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Bass Rock, eine unbewohnte Felseninsel vor der schottischen Küste, wirft seit Jahrhunderten ihren Schatten auf das Festland und seine Bewohner. Neu unter ihnen: Ruth Hamilton, die in den Jahren nach dem Krieg mit ihrem Mann und zwei Stiefsöhnen in ein zugiges Landhaus an der Küste zieht. Sie zum ersten Mal schwanger und zunehmend auf sich allein gestellt: die Stiefkinder im Internat, der Mann für Wochen in seiner Londoner Kanzlei. Als Großstädterin hadert Ruth mit der Abgeschiedenheit und auch mit den sonderbaren Gebräuchen der einheimischen Gesellschaft. Ein Strandpicknick mitten im Winter? Die eigenartig kostümierten Frauen? Ruth passt sich an, ein wenig. Bis sie begreift: Das hier passiert nicht nur ihr. Es ist ein altes Spiel. Sie wird es nicht gewinnen. Ein halbes Jahrhundert später, das Anwesen vor Bass Rock steht zum Verkauf, kommt wieder eine junge Frau in den Norden. Viv hadert mit ihrem Single-Dasein, aber auch mit den Gelegenheiten, es zu beenden. Außerdem schläft sie schlecht, in jedem der Betten in dem alten Haus. Ihr ist, als würde sie heimgesucht von dunklen alten Geschichten. Geschichten von aufsässigen Frauen, von Frauen in Bedrängnis. Und ihre Stiefgroßmutter Ruth ist nur eine davon. Evie Wylds «Die Frauen» ist eine feministische Ghost Story, ein mitreißender Gesellschaftsroman. Im Ton mal elegant, mal drastisch und voller Wut über eine Welt, die den Männern allein gehört. Ein kämpferisches Buch von einer besonderen Brillanz und Bandbreite.
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Seitenzahl: 496
Evie Wyld
Roman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Der Bass Rock wirft seit Jahrhunderten einen Schatten auf North Berwick und seine Bewohner. Neu unter ihnen: Ruth Hamilton, die in den Jahren nach dem Krieg mit ihrem Mann und zwei Stiefsöhnen in ein zugiges Haus am Meer zieht. Ruth ist zum ersten Mal schwanger und zusehends allein: die Kinder im Internat, der Mann über Wochen in seiner Londoner Kanzlei. Als Großstädterin hadert sie mit der Abgeschiedenheit und auch mit den sonderbaren Gebräuchen der einheimischen Gesellschaft. Ein Strandpicknick mitten im Winter? Die Frauen eigenartig kostümiert? Ruth passt sich an, ein wenig. Bis sie begreift: Das hier passiert nicht nur ihr. Es ist ein altes Spiel. Sie soll es nicht gewinnen.
Ein halbes Jahrhundert später, das Anwesen am Bass Rock steht zum Verkauf, kommt wieder eine Frau in den Norden. Viv hadert mit ihrem Single-Dasein, aber auch mit den Gelegenheiten, es zu beenden. Außerdem schläft sie schlecht, in jedem der Betten in dem alten Haus. Ihr ist, als würde sie heimgesucht von dunklen Geschichten. Geschichten von aufsässigen Frauen, von Frauen in Bedrängnis. Und ihre Stiefgroßmutter Ruth ist nur eine davon.
Im Ton mal spöttisch, mal drastisch und voll wilder Wut über eine Welt, die den Männern allein gehört, ist Evie Wylds «Die Frauen» Ghost Story, Kampfschrift, Familiensaga. Ein Buch mit vielen Gesichtern.
«Ein atemberaubender Roman.» The Observer
«Evie Wyld ist ein Genie.» The Guardian
«Eine Gothic Novel für unsere Zeit. Ungeheuer gut beobachtet, zutiefst verstörend und absolut fesselnd. Wie alle Werke von Evie Wyld voller erhellender Einsichten zu dem, was Menschen einander physisch und psychisch antun können. Ein Meisterwerk.» Max Porter
«So genau beobachtet, musikalisch, einfallsreich ... und ungeheuer unterhaltsam ... Es ist fast schon Alchemie.» The New York Times
Evie Wyld, 1980 in London geboren und in Australien aufgewachsen, erhielt für ihr literarisches Werk etliche Auszeichnungen und Preise, unter anderem den John Llewellyn Rhys Prize, den Miles Franklin Award und den Literaturpreis der Europäischen Union. Ihre Bücher sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. «The Bass Rock» (dt. «Die Frauen»), ihr dritter Roman, wurde von der Presse gefeiert. Evie Wyld lebt im Londoner Stadtteil Peckham.
Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, unter anderem von Zadie Smith, Bernardine Evaristo, Anna Quindlen und Charlotte McConaghy, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
Für die Wylds
Ich war sechs, und meine Mutter und ich gingen, nur zu zweit, mit Booey an dem Strand spazieren, wo sie und Dad aufgewachsen waren, einem Küstenstreifen aus schwarzen Steinen und hellem, kaltem Sand. Es war immer kalt hier, selbst im Sommer trugen wir Wollpullover, und unsere Nasen waren ganz wund, weil wir sie ständig mit dem Ärmel abwischten. Aber jetzt war November, und der Wind trieb Booey dicht an unsere Seite, die Ohren angelegt, die Augen bloße Schlitze. Ich sah zu, wie die oberste Sandschicht davonwehte, ein gewaltig großes Betttuch, das sich blähte.
Wir suchten rings um die Flutlinie nach Kaurimuscheln. Zwei bohrten sich schon in meine Handfläche, sie waren weiß wie der Hals der Silbermöwen. Meine Mutter hatte den schärferen Blick und schon sechs gefunden. Mein Siegesdrang ließ allmählich nach.
In einem Wasserloch zwischen den Steinen ruhte ein schwarzer, nach allen Seiten ausgebeulter Koffer. Der Reißverschluss war aufgeplatzt, und dort, wo die Zähne nicht mehr ineinandergriffen, sah ich zwei Finger mit roten Nägeln und ein graues Knöchelchen, wo ein dritter Finger hingehört hätte. Ein Fingerstumpf, wie der kleine Plastikschinken aus meinem Puppenhaus. Das Meerwasser hatte alle Farbe fortgeleckt und nur kühles Grau und den weißen Knochen zurückgelassen. Der Knochen war es wohl auch, der mich an Schinken erinnerte. Ich hob den Arm, um mir etwas aus dem Gesicht zu wedeln, und im selben Moment erhob sich von dem Koffer ein schwerer, dichter Fliegenschwarm.
Hinter mir meine Mutter – «Noch eine», rief sie, «ich habe noch eine gefunden!» – und dann der Geruch, wie von einer toten Katze im Schornsteinschacht bei heißem Wetter, ein Geruch, so groß und breit, dass über ihn hinweg oder um ihn herum nichts anderes mehr war.
Meine Mutter trat hinter mich. «Was ist –»
Ich schaute mir weiter die Finger an, versuchte zu begreifen, während sie mich schon am Arm zog.
«Komm weg, komm weg hier», sagte sie und spuckte mehrmals in den Sand. «Schau nicht hin, komm weg hier.» Aber je länger ich schaute, desto mehr sah ich: Durch die Spalten zwischen den weißen Fingern lugte ein Auge, das meinen Blick zu erwidern, etwas über mich zu wissen schien, das eine Frage stellte und gleichzeitig eine Antwort gab. In meiner Erinnerung, der unzuverlässigen Erinnerung eines Kindes, blinzelt es.
Der kleine Supermarkt in Musselburgh hat bis 22 Uhr geöffnet, und als ich um 21 Uhr 35 hereinkomme, wirkt die Belegschaft fast beleidigt. Ich überlege, wie ich nach acht Stunden Autofahrt wohl aussehe. Auf der Höhe von Durham habe ich im Waschraum einer Tankstelle kurz den Kopf unters Wasser gehalten, und meine Haare sind komisch getrocknet. So zerzaust, wie ich bin, könnte ich auch als Ladendiebin durchgehen.
Geparkt habe ich hinter dem Supermarkt, vor den Geldautomaten, damit ich nicht vergesse, nach dem Einkaufen noch Bargeld zu holen, denn die meisten Läden hier halten nichts von Kartenzahlung.
Ich stehe lange vor den Kräutern. Es gibt frischen Ingwer und Chilischoten, und ich stelle mir ein Leben vor, in dem ich etwas damit zubereite. Am Ende lege ich Zitronenthymian in den Einkaufswagen. Vielleicht brate ich mir morgen ja ein Huhn. Oder zwei Schenkel. Ich bin keine besonders gute Köchin. An den Schenkeln gefällt mir, dass sie nicht trocken werden, wenn ich sie im Ofen vergesse.
Mit dem Obst übertreibe ich es immer, aber es ist auch schwer, sich zurückzuhalten. Sie haben Pflaumen aus Kenia, alle Farben – Gelb, Orange, Lila, Rot und Schwarz –, und ich stelle von jeder Farbe ein Kistchen in meinen Wagen. Macht dreißig Pflaumen für eine Woche, nur etwa vier pro Tag also. Das könnte klappen. Zwei morgens, zwei abends. Wäre ich ein Mensch, der Konserven macht, würde ich von jeder Sorte ein Glas einkochen, einfach nur, um es anzusehen. Aber sie würden ja doch bloß schimmeln, so wie das eine Mal, als ich Olivenöl mit Chili ansetzen wollte und die ganze Flasche schwarz wurde. Beim Konservieren mache ich irgendetwas grundsätzlich falsch. Wahrscheinlich ist es eine Frage der Hygiene.
