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Lilli Palmer war mehr als eine Schauspielerin. Ihr turbulentes Leben hätte für drei gereicht, ihre Talente ebenfalls: Als Schauspielerin, Malerin und Autorin machte die Tochter eines jüdischen Arztes zunächst im Exil, dann im Nachkriegsdeutschland Karriere. Heike Specht schildert das Leben einer außergewöhnlichen Frau, die zur Legende wurde. Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt: Als Tochter eines jüdischen Arztes muss Lilli Palmer vor den Nazis fliehen, tingelt in Paris zunächst durch die Nachtclubs, bis sie, an der Seite ihres Ehemannes Rex Harrison, nach Hollywood geht und mit Gary Cooper, Jean Gabin und Clark Gable dreht. Nach großen Leinwanderfolgen schließlich der Absturz nach einer öffentlich gewordenen Affäre ihres Ehemannes. 1952 wagt sie, wovor viele ihrer jüdischen Leidensgenossen ein Leben lang zurückscheuten: Sie kehrt ins Land der Täter zurück und wird zum Star des deutschen Nachkriegsfilms. Zu ihren bekanntesten Filmen gehören „Mädchen in Uniform“ mit Romy Schneider sowie die Thomas-Mann-Verfilmung „Lotte in Weimar“. Ihre Memoiren „Dicke Lilli, gutes Kind“ waren ein Bestseller. Mit einer umfangreichen Filmographie.
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Seitenzahl: 646
Heike Specht, geb. 1974, studierte Germanistik und Geschichte in München. Sie promovierte über die Familie Lion Feuchtwangers und arbeitete mehrere Jahre als Verlagslektorin, heute lebt sie als freie Autorin und Lektorin in Zürich. Bei Aufbau lieferbar »Lilli Palmer. Die preußische Diva« und »Curd Jürgens. General und Gentleman« (Oktober 2015).
Lilli Palmer war mehr als eine Schauspielerin. Ihr turbulentes Leben hätte für drei gereicht, ihre Talente ebenfalls: Als Schauspielerin, Malerin und Autorin machte die Tochter eines jüdischen Arztes zunächst im Exil, dann im Nachkriegsdeutschland Karriere. Heike Specht schildert das Leben einer außergewöhnlichen Frau, die zur Legende wurde.
Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt: Als Tochter eines jüdischen Arztes muss Lilli Palmer vor den Nazis fliehen, tingelt in Paris zunächst durch die Nachtclubs, bis sie, an der Seite ihres Ehemannes Rex Harrison, nach Hollywood geht und mit Gary Cooper, Jean Gabin und Clark Gable dreht. Nach großen Leinwanderfolgen schließlich der Absturz nach einer öffentlich gewordenen Affäre ihres Ehemannes. 1952 wagt sie, wovor viele ihrer jüdischen Leidensgenossen ein Leben lang zurückscheuten: Sie kehrt ins Land der Täter zurück und wird zum Star des deutschen Nachkriegsfilms. Zu ihren bekanntesten Filmen gehören »Mädchen in Uniform« mit Romy Schneider sowie die Thomas-Mann-Verfilmung »Lotte in Weimar«. Ihre Memoiren »Dicke Lilli, gutes Kind« waren ein Bestseller.
Mit einer umfangreichen Filmographie.
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Heike Specht
Lilli Palmer
Die preußische Diva
Inhaltsübersicht
Über Heike Specht
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Einleitung Drei mal drei – Die vielen Karrieren der Lilli Palmer
Momentaufnahme: Waldschule zu Berlin im Frühjahr 1922
Kapitel 1 Eine preußische Familie
Wurzeln in Posen
Kriegskind
Ihres Vaters Tochter
Siegfried und der Drache
Momentaufnahme: Paris im Dezember 1933
Kapitel 2 Im Wartesaal
»Sie wollen dich nicht«
Plötzlich erwachsen
Becoming Lilli Palmer
Momentaufnahme: London im Dezember 1940
Kapitel 3 Eine halbfertige Frau
Eine Geschichte von Liebe und Verrat
Enemy Alien
Rendezvous mit Boa Constrictor
Lachen in einer fremden Sprache
Mrs. Rex Harrison
Momentaufnahme: Hollywood im Frühjahr 1946
Kapitel 4 Stand By Your Man
Der Duft von Orangenblüten
Fritz Langs Kasernenhof
Dolce Vita
Der Tod in Hollywood
Momentaufnahme: Portofino im August 1953
Kapitel 5 Paukenschlag und Feuerwerk
Die Show muss weitergehen
Ein Paar – auf der Bühne und im Leben
Miss Lilli
Frau Palmer
Bell, Book and Kendall
Momentaufnahme: Berlin im Herbst 1955
Kapitel 6 Ein deutscher Filmstar
Auf der Flucht
Hollywood-Glanz in Nachkriegsdeutschland
Displaced Person
Alles auf Anfang
Transit
Momentaufnahme: Fuschlsee im Sommer 1976
Kapitel 7 Hohe Gipfel und tiefe Täler
Flaute
Abgründe
Ost und West
Die neue Freiheit
Epilog
Anhang
Anmerkungen
Filmographie
Personenregister
Dank
Impressum
Tief unten im Tal glitzert der Zürichsee in der Sonne, am Horizont zeichnen sich majestätisch die schneebedeckten Glarner Alpen ab. An besonders klaren Tagen kann man die imposanten Bergspitzen des Mönchs und der Jungfrau sehen. Die Welt scheint unendlich von hier oben. Ein Gefühl der Freiheit überkommt einen und die Erkenntnis, wie klein und verletzbar der Mensch ist. Die Berge sind so gewaltig, die Natur so ursprünglich. Das alles, der Gedanke drängt sich hier auf, kann auch ganz gut ohne den Menschen existieren.
Als ich im Frühling 2013 das erste Mal nach Goldingen komme, an den Ort, an dem Lilli Palmer nach Stationen in Berlin, Paris, London, Hollywood und New York über 25 Jahre bis zu ihrem Tod gelebt hat, bin ich überwältigt von dem Panorama, das sich mir bietet. Wälder und Wiesen, umrahmt von steilen Bergspitzen. Anfang der sechziger Jahre zog Lilli Palmer mit ihrem zweiten Ehemann Carlos Thompson in den Kanton St. Gallen und verliebte sich auf Anhieb in dieses Stück Land oberhalb des beschaulichen Örtchens Goldingen. Zunächst lebten die Thompsons in einem wunderschönen alten Bauernhaus aus Holz, das seit Jahrhunderten auf dem Grundstück steht und an dessen niedrigen Deckenbalken sich der großgewachsene Argentinier Carlos immer wieder den Kopf stieß.
Als ihre Villa, La Loma genannt, samt Turnplatz und Pool auf dem Bergplateau fertiggestellt war, zogen sie um. Das riesige Haus sah aus, als gehöre es eher ins sonnige Kalifornien als auf einen Berggipfel in St. Gallen. Hier lebte das Paar, hier malte und schrieb Lilli Palmer, hier bereitete sie sich auf ihre Rollen vor. La Loma gibt es nicht mehr, der neue Besitzer des Grundstücks hat sich ein Domizil nach seinen Wünschen an die Stelle bauen lassen. Heute ist Goldingen Einzugsgebiet der stetig wachsenden Stadt Zürich, gut angebunden durch die Bahn und verschiedene Buslinien. Aber in den 1960er Jahren, als das Ehepaar Palmer/Thompson hierherkam, war Goldingen ein kleines, abgeschiedenes und eher ärmliches Bauerndorf.
Die Malerin und Schriftstellerin fand hier Ruhe und Inspiration. Zürich war nicht sehr weit, und auch den Flughafen Kloten erreichte man von Goldingen aus bereits in den sechziger und siebziger Jahren innerhalb etwa einer Stunde. Der Ort war also schon damals nicht aus der Welt, und doch muss das Leben auf La Loma von einer gewissen Einsamkeit geprägt gewesen sein. Mit den Bewohnern von Goldingen hatten Lilli und Carlos nicht viel zu tun. Man grüßte sich, wenn man sich auf der Post oder im örtlichen Laden traf, aber dabei blieb es. Auf La Loma hatte das Paar lediglich Gesellschaft von der Haushälterin Anni, dem Gärtner Antonio und ihren Boxerhunden. Eine Familie aus der Gegend, die Burkarts, lebte mit ihren Kindern auf dem Bauernhof, genannt Giebelhof, der zu Palmers riesigem Grundstück gehörte. Sie bewirtschafteten auch die dazugehörigen Äcker und hielten Milchkühe, die auf den Wiesen ringsum grasten. Die Burkarts waren Lillis und Carlos’ einzige Nachbarn. Das Paar verbrachte also Tage und Wochen in exklusiver Zweisamkeit.
In Interviews betonte Palmer immer wieder, wie sehr sie die Stille, die Abgeschiedenheit am Zürichsee genieße, dass ihr dort nichts fehle. Tatsächlich hegte die Schauspielerin offenbar eine gewisse Vorliebe für Häuser auf einsamen Gipfeln. Auch das Ferienhaus in Portofino, das sie und ihr erster Mann Rex Harrison Ende der 1940er Jahre an der ligurischen Küste hatten bauen lassen, lag hoch über dem Hafen des kleinen Örtchens und war nur über Trampelpfade erreichbar. Dennoch scheint der Schritt, sich als international gefeierte Schauspielerin mitten in den Bergen von St. Gallen niederzulassen, extrem. Was führte Lilli Palmer nach all den Jahren, die sie in den Hauptstädten der Welt verbracht hatte, nach ihren Erfolgen auf den Bühnen des Broadway und des Londoner West End in die wunderschöne, doch menschenleere Schweizer Bergwelt?
