz oder Alzheimer, vielmehr waren der Onkel Willi[1] oder die Tante Alma eben ein bisschen vergesslich oder tatterig, im schlimmsten Fall etwas verkalkt. Als mein Großvater mit Mitte siebzig einen Schlaganfall hatte, war zunächst von einem »Schlägle« die Rede, und ich konnte nicht ganz nachvollziehen, warum alle angesichts dieser doch eher niedlich wirkenden Diagnose so betroffene Gesichter machten.

Kurzum, vor fünfzig Jahren blieb man in Sachen Krankheiten allgemein gern noch ein bisschen vage. Hin und wieder war von einem »Knötchen« die Rede oder von einer »Geschwulst«, auch da machten die Erwachsenen ernste Mienen, und ich ahnte, dass das Ganze deutlich schlimmer sein musste, als die Begriffe suggerierten. Das Wort »Krebs« war normalerweise höchstens hinter vorgehaltener Hand zu hören. Umso erstaunter war ich, als es an jenem Sonntagnachmittag so klar und unumwunden auf den Kaffeetisch kam.

Die Herren der Familie verfolgten nebenan vor dem Fernseher ein Fußballspiel – hin und wieder war ein verzweifeltes »Foul!« oder »Jetzt hau ihn halt rein!« zu hören, einmal mehr schien der 1. FC Nürnberg zu verlieren, und mir graute schon jetzt vor der schlechten Laune, die sich sehr wahrscheinlich bald bei meinem fußballbesessenen Bruder einstellen würde. Wir saßen im Esszimmer also in einer reinen und ungestörten Frauenrunde: meine Mutter, meine Großmutter mütterlicherseits, meine Großmutter väterlicherseits und Tante Marie mit ihrer damals schon hochbetagten Mutter, mit der wir alle per Sie waren und sie artig »Frau Egon« nannten. Frau Egon war übrigens keineswegs »verkalkt«, sondern blitzblank im Hirn.

Die Unterhaltung drehte sich um eine entfernte Verwandte, bei der man offenbar kürzlich einen Teil der Brust hatte entfernen müssen. Das weise, faltenüberzogene Gesicht von Frau Egon mit den kleinen, wachen Augen verdunkelte sich. Sie hatte schon viel gesehen – zwei Weltkriege, eine Flucht aus Ostpreußen, einen neuen Anfang in der schwäbischen Provinz. Wenn selbst sie zuckte, musste es ernst sein, dachte ich. Tante Marie schürzte die Lippen und schüttelte leise den Kopf. Auch meine Oma machte einen betroffenen Eindruck, während meine Omi nervös an dem Spitzentaschentüchlein herumnestelte, das sie immer im Ärmel ihrer Bluse versteckte. Ihr goldenes Armband mit den vielen Anhängern klimperte unheilvoll. Meine Mutter dagegen, Pragmatikerin durch und durch, hielt sich an sachliche Fragen. Wie geht’s der Patientin? Ist sie in guten Händen? Kommt eine Kur infrage? Ich schaute von einem Gesicht zum anderen. Diese Frauen gehörten zu meinem Leben, seit ich denken konnte. Die Tatsache, dass etwas sie kollektiv derart aus dem Tritt brachte, beunruhigte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte.

»Krebs« – ich wusste wenig darüber, aber wenn ich all die Gesprächsfetzen, die ich hier und da aufgeschnappt hatte, richtig zusammensetzte, war die Krankheit ein Todesurteil. Keine Chance auf Heilung. Das Ende. Diese Vorstellung hatte auch ein Film, den ich heimlich gemeinsam mit meiner Freundin Petra angesehen hatte, in meiner Kinderseele betoniert: Love Story – die herzzerreißende Geschichte von Oliver und Jenny, die sich an der Uni kennenlernen und unsterblich ineinander verlieben. Die beiden kommen aus unterschiedlichen Welten, er Sohn einer wohlhabenden, stockkonservativen Familie, sie Spross italienischer Einwanderer. Den Eltern zum Trotz heiraten die beiden und schlagen sich durch. Als Jenny trotz Kinderwunsch nicht schwanger wird, geht sie zum Arzt und wird mit einer grausamen Diagnose konfrontiert: Sie hat Leukämie. Um die teure Behandlung zu bezahlen, erbittet Oliver, verkörpert von Ryan O’Neal, Geld von seinem Vater, was ihn einige Überwindung kostet. Trotz bestmöglicher Behandlung aber stirbt Jenny, überwältigend gespielt von Ali MacGraw, in den Armen Olivers. Taschentücher für alle!