Ich gehe weiter, und trotz aller Versuche, mir etwas Neues, Spannendes zu überlegen, was ich kochen könnte, habe ich, als ich den Gang mit den Tiefkühlprodukten erreiche, Dosentomaten, Dosenmuscheln und Spaghetti im Wagen. Eine Schachtel Eier, die vergammeln werden, geschnittenes Graubrot und den Thymian. Auf nichts davon habe ich heute Abend Lust, aber zumindest zeugen die Lebensmittel von einer gewissen Seriosität. Ich bin eine Frau, die zum Arbeiten hier ist. Die ihrer Familie einen Gefallen tut – und nicht umgekehrt. Ich bin nicht mehr die, die es den ganzen Juni über nie vor Mittag aus dem Bett geschafft hat. Die nicht mehr zur Arbeit ging, keine Freunde mehr traf, niemanden mehr zurückrief, um schließlich von ihrer Schwester ins Krankenhaus gefahren zu werden, als auch das mit dem Ein- und Ausatmen nicht mehr richtig klappte und nur noch ein langgezogenes dumpfes Blöken kam. Ich habe nicht sieben Tage in einem Zimmer ohne scharfe Kanten verbracht, an dessen Tür ein Schild hing: Besteck in jeder Form (einschließlich Teelöffel!) verboten.
Die Lautsprecheranlage verkündet, dass die Filiale in fünf Minuten schließt, und es kommt mir vor wie eine Botschaft nur für mich.
Im Tiefkühlgang, in den ich noch kurz der Vollständigkeit halber eingebogen bin, steht eine Frau ohne Einkaufswagen oder Korb; sie ist in die Schokoladeneis-Auswahl vertieft. Schließlich greift sie nach einer Viererpackung von der teuren Mint-Sorte, auf der ein weiblicher Mund, groß und anzüglich, die Schokoladenhülle knackt.
Die Frau trägt rosa Lippenstift, hat eine Zigarette startbereit im Mund und eine gewaltige Lockenmähne, die getrimmt und fixiert wurde. Sie lächelt mich an. «Auch Eisgelüste am späten Abend?»
Ich bin so überrumpelt, dass ich rot werde, dann lache ich zu laut und sage: «Äh, Pflaumen.» Sie grinst zurück und wendet sich ab. Wahrscheinlich werde ich mich noch die ganze Nacht Äh, Pflaumen sagen hören.
Am Ende des Tiefkühlgangs steht ein Aufsteller mit Orangen-Wassereis von Mr. Freeze. Als wir noch klein waren, sang Dad, wenn er richtig gut gelaunt war und Katherine und mich zum Lachen bringen wollte, immer das Liedchen aus der Fernsehwerbung seiner Kindheit: Superspitze, superspitze, flutschiges Orangeneis. Schwer zu sagen, was genau wir daran so lustig fanden, aber ich glaube, es hatte mehr mit ihm zu tun und damit, dass er uns so unbedingt zum Lachen bringen wollte. Trotzdem bleibe ich jetzt stocksteif stehen, denn wie so viele Kleinigkeiten jeden Tag macht dieser Aufsteller mir bewusst, dass ich das Liedchen nie mehr von Dad hören werde.
Ich habe die blöden Hähnchenschenkel vergessen und sause zurück zum Kühlregal, aber die guten Hähnchenteile sind schon weg, es sind nur noch solche übrig, die nach Fisch und Elend schmecken. Ich werfe noch eine Dose Sardinen in den Wagen, stelle den Thymian zurück. Eine Packung Schweizer Käse in Scheiben, eine Tafel Schokolade und ein Bund Sellerie, für die Optik.
Es ist nur noch eine Kasse geöffnet, davor eine kleine Schlange – wir alle versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass es für uns ganz alltäglich ist, so spät noch einzukaufen. Ich blättere in einer Zeitschrift. Ein stimmungsvolles Photo zeigt einen Mann, der sich mit dem Daumen über die Oberlippe streicht, um entweder seine Manschettenknöpfe oder seine Armbanduhr in Szene zu setzen. Er legt die Stirn auf eine Art in Falten, die wohl sexy wirken soll. Und da, ihm gegenüber, steht eine bleiche, klapperdürre Frau, das Haar in der Mitte gescheitelt, die Lippen zum roten Schnütchen geschminkt, eine reglose Puppe. Traurig blickt sie in die Ferne. Sie kann sich von dem Mann mit den Manschettenknöpfen und der faltigen Stirn betrachten lassen, aber seinen Blick erwidern, das kann sie nicht.
Die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf: Warum wollen diese Frauen bloß alle aussehen wie Rehe im Scheinwerferlicht? Und warum wollen die Männer alle aussehen, als würden sie in der Öffentlichkeit immer zu laut lachen?
Ich bin froh, dass die Zeiten vorbei sind, als ich mich noch darum sorgte, wie andere Menschen auf meinen Körper und mein Gesicht reagieren oder eben nicht reagieren könnten. In gewisser Weise bin ich schon jetzt älter als meine Mutter, die in meinem Alter immerhin noch am Leben teilgenommen hat – sie hatte Mann und Kinder. Ersteren hat sie verloren, und nun lebt sie so, wie es ihr wohl immer schon entsprochen hat, allein mit ihrer Arbeit. Seit neun Monaten arbeitet sie an den Giftpilzen Frankreichs. In meiner Wohnung gibt es nur ein einziges gerahmtes Bild, das sie mir vor drei Jahren zum Einzug geschenkt hat: ein Fliegenpilz, an dem zum Größenvergleich ein Hirschkäfer vorbeimarschiert. Es lehnt bei mir im Schlafzimmer noch ohne Haken an der Wand. Wahrscheinlich hat dahinter längst eine Hausspinne ihr Nest. Meine Mutter erlebt das Alleinsein als Neubeginn. Ihr Haus ist ordentlich aufgeräumt. Sie isst, was sie will und wann es ihr passt: manchmal den ganzen Tag nichts und dann Krabbenauflauf um elf Uhr abends, oder eine Schüssel rohe Tiefkühlerbsen, die sie wie Cornflakes zum Frühstück knurpst. Ich bewundere sie – dass sie das Alleinsein nach Dads Tod so freudig angenommen hat. Vielleicht schaffe ich das auch irgendwann, ich bräuchte ja nicht mal vorher Witwe zu werden.
Manchmal wäre es aber auch schön, jemanden zu vögeln und selbst gevögelt zu werden.
Hin und wieder suche ich im Netz nach Singles, die älter sind als ich, ich nehme immer nur die Älteren, nicht, weil ich auf der Suche nach Reife und Erfahrung wäre, sondern weil die Jüngeren ihre Filter so eingestellt haben, dass sie das alte Eisen aussortieren, zu dem ich mit fast vierzig urplötzlich zähle.
Es gab sogar schon ein paar Matches: Steven, sechsundfünfzig, aus Harringay; Philip, neunundvierzig, aus Clapton; Isabella, zweiundsechzig, aus Hampstead. Und wenn sie mal keinen Filter eingestellt hatten, so wie Marco, sechsunddreißig, aus Tooting, war garantiert ein Fetisch im Spiel. Irgendwann wurde der Speicherplatz auf meinem Smartphone knapp, und ich habe die App wieder gelöscht – vor den Augen meiner Schwester, um ihr Gelegenheit zu Kopfschütteln und entnervten Schnalzlauten zu geben.
Die Frau an der Kasse sagt «Guten Abend», als wollte sie mich festnehmen und aufs Polizeirevier bringen.
Ich bin mit meiner kleinen Lebensmitteltüte schon auf dem Weg zum Wagen, da sehe ich, direkt vor der automatischen Eingangstür, wieder die Frau mit dem Eis. Sie hat schon eines aufgerissen und trommelt mit den langen Fingernägeln der anderen Hand auf der Großpackung herum. Mein Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz. Wahrscheinlich wartet sie auf jemanden, der sie abholt. Ich versuche, an ihr vorbeizuschauen. «Hey!», ruft sie. Ich lächele, meide weiter ihren Blick – will sie mich wieder in ein Gespräch verwickeln? Muss ich ihr dann das mit den Pflaumen erklären?
«Hey!», sagt sie noch einmal. «Schön, dich zu sehen, Herzchen! Wie geht’s dir denn?»
Anscheinend glaubt sie, dass wir uns kennen. Vielleicht will sie Geld. Ich fühle mich plötzlich sehr allein auf dem Parkplatz. Der Wachmann lässt schon die Rollläden herunter, aber er sieht nicht her.
«Tut mir leid, ich glaube nicht, dass wir uns kennen», sage ich und gehe mit schnellen Schritten Richtung Wagen. Bargeld kriege ich wohl heute keins mehr.
«Schon klar», zischt sie und geht ihrerseits schneller, um mit mir Schritt zu halten. «Tu einfach so, als ob. Da hockt einer hinter deinem Auto.»
Ich bleibe stehen, und sie prallt gegen mich. Von dort, wo wir sind, sehe ich niemanden beim Wagen, aber die Geldautomaten sind so hell erleuchtet, dass alles andere ringsum im Dunkel versinkt.