Lilli Palmer, die länger in Goldingen lebte als irgendwo sonst, hatte viele Talente und bestritt im Laufe ihres Lebens mannigfache Karrieren. Im Jahr 1932 wurde sie als junge Schauspielerin am Hessischen Landestheater in Darmstadt engagiert. Doch die zarten Anfänge ihrer deutschen Karriere wurden jäh unterbrochen, als Hitler am 30.Januar 1933 Reichskanzler wurde und ihre Heimat innerhalb nur weniger Monate in eine nationalsozialistische Diktatur verwandelte, deren diskriminierende Politik gegenüber den deutschen Juden es Palmer unmöglich machte, an eine Zukunft in diesem Land zu glauben. In Paris gelang es der jungen Künstlerin nicht, Fuß zu fassen, dafür schaffte sie es in England. Sie baute sich in den 1930er Jahren eine Karriere als Film- und Theaterschauspielerin auf, die durch die Heirat mit Rex Harrison, der zu diesem Zeitpunkt schon ein Bühnenstar war, noch einen gehörigen Schub bekam. Rex war auch der Grund für die Übersiedlung nach Hollywood im Herbst 1945. Hier begann Palmer noch einmal von neuem, diesmal unter weit günstigeren Bedingungen. Ihre amerikanische Karriere in der Traumfabrik startete verheißungsvoll. Noch erfolgreicher war Palmer wenig später an den Theatern des New Yorker Broadway. In den 1950er Jahren knüpfte sie wieder an ihre allererste Karriere in Deutschland an und wurde innerhalb kürzester Zeit ein Star in der noch jungen Bundesrepublik.
Drei Schauspielkarrieren in drei Ländern. Dreimal zurück auf Anfang. Dreimal von neuem durchstarten. Das allein ist bemerkenswert und doch längst nicht alles, was Lilli Palmers Talente hergaben. An zwei weiteren – dem Schreiben und dem Malen – arbeitete Palmer hart. In der zweiten Hälfte ihres Lebens machte sie aus ihnen richtiggehende Karrieren. Ihre Bilder wurden in Galerien in London, Köln und Zürich gezeigt und für stattliche Summen verkauft. Palmers Bücher waren internationale Bestseller. In einem Interview sagte sie einmal, dass sie mit ihrer Autobiographie und ihren Büchern mehr Geld verdient habe als mit all ihren Filmen zusammen.
In ihrer Autobiographie Dicke Lilli – gutes Kind vergleicht sich Lilli Palmer mit dem biblischen Jakob. Wie der Patriarch, der eine Nacht lang mit dem Engel des Herrn ringt, diesen nicht gehen lässt und ausruft: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!«, so beharrlich ringe sie selbst mit ihren Talenten und ihrer Arbeit. An dieser Stelle bezieht Palmer die Aussage auf die Malerei, aber sie gilt wohl für ihr gesamtes Schaffen, ja eigentlich für ihr ganzes Leben. Lilli Palmer war ein überaus disziplinierter, hartnäckiger Mensch. Nur so lässt sich erklären, dass es ihr in drei Ländern gelang, eine beachtliche Karriere als Schauspielerin zu machen, und dass sie unerschütterlich daran arbeitete, ihr Interesse und ihre Begabung für Kunst und Schriftstellerei zu einer zweiten und dritten Profession auszubauen.
Ehrgeiz und Hartnäckigkeit scheinen tatsächlich Hauptcharakterzüge Lilli Palmers gewesen zu sein. Sie setzte sich gegen ihren Vater durch und nahm Schauspielunterricht, schaffte es während des Krieges als unbekannte Emigrantin ohne Kontakte vor englische Kameras, feierte Erfolge in Hollywood und am Times Square, bis sie 1954 als Star nach Deutschland zurückkehrte. Die gleiche Beharrlichkeit findet man in Palmers Privatleben wieder. Trotz aller Affären, trotz der enormen Unterschiede in Temperament und Charakter hielt sie an der Ehe mit Rex Harrison fest, bis es gar nicht mehr ging. Auch zu ihrem zweiten Mann Carlos Thompson stand sie, obwohl auch diese Ehe ihr viel Leid bescherte.
Palmers Vater sagte ihr, als er die 18-Jährige im Herbst 1933 in Berlin in den Zug nach Paris setzte, Lilli müsse sich in der Emigration ein Korsett aus Stahl zulegen. Blickt man auf ihr Leben, so scheint es zuweilen, dass sie sich auch später nur selten erlaubt hat, dieses Stahlkorsett abzulegen. Haltung bewahren, diese Devise trug sie durch viele Krisen.
Lilli Palmers Leben, so reich es auch mit Erfolg gesegnet war, ist ein erkämpftes. Sie selbst bezeichnete sich als »preußische Ameise«. Viele Dinge, die sie anpackte, gelangen, aber diese Tatsache sollte nicht zu der Einschätzung verleiten, dass ihr alles zufiel. Was Lilli Palmer auch erreichte, war hart erarbeitet. Sie war in vielem die Tochter ihres Vaters, des fleißigen, unermüdlichen Chirurgen. Aber auch das Erbe der Mutter, die vor ihrer Heirat Schauspielerin gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Palmer stand zeit ihres Lebens im Spannungsfeld zwischen Bürgerlichkeit und Bohème, zwischen Rationalität und Phantasie, zwischen Wissenschaft und Kunst. Sie war die temperamentvolle, leidenschaftliche Mimin, die begeisterte Malerin, die über ihren Bildern alles andere vergessen konnte, und gleichzeitig die disziplinierte Autorin, die jeden Tag vor der Schreibmaschine ihr Pensum absolvierte und frühmorgens bürokratische Angelegenheiten regelte, weil sie der Meinung war, dass die lästigsten Dinge möglichst vor allem anderen zu erledigen seien.
Jede Art von Geschichtsschreibung, auch die Gattung der Biographie, ist bis zu einem gewissen Grad ein Konstrukt, auch wenn man selbstverständlich versucht, seinem »Untersuchungsobjekt« oder Thema so objektiv wie möglich zu begegnen und möglichst viele unterschiedliche Quellen und Standpunkte einfließen zu lassen. Leopold von Rankes Ziel, mit Geschichte das zu beschreiben, »was wirklich war«, lässt sich kaum umsetzen, denn auch Historiker sind Menschen mit Vorlieben und Interessen, die einen bestimmten Blickwinkel auswählen, spezielle Schwerpunkte setzen. Eine Biographie, die ausschließlich das abbildet, was im Ranke’schen Sinne »war«, kann es nicht geben. Mich interessiert Lilli Palmer vor allem im Kontext des 20.Jahrhunderts, in das sie hineingeboren wurde und das ihr Leben wie das so vieler Zeitgenossen mit seinen Umwälzungen, Kriegen und Katastrophen geprägt hat.
Lilli Palmer kam zur Welt, als die alten Monarchien, die Europa im 19.Jahrhundert untereinander aufgeteilt hatten, sich in einen Krieg von bis dahin ungekannten Ausmaßen stürzten. Lilli Marie Peiser war also ein Kriegskind, das die ersten Lebensjahre in Posen ohne Vater aufwuchs. Als Alfred Peiser nach vier langen Jahren aus Verdun zurückkehrte, packte die Familie die Koffer und zog wie viele deutsche Juden westwärts nach Berlin.
In der Hauptstadt der noch jungen deutschen Republik etablierte sich die Familie rasch. Die heranwachsende Lilli war eine Charlottenburger Arzttochter, Kind eines preußischen Juden, der eher bewusster Preuße als bewusster Jude war, bis die Nationalsozialisten ihn auf sein Judentum reduzierten und ihm die Zugehörigkeit zu seinem Vaterland absprachen. Als Jüdin musste Palmer nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch ihre Heimat verlassen und stand als Emigrantin, wie so viele andere heimatlos Gestrandete, in den 1930er Jahren angstvoll vor Grenzbeamten und Ausländerbehörden Schlange in der Hoffnung, Aufnahme und Rettung zu finden vor der barbarischen Verfolgung in ihrem Geburtsland. Als frischgebackene Ehefrau und versehen mit einem englischen Pass, erlebte sie den Blitz in London – Luftschutzbunker, Bombardierung und kriegsbedingte Rationierung. Mit ihrem Mann Rex verließ sie im Herbst 1945 das traumatisierte Europa in Richtung Amerika.
Palmer veröffentlichte im Jahr 1974 mit riesigem Erfolg ihre Autobiographie Dicke Lilli– gutes Kind. Mit diesem Buch hat sie maßgebend das Bild geprägt, das wir uns von ihrem Leben machen. Palmer folgte in ihren Memoiren und auch in ihrem autobiographischen Roman Der rote Rabe dem Leitspruch, den sie auch als Schauspielerin beherzigte: Trage nie zu dick auf, halte immer etwas zurück. Selbst bei der Schilderung von Erlebnissen, die überaus schmerzhaft gewesen sein müssen, wahrt Palmer eine ironische Distanz. Sie buchstabiert selten etwas aus, bleibt in der Andeutung. Die Dicke Lilli ist also eine wichtige Quelle, die aber immer wieder hinterfragt und mit anderen Dokumenten und Erinnerungen abgeglichen werden muss.
Etwas mehr als siebzig Jahre umfasst Palmers Leben. In dieser Zeit wurde sie aus ihrer Heimat vertrieben, eroberte diese nach dem Krieg im Sturm zurück und blieb doch auf Distanz. Fragen der Identität sind in diesem Kontext von besonderem Interesse. Palmer, die Preußin. Palmer, die Weltbürgerin. Die Identität eines Menschen ist immer vielschichtig, im Fall von Emigranten ist die Frage der Zugehörigkeiten noch komplexer. Wie sah sich Lilli Palmer selbst? Als Deutsche, als Jüdin, als Engländerin, als Europäerin, als Kosmopolitin? Oder einfach als Künstlerin, die ähnlich wie die Zirkusdirektorin Iduna, die Palmer in dem Film Feuerwerk so meisterhaft verkörperte, überall dort zu Hause ist, wo ihr Zelt steht, wo ihr Auftritt gewürdigt wird?