Sofort begann es in meinem Kopf zu rattern. Was, wenn meine Großmütter an Krebs erkranken würden oder, noch schlimmer, meine Mutter? Für den Rest des Nachmittags blieb ich seltsam still, und die Schwarzwälder Kirschtorte, der ganze Stolz meiner Omi, wollte mir nicht mehr recht schmecken. Als sich wenig später meine Großmütter mit einem Gläschen Eierlikör ins Wohnzimmer setzten, gesellte ich mich zu meiner Mutter in die Küche. Sie war schon dabei, die Lachsröllchen und den Aufschnitt fürs Abendessen vorzubereiten. Statt zu helfen, stand ich nur da und schaute schweigsam konzentriert auf die orangeroten Kacheln mit den bunten Prilblumen-Stickern, als könnten sie mir das Ganze erklären. Meine Mutter merkte gleich, dass mir etwas auf der Seele lag, und da sprudelte es auch schon aus mir raus: »Ich mache mir größte Sorgen um dich und sämtliche Anverwandte, dieser Krebs ist ja ein echter Killer.« Meine Mutter nickte, und erklärte, dass Krebs tatsächlich eine gefährliche Krankheit sei, aber keineswegs immer tödlich verlaufe. Ich selbst würde sogar eine Person sehr gut kennen, die diese tückische Krankheit gehabt habe und geheilt worden sei. Ich konnte es nicht glauben. Von wem sprach sie? »Als du geboren wurdest, hatte Oma eine große Operation«, fuhr meine Mutter fort. »Sie hatte Krebs, und man hat ihr die Gebärmutter entfernt. Aber jetzt ist sie wieder ganz gesund.« Ich war baff. Meine Oma! Krebs!

Am Abend saßen wir bei meinen Großeltern auf dem Sofa. Im Fernseher lief – wie immer ein bisschen zu laut – Heinz Schenks Musiksendung Zum Blauen Bock, obwohl mein Bruder und ich insgeheim viel lieber einen amerikanischen Actionfilm, der zeitgleich im Zweiten lief, gesehen hätten. Ich rückte näher an meine Oma ran, sie nahm meine kleine Kinderhand in ihre warmen, kräftigen Hände, die ein Lebtag lang gebacken, gekocht, geputzt, gegärtnert hatten, und drückte sie.

Als ich meine Oma später mal direkt auf ihre Krebserkrankung ansprach, erzählte sie mir zuerst etwas zögernd, dann aber doch sehr offen: 1974, im Jahr meiner Geburt also, habe sie mit Ende fünfzig und damit einige Zeit nach der Menopause plötzlich Beschwerden bekommen und sei zum Frauenarzt gegangen. Im Krankenhaus wurde eine sogenannte Totaloperation vorgenommen und die Gebärmutter entfernt. Als der Arzt ihr nach der OP direkt ins Gesicht gesagt hat, dass ein ebenfalls entnommener Polyp bösartig gewesen sei, sie also Krebs gehabt habe, war sie völlig schockiert. Die wenigen Bekannten und Freundinnen, die sie ins Vertrauen zog, waren empört. Wie konnte ein Mediziner einem so was ins Gesicht sagen? Das gehörte sich doch nicht!

 

Wie gesagt, in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren wurden körperliche und auch psychische Beschwerden und Erkrankungen teilweise noch sehr verklausuliert abgehandelt. Die ungeschönten Worte des Arztes meiner Großmutter waren auch deshalb so schockierend, weil man eine derartige Offenheit nicht gewohnt war. Gerade an Krebs Erkrankten wurde die wahre Diagnose allzu häufig verschwiegen. Das hatte auch damit zu tun, dass der Krebs damals meist erst sehr spät entdeckt wurde und man ohnehin nicht mehr viel für den Patienten oder die Patientin tun konnte. Oft wurden sie nach Hause geschickt, im Unklaren über die Schwere ihrer Erkrankung. Das sei doch gnädiger, wurde argumentiert, als ihnen reinen Wein einzuschenken. Sicher ahnten viele Erkrankte, wie es um sie stand, sie spürten ja, dass etwas nicht in Ordnung war, aber der Herr Doktor war eben eine Respektsperson, wie der Herr Pfarrer oder der Herr Lehrer.

Krebs war lange Zeit ein Tabu. Vielleicht eben genau deshalb, weil die Ärzte den Kampf gegen den Krebs so oft verloren. Wer will schon eingestehen, dass er seinen Patientinnen und Patienten nicht helfen kann? Da wählten nicht wenige Mediziner lieber den vermeintlich schonenderen Weg für Patientin beziehungsweise Patient und den bequemeren für sich selbst, schließlich überbringt niemand gerne schlechte Nachrichten.