«Ich habe für dich auch ein Eis», sagt sie, jetzt wieder mit lauter Stimme. Sie reicht mir eins aus der Schachtel. Ich greife automatisch danach.
«Wir müssen den Wachmann rufen.» Noch während ich flüstere, geht das Licht vor dem Supermarkt aus.
Ich sehe immer noch niemanden, und plötzlich habe ich ein richtig schlechtes Gefühl. Wer geht denn spätabends noch los, ohne Auto, nur um Schokoladeneis zu holen? Das ist doch nicht normal. Steig in den Wagen, denke ich, schüttele sie ab, gib ihr das Eis zurück, das macht die ganze Situation nur noch schwieriger zu handhaben.
Ich drücke auf den Knopf, um den Kofferraum zu öffnen, und die Frau sagt: «Es ist so lange her, seit der Schule – was hast du denn so getrieben?»
Verwirrt öffne ich den Mund, und während ich noch nach einer Antwort suche und mir gleichzeitig klarmache, dass es egal ist, weil wir ja gar nicht zusammen auf der Schule waren, erhebt sich eine Gestalt auf der Beifahrerseite meines Wagens, ich sehe nur, dass der Mann die Hand in der Jackentasche hat, dass er dunkle Kleidung trägt und sich rasch, aber ohne zu rennen, von uns entfernt. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich habe die schreckliche Befürchtung, gleich loszuheulen.
«Scheißkerl», sagt die Frau und reißt ein weiteres Eis auf.
«Sollen wir das irgendwo melden?», frage ich.
«Und was sagen wir dann? Dass da ein widerlicher Typ war? Widerlinge gibt’s wie Sand am Meer, Herzchen. Kannst du mir glauben.»
«Also», sage ich. «Vielen, vielen Dank, wirklich. Es tut mir leid, ich wusste nicht, was los war.»
«Kein Ding», sagt sie.
«Hier hast du dein Eis zurück», sage ich.
«Das behältst du mal, Herzchen! Ich hab hier ja noch zwei.» Sie beißt in das neue, die Schokolade knackt laut. «Also dann, mach’s gut.» Sie wendet sich ab, hin zu dem Pfad, der zur Hauptstraße führt.
«Warte», sage ich. «Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?»
Einer Wildfremden anzubieten, sie im Auto mitzunehmen, ist zu jeder Tageszeit komplett untypisch für mich, erst recht im Stockdunkeln, denke ich, aber da habe ich es schon getan.
Die Frau dreht sich um und grinst. «Soll ich dir was sagen? Das wäre echt super.»
Als wir im Auto sitzen, frage ich mich, was ich hier eigentlich mache.
«Stört’s dich?», fragt sie und zeigt auf das Eis.
«Überhaupt nicht.»
Wir fahren vom Parkplatz und dann bergauf.
«Ich brauche Eis, wenn ich stoned bin, weißt du.»
Sie sagt mir, wie ich fahren soll, erzählt mir, wo sie herkommt, und ich vergesse alles auf der Stelle wieder.
«Ganz schön verranzt hier», sagt sie. «Und ich bin auch noch aus einer besonders verranzten Ecke.»
Ich nicke. Mir fällt nichts ein, was ich erwidern könnte. Wir fahren Richtung Küste, Straßenlaternen gibt es keine, und mein Fernlicht funktioniert schon seit Jahren nicht mehr. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass uns etwas folgt, rot glühende Augen im Rücklicht. Ihr macht der Vorfall auf dem Parkplatz offenbar nicht weiter zu schaffen. Ich habe Heimweh wie ein elfjähriges Kind.
«Und was machst du so?», fragt sie.
«Freiberufliche Sachen.» Ich gebe mir Mühe, ihr das Ausmisten des Hauses von Großtante und Großmutter als echte Arbeit zu präsentieren. «Hauptsächlich archivarische Sachen. Ich verbringe die Wochenenden hier und fange demnächst ein neues Projekt an.» Ich räuspere mich ausführlich.
«Cool!», sagt sie. «Kunst?»
«Ja. Und andere Sachen.»
Ich sage viel zu oft «Sachen».
«Echt cool. Kunst finde ich toll.»
Es folgt ein sehr, sehr langes Schweigen.
«Und wie bist du da rangekommen?»
«Ich habe Kunstgeschichte studiert.» Das stimmt sogar fast, das erste Studienjahr habe ich abgeschlossen, aber das ist so lange her, dass es den weiteren Verlauf meines Lebens wirklich nicht beeinflussen konnte. «Meine Mutter macht botanische Illustrationen, es liegt also irgendwie in der Familie.»
Nur, dass das eben nicht so ist. Um wieder etwas Oberwasser zu bekommen, bin ich schon drauf und dran, ihr zu erzählen, dass mein Vater gerade gestorben ist – als wäre es erst heute früh passiert. Und eigentlich stimmt das irgendwie auch, und ich halte mich insgesamt ganz gut, finde ich. Aber jetzt, nach zwei Jahren, erkennt das außer mir kein Mensch mehr an. Das Leben geht weiter – das sagt vielleicht niemand so direkt, aber es ist ihnen doch anzusehen.
«Was, Pflanzen und so Zeug?»
«Eigentlich Pilze.»
«Ach so», sagt sie. Und schon wieder Schweigen.
Zu spät wird mir klar, dass ich sie fragen hätte können, was sie beruflich macht; aber das Schweigen hat diesen Teil des Gesprächs längst beendet. Draußen fällt leichter Regen.
«Ich heiße übrigens Maggie. Keine Abkürzung. Einfach nur Maggie», sagt sie.
«Viv. Abkürzung für Viviane.»
«Eine Viviane habe ich noch nie getroffen», sagt sie ehrlich erstaunt. Ich fühle mich zu einer Erläuterung veranlasst.
«Meine Mutter sagt, der Name hat ihr gefallen, weil er so edel klingt.»
«Ha!», sagt sie. «Meine Mutter fand, Maggie klingt nach fluffigem Küken.»
Ich weiß nicht weiter, ich habe nichts zu sagen. Wenn ich bloß nicht ständig von meiner Mutter anfangen würde.
Auf der Küstenstraße, direkt am Golfplatz, sagt sie mir, ich solle anhalten.
«Von hier aus laufe ich. Kleiner Spaziergang unterm Sternenhimmel.»
«Ganz sicher?»
Sie streckt mir die Hand hin, und ich schlage ein, als hätten wir gerade ein Geschäft abgeschlossen.
«Man sieht sich, Herzchen.»
Es sind keine anderen Autos auf der Straße, und ich schaue ihr nach, wie sie über den Hang in Richtung Strand verschwindet, ganz locker und gemächlich, als ginge sie im Takt irgendeiner Musik. Draußen im Dunkeln höre ich die Wellen am Bass Rock brechen, aber sehen kann ich ihn nicht.
Ruth kaufte Kochfleisch beim Metzger, um eine Pastete zu machen. Den ganzen Tag schon hatte sie den Geruch von Bettys Fleischpudding in der Nase. Fleischpudding war hier in Schottland offenbar sehr beliebt, denn in den fünf Wochen seit ihrer Ankunft hatte er sich schon mindestens vier Mal hinterhältig auf ihren Esstisch geschlichen und die Stimmung so verlässlich in den Keller getrieben wie der Fischauflauf früher daheim. Allein bei der Vorstellung, wie er im Dampfkessel vor sich hin garte, drehte sich Ruth der Magen um. Sie würde eine schlichte Rindspastete zubereiten, mit Kartoffeln und Stangenbohnen. Eines der wenigen Rezepte, die sie hinten in ihrem Taschenkalender aufbewahrte. Vielleicht sollte sie dazu einen Biskuitkuchen für die Jungen backen. Ob sie sich darüber freuen oder es als Bestechung empfinden würden?
Sie kam zu dem Schluss, dass man über derlei auch zu viel nachdenken konnte.
Die letzten Ausläufer des Spätsommers ließen den Tag leuchten, es war zu kühl, um ohne Hut zu gehen, dennoch wärmte die Sonne ihr auf eine Weise den Rücken, dass sie sich nach dem langen Weg die Hauptstraße entlang erhitzt fühlte, und so blieb sie einen Augenblick auf den Betonstufen des Außenschwimmbeckens stehen und sah den Badegästen zu, deren Glieder weiß im Wasser schimmerten. Eine Frau bewegte sich so gemächlich, dass sie praktisch nicht vom Fleck kam. Sie tauchte den Kopf mit der geblümten Badekappe unter, kam mit feuchtem Prusten wieder hoch. Die anderen Schwimmer, denen es mehr um die Bewegung ging, umrundeten sie. Sie genießt es, so leicht zu sein, dachte Ruth. Das Vorankommen ist ihr gleichgültig. Auf der obersten Stufe hockte eine aufgeplusterte junge Möwe, die ihrerseits die Schwimmer beäugte. Sie kreischte und watschelte entrüstet auf der Stelle. Ruth sah zu ihr hin. «Die machen das nur zum Vergnügen», erklärte sie ihr, und die Möwe legte den Kopf schief und zeigte Ruth gnädig ein marmorschwarzes Auge.