Die Frage nach der Rückkehr wird in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sein. Was bewog Palmer nach zwanzig Jahren, in denen sie sich als Schauspielerin in der angelsächsischen Welt etabliert hatte, wieder in Deutschland zu arbeiten? Ihre Familie, ihre Freunde, ihr berufliches Netzwerk hatte sie in England und den USA. In Deutschland wurde sie begeistert aufgenommen, schließlich war sie eine bekannte internationale Schauspielerin, gleichzeitig waren die fünfziger und sechziger Jahre noch davon gekennzeichnet, dass die Zeit des »Dritten Reiches« und die Verbrechen, die von Deutschen und in deutschem Namen begangen worden waren, beharrlich beschwiegen wurden und ein allgemeines Misstrauen gegenüber Emigranten spürbar war. Noch 1961 fragte der ehemalige Wehrmachtsoffizier und damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß den Kanzlerkandidat der SPD Willy Brandt, was dieser eigentlich in den Jahren der Emigration gemacht habe: »Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.«1 Wie erlebte Palmer die Begegnung mit Deutschland und den Deutschen in den fünfziger Jahren? Und wie gestaltete sich ihr Verhältnis zu dem Land ihrer Geburt in den folgenden Jahrzehnten, in denen sie ihren Lebensmittelpunkt in die Schweiz verlegte?
Fragen der Identität sowie der Selbst- und Fremdzuschreibungen sind darüber hinaus, bezogen auf ein Schauspielerleben, natürlich besonders reizvoll. Welche Rollen spielte Lilli Palmer im Leben, auf der Bühne und vor der Kamera? Wie sah sie sich? Wie wollte sie gesehen werden? Regelmäßig wurde sie in späteren Jahren als feine Dame besetzt, und regelmäßig reagierte sie empört, wenn auch die Person Lilli Palmer als solche bezeichnet wurde. Immer wieder versuchte sie gegen diese Zuschreibung anzugehen, auch indem sie Rollen annahm oder sich auf den Leib schreiben ließ, in denen sie anrüchig, hinterhältig oder verwegen sein durfte. In ihrer Autobiographie bezeichnet sie sich, wie der Titel des Buches schon sagt, als »gutes Kind«. Zeit ihres Lebens habe sie das »Gute-Kind-Übel« geplagt, so schreibt sie.2 Sie schildert sich stets als die Vernünftige, die Ausgleichende, die, die es allen recht machen will.
Lilli Palmer war in ihrem Leben Fräulein Peiser, Miss Palmer, Mrs. Harrison, Mrs. Thompson und Frau Palmer, sie war das gute Kind, die kultivierte Dame, die internationale Künstlerin, die deutsche Bildungsbürgerin. Das Leben eines Menschen in verschiedene Phasen einzuteilen ist nicht leicht, und oft ist der retrospektive Blick durchaus verschieden von der Perspektive, die das erlebende Subjekt zum fraglichen Zeitpunkt hatte. Dies im Bewusstsein haltend, nähere ich mich Palmers Leben in sieben Kapiteln, die mir sinnvoll erscheinen, um wichtige Abschnitte im Leben der Schauspielerin, Schriftstellerin und Malerin zu markieren. Jedem Kapitel ist ein kurzer Einschub, eine Momentaufnahme, vorangestellt, die den Einstieg in eine neue Phase bzw. einen neuen Abschnitt in Palmers Leben illustrieren soll. Die beschriebenen Szenen müssen sich selbstverständlich nicht genau so abgespielt haben. Sie versuchen vielmehr, einen möglichst lebendigen Einblick in Palmers Innenleben zu geben, der bis zu einem gewissen Grad durchaus spekulativ ist.
Der kleine weiße Ball wird über die Holzplatte geschmettert, ganz flach über das Netz in die äußerste rechte Ecke der gegnerischen Seite. Der schlaksige rothaarige Junge erwischt ihn in letzter Sekunde und schlägt ihn zurück, verzieht sein Gesicht zu einem triumphalen schiefen Lächeln und entblößt dabei zwei schräg stehende Schneidezähne. »Denkste!«, schießt es Lilli durch den Kopf, »deinen lausigen Aufschlag pariere ich mit verbundenen Augen.« Ihr rechtes Bein streckt sich, und sie hechtet mit Karacho nach vorn. Ihr widerspenstiges welliges Haar ist mühsam auf der linken Seite gescheitelt, aber bei diesem Sprung fällt ihre eine Locke vor die Augen, rasch streicht sie sie mit der Linken hinters Ohr und befördert den Ball knapp über das Netz zurück. Der Rothaarige steht perplex da, den kleinen grünen Schläger in der Hand, sieht, wie der Ball mit Müh und Not übers Netz fliegt und kurz darauf die Platte berührt. Die Gliedmaßen des Buben sind in den letzten Monaten in die Länge geschossen und schlenkern beim Gehen oft an seinem Körper, als würden sie nicht recht dazugehören, aber so weit reicht selbst sein Arm nicht. Der Ball hopst noch zwei-, dreimal traurig in Richtung seines Schlägers, bevor er über die Spielplatte kullert und mit einem satten Pong auf dem Fußboden landet. Lilli, in dunkelblauer Hemdbluse und weiten Pumphosen, schmeißt ihren Schläger vor sich auf die Platte und reißt die Arme hoch, die dunkelblonde Haarsträhne fällt ihr erneut ins Gesicht. »Lilli!«, kreischen ihre Klassenkameradinnen. Der Rothaarige kommt auf sie zu und schüttelt ihr die Hand. Sie schaut zu ihm hinauf, der Junge ist gut einen Kopf größer als sie, und versucht, ihr Grinsen zu unterdrücken.
Jeden Nachmittag eilt Lilli nach dem Essen in die große Sporthalle zu den Tischtennisplatten. Schon in der ersten oder zweiten Klasse war ihr klar geworden, dass sie etwas finden musste, was nur ihr gehört. Ihre ältere Schwester nimmt seit Jahren Klavierunterricht und ist gar nicht schlecht, auch wenn Lilli sich oft demonstrativ die Ohren zuhält, wenn Irene spielt und laut aufschreit, wenn sie beim Fis danebengreift. Hilde, das Nesthäkchen, ist natürlich noch zu klein, um irgendetwas wirklich zu können, aber sie punktet durch ihre großen runden Augen und die lustigen Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichnen, wenn sie lacht. Und das tut sie ja häufig, vor allem wenn der Vater sie hoch in die Luft wirbelt und dann wieder auffängt mit seinen starken Armen oder wenn er ihr etwas vorpfeift oder wenn er Grimassen für sie schneidet. Ganz verzückt schaut er dann das Hildchen an. »Seht euch unser Nesthäkchen an«, ruft der sonst so nüchterne Vater begeistert, »was sie schon alles kann!« Nur weil Hilde ihre Schuhe selber anziehen kann oder Alle meine Entchen singt. Keine große Sache, findet Lilli, aber die Eltern sind außer sich vor Freude.
Wenn sie es doch nur mal so leicht hätte! Aber Klavier ist so gar nicht ihre Sache. Nicht, dass ihr Herr Lamprecht, der pickelige Student, der Irene unterrichtet, nicht auch jede Woche eine halbe Stunde seiner Zeit widmen würde, aber das bleibt doch meist vergebene Liebesmüh. Lilli hat einfach keine Lust zu üben. Immer diese blöden Tonleitern! Und so gut wie Irene wird sie ohnehin nie werden. Die drei Jahre Vorsprung kann sie doch niemals einholen. Nie wird sie es erleben, dass ihre Eltern andächtig auf der Chaiselongue im Salon sitzen und ihrem Spiel lauschen, wie sie es gelegentlich bei Irene tun, wenn der Vater am Sonntagnachmittag sagt: »Komm, meine Große, spiel deinen Eltern mal was Schönes vor. Wollen doch mal sehen, was der gute Lamprecht dir so beibringt.« Neuerdings musizieren Vater und Irene sogar gemeinsam. Er thront dann gutmütig lächelnd hinter seinem Cello, und Irene starrt konzentriert auf ihre Finger und kaut auf ihrer Unterlippe. Lilli sitzt in Feiertagskleidchen und weißen Kniestrümpfen neben der Mutter und macht ein miesepetriges Gesicht.
Da war es schon eine wunderbare Fügung des Schicksals, dass die neue Turnlehrerin Lilli vor einiger Zeit den Tischtennisschläger in die Hand gedrückt hatte: »Komm, Lilli, versuch du es mal!« Gut, am Anfang hatte sie natürlich immer wieder daneben geschlagen, war einmal im Eifer des Gefechts sogar gestolpert und hatte sich das Knie aufgeschrammt. Aber auch das hatte sein Gutes gehabt, denn das Knie war in der Schule nur notdürftig verbunden worden. Am Abend hatte der Vater sie, nachdem er die Wunde bemerkt hatte, in sein Arbeitszimmer gerufen und vor sich auf einen Stuhl gesetzt. Dann hatte sie von ihrem Unfall berichtet, nicht ohne ihren vollen Körpereinsatz beim Tischtennis gebührend in Szene zu setzen. »Ja, da müssen wir wohl schwere Geschütze auffahren«, sagte der Vater augenzwinkernd und machte den großen Arztkoffer auf, um das kleine braune Jodfläschchen herauszuholen. Ein paar Tropfen auf ein Wattebäuschchen und dann: »Zähne zusammenbeißen, junge Dame!« Die Anerkennung, mit der der Vater sie bedachte, und das dicke, dramatisch wirkende Pflaster waren ein großer Trost gewesen.