Wenn der Krebs als solches schon etwas Unaussprechliches war, dann galt das umso mehr für den sogenannten Frauenkrebs, also Unterleibs- und Brustkrebs. Hinter vorgehaltener Hand wurde darüber geflüstert, als wäre es etwas Unanständiges. Medizinerinnen waren in Praxen und Krankenhäusern eine Seltenheit. Die absolute Mehrzahl der Patientinnen hatte es also mit männlichen Ärzten zu tun. Die wiederum sprachen über Organe, die sie selbst nicht hatten – und das führte nicht selten zu einer gewissen, sagen wir mal, Ungelenkheit in der Kommunikation. Ähnlich wie sich Gynäkologen im Kreißsaal einem Thema, das Frauen ganz praktisch durchlebten, eher theoretisch annäherten, blieben Frauenkrebserkrankungen den Ärzten auf eine exklusive Art fremd. Lungenkrebs oder Bauchspeicheldrüsenkrebs konnte sie selbst treffen, aber ein Eierstockkrebs würde sie niemals heimsuchen. Das sorgte vielfach für eine noch größere Distanz zur Patientin, als es in diesen Tagen ohnehin zwischen Arzt und Erkrankter üblich war. Von einem Verhältnis auf Augenhöhe konnte damals in der Regel nicht die Rede sein.

Die Mutter der amerikanischen Vizepräsidentin Kamala Harris, Shyamala Gopalan, kam Ende der Fünfzigerjahre aus Indien in die USA, um in Berkeley Medizin zu studieren. Sie spezialisierte sich auf die Erforschung von Brustkrebs. Ihre erklärten zwei Ziele im Leben seien gewesen, so Kamala Harris über ihre Mutter, die Töchter gut zu erziehen und den Brustkrebs zu besiegen. Und tatsächlich lieferte ihre Arbeit hinsichtlich der Frage, welche Rolle Hormone im Zusammenhang mit dieser Krankheit spielen, wichtige Erkenntnisse. Kamala Harris erinnert sich an einen Abend, an dem die Mutter von ihrer Arbeit aus dem Krankenhaus nach Hause kam und außer sich war vor Zorn. Auf einem Metalltablett hatte ein Krankenhauskollege eine gerade abgenommene Brust einer Patientin ganz ungeschützt und ungeniert durch die Gegend getragen. »Ihr ging es um die Würde von Frauen«, erinnert sich Kamala Harris. »Sie rief: ›Glaubt Ihr, sie würden mit einem Tablett mit dem Ihr-wisst-schon-was eines Mannes durch die Gegend laufen, ohne ihm zumindest die Würde zu erweisen, das Ding zu bedecken?‹«[2]

Krebspatientinnen mussten im Männerbetrieb Krankenhaus in diesen Tagen einiges einstecken. Der »Standard-Mensch« war nun mal der Mann. An ihm wurden sämtliche Medikamente und Therapien getestet, sein Körper galt als Maß der Dinge. Frauen und ihre spezifischen körperlichen Eigenschaften und Erkrankungen befanden sich außerhalb der damaligen Norm und blieben daher weiten Teilen der Ärzteschaft schlicht und einfach ein Stück weit fremd.

Die Sängerin und Schauspielerin Hildegard Knef schrieb über die mangelnde Empathie der Ärzte und den durch und durch verklemmten Umgang mit dem Thema Krebs im Jahr 1975 ein ganzes Buch. Fünf Jahre zuvor hatte sie mit ihren Memoiren Der geschenkte Gaul einen internationalen Bestseller gelandet. Schon darin hatte sie recht ungeniert abgerechnet. Die gerade wieder zu Wohlstand und einigem bescheidenen Ansehen gekommenen Deutschen waren derart klare Worte in Sachen Vergangenheitsbewältigung nicht gewohnt. Den Ruf einer, die nicht recht reinpasste und etwas zu exotisch war für die frühe Bonner Republik mit Nierentisch, seichtem Schlager und Heimatfilm-Idyll, hatte sich die Knef schon 1950 erworben, als sie im Film Die Sünderin in einer Nacktszene zu sehen gewesen war. Die völlig entsetzte katholische Kirche hatte das Machwerk, in dem Themen wie Prostitution, Selbstmord und übrigens auch Krebs mit atemberaubender Offenheit abgehandelt wurden, am liebsten verbieten lassen wollen, die braven Deutschen hatten pikiert den Kopf geschüttelt und waren dennoch zu Tausenden in die Kinos geströmt. Der Skandal hing Knef noch Jahrzehnte später nach.