Auf dem Postamt wartete ein Brief von Alice. Ruth kaufte eine Postkarte, die das Außenbecken zeigte und das Café Pavilion, dahinter erhob sich abweisend der steile Hang des Law. Als sie den Berg zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr in seiner schroffen Strenge regelrecht unnatürlich vorgekommen, und dazu die beiden Walknochen auf dem Gipfel: wie Mahnmale eines grässlichen Heidentums. Doch je mehr sie sich an den Anblick gewöhnte, desto deutlicher standen ihr die Menschen vor Augen, die das Gebein dort hinaufgeschafft hatten, und der Triumph, den sie empfunden haben mussten, wenn sie die Knochen dort oben im Licht schimmern sahen. Das Schwarzweiß der Postkarte ließ den Law unvorteilhaft klobig wirken, die Walknochen auf dem Gipfel waren kaum zu sehen; dennoch fand Ruth Gefallen an der Vorstellung, ein Kreuzchen an das Fenster zu machen, hinter dem sie saß, während sie die Postkarte schrieb.
Im Pavilion kannte man sie inzwischen, die junge Bedienung nickte ihr zur Begrüßung zu und führte sie an einen Tisch mit Blick auf das Becken. Ruth hielt nach der Frau Ausschau, die sich treiben ließ, aber sie war verschwunden oder auch untergegangen. Und nach wie vor waren da die unverhohlenen Blicke anderer Damen, die sich wohl fragten, was es mit Ruth auf sich hatte. Allmählich, das war ihr klar, bräuchte sie ein paar Verbündete, sonst riskierte sie, dass man sie für hochnäsig hielt. Aber sie wurde seit jeher nur langsam mit anderen warm, und ein gutes Verhältnis zu Betty, der Haushälterin, schien ihr zunächst die vordringliche Aufgabe, denn Peter hatte etliches an deren Kochkünsten auszusetzen, und es würde größtes Fingerspitzengefühl erfordern, ihr das zu vermitteln.
Alice verwendete geschmackvolles, sorgsam ausgewähltes Briefpapier. Ein Muster aus Weidenblättern auf dem Futter des Umschlags, makellos weiße Bögen mit verschnörkeltem Wasserzeichen. Ein Brief von Alice war wie ein kleines Geschenk, das man auswickeln, aufbewahren und noch Jahre später bestaunen konnte. Verstohlen schnupperte Ruth am Umschlag, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte – Tee, der im silbernen Kännchen serviert wurde, und ein schmales Stück Shortbread. Womöglich war es nur Alice’ kostspielige Handcreme, aber genauso gut war es denkbar, dass sie den Brief mit dem Zerstäuber aus Koralle und Messing parfümiert hatte, der auf ihrem Sekretär stand. Ruth sah sie vor sich, wie sie den Brief schrieb, in einem hauchzarten Morgenmantel und hochhackigen Schuhen.
Der Inhalt allerdings hielt nicht, was die Verpackung versprach.
Liebstes Kätzchen,
was für ein Unglück, der liebe alte Ludwig ist tot. Es war wohl Rattengift, wobei er natürlich steinalt war und auch praktisch blind, der Arme. Vater hat es mir am Wochenende berichtet, er war vollkommen außer sich. Dich wollten sie mit solchen Nachrichten nicht behelligen, Mutter meinte, Du habest «in Deiner Ehe schon genug zu schaffen mit dem Thema Tod» – worüber ich in Deinem Namen die Augen verdreht habe. Ich dachte mir, Du würdest es wissen wollen.
Vater möchte einen Grabstein, und jetzt liegen sie sich in den Haaren, was draufstehen soll. Mutter ist für Albert, aber Vater wird fuchsteufelswild und zetert, der Krieg sei vorbei, er werde den treuen Freund unter seinem wahren Namen beerdigen. Mutter fürchtet sich vor Vandalen, allerdings habe ich Zweifel, ob sich ausgerechnet in Much Hadham gar so viele finden. Antony hätte den Leichnam natürlich längst fortgebracht und ihn einer Seebestattung zugeführt.
Jedenfalls tut es mir furchtbar leid, Dir solche traurigen Nachrichten zu überbringen, Kätzchen, ich hoffe, es geht Dir in jeder anderen Hinsicht blendend!
Am Wochenende feiern Mark und ich unseren fünften Hochzeitstag – ist das zu glauben? Ich wünschte, Du könntest dabei sein! Bitte «zwitscher» Dir einen auf unser Wohl.
London ist die Hölle.
Alles Liebe,
Alice
Ruth faltete den Brief zusammen und verstaute ihn sorgsam wieder in seinem Umschlag. Sie drückte ihn auf dem weißen Leinentischtuch platt und beschwerte ihn mit dem Salzstreuer. Durch das Fenster blickte sie über das Außenbecken hinweg zum Hafen, und dort, im dunklen Wasser, entdeckte sie die geblümte Badekappe, nun auf dem offenen Meer. Vielleicht war es auch nur eine sonnenrosige Boje. An klaren Tagen wie diesem schien der Bass Rock so nah, als könnte man ihn einfach umschwimmen, aber für diese unbedachte Äußerung war sie schon mehr als ein Mal von Einheimischen zurechtgewiesen worden.
Ruth trank ihren Tee ohne Milch, das Shortbread ließ sie in der Tasche verschwinden, um sich nicht dem Vorwurf der Verschwendungssucht auszusetzen. Sie zählte das Geld ab, ließ auch ein Trinkgeld da, als Entschuldigung, dass sie einfach ohne Gruß und Dank verschwand; im Gehen band sie sich ihr rotes Kopftuch um, denn die Wolken draußen drohten mit Nieselregen. Sie brachte es nicht über sich, wieder in den Mantel zu schlüpfen. Das sanfte Rumpeln der Boote am Hafen und der Segel, die an die Masten schlugen, war jetzt lauter als vorher – der Wind hatte aufgefrischt. Die Möwen kreischten unablässig.
Auf dem Heimweg blieb sie beim Reiterpfad stehen, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand bis hinunter zum Strand. Unter den Wipfeln war es dunkel, dort drang der Wind nicht ein. Ein Nadelstich aus Licht – eine Taube war auf dem obersten Ast einer Tanne gelandet, und der ganze Baum schwankte, als wäre die Taube schwer wie Blei.
Ruth ließ Kochfleisch und Mantel am Zaun hängen und ging auf die Taube zu, sie spürte ihr Herz hämmern, nicht vor Angst, sondern vielmehr so, als würde es aus ihrer Brust gezogen, hinein in die Schwärze der Bäume. Schmetterlinge, die schon längst hätten tot sein sollen, taumelten durch die unbewegte Luft, weiß, blau und schwarz. «Sagt mir», bat sie die Schmetterlinge, vielleicht auch die Taube oder die Bäume, sie war sich nicht sicher, «sagt mir, was ich tun soll.» Schweigen. «Sagt mir irgendwas.» Aber die Taube ruckte nicht einmal mit dem Kopf, um sie anzusehen, und die Bäume waren bloß Bäume. Ruth fragte sich, ob sie wohl wieder verrückt wurde, fuhr zusammen, als sie, im Farndickicht zusammengerollt, einen schlafenden Fuchs entdeckte. Oder vielleicht war er tot. Der Boden um ihn war abgetreten und zerwühlt, aber Blut war keines da. Sein Fell wirkte grau, nicht orange wie das der Füchse bei der Treibjagd oder auf Bildern. Nein, tot war er nicht: Sie sah, wie sich sein kleiner Brustkorb hob und senkte.
Als sie an den Zaun zurückkam, waren Fleisch und Mantel verschwunden. Sie kam sich töricht vor. Auf dem Heimweg fror sie, der sonnige Nachmittag war dem gewohnt feuchten Wind gewichen, und Ruth schlang die Arme um den Körper und lief, so schnell sie konnte, ohne zu rennen. Das Haus war ihr noch nicht vertraut – wann immer sie am Golfplatz um die Ecke bog und emporsah, stellte sie fest, dass es dem Begriff Zuhause für sie nicht recht entsprach. Es kam ihr vor wie das Heim betuchterer Verwandter. Auch war es zu groß, darauf hatte sie Peter schon hingewiesen, als sie es besichtigt hatten, viel zu groß für ein Paar mit zwei Kindern auf dem Internat. Die Dienstbotenzimmer allein waren so groß wie Peters Cottage in Dummer, wenn nicht sogar größer. Und der leere Ballsaal mit dem Flügel, auf dem niemand spielte, entsprach der Mietwohnung in Kensington, die sie bewohnt hatte, als es Peter noch nicht gab. Sie wollte den Flügel stimmen lassen, doch in North Berwick gab es niemanden, der das konnte, der Mann, der sich früher darum gekümmert habe, sei verstorben, erklärte Betty, und um jemand Neues zu finden, müsse sie wohl bis nach Edinburgh.
«Aber wer stimmt denn die anderen Klaviere?», hatte Ruth gefragt, um gleich darauf rot anzulaufen. Betty hatte sie nur schweigend angesehen. Und Ruth spürte, wie schon Hunderte Male vorher, dass ebenso gut eine andere hier hätte stehen und tun können, was sie nun tat. Am liebsten hätte sie gerufen: «Sagen Sie mir doch einfach, wie sie es gemacht hätte, dann mache ich es genauso!»