Ohne Fleiß kein Preis, sagte der Vater immer. Und da hat er recht. Aber das rasante Spiel macht ihr wirklich Spaß. Sie ist reaktionsschnell und wendig und schlägt die meisten Gegner in die Flucht. In ihrer Altersgruppe ist Lilli schon die Schulbeste, und bald wird sie vielleicht schon in einem richtigen Tischtennisclub spielen. Ihr Vater sähe es lieber, wenn sie für das Klavier oder irgendein anderes Instrument derartig viel Enthusiasmus aufbrächte, aber ihr Eifer lässt ihn doch nicht unbeeindruckt. Er wird schon seine Zustimmung geben.
Die Mädchen umringen Lilli, umarmen sie und gratulieren ihr. Auch die Lehrerin klopft ihr anerkennend auf die Schulter. Der Rothaarige steht etwas verdattert am Rand, während seine Freunde auf ihn einreden und ihm erklären, was er falsch gemacht hat. Der Tischtennisclub sei genau das Richtige für sie, sagt die Lehrerin, als sie sich am Ausgang der Sporthalle verabschieden. Lilli ist überzeugt davon.
Immer wieder stolpert man in Berichten US-amerikanischer Zeitungen aus den späteren 1940er Jahren über den Hinweis, Lilli Palmer sei in Wien geboren, ja, bei dem Star handele es sich gar um eine Österreicherin. In einem Beitrag in den Newark Evening News, der den Lesern die talentierte und überaus hübsche Entdeckung in Fritz Langs neuestem Film Cloak and Dagger (dt. Im Geheimdienst) vorstellt, wird sogar erwähnt, Palmer sei im Wien-Berlin-Express geboren. Ihre hochschwangere Mutter sei in einem Eisenbahnwaggon niedergekommen, und der mitreisende Vater – glücklicherweise Arzt – habe die Entbindung selbst vorgenommen.3
Später gestand Lilli Palmer, sie habe als junge Schauspielerin auf einer Pressekonferenz in London diese spektakuläre Geschichte erfunden, um die Aufmerksamkeit der Reporter zu erhaschen.4 Es gibt aber noch eine weitere Erklärung dafür, dass viele die Schauspielerin während ihrer Zeit in Paris, London und Hollywood für eine Wienerin hielten. In ihren Memoiren berichtet Palmer, dass ihre Schwester Irene und sie im Paris der 1930er Jahre als Les Sœurs Viennoises durch die Nachtclubs tingelten und behaupteten, Österreicherinnen zu sein, weil es damals ratsamer schien, nicht mit den nationalsozialistischen Deutschen identifiziert zu werden: »›Les Sœurs Allemandes‹ wäre zu dieser Zeit nicht opportun gewesen. Wenn man sich als Österreicherin ausgab, linderte man den harten Schlag.«5 Wer weiß, vielleicht konnte man den harten Schlag auch in den 1940er Jahren noch ein wenig lindern, indem man eine österreichische Herkunft reklamierte. Vielleicht klang Wien in den unmittelbaren Nachkriegsjahren immer noch kosmopolitischer, harmloser als das säbelrasselnde Preußen, das man doch maßgeblich verantwortlich machte für den Großmachtanspruch Deutschlands in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Berlin, das klang nach Marschmusik, man sah vor seinem geistigen Auge Uniformierte mit Stahlhelmen, martialische Fackelumzüge durchs Brandenburger Tor. Wien – da schwang immer noch ein bisschen k.-u.-k.-Nostalgie mit, da rauschte die blaue Donau, das war noch immer ein wenig die gute alte Zeit. Selbst die Tatsache, dass Adolf Hitler Österreicher war, konnte diesem positiven Bild zunächst nicht viel anhaben. In einer Zeit, da Preußen als »Träger des Militarismus und der Reaktion«6 als Hauptschuldiger am Aufkommen des Nationalsozialismus und der Katastrophe zweier Weltkriege ausgemacht schien und der preußische Staat im Februar 1947 per Gesetz durch den Alliierten Kontrollrat aufgelöst wurde, lag der Gedanke, sich von diesem Schurkenstaat zu distanzieren, vielleicht auf der Hand. Den Selbstvermarktungsgesetzen Hollywoods entsprechend wäre eine solche Maßnahme jedenfalls nicht abwegig gewesen.
Palmer selbst hat sich später immer wieder als »preußische Ameise« bezeichnet. Vermutlich hat sie viele Jahre gebraucht, um ihr preußisches Erbe anzunehmen, um das Positive herauszufiltern und vom Negativen, Unheilvollen zu trennen. Gerade bei Emigranten lassen sich Fragen der Identität und Zugehörigkeit häufig nicht mit einem Satz beantworten. Um zu verstehen, welche Werte, welche Maxime Lilli Palmer leiteten, egal welche Sprache um sie herum gesprochen wurde, ob sie in einem Pariser Nachtclub tanzte und sang, ob sie durch die umtriebigen Londoner Straßen hetzte, immer in der Hoffnung auf das nächste Engagement, ob die Sonne Kaliforniens auf sie niederschien oder das begeisterte Publikum am Broadway ihr tosenden Applaus spendete, muss man einen Blick auf ihre Familie, ihre frühe Kindheit und Jugend werfen.
Lilli Marie Peiser wurde geboren, als das alte Europa seinen letzten Frühling erlebte. Immer wieder waren die benachbarten Staaten des Kontinents in den vorangegangenen Jahren aneinandergeraten. Krisen, deren Ursprünge aus Berliner, Pariser, Wiener Sicht an den Peripherien der Erde lagen, ließen die Mächtigen mit den Säbeln rasseln, schlugen in der Presse Wellen und erhitzten die Gemüter. Es herrschte Misstrauen in Europa. Und doch roch es im Mai 1914 eher nach Flieder als nach Krieg. An den Champs-Élysées saßen Männer und Frauen bei einer Tasse Café Crème oder einem Glas Pastis, die Londoner hatten die Picknicksaison eröffnet und begaben sich an den Wochenenden auf Landpartien an die südenglische Küste, und die Damen und Herren der Berliner Gesellschaft flanierten, ausgestattet mit Sonnenschirm und Hut, den Kurfürstendamm entlang und genossen die milde Frühlingsluft. Bislang hatte man noch jede Krise entschärft, hatten sich die Regierungen an der Seine, der Donau, der Spree, der Newa und der Themse noch immer irgendwie geeinigt. Warum sollte das in Zukunft anders sein?
Auch der Ort, an dem Lilli Peiser die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte, verweist auf geopolitische Machtverhältnisse, deren Tage im Frühling 1914 gezählt waren. Posen, jahrhundertelang Teil des polnischen Königreiches, war im 18.Jahrhundert durch die polnischen Teilungen, bei denen sich die Habsburger, die Hohenzollern und die russische Kaiserin Katharina bei ihrem kleineren Nachbarn mit je einem großen Stück bedient hatten, an Preußen gefallen. Kurzzeitig verloren die Hohenzollern das Gebiet während der napoleonischen Kriege an das Herzogtum Warschau, bekamen es aber auf dem Wiener Kongress 1815 wieder zugesprochen. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Posen Teil des neuen Kaiserreiches und Deutsche, Polen und Juden, die hier lebten, wurden allesamt zu deutschen Staatsbürgern. In der Provinz wurde Polnisch, Deutsch und Jiddisch gesprochen, doch seit 1871 sahen sich diejenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch war, zunehmenden Germanisierungsbestrebungen ausgesetzt. Dies traf die katholische polnischsprachige Bevölkerung besonders hart, da im Zuge des Kulturkampfes darüber hinaus die Vorrechte des katholischen Klerus immer mehr beschnitten wurden. Die jüdische Bevölkerung dagegen orientierte sich vielfach bereitwilliger an der deutschen Kultur und Sprache, betrachtete sich zunehmend als deutsch.
In der Stadt und der Provinz Posen existierte jahrhundertelang eine große jüdische Gemeinde. Der jüdische Bevölkerungsanteil lag in der Provinz Posen im Jahr der Reichsgründung 1871 bei knapp vier Prozent. In der Stadt Posen waren um 1800 23 Prozent aller Einwohner jüdisch. Im Laufe des 19.Jahrhunderts nahm diese Zahl ab, da wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation und vor allem der großen Missernte im Jahr 1846 viele Juden ihr Glück in Übersee und in den westlich liegenden Großstädten suchten. Die meisten von ihnen zog es nach Berlin. Zwischen 1871 und 1910 stieg die Anzahl jüdischer Einwohner in Berlin von 36325 auf 144 043, im gleichen Zeitraum sank sie in der Provinz Posen von knapp 62000 auf 26512.7
Während viele jüdische Gemeinden in Preußen im 19.Jahrhundert infolge von Emanzipation und Aufklärung eine Phase der Reform und Liberalisierung durchliefen, blieb die Provinz Posen der Orthodoxie weitgehend treu und hielt an ihrem Erbe fest. Der letzte große Rabbiner traditioneller Prägung war der Posener Rabbiner Akiba Eger (1761–1837), ein ausgewiesener Talmud-Kenner und Kasuist. Eger war weit über die Grenzen der Provinz hinaus berühmt. Energisch und streitbar vertrat er die Meinung, dass selbst die kleinste, scheinbar unbedeutendste Änderung des jüdischen Gesetzes oder auch eines tradierten Brauches das gesamte Judentum in Gefahr bringen würde, und er wehrte sich vehement gegen die Einführung weltlicher Studien an jüdischen Schulen.8 Doch die Blütezeit der Kehilla, der traditionellen jüdischen Gemeinde, war auch in Posen im ausgehenden 19.Jahrhundert längst vorbei, zu spürbar war der Zugriff des modernen säkularen Verwaltungsstaats auf die vormals weitgehend selbstverwalteten Gemeinden. Plötzlich wollten Staatsbeamte mitreden, wie die Juden ihre Rabbiner wählten, ihre Kinder erzogen und ihre Toten bestatteten.