Mit ihrem Buch Das Urteil oder der Gegenmensch brachte Hildegard Knef nicht nur die Ärzteschaft gegen sich auf, sie überrumpelte auch das Lesepublikum mit ihrer schonungslosen Offenheit. Dennoch wurde auch dieses Buch ein internationaler Erfolg. Sie berichtete schmerzhaft detailreich über ihre Brustkrebserkrankung und die zahlreichen Operationen, die sie über sich ergehen lassen musste. »Der Herrgötter-Status der Ärzte, die Entmündigten-Station der Patienten, Medizinmanns-Hochmut und Kranken-Demut, Routine-Roheiten des Klinikbetriebs, das Defizit an Mitleid – das sind Hilde Knefs Themen«, schrieb der Spiegel.[3]

Knef sah sich ganz bewusst als Tabubrecherin, eine Rolle, die sie, wie gesagt, seit Die Sünderin sehr überzeugend spielte. »Ich hab ein Tabu angegangen«, erklärte sie in einem Interview. »Mich interessiert immer sowieso, etwas aufzugreifen, was so lahm rumliegt. Wir alle machen furchtbar auf Protest und bleiben bei den dicksten Tabus wunderschön im Takt.« Auch im Hinblick auf die Medizinerzunft nahm sie kein Blatt vor den Mund. Die Ärzte, so Knef, umgebe ein Tabu. »Jeder andere Beruf muss sich schon eine Kritik in der Öffentlichkeit gefallen lassen. Aber die Ärzte, im Grunde genommen waren das immer Engel, die ihre Flügel in der Reinigung hatten.«[4]

Bewegend und schockierend an ihrem Buch war aber vor allem die Brutalität, mit der Knef die Operationen, die Narben, die Veränderungen an ihrem Körper und ihre Angst vor dem Tod zum Ausdruck brachte. »Der blutrote Streifen, von schwarzen Fäden zusammengehalten, zieht sich diagonal über die Rippen, verschwindet im Kreuzschnitt auseinanderlaufend, in der Achsel«, schreibt sie. »Seltsam, ich fühle kein Bedauern, keine Unwiderbringlich-verlorene Schönheit-Weinerlichkeit (…) Kleiner Busen (…), weit auseinanderliegend, kein Büstenhalter passte, keiner wurde benötigt, fest war er, von zuverlässigen, starken Muskeln gehalten. Der Muskel ist auch futsch.«[5]

 

Knefs Schilderungen waren drastisch und wirkten zweifellos auf viele Frauen aufrüttelnd. Die Schauspielerin war eine weltbekannte und wortgewandte Vertreterin einer neuen Offenheit. Aber während Knef an die Öffentlichkeit ging, durchlitten viele Patientinnen und Patienten die Krankheit noch immer im Stillen. Zum Beispiel die bekannte SPD-Politikerin Marie Schlei. Seit 1969 saß sie im Bundestag, 1976 machte Kanzler Helmut Schmidt sie zur Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1980 wurde sie als erste Frau stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Bereits vor ihrem Einzug ins Parlament war bei Schlei Brustkrebs diagnostiziert worden, aber die Chance, Bundestagsabgeordnete zu werden, wollte sie sich keinesfalls entgehen lassen. »Ich war besessen von der Absicht, in den mir noch verbleibenden Jahren etwas zu bewirken«, so Schlei, »gesellschaftliche Veränderungen zugunsten der Frauen mit anzustoßen. Ich nahm mir gar nicht die Zeit, über diesen Schicksalsschlag Krebs nachzugrübeln. Das erlaubte ich mir nicht.« Eins war ihr aber auch klar: In Bonn durfte sie keine Schwäche zeigen, schon gar nicht als Frau. Sie verschwieg ihre Erkrankung und verdrängte sie zuweilen auch selbst. Später berichtete sie, dass sie den Krebs insgeheim ihr »Haustier« nannte.[6]