Um nicht ohne Mantel gesehen zu werden, nahm sie die Hintertür und musste sich an Booey, dem alten Retriever, vorbeizwängen, der wie eine Zugluftrolle davorlag. Entschuldigend tätschelte sie ihn, ging dann eilig zu der großen Kommode und nahm Schlüssel und Kleingeldportemonnaie aus den Rocktaschen. Trotz der Handschuhe waren ihre Finger wie Eiszapfen, und sie legte sie einen Augenblick ans Gesicht, um sie zu wärmen. Im Spiegel sah sie, dass ihre Wangen von der Kälte und dem salzigen Wind gerötet waren, und als sie das Kopftuch abnahm, war ihre Frisur gänzlich aus der Form geraten und schmeichelte ihrem länglichen Gesicht kein bisschen mehr. Sie sah aus wie ein rotwangiges Pferd.
Sie zupfte ein wenig an ihrem Haar herum und trug etwas von dem Lippenstift auf, den sie mit ihren Zigaretten in der Kommodenschublade aufbewahrte. Das machte es kaum besser, aber vielleicht wirkte sie dadurch zumindest ein klein wenig entschlossener.
Peter und die Jungen saßen beim Spätnachmittagstee, als sie eintrat. Auf der Anrichte prangte ein großer Biskuitkuchen, den Betty tags zuvor gebacken hatte. Natürlich, sie hatte davon gewusst – Betty erklärte ihr immer ganz genau, was für die Kinder im Haus war –, es war ihr nur entfallen. Dann würde sie eben ein paar Bratäpfel machen, nicht gerade das raffinierteste Gericht der Welt und auch kein schöner Anblick, aber sie spürte das Bedürfnis, einen kleinen Beitrag zum Abendessen zu leisten, und sei es nur, um es noch ein wenig über den elenden Fleischpudding auszudehnen.
«Liebling», sagte Peter und gab ihr einen Kuss auf die Wange, «wie war dein Tag?»
«Gut», antwortete sie und legte Alice’ Brief im Umschlag auf die Anrichte. «Der Metzger hatte allerdings leider geschlossen. Da müssen wir wohl essen, was Betty für uns vorbereitet hat.»
«Schauderhaft! Isst du ein Stück Kuchen mit uns?», fragte er. «Da es sich offensichtlich um Bettys einziges echtes Talent handelt, sollten wir es nach Kräften ausnutzen.»
«Ach Liebling, wir haben uns einfach noch nicht an das schottische Essen gewöhnt. Hier hat man eben andere Vorlieben.» Sie goss sich ein Glas Wasser ein, um den Gedanken an das Abendessen herunterzuspülen.
«Wundert mich nicht, dass du das sagst – du hast Angst vor ihr.» Peter schnitt den Jungen eine Grimasse.
Michael lachte, Christopher war dafür neuerdings zu erwachsen. Ruth strich den Pullover über dem Rockbund glatt. Ihr war ein wenig übel.
«Das ist absoluter Mumpitz, und das weißt du genau. Ich werde also nichts weiter dazu sagen.» Sie wandte sich an die Jungen: «Wie war denn euer Tag?»
Michael antwortete mit vollem Mund: «Wir haben einen Hai gesehen.»
Ruth warf Peter einen Blick zu.
«Ja, das stimmt. Am Strand, in der Milsey Bay. Das arme Tier ist wohl vor der Ebbe nicht mehr weggekommen.»
«Er war tot», ergänzte Michael.
«Und bestimmt auch groß?» Ruth goss sich ein weiteres Glas Wasser ein, das erste war lau gewesen und hatte die erhoffte beruhigende Wirkung auf ihren Magen verfehlt.
«Sehr», sagte Peter.
«Wir haben einen Fischer gefragt, was für ein Hai das ist, und er meinte, es ist ein Riesenhai.»
So viel hatte Christopher seit dem Umzug nicht gesprochen. Sie lächelte. «Hatte er denn auch große Zähne?»
«Nein», sagte Christopher. «So ein Hai ist das nämlich nicht.» Über den Kopf des Jungen hinweg sah Peter sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, und Ruth setzte sich neben ihn.
«Vielleicht nehme ich doch ein kleines Stück Kuchen», sagte sie. «Und morgen könnt ihr Jungs mir diesen Hai ja vielleicht zeigen – es klingt wundervoll gruselig.»
«Da war eine Möwe, die hat sein Auge gegessen», ließ Michael sie noch wissen.
Die Jungen lagen längst im Bett, als Ruth die Treppe ins oberste Stockwerk hinaufstieg und leise die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Michael hatte sein erstes Schuljahr im Internat vor sich. Eigentlich hätte er schon ein Jahr zuvor dort anfangen sollen, aber seiner Bronchien wegen hatten sie ihn zu Hause behalten. Christopher war bereits seit zwei Jahren auf dem Internat, seit der Hochzeit. Jetzt, hier am Meer, hatte sich alles beruhigt. Als trüge der Wind manche Stimmungen und Erinnerungen einfach mit sich fort. Man konnte in schwarzen Gedanken versinken, doch dann stand man in der Gischt der rückläufigen Wellen und fragte sich, was es mit dieser Schwärze eigentlich auf sich gehabt hatte. Vielleicht musste sie nur ein winziges bisschen mehr ankommen, sich einem Projekt widmen. Der Malerei vielleicht?
Im Zimmer der Jungen war eine leichte Bewegung wahrzunehmen. Ruth sah die seehundhaften Umrisse der schlafenden Körper im Mondlicht. Das Fenster stand einen Spaltbreit offen, eine sanfte Brise wehte herein und lauste ihnen die schlechten Träume weg. Leise schloss Ruth die Tür, blieb noch einen Augenblick vor dem Zimmer stehen und lauschte. Der Hauch eines unbekannten Liedes drang zu ihr heraus – und war verklungen. Eine Eigenheit des Golfplatzes, der, weil der Baumbestand fehlte, selbst ferne Geräusche bis hierher dringen ließ.
Ruth wandte sich ab und ging auf dem äußersten Rand der Stufen nach unten – die Treppe knarrte entsetzlich, wenn man nicht aufpasste –, auf ein letztes Glas zu Peter in den Salon.
«Die Jungs waren heute sehr guter Dinge», sagte er und hob den Blick von der Hausbar. Er reichte ihr ihren Brandy, schenkte sich selbst ein Glas Whisky ein. «Ich glaube, allmählich begreifen sie diesen Ort – ich habe dir ja gesagt, es braucht nichts weiter als gesunde Seeluft.» Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und ließ einen zufriedenen Seufzer hören. «Das tut uns allen unwahrscheinlich gut.»
«Da hast du recht.» Sie lächelte, prostete ihm zu und trank. Bei ihrer Ankunft hier waren ihnen die Sommerferien wie eine Ewigkeit erschienen, mehr als genug Zeit für alle, um sich einzuleben, sich an diesen nächsten Teil ihres gemeinsamen Lebens zu gewöhnen. Aber noch waren sie längst nicht so weit.
«Ich bin sicher, Michael wird vom Internat profitieren. Manchmal fürchte ich, er kommt fast ein bisschen zu sehr nach mir.» Über sein Glas hinweg erwiderte Peter ihr Lächeln.
«Wie meinst du das?»
«Heute früh habe ich ihn dabei erwischt, wie er in deinen Manteltaschen gewühlt hat.»
«Und was hat er da gesucht?»
«Geld, nehme ich an. Wir haben jetzt schließlich einen Süßwarenladen in erreichbarer Nähe. Ich weiß noch, wie ich selber einmal ein ganzes Pfund aus Vaters Geldklammer stibitzt habe – ich bin aufgeflogen, weil ich mir beim Krämer hundert Gramm Pfefferminzbonbons kaufen wollte und er mir nicht rausgeben konnte. Dann hat er es meiner Mutter erzählt, als sie das nächste Mal in den Laden kam.» Peter lachte bellend auf. «Ich bin versohlt worden wie noch nie in meinem jungen Leben.»
«Michael hast du aber nicht geschlagen?»
«Er hat eine sanfte Ohrfeige bekommen und eine gesalzene Strafpredigt. Anderes bringe ich nicht mehr über mich. In Griechenland habe ich sie einen Jungen totschießen sehen, weil er ein paar Trauben geklaut hatte. Das rückt doch manches ins Verhältnis.» Er ließ ein unfrohes Lachen hören. «Auf dem Internat wird Michael sich das schnell wieder abgewöhnen. Bis dahin empfiehlt es sich wohl, Wertsachen gut wegzuschließen.»
Ruth überlegte, ob Michael wohl mit einer sanften Ohrfeige von Peter davongekommen wäre, wenn er sich dergleichen vor dem Krieg geleistet hätte. Der hatte die Männer grundlegend verändert. Oder aber vollständig aufgelöst.
Wenn bloß jemand von ihnen außerhalb des Schuljahrs Geburtstag gehabt hätte, das hätte ihr einen Grund gegeben. Aber ein Picknick ohne konkreten Anlass schien ihr übertrieben. Das wäre falsches elterliches Verhalten. Sie hatte ein Photo von Elspeth gesehen, mit den Jungs auf einer Picknickdecke – Michael noch ein eierköpfiger Säugling und Christopher mit seinen schwarzen Otteraugen. Drei Wesen auf einer Decke, in Liebe vereint.
«Da lag ein Brief von Alice auf der Anrichte. Ist in London alles in Ordnung?»
«O ja, alles bestens. Sie feiern dieses Wochenende ihren Hochzeitstag.»
Peter hob den Kopf. «Kommst du dir sehr garstig vor, weil du nicht hinfährst?»