In dieser Provinz weit im Osten des Reiches lebten Lilli Palmers Vorfahren väterlicherseits. Vermutlich stammten die Ahnen der Familie aus der Stadt Peisern, dem heutigen Pyzdry in Polen, die ihnen auch ihren Namen gab.9 Lilli Palmers Urgroßvater, Louis Peiser, wurde 1806 geboren. Im selben Jahr erhoben sich die Polen erfolgreich gegen die Preußen und erlangten mit Hilfe Napoleons im Herzogtum Warschau ihren eigenen Staat, der ihnen allerdings, wie bereits erwähnt, wenig später durch die Restaurationsbeschlüsse des Wiener Kongresses wieder genommen wurde. Louis Peiser heiratete Jette Warschauer, die Tochter eines Chasan, eines Kantors. Das Paar eröffnete am Posener Marktplatz einen Kolonialwarenhandel, der rasch expandierte. Die Firma Louis Peiser und Söhne handelte mit Zucker und Getreide und florierte schon bald vor allem durch Lebensmittellieferungen an die Armee und die Versorgung eines Kriegsgefangenenlagers, das infolge des Deutsch-Französischen Krieges 1870 in einer Festung in der Nähe der Stadt Posen eingerichtet worden war.10 Als der Krieg zu Ende ging, war die Familie Peiser zu einigem Wohlstand gelangt und ins gut situierte Wirtschaftsbürgertum der Stadt aufgestiegen. Louis’ Sohn Samuel kam im Jahr der Deutschen Revolution von 1848 zur Welt. Im selben Jahr erhob man sich in Posen, inspiriert von den revolutionären Ereignissen in Europa, erneut zu einem Großpolnischen Aufstand. National gesinnte Polen forderten die Loslösung von Preußen und die Gründung eines eigenen Staates. Preußische Truppen aber schlugen den Aufstand rasch nieder.
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts lockte die Neue Welt mit ungeahnten wirtschaftlichen Freiheiten und vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten. Auch der junge Samuel Peiser folgte dem Ruf und schiffte sich 1864 nach Amerika ein. Offenbar bewies er ein glückliches Händchen, denn nur fünf Jahre später kehrte er als wohlhabender Mann zurück, etablierte sich als Kaufmann in seiner Heimatstadt und heiratete die überaus hübsche Marie Posner. Auch hier liefen die Geschäfte, der Familie ging es gut. Die Peisers, fromme Juden, bekannten sich voller Überzeugung zum preußischen Staat und zur deutschen Kultur und Sprache. Man legte viel Wert auf die Erziehung und Ausbildung der fünf Kinder, Selma, Amanda, Julia, Alfred und Heinrich, wobei die Eltern wohl die größten Hoffnungen für die Söhne hegten. Ihr Vater Alfred, so Palmer, sei der Augapfel der Peisers gewesen. Man ermöglichte ihm nicht nur ein Medizinstudium, sondern stattete ihn finanziell so gut aus, dass er es sich leisten konnte, nach bestandenem Examen einige Zeit bekannten Medizinern zu assistieren und so sein Wissen zu erweitern.11
Samuel und Marie Peiser waren in dieser Hinsicht typische Vertreter des wohlsituierten städtischen Judentums einer Zeit, die der Historiker Jacob Toury die Phase des »Eintritts der Juden ins deutsche Bürgertum« genannt hat. Der Aufstieg ins Besitzbürgertum war vollbracht, der Grundstein gelegt. Die folgende Generation, also Alfred und seine Geschwister, taten den nächsten Schritt, eroberten die Gymnasien und Hochschulen und strebten in akademische Berufe. Wie im übrigen Kaiserreich lag auch in der Provinz Posen der Anteil der jüdischen Gymnasiasten und Hochschüler weit über dem Bevölkerungsanteil.12 Man identifizierte sich mit den Werten und Zielen des deutschen Bürgertums. Die neue Generation nutzte aber nicht nur die sich eröffnenden Chancen und verschaffte sich Zugang zu den Bildungseliten des Kaiserreiches, sie wandte sich nicht selten auch von der traditionellen jüdischen Observanz ab, die für die Elterngeneration noch selbstverständlich gewesen ist. Der junge Chirurg Alfred Peiser verstand sich als Wissenschaftler, er erklärte sich die Welt mit den Mitteln, die ihm die modernen Naturwissenschaften an die Hand gaben. Der Gott Abrahams und seine Gebote gehörten für ihn ebenso in ein vergangenes Zeitalter wie die komplizierten Bräuche und Traditionen, an denen seine Eltern noch immer festhielten. Dies führte vermutlich wenn nicht zu einem Generationskonflikt, so doch zumindest zu Spannungen zwischen Marie und Samuel Peiser und ihrem Sohn Alfred.
Brisanter wurde die Situation allerdings noch, als der junge Mann sich als Braut nicht etwa die Tochter eines angesehenen Arztes oder eines erfolgreichen Kaufmannes ausguckte, sondern eine Schauspielerin. In einer Zeit, in der der Begriff Schauspielerin noch immer weitgehend bedeutungsgleich mit Hure gebraucht wurde, kann man sich die Erschütterung im Hause Peiser lebhaft vorstellen. Und doch kam Rose Lissmann, wie Palmer betont, aus »anständigem Hause«, ein Umstand, der auch dem Bräutigam ungemein wichtig war. Und nicht nur das: die junge Dame musste selbstredend noch Jungfrau sein und sich verpflichten, ihre hoffnungsvolle Theaterkarriere umgehend an den Nagel zu hängen.13 Eine weitere Bedingung, die Lilli Palmer in ihrer Autobiographie bei der Vorstellung ihrer Mutter nicht erwähnt, die aber offenbar ebenso selbstverständlich war wie die Tatsache, dass die junge Frau aus einer ordentlichen, will sagen, bürgerlichen Familie kam, war der Umstand, dass Rose Lissmann einer jüdischen Familie entstammte. Das war wichtig, auch für Alfred Peiser – obwohl dieser doch zum damaligen Zeitpunkt dem Gott der Väter schon mehr und mehr die kalte Schulter zeigte.
Rose Lissmann war die jüngste von fünf Töchtern Hermann Lissmanns und seiner Frau Julie. Geboren wurde sie am, von Posen aus gesehen, entgegengesetzten Ende des Reiches, weit im Westen. Die Lissmanns lebten in Ehrenbreitenstein bei Koblenz, dort, wo Mosel und Rhein zusammenfließen, in der preußischen Rheinprovinz. War die Provinz Posen bedeutend für das mitteleuropäische Judentum, so reichte die jüdische Geschichte in der Gegend um Mosel und Rhein noch sehr viel weiter zurück. Erste jüdische Ansiedelungen gab es vermutlich schon in der Antike. In den Städten Speyer, Worms und Mainz blühte im Mittelalter das jüdische Geistesleben. Hier existierten berühmte Jeschiwot, jüdische Hochschulen, und hier lebten und arbeiteten hochangesehene jüdische Gelehrte wie der legendäre Schlomo Ben Jizchak, genannt Raschi. Auch die jüdische Gemeinde in Koblenz bestand bereits im 12.Jahrhundert.