Marie Schleis Beispiel ist besonders erschütternd. Über viele Jahre war sie eine bekannte Größe im politischen Bonn, kämpfte sich als eine von ganz wenigen Frauen bis an die Spitze einer großen Volkspartei, vernachlässigte ihren angegriffenen Körper, versagte sich womöglich nötige Therapien und Kuren, lebte in der Angst, dass man ihre Erkrankung öffentlich machte. 1978 aber ließ der Kanzler Schlei auf sehr unfeine Art fallen. Schmidt befand es nicht einmal für nötig, der Ministerin persönlich mitzuteilen, dass sie ihren Posten im Zuge einer Kabinettsumbildung verlieren würde, sie erfuhr es erst bei der morgendlichen Zeitungslektüre. Anschließend musste sie ertragen, dass ihr Parteikollege Hans Apel, durch ebenjene Kabinettsumbildung zum Verteidigungsminister avanciert, ihre Brustkrebserkrankung ausplauderte. Im Fernsehen spekulierte er darüber, dass die Krankheit der Grund für ihren in Wahrheit ja erzwungenen Rücktritt sein könnte. 1983 starb Marie Schlei im Alter von 64 Jahren.[7]

 

Wie hilflos der Umgang mit Krebs in diesen Jahren war, zeigt auch eindrucksvoll ein Buch der Schriftstellerin Maxie Wander, die Mitte der Siebzigerjahre ebenfalls an Brustkrebs erkrankte. Wander, 1933 in Wien geboren, lebte mit ihrem Mann, dem Autor Fred Wander, ab 1958 in der DDR. Einige Bekanntheit erlangte sie mit ihren Protokollen Guten Morgen, du Schöne, in denen 19 Frauen zwischen 16 und 92 Jahren von ihrem Alltag berichteten, über ihre Sorgen und Gedanken, Hoffnungen und Ängste. Erwies sich Wander in diesem Buch als gute Zuhörerin, die ihren Geschlechtsgenossinnen in der DDR eine Stimme gab, mal mitreißend, mal nachdenklich, immer eindrucksvoll, so berichtet sie in ihrem letzten Werk Leben wäre eine prima Alternative von ihrem eigenen Schicksal.

Im Sommer 1976 ertastet Wander einen Knoten in der Brust und wird erst mal vertröstet, weil Urlaubszeit ist. Als sie dann endlich operiert wird, nimmt man ihr die gesamte Brust ab. Sie beschreibt, wie sie nach der Narkose erwacht: »Und dann das Gefühl im eng umschnürten Brustkorb: Die Brust ist weg! Und ich verbrenne.« Sie verzweifelt, weil sie keine ehrliche Auskunft bekommt, immer wieder hingehalten wird: »Was die Ärzte sagen in den nächsten Tagen, deutet nicht nur auf Krebs hin, das ist jetzt sowieso eindeutig, sondern daß sie offenbar nicht alles erwischt haben. Ich entnehme es ihren wortkargen Sätzen, die ich ihnen nach und nach entreiße. Ich löchere sie mit Fragen, vielleicht sind sie das nicht gewöhnt. Vielleicht ertragen andere Patienten ihr Los apathisch. Warum schauen sie sich die Menschen nicht an? Warum kann man dem Kranken seine Lage nicht besser erklären?«[8] Wie vielen anderen Patientinnen und Patienten in diesen Jahren wird auch Maxie Wander nicht reiner Wein eingeschenkt, man enthält ihr die klare Diagnose Krebs einfach vor. Alles muss sie sich selbst zusammenreimen. Die Ungewissheit macht zusätzlich machtlos.

Quicklebendig und gleichzeitig todtraurig schildert sie in Tagebucheinträgen und Briefen ihren beschwerlichen Alltag mit der Erkrankung, aber auch den Optimismus und die Lebenslust, die sie immer wieder mit ganzer Wucht überkommen. »Und ich freue mich wie ein Kind, freue mich über den Tag, die Sonne, die Wolken, den Regen, die Vögel auf den Baumwipfeln«, schreibt sie im Sommer 1977, wenige Monate vor ihrem Tod, an ihre Freundin, die Schriftstellerin Christa Wolf. Sie habe Momente, so schreibt sie, in denen sie jeden Gegenstand ganz plastisch sehe, das bedeute »zu wissen, daß du lebst und atmest und dein Blut heftig pulsiert (…) Das ist das Leben, dieser Augenblick … das war es schon.«[9]

Wanders Buch wirft ein gnadenloses Licht auf die Umwelt der Patientin, den Krankenhaus-Betrieb, die Ärzteschaft, die brutale Hoffnungslosigkeit, die ihr entgegenschlägt, auch wenn das Übel nie wirklich beim Namen genannt wird. Wiederholt wundert sie sich über die mangelnde Empathie: »… ich frage mich, wie man das den Ärzten bewußt machen kann. Sie können doch nicht Körperteile heilen, ohne an den ganzen Menschen zu denken, das ist doch absurd.«[10]

Bis zum Schluss sagt man ihr, sie habe lediglich Zysten an der Leber, obwohl sie längst ahnt, dass es sich in Wahrheit um Metastasen handelt. »Manchmal glaube ich nicht mehr daran, daß ich wieder gesund werde«, notiert sie zehn Tage vor ihrem Tod.[11] Im November 1977 stirbt Maxie Wander im Alter von nur 44 Jahren.