«Ach. Im Grunde nicht. Allein der Gedanke: die vielen Menschen, Mutter und Vater, der ganze Lärm. Das fand ich noch nie sehr verlockend. Und es ist nicht einmal ihr richtiger Hochzeitstag.»
Den hatten sie nämlich mit einem sechswöchigen Urlaub in Kenia gefeiert, aber Alice war nicht willens, auch nur eine Gelegenheit für eine Party auszulassen, und so hatten die beiden ganz verwegen überall verkündet, es sei ihr Hochzeitstag, obwohl das gar nicht stimmte. Manchmal fand Ruth es befremdlich, wie selbstverständlich Alice davon ausging, dass alle mitspielen würden. Und doch war es so, Ruth hatte nicht einmal einen Beschwerdeanruf von ihrer Mutter erhalten.
«Etwas Schlimmeres kann ich mir kaum ausmalen. All die Meinungen und dann diese Kerle mit ihren geschmacklosen Scherzen.» Damit spielte Peter auf die Party an, die Alice für ihn und Ruth zur Verlobung gegeben hatte. Einer der Gäste war mit einer Packung Marihuana-Zigaretten angerückt.
«Ja. Ich bin wirklich sehr froh, einen Vorwand zu haben.» Einen Moment lang fragte sie sich, ob das vielleicht sogar stimmte, und kam zu dem Schluss, es müsse wohl so sein. Irgendwo in ihr blieb aber ein hartnäckig elender Kern. «Alles bestens, wirklich. Nur Ludwig ist tot.» Als sie es aussprach, spürte sie einen kleinen Kloß in der Kehle.
«Der Hund?»
«Ja.»
«Mhm. Das Alter?»
«Auch. Und Rattengift.»
Peter war hinter sie getreten und legte ihr eine Hand in den Nacken. «Das war wohl heute kein guter Tag für die Tierwelt», sagte er.
«Tja», sagte sie und musste feststellen, dass sie mit den Tränen kämpfte. «Es war nur ein Hund.»
«Richtig. Und ich bin nur ein Mann. Und ein Hai ist nur ein Hai.» Er trat ans Erkerfenster, obwohl es da draußen im Dunkeln nichts zu sehen gab. Durch die Scheibe konnte man unten am Strand die Brandung hören. Ruth ließ eine Hand auf dem Bauch ruhen und hoffte, dass die Flut den Hai nicht fortschwemmen würde, ehe Christopher und Michael Gelegenheit fänden, ihn ihr zu zeigen.
Am nächsten Morgen, noch ehe der Rest der Familie wach war, stand Ruth schon an der Hintertür und blickte in den Garten. Sie rauchte nur ungern vor den Kindern oder auch vor Peter. Es schien ihr wie ein Überbleibsel aus einem anderen Leben, als sie noch in Kensington auf dem Balkon stand und den Passanten auf die Köpfe aschte.
In den feuchten Ritzen zwischen den Steinen des Gartenwegs wucherte das Unkraut. Die Luft war heute ein anderes Kaliber, sie leckte kalt an ihren bloßen Armen, sobald sie nicht mehr direkt in der Sonne stand. Spät am Abend hatten sie noch mit Alice telefoniert, um ihr zum falschen Hochzeitstag zu gratulieren. Holz, das musste man nach fünf Jahren Ehe schenken. Peter und sie waren erst bei Baumwolle. Beides keine sehr haltbaren Materialien, wenn man es recht bedachte. Am Telefon hatte Alice in glücklichen Erinnerungen an ihre Hochzeit mit Mark geschwelgt, ein Tag, den Ruth in gedrückter Stimmung verbracht hatte, während die Reihe der Gäste pflichtschuldig auch an ihr vorbeidefilierte. Später, im Bett, ließ sie den damaligen Tag noch einmal vor dem inneren Auge vorüberziehen, als Peter bereits schlief.
Der Name ihres Bruders hatte sich wie ein Taktgeber durch die Reden gezogen. Ludwig tollte selbstvergessen zwischen den Rosen umher und beachtete die Gäste nicht weiter. Neuerdings fraß er Löwenmäulchen, die praktisch intakt durch ihn hindurchwanderten und als farbenfrohe kleine Hinterlassenschaften auf dem Rasen Nanny zur Weißglut brachten. Es hätte so wunderbar sein können, sich Ludwig zu schnappen und einfach zum Tor hinauszugehen, sich unten am Teich die Beine zu vertreten, rauchend im Gras zu liegen und stumm mit Antony zu reden. Stattdessen hatte Ruth sich ein Lächeln abgerungen und war zum Hausarzt der Familie getreten, der nach einem kurzen Blick aus trüben Augen laut und vernehmlich sagte: «Na, du siehst ja aus!» Was die junge Frau neben ihm mit einem Seitenblick und heftigem Erröten quittierte.
«Sehr nett von Ihnen», hatte Ruth erwidert und sich mit einer Entschuldigung abgewandt und in die Nähe des Brautpaars gestellt, wo Mark den Gästen gerade demonstrierte, dass er die Taille seiner Frau mit beiden Händen umschließen konnte. Alice’ dunkle Locken ringelten sich so selig um ihre Schläfen, als hätte jemand sie dort hingemalt. Sie beugte sich zu Ruth herüber. «Liebes, wenn du irgendwie in mein Zimmer kommen und meine Zigaretten aus der obersten Kommodenschublade holen könntest, dann stehlen wir uns einen Moment fort. Ich bin fix und fertig.»
Aber als Ruth das Haus betrat, drückte Nanny ihr ein Tablett mit Russischen Eiern in die Hand und trug ihr auf, sie unter den Gästen herumzureichen.
«Haben wir dafür nicht Personal engagiert?», sagte Ruth, worauf Nanny sie nur böse anfunkelte.
Jetzt, wo Alice verheiratet war und Antony nicht mehr da, dachte sie bei sich, während sie mit ihrem Tablett durch den Garten trottete und nie lang genug stehen blieb, dass die Gäste auch nur sahen, was sie anzubieten hatte, geschweige denn zugreifen konnten, musste sie sich wohl oder übel ihre eigenen Zigaretten kaufen – und würde dafür eigenes Geld brauchen. Seit Antonys Tod ertappte sie sich immer wieder bei solchen hässlichen kleinen Gedanken; sie fielen hinterrücks über sie her, trieben sie dazu, sich von innen auf die Wange zu beißen, weil sie sich so sehr schämte. Es steckte noch mehr dahinter, das wusste sie und konnte es doch nicht benennen.
Ludwig fing an zu bellen, und die Gespräche auf dem Rasen versiegten für einen Moment, alle blickten zu dem Dackel hin, der seine lange Schnauze auf eine neugierig vom weißen Zaun herabäugende Bachstelze gerichtet hielt. «Oh, Albert!», rief Ruths Mutter vernehmlich.
Ludwig führte vor dem Zaun ein kleines Tänzchen auf, seine Ohren klappten um und zeigten ihre rosa Innenseite. Während das Stimmengewirr wieder anhob, betrachtete Ruth die Bachstelze. «Hallo, Antony», hörte sie sich sagen und fragte sich sogleich, was wohl schiefgegangen war, dass sie auf den unsinnigen Gedanken verfallen konnte, ihr verstorbener Bruder wohne in Gestalt eines kleinen Vogels dieser Hochzeitsfeier bei.
Tante Josephine hatte ganz in der Nähe gestanden und sie bloß mit zutiefst mitleidigem Blick gemustert. Allerdings würde Josephines Beobachtung, im Verein mit Ruths Verhalten später im selben Jahr, sie für vierzehn Tage in ein Sanatorium in Deal bringen, eine demütigende und erschreckende Erfahrung, die Ruth jedoch auch etwas über den Nutzen der Verstellung lehrte.
Bevor sie den Hai sehen konnten, rochen sie ihn schon.
«Früher haben sie hier am Strand Wale gefangen», erzählte Christopher, «und dann haben sie Parfüm aus ihnen gemacht. Hat mir der Fischer erzählt.»
Der Gestank ließ das wenig glaubwürdig erscheinen, aber die Begeisterung im Gesicht des Jungen war einfach zu groß, als dass Ruth ihren Einwand laut geäußert hätte.
Michael trödelte hinterher und zog einen Ast durch den Sand. Schon eine ganze Weile. Seit sie vor einem knappen Kilometer den Golfplatz hinter sich gelassen hatten, folgte ihnen diese lange schwarze Schlange.
«Interessierst du dich sehr für Wale und Haie, Christopher?»
Der Junge überlegte ein bisschen.
«Eigentlich habe ich nie groß darüber nachgedacht. Aber jetzt, wo ich einen gesehen habe und wir hier wohnen, und die leben gleich da draußen … Ich wusste nicht, dass sie so groß sind. Ist doch komisch, dass da draußen im Wasser so große Wesen sind, die wir nicht sehen können.»
«Da hast du wohl recht», sagte Ruth.
Erst der Gestank, dann der Lärm – die Rufe der Möwen, die einander zum Festmahl riefen. Sie nahmen die Abzweigung zur Milsey Bay. Oben auf den Uferfelsen standen drei Golfspieler, einer von ihnen hatte eine Boxkamera dabei, und sie unterhielten sich so angeregt, wie Ruth es Golfspielern nach ihren bisherigen Erfahrungen niemals zugetraut hätte. Die Attraktion reichte allerdings nicht aus, um sie von den Felsen herunterzulocken. Sie schwenkten nur ihre Golfschläger und ergingen sich in selbstgewiss vorgetragenen Mutmaßungen, wie es zu dem Schauspiel hatte kommen können.