Roses Vater, Hermann Lissmann, war im Weinhandel tätig wie viele Juden in dieser Gegend. Palmer zufolge war der Großvater aber kein besonders guter Geschäftsmann, und schon bald musste er seinen Laden aufgeben. Er versuchte sein Glück daraufhin in Dresden, wo er eine kleine Hutfabrik übernahm. Lilli Palmer berichtet in ihrer Autobiographie sehr liebevoll von den Erinnerungen der Mutter an ihre Jugend: »Für meine Mutter sowie für ihre Schwestern waren die Kindheitstage aus purem Gold.« Die fünf Lissmann-Mädchen verlebten in Dresden eine glückliche Kindheit, obwohl sich auch hier der ökonomische Erfolg nicht recht einstellen wollte. Das Geld war weiterhin knapp. Eine ziemlich ramponierte Puppe musste den fünf Schwestern als Spielzeug genügen, der Speiseplan war eintönig und karg, Ferienreisen gab es nicht. Gleichzeitig wurde peinlich genau auf die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Statussymbole geachtet. Man beschäftigte selbstverständlich ein Dienstmädchen, ließ die Kinder hübsch drapiert vom Hoffotografen ablichten, und am Sonntagnachmittag spazierte man in Feiertagsgarderobe durch den Park.14
Fester Wille, Zähigkeit und Eigensinn hätten die Mutter von Jugend an ausgezeichnet, so Lilli Palmer. Darüber hinaus bewies Rose Lissmann auch ein gewisses strategisches Geschick, denn es gelang ihr, die Mutter für ihren Plan, Schauspielerin zu werden, zu gewinnen. Heimlich nahm sie Schauspielunterricht, und mit einundzwanzig Jahren ergatterte sie ihr erstes Bühnenengagement in Aschaffenburg. Im Jahr darauf wurde sie vom Stadttheater Breslau engagiert. Auf der Breslauer Theaterbühne sah der junge Assistenzarzt Alfred Peiser Rose zum ersten Mal und wurde zu ihrem glühenden Verehrer. Er setzte alles daran, die Schauspielerin kennenzulernen, und hatte schließlich Erfolg. Eigensinn bewies Rose Lissmann also nicht nur bei der Berufs-, sondern auch bei der Partnerwahl. Während ihre ältere Schwester Cilly noch brav den Mann heiratete, den der Vater ihr auserwählt hatte, den erfolgreichen Geschäftsmann Adolf Hirsch aus dem Örtchen Żnin in Posen, suchte sich Rose ihren Zukünftigen selber aus und verließ die ausgetretenen Pfade der arrangierten Ehe, die Generationen vor ihr eingeschlagen hatten. Vermutlich aber waren die Lissmanns mit Roses Wahl mehr als einverstanden, heiratete sie doch nicht nur einen aufstrebenden Arzt, sondern auch in eine angesehene und wohlhabende jüdische Familie. Nachdem auch Alfreds Eltern über den ersten Schock angesichts des Berufs der künftigen Schwiegertochter hinweg waren, heirateten Alfred und Rose.15
In Lilli Palmers Autobiographie fließen die Kindheitserinnerungen der Mutter, die auf diese Weise vermutlich eine doppelte Verklärung erfuhren – erst in der Erzählung der Mutter, dann durch das Wiedererzählen der Tochter –, ineinander mit Palmers Erinnerungen an die eigene Kindheit. Die Zeit erscheint, vor allem vor dem Hintergrund des unaussprechlich Grauenvollen, was danach kommen sollte, rundum unbeschwert und glücklich. Beschrieben wird eine heile Welt, ein Aufwachsen im engen Geschwisterkreis, erzogen von strengen, aber liebevollen Eltern in bürgerlichem Ambiente. Und doch liegen Welten zwischen diesen beiden Kindheiten, denn Lillis erste Lebensjahre waren geprägt vom Krieg. Dieser Krieg, den man später den Ersten Weltkrieg nennen sollte, verwandelte den Kontinent in ein Schlachtfeld und kostete Millionen von Menschen das Leben, er machte junge Männer zu Invaliden, Ehefrauen zu Kriegerwitwen und Kinder zu Waisen. Darüber hinaus stellte er die Welt, wie man sie bislang kannte, in Frage. Der Erste Weltkrieg leitete eine Zeit alles erfassenden Wandels ein16 und war zugleich »Hauptursache und Symptom des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft«17, Ausdruck eines Niederganges, der sich bereits seit einiger Zeit angedeutet hatte und der die deutschen Juden in besonderem Maße traf. Denn das moderne aufgeklärte deutsche Judentum war ein Produkt der liberalen bürgerlichen Gesellschaft. Die liberale Bewegung hatte zur kulturellen und sozialen Assimilation ermuntert, und die Mehrheit der Juden verschrieb sich überschwänglich den liberalen Ideen. Das deutsche Judentum profitierte in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts besonders von der Verbürgerlichung der Gesellschaft und war gleichzeitig ihr eifrigster Förderer und überzeugtester Befürworter. Seit den 1880er Jahren aber war im Deutschen Reich wie auch in Österreich-Ungarn ein zunehmender Trend zum Konservatismus auszumachen. Antiliberale, nationalistische, imperialistische und antisemitische Kräfte gewannen an Einfluss. In Berlin gründete der Hofprediger Adolf Stoecker 1879 die erste antisemitische Partei. Mit seinen Hetzpredigten erreichte er ein Massenpublikum. Der Historiker Heinrich von Treitschke äußerte in einem berühmt gewordenen Artikel in den Preußischen Jahrbüchern seinen Unmut über den Liberalismus und seine Auswirkungen auf die deutsche Kultur und Gesellschaft und prägte den unheilvollen Satz, der später in fetten Lettern auf jeder Titelseite des nationalsozialistischen Hetzblattes Der Stürmer zu lesen sein sollte: »Die Juden sind unser Unglück.« In Wien wurde Karl Lueger mit seiner antiliberalen, antisemitischen Christsozialen Partei im Jahr 1897 Bürgermeister der Stadt.18 Immer tiefer drang antiliberales und antisemitisches Gedankengut in das deutsche Bürgertum des Kaiserreiches ein. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov konstatiert, dass der Antisemitismus im ausgehenden 19.Jahrhundert zu einem »kulturellen Code« wurde, zu einem Signum kultureller Identität.19
Als am 28.Juni 1914, die kleine Lilli war gerade mal vier Wochen alt, der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo einem Attentat zum Opfer fielen, schien Europa einen Moment den Atem anzuhalten. Aber dieses Mal versagten die Vermittlungs- und Krisenbewältigungsstrategien, die die Großmächte in den vorangegangenen Jahren vor einer Eskalation der zahlreichen kleineren Konflikte bewahrt hatten. Einen Monat nach der Ermordung des Thronfolgerpaares erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg. Hektische Mobilmachung in den europäischen Staaten war die Folge. Am 4. August sprach Kaiser Wilhelm II. im Reichstag und erklärte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Die deutschen Juden hörten diese Worte mit Begeisterung, war doch der Krieg die Gelegenheit, ihre Liebe und Opferbereitschaft für das Vaterland, die von konservativen und reaktionären Kreisen immer wieder in Zweifel gezogen worden waren, ein für alle Mal unter Beweis zu stellen. Man stellte sich größtenteils stramm hinter die deutsche Kriegspolitik und eilte diensteifrig zu den Waffen. In den Synagogen des Reiches, orthodoxen wie liberalen, folgte man begeistert Kaiser Wilhelms Aufruf, für das Vaterland und seinen heiligen Krieg zu beten.20
Auch Lillis Vater wurde eingezogen. Rose Peiser blieb mit den beiden Kindern in Posen, mit der dreijährigen Irene und dem Baby Lilli. Wie so viele Frauen in Kriegszeiten war Rose die folgenden Jahre alleinerziehend – Alfred kam nur sporadisch für kurze Heimaturlaube nach Posen –, und Lilli verbrachte die prägenden ersten vier Jahre ihres Lebens mehr oder weniger vaterlos. In ihren Erinnerungen schreibt Palmer, dass sie als mittlere Tochter, die zu Beginn des Weltkrieges geboren wurde, den Vater am wenigsten kannte. Ihre Schwester Irene, 1911 geboren, hatte den Vater die ersten Lebensjahre für sich allein gehabt, die jüngste Schwester Hilde wurde erst nach dem Krieg geboren. Als der Vater endlich aus dem Feld zurückkam, nannte die vierjährige Lilli den unbekannten Mann hartnäckig »Onkel«: »Die Jahre der ersten, entscheidenden Intimität fehlten, und wir konnten sie beide nie nachholen.«21
Die meisten deutschen Juden standen also zunächst voll und ganz hinter diesem Krieg. Nicht nur konnte man nun endlich seine Loyalität zum Vaterland beweisen, nein, es ging auch gegen Russland, wo Juden immer noch unter Verfolgungen und Pogromen litten. Der Kampf für Deutschland vereinte sich auf diese Weise mit dem Kampf für die Befreiung der russischen Juden vom Joch der zaristischen Unterdrückung.22 Erstmals gab es nun neben katholischen und protestantischen Geistlichen im Heer auch jüdische Feldrabbiner. Die Zeichen, so schien es, standen auf Entspannung und Normalisierung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Jüdischerseits glaubte man, mit diesem Krieg den letzten großen Schritt auf dem Weg zu wahrer Akzeptanz der jüdischen Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu tun und dem allseits wabernden Antisemitismus ein für alle Mal eine Absage zu erteilen.
Vermutlich war auch Alfred Peiser zumindest im Sommer 1914 überzeugt davon, dass dieser Waffengang gerechtfertigt sei. Doch die schnellen Siege blieben aus, und die euphorischen Burgfriedensproklamationen erwiesen sich schon sehr bald als illusorisch. Die alten Spaltungen und Risse in der Gesellschaft samt den dazugehörigen Ressentiments traten im Licht der neuen Entbehrungen und der hohen Verluste schärfer zutage als in Friedenszeiten. Immer lauter wurden hetzende Stimmen, die beklagten, jüdische Soldaten drückten sich angeblich vor dem Frontdienst. Im Oktober 1916 ordnete das preußische Kriegsministerium eine Untersuchung der von Juden in der Armee bekleideten Posten an. Die mittels äußerst fragwürdiger statistischer Methoden durchgeführte sogenannte »Judenzählung« hatte eine verheerende Wirkung auf das Selbstverständnis der deutschen Juden. Man fühlte sich zurückgestoßen, gedemütigt, und nicht wenige, vor allem jüngere jüdische Soldaten gingen zunehmend auf Distanz, begannen sich auf ihr Jüdischsein zu besinnen, einige begeisterten sich für zionistische Ideen.23 Auch Lilli Palmers Vater bekam den in der preußischen Armee fest verankerten Antisemitismus am eigenen Leib zu spüren. Hilde Ross, Palmers jüngste Schwester, 1919 geboren, erinnert sich, dass der Vater grundsätzlich wenig vom Krieg erzählte. Die schmerzvolle Erfahrung aber, dass Kaiser Wilhelm II. sich bei einem Besuch des Lazaretts, das Peiser vor Verdun leitete, lieber von einem nichtjüdischen Kollegen herumführen ließ, brannte sich tief ein.24
Alfred Peiser war bei Kriegsbeginn bereits ein Mann von vierzig Jahren. Er verbrachte den Krieg überwiegend an der Westfront als Oberstabsarzt und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Über die Erschütterungen, die das Fronterlebnis, der erbitterte Stellungskrieg, die vielen Toten und die grauenhaften Verletzungen, die er als Arzt zu behandeln hatte, bei ihm auslösten, können wir nur spekulieren. Auch die Frage, wie er persönliche Kränkungen und Diskriminierungen sowie die Demütigung der »Judenzählung« aufgenommen und verarbeitet hat, ob sein Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland möglicherweise einen Knacks bekam, muss ungeklärt bleiben. Von außen besehen, deutet nichts darauf hin.