 

Nur wenn man diesen verdrucksten, ja tabuisierten Umgang mit der Krankheit vor Augen hat, kann man ermessen, warum eine Nachricht, die ebenfalls Mitte der Siebzigerjahre aus Washington herüberschwappte, wie eine Bombe einschlug. Das bislang so schamhaft beschwiegene Thema Brustkrebs wurde ans grelle Licht der Öffentlichkeit gebracht, und zwar ausgerechnet durch eine Frau, die bis dato vor allem für die glitzernde Welt der High Society gestanden hatte.

Kurz nachdem ihr Mann nach dem Rücktritt Richard Nixons US-Präsident geworden war, hatten Ärzte bei der neuen First Lady Betty Ford ein Mamma-Karzinom diagnostiziert. Das Vertrauen in die US-amerikanischen politischen Institutionen und »die da oben in Washington« war nach der Watergate-Affäre schwer erschüttert. Wohl auch deshalb entschloss sich Betty Ford, mit dieser Diagnose offen umzugehen – ein damals ganz und gar ungewöhnlicher, ja unerhörter Vorgang. Die Presse berichtete eingehend über den Gesundheitszustand der Ersten Dame. Es wurden sogar Fotos von ihr im Krankenhauszimmer veröffentlicht.

In einem Interview in den frühen Achtzigerjahren, also einige Jahre nach ihrer Erkrankung, berichtete Betty Ford, dass sie, als man sie damals in den Operationssaal brachte, nicht gewusst habe, ob sie mit einer oder zwei Brüsten wieder aufwachen würde. Sie sei sich aber relativ sicher gewesen, dass man vermutlich die gesamte rechte Brust entfernen würde. Und so kam es auch. Der Umgang Fords mit ihrer Krankheit war ein absolutes Novum und verlangte ihr und ihrer Familie einiges ab. Ihre Tochter Susan, noch ein Teenager, war völlig verzweifelt, war für sie, wie für so viele andere damals, die Diagnose Krebs doch gleichbedeutend mit einem Todesurteil.[12]

Die Nachricht, dass die First Lady eine Mastektomie habe durchführen lassen, erschütterte 1974 die Öffentlichkeit, und zwar weit über die USA hinaus. Das Weiße Haus erhielt Zehntausende von Briefen und Telegrammen. Die Anteilnahme war riesig. Man wusste gar nicht, wohin mit den Blumensträußen. Aber Betty Ford wollte es nicht bei Mitleid und Bestürzung belassen. Sie wollte, dass ihr Schicksal für etwas gut war. Und so nutzte sie die immense Aufmerksamkeit, die diesem bis dahin so unterbelichteten Thema durch ihre eigene Geschichte zuteilwurde. Schließlich verpasst eine First Lady selbst dem Thema Krebs eine gehörige Portion Glamour. Ford rief die Amerikanerinnen dazu auf, regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen. Ihr radikal offener Umgang mit dem Brustkrebs löste eine wahre Welle aus. Im ganzen Land verzeichneten Frauenärzte und Kliniken einen enormen Anstieg an Bürgerinnen, die sich zur Mammografie anmeldeten.[13]

Betty Ford überstand den Brustkrebs und ging anschließend auch ihre jahrelange Alkohol- und Tablettensucht offensiv an. Suchterkrankungen waren damals mit einem wohl noch stärkeren Tabu belegt als der Krebs und darüber hinaus gesellschaftlich massiv stigmatisiert. Nach einer erfolgreichen Entziehungskur und ihrer Genesung gründete Ford 1982 in Kalifornien die Betty-Ford-Klinik, um auch anderen eine Möglichkeit zu geben, Schluss zu machen mit Drogen- und Alkoholmissbrauch.

Die Popularität der First Lady half, das Thema anzugehen, ihm ein menschliches Gesicht zu geben. Seine Frau, so Gerald Ford, habe mit ihrer Kommunikationsoffensive und ihrer Aufklärungsarbeit in Sachen Krebs und Suchtkrankheiten vermutlich einen größeren und nachhaltigeren Fußabdruck in der amerikanischen Geschichte hinterlassen als er selbst.[14] Damit könnte er richtigliegen. Und selbiges gilt wohl für jenen Präsidenten und jene First Lady, um die es im Folgenden gehen wird.