Als Ruth mit den Kindern die Düne erklommen hatte, konnten sie in die Bucht schauen und auf den Bass Rock. An klaren Tagen, bei Ebbe, schien der Fels so nah, als könnte auch er gleich hier vor ihnen stranden, weil er, einmal losgebunden, triebe, wohin er wollte. Ruth konnte dieser verlassenen Felseninsel nicht viel abgewinnen; die Inseln Fidra und Craigleith waren hübsche Ergänzungen, eine Abwechslung im Grau der Nordsee, aber der Bass Rock erschien ihr so ungestalt wie der Kopf eines missgebildeten Kindes. Oft fiel ihr auf, wie sie sich in seinem Anblick verlor, die Augen nicht von ihm abwenden konnte, eine Faszination, die sie manchmal auch überkam, wenn sie ihr eigenes Gesicht lange im Spiegel betrachtete: als müsste sie nur ganz genau hinsehen, damit sie es endlich begriff.
Der Hai lag unter einer Decke aus Möwen, und sie erhoben sich alle gleichzeitig kreischend, als Michael mit seinem Stock auf sie zugerannt kam. «Hopp! Hopp!», rief er, als wollte er ein Pferd antreiben. Ein gewaltiger Körper, metallisch schimmernd auf dem Sand, die Kiemen lose und fast intim in ihrer Fleischlichkeit. Eine schwarze Sichel, die schwer auf der Erde lastete.
Dahinter stand ein weißhaariger Mann mit einem langen Mantel, der farblich zur Haihaut passte, und dem Kollar eines Geistlichen. Die Haare standen wirr um seinen Kopf, bis der Wind ihm einen Scheitel zog; er lächelte breit und offenbarte dabei weit auseinanderstehende Zähne, die Hände hielt er auf dem Rücken verschränkt.
Nachdem die Vögel sich davongemacht hatten, umstanden sie schweigend das tote Geschöpf. Die Golfspieler auf den Felsen waren mit den Vögeln verschwunden. Einzig das Tosen des Windes lag noch zwischen ihnen.
Der Mann brach das Schweigen, er hob die Hand und rief mit starkem, womöglich walisischem Akzent: «Sie sind bestimmt Mrs. Hamilton aus dem großen Haus.»
«Ja», rief Ruth zurück. Sie hatte keine Lust, den Hai zu umrunden, um auf die andere Seite zu gelangen. «Ruth Hamilton. Und das sind meine …» Sie gab sich Mühe, nicht zu zögern, fühlte sich aber so auf dem Prüfstand, dass sie nicht gleich das richtige Wort fand. «… meine Jungs, Christopher und Michael.»
Die Jungen blickten mit ernster Miene zu dem Mann auf. Der war bis vor das Maul des Hais getreten, an dem die Wellen leckten. Er wartete, bis sie sich zurückzogen, sprang dann um das Tier herum auf ihre Seite. Aus der Nähe war er gar nicht so alt, wie Ruth anfangs geglaubt hatte. Obwohl nicht eben groß, hatte er doch breite Schultern und stand fest und breitbeinig da, wie in Sieben-Meilen-Stiefeln, zum Sprung bereit.
«Reverend Jon Brown.» Er streckte ihr die Hand hin. Sie begrüßten sich, dann musterte er die Jungen eingehend, drückte auch ihnen die Hand und gab anerkennende Laute von sich, während die beiden an ihm vorbei weiter nach dem Hai spähten.
«Schön, schön», sagte er. «Es gibt nicht allzu viele Kinder hier, wir können frisches Blut in diesen Breiten brauchen, ein paar Späßchen und dumme Streiche. Kommen sie auf die St. Augustine, wenn das neue Schuljahr beginnt?»
«Sie sind auf dem Internat», sagte Ruth. «Fort Gregory.»
«Ah! Dort halte ich regelmäßig Gottesdienst. Bestens, sie werden sich dort bestens schlagen. Bestens, bestens! Und wie lange halten Sie sich schon hier versteckt?»
«Es sind jetzt fünf Wochen.»
«Ich wollte längst vorbeigekommen sein – ich bin ein alter Freund Ihrer Betty, wissen Sie. Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit.»
«Ich werde sie von Ihnen grüßen.»
«Tun Sie das.» Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und ließ Zähne sehen, deren Weiß stark ins Graue ging. «In der Sonntagsmesse habe ich Sie aber noch nicht gesehen?» Natürlich hatte er einzig darauf hinausgewollt. Sein Lächeln war herzlich, aber sein Blick blieb durchdringend. Die geballten Fäuste in den Hüften, stand er da wie ein Seeräuber.
Ruth zwang sich, nicht zu erröten.
«Der Umzug hat uns sehr in Atem gehalten. Ich hoffe, wir schaffen es kommende Woche.»
«Schön», sagte er und nahm Christopher ins Visier. «Ich überlege, den Hai hier zum Kernstück meiner Predigt zu machen. Magst du Haie, mein Junge?»
Christopher nickte und spähte über Reverend Jon Browns Schulter hinweg. Michael hatte sich abgewandt und lief zum Wasser, wo er sich der Aufgabe widmete, mit seinem Stock einen Kreis rund um das Tier zu ziehen.
«Sie haben doch etwas an sich, diese mächtigen Ungeheuer, die am Ende von kleinen weißen Vögeln gefressen werden», sagte der Mann. «Sie haben eindeutig etwas an sich. Auch darum bin ich hergekommen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Zur Inspiration, wissen Sie.» Er sah jetzt wieder zu Ruth hin.
«Aber ja», sagte Ruth, weil offenbar eine Reaktion erwartet wurde.
«Es wird mir jedenfalls eine große Freude sein, Sie alle kennenzulernen. Ich werde bald bei Ihnen vorbeischauen, um auch Bekanntschaft mit Mr. Hamilton zu schließen. Darf ich mich mit Betty in Verbindung setzen, um den passenden Zeitpunkt festzuhalten?»
Peter würde keine Freude an seinem Besuch haben. Zu viel müsste erklärt werden, es würde alles gleich viel zu persönlich. «Aber ja», bekräftigte Ruth noch einmal, und der Reverend lüftete einen nicht vorhandenen Hut und nickte Christopher zu, der den Gruß erwiderte.
«Jetzt habe ich mir einen Scone mit Clotted Cream verdient!» Damit stieg er die Düne hinauf in Richtung Ortsmitte. Michael hatte seine Arbeit unterbrochen und stocherte jetzt mit Grausen und Begeisterung im Maul des Hais herum.
«Michael», rief Ruth.
«Das stinkt!», erwiderte er freudig.
Sie ging zu ihm hinüber. «Lass das bitte! Was ist, wenn du das Zeug auf die Kleider kriegst? Möchtest du das dann Betty erklären?»
Die Möwen waren zurückgekehrt, als hätte nur der Reverend Jon Brown Macht über sie. Eine hatte sich auf der Schwanzflosse des Hais niedergelassen und machte sich an eine eindringliche Erforschung dessen, was wohl der Intimbereich gewesen sein musste.
«Was meint ihr, wollen wir vielleicht einen weniger schaurigen Ort aufsuchen? Wie wäre es mit einem Crumpet im Ort? Vielleicht kriegen wir ja auch ein paar Scones – der Reverend hat mir richtig Appetit darauf gemacht.»
Wie sie so dastand, die Galle schon im Hals und den Fischgestank in der Nase, konnte Ruth sich kaum etwas Scheußlicheres vorstellen als einen Scone mit Clotted Cream, aber die wiederkehrenden Möwen hatten ein Gefühl der Beklommenheit in ihr geweckt. In Erwartung einer Antwort sah sie zu Christopher hinüber und stellte fest, dass er immer noch starr in die Richtung blickte, in die der Reverend Jon Brown verschwunden war, und dabei sah er aus wie ein auf hoher See oder zwischen den Sternen verlorenes Kind.
«Sie haben ein Mädchen in den Schweinekoben gesperrt. Sie wollen es verbrennen.»
Die Witwe Clements hämmert im Nachthemd an unsere Tür, auf einem Wangenknochen hat sie einen schmalen roten Streifen. Mein Vater ist von dem Lärm nicht aufgewacht – der Branntwein hat ihm den Rest gegeben. Die Köchin legt der Frau ein Tuch um die Schultern und drückt sie auf einen Schemel, schürt das Feuer an, aber der Frau laufen weiter die Tränen übers Gesicht, und sie ringt die Hände.
«Geh ihn holen, Junge», sagt die Köchin.
Vater liegt bäuchlings auf dem Bett, das Nachthemd ist ihm über dem Hintern hochgerutscht. Der Anblick dieser Backen lässt mich fast wieder auf dem Absatz kehrtmachen: zwei große graue Felsbrocken mit einer dunklen, behaarten Spalte dazwischen, ein kranker Bär. Im Zimmer riecht es stark nach Wein und anderen Abscheulichkeiten, die ich nicht beim Namen nennen will, und Vater schnarcht zittrig und abgehackt. Ich haue ihm zwischen die Schulterblätter, und er zuckt, wälzt sich herum.
«Aufwachen, Vater!»
Er macht ein Auge auf, ist aber gleich wieder weg.