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg musste Peiser feststellen, dass seine Heimatstadt fortan nicht mehr zu Deutschland gehörte. Im Winter 1918/19 war es erneut zu einem Großpolnischen Aufstand gekommen, der nunmehr zum Erfolg geführt hatte. In den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages wurde Posen dem neu entstandenen Staat Polen zugesprochen. Sein vormaliger Arbeitgeber, das örtliche Krankenhaus, suchte händeringend nach Ärzten und machte Peiser ein gutes Angebot, wenn er bliebe und polnischer Staatsbürger würde. Das aber kam für den überzeugten Preußen nicht in Frage. Undenkbar sei das gewesen, schreibt Lilli Palmer in ihren Memoiren. Ihr Vater habe sich umgehend eine Position an einem Berliner Krankenhaus gesucht, und die Mutter habe begonnen zu packen. Daraufhin habe man Posen für immer verlassen.25
Lilli Palmers Großcousine Ellen – Urgroßvater Louis war sowohl der Vater von Ellens Großvater Felix als auch von Lillis Großvater Samuel – erinnert sich genau an die Zeit, in der Posen polnisch wurde. Am 24.Mai 1919 waren Ellen und ihr jüngerer Bruder Hans zu Lillis fünftem Geburtstag eingeladen. Als sie am Abend von ihrem Vater und dem Kinderfräulein abgeholt wurden, waren die Straßen leer, und die Erwachsenen sahen sich immer wieder ängstlich um. Man durfte nicht Deutsch sprechen aus Furcht vor Pöbeleien, von weitem, so Ellen Strauss, seien sogar Schüsse zu hören gewesen. Ellens und Hans’ Vater Georg, der in Posen eine Apotheke besaß, wurde, zusammen mit anderen Honoratioren der Stadt, von den neuen Machthabern festgenommen und einige Wochen lang in einem Lager interniert: »Von dieser Zeit an begann ein großes Auswandern aus Posen. Man hatte keine Sicherheit, und besonders die deutschen Juden sahen für sich keine Zukunft.«26 Wie Lilli Palmer, so schreibt auch Ellen Strauss in ihren Memoiren, dass der Gedanke, polnischer Staatsbürger zu werden, ihrem Vater unerträglich gewesen sei. »Er war in deutschem Geist erzogen worden, war Freiwilliger im 5.Armee Corps gewesen und hatte zudem als Oberstleutnant Major, mit eigenem Reitpferd und Bursche, gedient. Vor allem der Gedanke daran, dass mein Bruder Hans im polnischen Militär hätte dienen müssen, ließ die Eltern für Deutschland optieren.«27
Ellen Strauss’ Erinnerungen weisen darauf hin, dass das jüdische Bürgertum in Posen sich nicht nur vollständig mit der deutschen Kultur und Sprache identifizierte, sondern auch die preußische Ehrfurcht vor der Armee und den Hang zu militärischem Pomp und Drill teilte. Als Kind habe sie vom Balkon aus viele Militärparaden bewundert, die Soldaten seien auf der Allee vor ihrem Elternhaus vorbeimarschiert. Ihr Vater habe strahlend neben ihr gestanden und dort verweilt »bis zum letzten Mann«.28 Georg Peiser war aber nicht nur strammer Preuße, sondern auch überzeugter Anhänger des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der die Emanzipation und Assimilation der Juden propagierte. Auch Lillis Vater, Alfred Peiser, war von den Segnungen der Assimilation überzeugt. Die Juden, daran hielt er auch nach dem Krieg fest, müssten sich in die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft integrieren. Das Erbe ihres Vaters, so Lilli, sei nicht weniger Deutsch gewesen als das eines jeden anderen: »Er gehörte ohne jeden Zweifel ›dazu‹.«29
Arbeit fand Alfred Peiser in Berlin im Gemeindekrankenhaus von Adass Jisroel, dem »Israelitischen Krankenheim«, wo er die Leitung der Äußeren Abteilung übernahm. Das Haus mit der Klinkerfassade in der Elsasserstraße 85 war im Januar 1909 eröffnet worden. Im »Israelitischen Krankenheim« sollte aber nicht nur der modernen Hygiene und Krankenversorgung Rechnung getragen werden, sondern auch den Anforderungen des jüdischen Religionsgesetzes. Die Patienten wurden selbstverständlich mit koscherer Kost versorgt.30 Im Jahr 1923 verfügte das Krankenhaus über 56 Betten, beschäftigte elf Krankenschwestern und Pfleger und versorgte rund 569 Patienten im Jahr. Alfred Peiser war als Chirurg nicht nur für den Operationsbetrieb zuständig, sondern auch für die Geburtsstation. Dr. Jacob Levy, selbst Arzt im »Israelitischen Krankenheim«, betont in seinen Erinnerungen, dass das Charakteristische am Adass-Jisroel-Krankenhaus neben der vorzüglichen medizinischen Behandlung der Kranken der jüdische Geist gewesen sei, der das Krankenheim durchzog: »Man gab Gesundung für den Körper und Gesundung der jüdischen Seele.«31
Der Agnostiker Peiser wurde also nach der Übersiedlung der Familie Chefchirurg an einem orthodoxen jüdischen Krankenhaus und widmete sich seiner Tätigkeit mit ganzer Kraft.
Die Peisers, frisch angekommen aus Posen, zogen in eine geräumige Wohnung in der Hölderlinstraße 11 in Charlottenburg. Das im Westen Berlins liegende Charlottenburg war erst kürzlich in das neu geschaffene Groß-Berlin eingegliedert worden. Die Stadtteile Wilmersdorf und Charlottenburg hatten in den 1920er Jahren den höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung in Berlin. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel lebte hier, ebenso die Psychoanalytiker Ernst Simmel und Karl Abraham sowie der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Im selben Haus in der Hölderlinstraße wie die Peisers wohnte übrigens Erich Salomon, der Begründer des modernen Bildjournalismus. Und in der Nähe des Savignyplatzes, in der Meinekestraße, lebte in den 1920er Jahren die damals schon berühmte Theaterschauspielerin Fritzi Massary. In Charlottenburg traf sich die kulturelle und intellektuelle Avantgarde. Im Romanischen Café gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche debattierte und diskutierte man bei einer Tasse Kaffee, einem Glas Wein oder einer Berliner Weiße mit Schuss. Stefan Zweig, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, George Grosz, Else Lasker-Schüler, Ernst Toller und viele andere Schriftsteller, Journalisten, Regisseure und Maler gehörten zu den regelmäßigen Gästen. Man sah und wurde gesehen. Hier, im Westen Berlins, pulsierte das Herz des modernen Großstadtlebens. Am Kurfürstendamm bewunderte man in der Berliner Secession Werke zeitgenössischer Künstler und speiste anschließend im schicken Restaurant Kempinski. Die luxuriös dekorierten Schaufenster des KaDeWe lockten in den Konsumtempel, und an der Ecke Kurfürstendamm/ Joachimsthaler Straße bot das berühmte Kaufhaus Grünfeld alles, was das Herz begehrte.32
Wie sah nun die Welt aus, in der das Kind Lilli heranwuchs? Im Jahr 1919 war ihre Schwester Hilde geboren worden, und die Peisers waren nunmehr zu fünft. Aber die kleine Familie war nicht allein in die Reichshauptstadt gekommen. Der überwiegende Teil der erweiterten Familie hatte Posen ebenfalls gen Westen verlassen und lebte nun wiederum in unmittelbarer Berliner Nachbarschaft: die Großeltern, Sam und Marie Peiser, Tante Amanda und ihre Familie, Onkel Georg mit Frau und Kindern.
In einem Kapitel ihrer Autobiographie, das Lilli Palmer bezeichnenderweise »Vergiss nicht, wer du bist« betitelt hat, berichtet sie, dass ihr als Kind nur einmal im Jahr bewusst wurde, dass sie Jüdin war. Dies geschah regelmäßig in der Weihnachtszeit, wenn in der Schule die Rollen für das Krippenspiel verteilt wurden. »Den Rest des Jahres war ich ein glückliches deutsches Kind, getreu dem Geist meines Vaters, der einer von den vielen tausend Juden war, die ihr Vaterland über alles stellten.«33 Noch auf derselben Buchseite wird klar, dass sie zumindest bei zwei weiteren Gelegenheiten im Jahr an ihr Jüdischsein erinnert wurde, nämlich zu den hohen Feiertagen am Beginn des jüdischen Jahres und zu Pessach. Festzuhalten ist, dass sämtliche dieser Ereignisse, die Lilli an ihr Judentum gemahnten, von ihr als Kind entweder als lästig oder als verletzend, weil ausschließend, empfunden wurden. So zumindest stellt es sich in ihrer Autobiographie dar.
Jedes Jahr im Advent wurden in der Schule Vorbereitungen für das Krippenspiel getroffen, und jedes Mal hoffte Lilli auf die weibliche Hauptrolle: »Am unfasslichsten für mich war die Besetzung der Jungfrau Maria, der Rolle, nach der ich mich mit Leib und Seele sehnte. Jahr für Jahr dasselbe Mädchen mit blonden Zöpfen und Mondgesicht, das meiner Meinung nach nicht einen Funken Talent hatte. (…) Jedes Jahr, wenn ich mit den anderen Kindern hinten im Zuschauerraum saß, brannte ich vor Entrüstung über das verstopfte Blöken, mit dem sie den genauso untalentierten ›Engel der Verkündigung‹ empfing. Die ›frohe Botschaft‹, die diese Jungfrau Maria erhielt, hätte ebensogut eine Vorladung sein können, weil sie ihr Fahrrad falsch abgestellt hatte.«34
In einem Jahr schließlich rutschte Lilli ausnahmsweise doch auf die Besetzungsliste, allerdings ergatterte sie nur die Rolle eines unbedeutenden Engels, der im Nachthemd mit unzähligen anderen Engeln auf einer Leiter stehen und frohlocken sollte. Auf dem Kopf trugen die Engel alle einen Pappstern, hinter dem ein Lämpchen und eine Batterie angebracht waren. Auf ein Zeichen sollten alle Engel diese Lampe anknipsen und so einen strahlenden Schein um die Heilige Familie zaubern. Das war zu viel für Lilli. Sie ging zu ihrer Lieblingslehrerin Elisabeth von Prusinowski, genannt Prusi, und fragte sie geradeheraus, warum sie, die sie doch sonst immer ausgewählt wurde, wenn es ein Gedicht aufzusagen galt oder eine kleine Ansprache gehalten werden musste, beim Weihnachtsspiel immer übergangen werde. Als die Lehrerin etwas verdruckst zu bedenken gab, dass man die Rolle der Mutter Christi nicht von einem jüdischen Mädchen spielen lassen könne, entgegnete Lilli, Maria sei doch selbst Jüdin gewesen. Lilli war verwirrt, aber eins verstand sie doch: Um die Rolle der Leading Lady im Krippenspiel zu bekommen, musste sie Christin werden. Also suchte sie ihren Vater auf und eröffnete ihm, dass sie sich taufen lassen wolle. Dieser hielt ihr entgegen, dass man die Religion nicht wechseln könne wie einen Turnanzug. Aber wenn sie an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag immer noch überzeugt sei von dieser Entscheidung, dann stünde ihr der Weg frei.