Mildred Scheel empfängt Betty Ford im Juli 1975 in der Villa Hammerschmidt. Rechts im Bild: Hannelore Schmidt. [1]

 

»Ich mache in Krebs«

Rut Brandt, damals Kanzlergattin, erinnert sich, dass sie kurz vor der Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten im Frühjahr 1974 mit dessen Frau Mildred im Weinhaus Maternus zusammensaß. »›Mildred‹, sagte ich, ›ich freue mich, dich im Fernsehen zu sehen bei den Appellen für das Müttergenesungswerk.‹ ›Nie im Leben‹, antwortete Mildred. ›Ich mache in Krebs.‹«[15]

Was tat sich in diesem Bonn der frühen Siebzigerjahre, in das Mildred Scheel durch ihre Einheirat in die Politik hineinkatapultiert wurde? Nun, beginnen wir in jenem Restaurant Weinhaus Maternus, das zu einem ihrer Lieblingslokale werden sollte. Geführt von der resoluten Ria Maternus, ging hier die Hautevolee Bonns ein und aus. Die verschiedenen Räume, holzgetäfelt oder gekachelt, ausgestattet mit roten Lampenschirmen und Messingleuchtern, Zinntellern und -krügen standen unter verschiedenen Motti und trugen Namen wie »Bauernstübchen«, »D-Zugwagen« oder auch »Kreißsaal«. Politiker und einige sehr wenige Politikerinnen trafen sich hier auf ein Bier oder ein Glas Wein. Auch Journalisten und wiederum einige sehr wenige Journalistinnen kamen gerne her. Hier konnte man ungestört reden. Aber natürlich wurde jedes Treffen von unzähligen neugierigen Augenpaaren beobachtet. Ria Maternus, eine rheinische Frohnatur, war eine Institution, sie kannte alles, was Rang und Namen hatte. Wer unter ihren Augen Gnade fand, konnte in Bonn etwas werden. Seit Adenauer waren die Kanzler und ihre Mannen – wie gesagt, Frauen musste man im Bonner Politikbetrieb mit der Lupe suchen – Stammkunden bei Ria.[16]

Rut Brandt, die 1966 an den Rhein gekommen war, schloss schnell enge Freundschaft mit Maternus. Die Norwegerin, die zuvor jahrelang internationale Gäste als Berlins First Lady in der geteilten Stadt empfangen hatte, nahm auch Bonn im Sturm. Seit 1969 saß mit Willy Brandt erstmals ein Sozialdemokrat im Kanzleramt. Für Brandt war die Tatsache, dass er es als ehemaliger Emigrant zum Regierungschef gebracht hatte, ein Beweis dafür, dass Deutschland sich verändert hatte. Ausländischen Pressevertretern gegenüber erklärte er, dass Hitler nun zum zweiten Mal den Krieg verloren habe.

Rut Brandt stand wie ihr Mann für eine neue Zeit, für Aufbruch aus der Steifheit der Adenauer-Zeit. Ende vierzig und Mutter dreier Jungs, brachte sie einen neuen Look und einen neuen Ton in diese merkwürdig provinzielle Hauptstadt. Es war, als hätte man ein Fenster aufgemacht, um frischen Wind hereinzulassen.

Bei diesem sozialliberalen Durchlüften der Republik wurde einiges durcheinandergewirbelt. Nicht nur schlugen Willy Brandt und sein Außenminister Walter Scheel gegenüber der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Paktes einen neuen Weg ein. »Wandel durch Annäherung« nannte man den Versuch, durch ein neues Verhältnis zu Moskau die Lebensumstände der Deutschen jenseits der Mauer zu verbessern. Statt aggressiver Kalter-Kriegs-Rhetorik wollte man auf Verhandlungen und Austausch setzen.