«Die Witwe Clements ist verletzt. Sie sagt, sie wollen eine Hexe verbrennen.» Beim Namen der Witwe gehen beide Augen auf. Er blinzelt, versucht zu begreifen, was er vor sich sieht. Vom Feuer im Nebenzimmer ist ein Schluchzen zu hören. Er blinzelt wieder und setzt sich auf, fährt sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er sich die Haut abziehen.
«Was?», fragt er, wartet meine Antwort aber nicht ab, denn die Witwe schluchzt laut auf. «Gib mir meine Hose.» Für einen Moment ist er wieder der Mann, der er war, bevor Mutter und Agnes gestorben sind. Breit und stark. Mein Herz hämmert, als ich ihn so sehe.
Ich lasse ihn beim Anziehen allein und gehe nach nebenan. Das Blut läuft der Witwe jetzt über das ganze Gesicht. Die Köchin will es mit dem Zipfel ihres Nachthemds wegwischen, aber die Witwe zuckt zurück. Als sie Vater im Türrahmen sieht, steht sie auf und streckt ihm die Arme entgegen wie ein Kind. Vater wirft der Köchin und mir einen Blick zu, und ich erkenne, dass etwas zwischen ihm und der Witwe Clements vorgefallen ist. Er lässt die Umarmung zu, dann drückt er die Frau entschieden auf den Schemel zurück und wischt ihr mit dem Daumen über den Kiefer, wo das Rot sich gesammelt hat.
«Was ist passiert, Charlotte?», fragt er, und die Anrede bestätigt alles. Ich werde später darüber nachdenken, nicht jetzt.
«Sie sagen, sie ist eine Hexe. Sie wollen sie verbrennen.»
«Wer will die Hexe erwischt haben?»
«Die Browning-Zwillinge haben sie im Wald ertappt. Sie haben sie in den Schweinekoben gesperrt. Es ist ein junges Mädchen.» Mein Vater steht auf und geht ohne weitere Anweisungen aus der Tür. Ich folge ihm.
«Bleib hier, Joseph», sagt er, aber das tue ich nicht, ich bleibe nur ein Stück zurück, damit er mich im Dunkeln nicht sieht.
Es ist nicht weit bis zum Schweinekoben der Brownings, gleich am Ende des Wasserlaufs, an dem auch unsere Hütte steht, aber der Weg ist schlammig, und ich muss darauf achten, nicht auszurutschen. Vor mir sehe ich Vater zwei Mal fallen, er rappelt sich aber gleich wieder auf, ohne seinen Marsch zu unterbrechen.
Schwaches Licht dringt nach draußen, und er duckt sich unter dem niedrigen Türsturz durch. Ich schaue durch eine Luke in der Wand: Es ist nicht leicht, etwas zu erkennen. Erst sehe ich kein Mädchen und keine Hexe.
«Was zum Teufel geht hier vor?»
Mehrere Männer, die meinen Vater noch so kennen, wie er früher war, verdrücken sich ängstlich, aber die jüngeren bleiben. Sie kennen ihn nur als Trinker und Witzfigur. Am Boden bewegt sich etwas und stößt einen Laut aus, dumpf und grässlich, wie eine kalbende Kuh. Dort liegt ein Mädchen, das Kleid hängt ihr nur noch in Fetzen von den Schultern. Zwei der Männer – einer der Browning-Zwillinge und ein zweiter, den ich nicht kenne – stehen auf ihren Handgelenken, der andere Browning rappelt sich mit flatterndem Kittel vom Körper des Mädchens auf und zieht sich die Hose hoch. Das Mädchen ist in dem ganzen Schlamm kaum auszumachen. Ein paar Farbkrümel, das Weiß ihrer Augen, der rote, geöffnete Mund. Schwer zu sagen, ob sie noch lebt. Ihr Körper, dreckverschmiert und schimmernd im Licht der Lampe. Eigentlich müsste ich wegschauen.
Mein Vater marschiert auf sie zu, und drei der Männer wollen ihn zurückhalten. Er schüttelt sie ab wie nichts.
«Sie hat mich verhext!», ruft der Browning-Zwilling und hält mit beiden Händen seine Hose fest. Die Faust meines Vaters trifft ihn von unten am Kinn, sein Kopf fliegt nach hinten, es zieht ihm die Beine weg. Die anderen Männer weichen etwas zurück, und mein Vater hebt das Mädchen auf, zieht ihr das Kleid zurecht, obwohl es zerrissen ist und durch den feuchten Schlamm überall festklebt. Er trägt das Mädchen über der Schulter, um die Arme frei zu haben.
«Wenn sie tot ist, komme ich zurück und schneide euch die Ohren ab.»
«Leg sie wieder hin», sagt eine Stimme, und der andere Browning tritt mit einer Mistgabel aus dem Schatten. Vater steht ganz still. Ich weiß, er wird das Mädchen nicht wieder hinlegen. Der Mann kommt näher, bis die Mistgabel direkt auf Vaters Gesicht weist. Vater macht einen Schritt nach vorn, bis die Zinken auf seine Kehle treffen. Ein Stoß von Browning würde reichen. Vater sieht ihm in die Augen. Browning lässt die Mistgabel sinken, und Vater dreht sich um und verlässt den Schweinekoben, das Mädchen wie einen Sack Knochen über der Schulter. Ich spüre Stolz in mir aufwallen. Da ist er wieder, mein Vater, der Held. Er hat mir gefehlt.
«Die Hexe hat mich dazu gebracht. Sag’s ihm!», jault der Browning mit dem kaputten Kiefer.
«Sie hat die Männer genauso verhext wie das Land», brüllt der andere und heischt nach Zustimmung in der kleinen Versammlung. Aber mein Vater ist schon fort, und er kann sich nicht mehr erklären.
Browning steht da wie verloren, mit hängenden Armen. «Sie gehört uns», sagt er leise. «Wir werden sie verbrennen.»
Am Morgen hocken wir vor dem Feuer, während die Köchin sich in ihrer Kammer um das Mädchen kümmert. Hin und wieder kommt sie heraus und verkündet: «Sie ist jetzt gewaschen.» Oder: «Sie hat etwas Haferschleim gegessen.» Oder: «Sie schläft.» Wir haben nicht geschlafen, jeder Laut in der Nacht die Brownings, die unsere Hütte anzünden wollen.
Vater hat die Hände im Schoß und denkt nach. Ich bin mir sicher, dass wir das Gleiche denken. Das Dorf ist nicht mehr, was es einmal war. Die Erleichterung, eine Schuldige zu haben. Das Bedürfnis ist groß geworden in letzter Zeit.
Vier Jahre und mehrere Monate ist es her, seit wir Mutter begraben haben. Seitdem sorgt die Köchin für uns. Ihre beiden Hühner haben uns mit Eiern ernährt, als es mit der Gerste nichts wurde, aber dann wollte das eine nicht mehr legen, und sie hat es getötet, um Eintopf daraus zu kochen. Als sie das Tier gerupft und ausgenommen hatte, war sein Fleisch von Fäule befallen. Damit hat es begonnen. Wenig später war die Fäule überall, alles Fleisch dunkel und ölig verfärbt. Es riecht süßlich und verdorben. Anfangs, wenn man den Gestank in die Nase bekommt, denkt man vielleicht an eine Feldlilie, aber dann kratzt er sich durch wie ein Finger hinter den Augapfel. Und hat man das verdorbene Fleisch erst einmal angefasst, bleibt er auf der Haut zurück, sodass auch andere ihn riechen und einen meiden.
Eines Morgens, als ich das Ei aufschlug, das die Köchin mir vorgesetzt hatte, fand ich ein Küken darin, schwarz wie eine voll entwickelte Krähe. Auch die Schale war von innen schwarz.
Es ist wie eine Kinderangst, wie ein schlimmes Erlebnis draußen im Wald, nur dass die Menschen verhungern. Manche haben von dem schwarzen Fleisch gegessen, und die wurden von den entsetzlichsten Krämpfen befallen, sie schrien und erbrachen Schlamm. Ich habe Bauern gesehen, die auf dem Feld zwischen ihren toten Rindern standen und sich den Lehm vom Boden in die Schnauze stopften. Ich habe Leute gesehen, die ihre Kinder in den Wald brachten und allein zurückkehrten oder auch gar nicht mehr, ihre Hütten blieben still und dunkel. Keiner schaute nach dem Rechten, der Kampf ums eigene Überleben ist wichtiger geworden als die Sorge um andere. Und da taucht dieses Mädchen hier auf, und wir holen sie zu uns – in das Haus, von dem die Fäule ausging. Es wird wohl mehr brauchen als Vaters schwindendes Ansehen, um die anderen im Dorf daran zu hindern, mit ihr auch gleich uns den Garaus zu machen.
Jemand hämmert an unsere Tür, es ist der Müller Fergus, ein alter Freund meines Vaters. Bevor er hereinkommt, schaut er sich um, als hätte er Angst, dass jemand ihn sieht.
«Sie haben eine Versammlung einberufen», erzählt er, «und es sieht schlecht für euch aus. Ein paar haben sich gewehrt, aber das Dorf hört doch sehr auf die Brownings.»
«Was können sie schon tun, ich bin doch ihr Pfarrer.» Mein Vater spricht laut, als müsste er sich selbst überzeugen.
«Ach, Callum», sagt Fergus, «das bist du längst nicht mehr.» Und niemand widerspricht.