Eine rasche vorweihnachtliche Konversion kam also nicht in Frage, und Lilli musste wohl oder übel den Engel geben. Am letzten Schultag vor den Ferien wurde das Krippenspiel schließlich vor Eltern, Lehrern und Schülern aufgeführt, und Lilli schaffte es, obgleich nicht in der Rolle der Maria, dass sich alle Aufmerksamkeit auf sie richtete: »Bis heute weiß ich nicht, was mich dazu getrieben hat, meinen Schalter wieder herunterzudrücken gerade als ich in ein frommes ›Stille Nacht …‹ ausbrach. Mir war natürlich klar, dass sich jetzt alle Augen auf das eine schwarze Loch in der Lichterkette über den Nachthemden richten würden. Ich knipste meinen Schalter rasch wieder an – und sofort wieder aus. An – aus! An, aus, an, aus … – das ganze heilige Lied hindurch, und den Zuschauern blieb nichts anderes übrig, als mich gebannt zu beobachten, während die Kinder entzückt kicherten.«35 Der bockige Engel entging nur deshalb einer Strafe, weil der erboste Schuldirektor Lillis Ausrede glaubte, die Batterie sei kaputt, sie selbst hingegen vollständig unschuldig.
Das weihnachtliche Krippenspiel machte der Schülerin jedes Jahr aufs Neue klar, dass sie einer Minderheit angehörte. Dieses Gefühl, nicht voll dazuzugehören, empfand sie umso schmerzhafter, als es darüber hinaus auf ein Vakuum verwies. Eine positive Identifikation mit dem Judentum hätte möglicherweise diese Leere füllen können, der alljährlichen Demütigung etwas entgegengesetzt, aber die Peisers legten offenbar keinen großen Wert darauf, den Kindern das religiöse und kulturelle Erbe des Judentums schmackhaft zu machen. Viel weiter als die Feststellung, dass man die Religion, in die man hineingeboren wurde, nicht so einfach ablegt, ging Lillis Vater nicht in seinem Bekenntnis zum Judentum. Und doch machte er zumindest seinen Eltern gegenüber Konzessionen, denn zweimal im Jahr beging die Familie jüdische Feiertage im Hause der Großeltern. Palmer sieht diese Ausflüge ins Judentum kritisch und konstatiert in ihren Erinnerungen, dass man Kindern ihr Erbe nicht nur teelöffelweise verabreichen kann. Für die Peiser-Kinder waren diese Abende leere Rituale, sie verstanden nicht, was da gefeiert wurde. Sie begriffen zwar, dass diese Feiertage dem Großvater wichtig waren, erkannten aber auch, dass der Vater sie nicht recht ernst nahm und ihnen nur seinen Eltern zuliebe Beachtung schenkte: »Ich verabscheute diese Feste aus tiefstem Herzen, denn ich musste stundenlang an der Tafel sitzen und den hebräischen Gesängen des alten Mannes zuhören, von denen ich weder den Text noch die Bedeutung verstand.«36 Alfred und Rose Peiser zählten zu der großen Mehrheit der Juden in Deutschland, die mit ihrer Religion nicht mehr allzu viel anzufangen wussten. Die sogenannten »Dreitagejuden« besannen sich nur an den hohen Feiertagen auf ihr jüdisches Erbe, besuchten oft nur den Eltern oder Großeltern zuliebe die Synagoge und saßen nicht selten mit einigem Befremden zu Pessach am Seder-Tisch, weil sie die hebräischen Texte nicht mehr lesen, geschweige denn verstehen konnten.
Doch mochte man auch der Religion der Väter mehr und mehr den Rücken kehren, bei der Partnerwahl war das Judentum häufig plötzlich doch wieder von Belang. Lilli Palmers Umfeld, der intime Kreis, der sie seit frühester Kindheit umgab, die Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins waren allesamt jüdisch. Auch wenn dieser Umstand selten zur Sprache gebracht wurde, es war ganz selbstverständlich so.
Im Laufe des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts erfuhr jüdisches Familienleben einen tiefgreifenden Wandel. Durch Säkularisierung und Akkulturation wurden religiöse Bräuche und Traditionen mehr und mehr vernachlässigt. Dennoch entwickelte sich ein modernes, wiederum spezifisch jüdisches Familienmilieu, das sich dadurch auszeichnete, dass die Angehörigen dieses Milieus meist der großstädtischen bürgerlichen Mittelschicht zuzurechnen waren, großen Wert auf Bildung legten, sehr häufig Kaufleute oder Freiberufler waren und nicht selten wiederum in jüdische Familien einheirateten. Das weitgehende Unter-sich-Bleiben der deutschen Juden, was den familiären und engeren sozialen Rahmen betrifft, war natürlich unter anderem auch der Tatsache geschuldet, dass ihnen vor allem seit den 1880er Jahren in der Mehrheitsgesellschaft vermehrt subtiler, zuweilen auch offener Antisemitismus entgegenschlug.37 Diese private jüdische Kultur kennzeichnete auch die Familie Peiser. Das gesellschaftliche Leben spielte sich weitgehend in jüdischen Kreisen ab. In Alfred Peisers Fall war auch sein Arbeitsumfeld, das Adass-Jisroel-Krankenhaus, ein dezidiert jüdisches, sogar ein überaus frommes.
Alfred Peiser erscheint in der Beschreibung seiner Tochter als unangefochtene Autorität, als strenger Patriarch, der allseits geschätzt, zuweilen aber auch gefürchtet wurde, weil er nicht nur seine Kinder, sondern auch erwachsene Mitglieder der erweiterten Familie hin und wieder zurechtwies. Auch die Kindermädchen unterstanden der gestrengen Aufsicht des Vaters, und die Tatsache, dass es offenbar schwer war, seinen Ansprüchen zu genügen, führte dazu, dass die Fluktuation im Hause Peiser groß war. Palmer schreibt in ihren Memoiren, dass sie sich an kein einziges Gesicht erinnere. Im Gegensatz zum stets beschäftigten und oft sehr ernsten Vater strahlte die Mutter heitere Gelassenheit aus und war für die Kinder die wichtigste Bezugsperson. In den grundsätzlichen Fragen der Kindererziehung waren sich die Peisers allerdings einig. Jede Art von Luxus oder Verschwendung war ihnen zuwider. Man beschäftigte selbstverständlich ein Dienstmädchen, eine Kinderfrau und eine Köchin – Letztere nannte der Vater in großbürgerlicher Ignoranz »Frieda«, egal ob das der tatsächliche Name der jeweiligen Frau war oder nicht, weil die erste Köchin, die er nach seiner Hochzeit anstellte, so geheißen hatte –, aber der Besitz eines Autos oder der Besuch eines Restaurants wurde als übertrieben, luxuriös, ja anrüchig empfunden. Die Themen Geld und Sexualität waren im Hause Peiser absolut tabu.38
In pädagogischen Fragen war man aber Neuem gegenüber durchaus aufgeschlossen. So wurden Lilli und später auch ihre Schwester Hilde in die Waldschule geschickt, die, 1910 gegründet, ein ausgesprochen modernes pädagogisches Konzept propagierte. Nicht nur war die Waldschule eine Ganztagsschule, hier wurden Mädchen und Jungen auch zusammen unterrichtet. Inspiriert von der Lebensreformbewegung, die als Reaktion auf Verstädterung und Industrialisierung im 19.Jahrhundert entstanden war und ein Leben im Einklang mit der Natur propagierte, war die Waldschule mitten im Berliner Grunewald errichtet worden. Die Schüler sollten möglichst viel Zeit im Freien verbringen. Großer Wert wurde auf sportliche Betätigung und gesundes Essen gelegt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schulen dieser Zeit, die von außen eher aussahen wie Kasernen und in deren Klassenzimmern nicht selten militärischer Drill herrschte, bestand die Waldschule aus einzelnen, auf dem weiten Areal verteilten einstöckigen Holzhäusern, in denen sich zwei bis drei Klassenzimmer befanden. Lillis Großcousine Ellen, die ebenfalls die Waldschule besuchte, erinnert sich, dass das Verhältnis zu den Lehrern und auch unter den Schülern kollegial und frei gewesen sei: »Es herrschte ein liberaler und toleranter Ton und man war den ganzen Tag bei Arbeit und Spiel zusammen. Hier gab es auch eine große Zahl jüdischer Mitschüler.«39 Nach dem Unterricht am Vormittag aß man gemeinsam zu Mittag, danach wurde geruht, und am Nachmittag arbeitete man im Schulgarten, bastelte, machte Musik oder trieb irgendeine Art von Sport.
Lilli Palmer genoss ihre Zeit in der Waldschule sehr, zeitlebens betonte sie, wie gern sie in die Schule gegangen sei.40 Das lag sicher auch an dem, zumindest gemessen an den Zuständen in konventionellen Schulen dieser Zeit, liberalen Geist, der hier