Auch innenpolitisch stieß diese rot-gelbe Koalition enorme Reformen an, man wollte »Mehr Demokratie wagen«. Das Wahlalter wurde auf 18 Jahre herabgesetzt. Man ging eine Reform des Strafrechts und eine Entkriminalisierung der Homosexualität an. Ja, man kann ohne Übertreibung sagen, Brandt, Scheel & Co. verpassten der Bundesrepublik einen veritablen Modernisierungsschub. Vor allem Politikerinnen aus der SPD drängten auf eine Reform des völlig anachronistischen Ehe- und Familienrechts. Frauen sollten endlich auch als Ehefrauen und Mütter gleichberechtigt werden. Erst 1969 wurde eine verheiratete Frau voll geschäftsfähig, erst seit 1977 mussten Frauen ihren Mann nicht mehr um Erlaubnis bitten, wenn sie arbeiten gehen wollten. Das letzte Stündlein des Patriarchats, so hofften Genossinnen und liberale Frauen gleichermaßen, habe geschlagen. Im Scheidungsrecht fiel das Schuld- zugunsten des Zerrüttungsprinzips. Der Versorgungsausgleich, erkämpft von der Sozialdemokratin Renate Lepsius gegen erbitterten männlichen Widerstand, sorgte dafür, dass Frauen nach einer Scheidung Anspruch auf einen Teil der während der Ehe angesparten Altersversorgung erhielten.

Rut Brandts aufgeschlossene skandinavische Art beeinflusste den Kanzler, denn im Zuge der Auseinandersetzungen mit der erwachenden Achtundsechzigerjugend ging es manchmal auch bei Kanzlers zu Hause hoch her. Die Brandts standen für eine neue Offenheit. Einmal im Jahr wurde rund um den Kanzlerbungalow ein großes Fest gefeiert, zu dem nicht nur Bonner Prominenz, Journalistinnen und Journalisten, Stars und Sternchen, sondern auch Krankenschwestern, Busfahrer, Lehrer und Ärztinnen eingeladen wurden. Rut Brandt, wie sie selbstbewusst und selbstbestimmt durchs Leben ging, wurde zweifellos für zahlreiche Frauen in Deutschland zum Vorbild.

Welchen Wandlungsprozess die Bundesrepublik durchlief, bewies nicht nur ein Kanzler Brandt, der jahrelang die übelsten Schmähreden über sich ergehen lassen musste. Noch in den Sechzigerjahren hatte der ehemalige Wehrmachtsoffizier Franz Josef Strauß gegiftet: »Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.«[17] Der Wandel wurde auch dadurch greifbar, dass plötzlich junge Menschen, gerade Frauen, sich gesellschaftlich und politisch engagierten und sichtbar wurden mit ihren auftoupierten Frisuren, ihren kurzen Röcken und bunten Kleidern. 1972 wurde Annemarie Renger als erste Frau Bundestagspräsidentin. Seit 1971 führte mit der Journalistin Wibke Bruhns erstmals eine Frau durch die heute-Nachrichten. Einige Herren verstanden die Welt nicht mehr, aber sie änderte sich dennoch. Daran konnte kein Zweifel bestehen.

Kurz und gut: Die späten Sechziger- und die Siebzigerjahre markierten eine echte Zeitenwende. Das wurde auch an der Spitze des Staates mehr als deutlich. Jahrelang war das Land von zwei Witwern repräsentiert worden, die noch im Kaiserreich geprägt worden waren. Als Konrad Adenauer und Theodor Heuss dann abtraten, übernahmen mit Ludwig Erhard und Heinrich Lübke ebenfalls ergraute Herren das Amt des Kanzlers beziehungsweise des Präsidenten. Noch Hilda und Gustav Heinemann waren bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber den Fragen der Gegenwart doch selbst schon im Rentenalter gewesen, als sie 1969 zum First Couple geworden waren. Den Aufbruch, den Optimismus dieser Jahre verkörperte im politischen Bonn wohl kaum jemand so umwerfend wie die neue First Family, die im Mai 1974 in die Villa Hammerschmidt zog. Dort, wo bislang grau melierte Herren mit ihren Gattinnen würdig gelächelt und gewunken hatten, zog nun eine Familie mit drei Kindern und wenig stubenreinem Hund ein. Plötzlich kam Leben in die Bude – pardon, Villa.

 

Die Scheels waren in vielerlei Hinsicht ein Novum: Nicht nur war die neue First Lady promovierte Ärztin und mit Anfang vierzig die jüngste Erste Dame, die das Land je gesehen hatte, es handelte sich um eine echte Patchwork-Familie in einer Zeit, als man diesen Begriff noch gar nicht kannte. Der FDP-Politiker Walter Scheel, die Nachwuchshoffnung seiner Partei, und die Röntgenärztin Mildred Wirtz hatten erst fünf Jahre zuvor geheiratet. Die Medizinerin hatte eine sechsjährige Tochter aus einer früheren Beziehung mit in die Ehe gebracht. Zusammen bekamen die Scheels 1970 eine weitere Tochter und adoptierten im selben Jahr einen Waisenjungen aus Bolivien.