Die Frauen von Château Blanc - Silke Ziegler - E-Book

Die Frauen von Château Blanc E-Book

Silke Ziegler

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Fünf Frauen – fünf Generationen Florence kehrt mit ihrer Tochter Ambre aus dem mondänen Paris in ihren Heimatort Sète in Südfrankreich zurück. Gemeinsam beziehen die beiden die »Rosenvilla«, einen Anbau auf dem Weingut der Familie, das Florence' Mutter, Großmutter und Urgroßmutter gemeinsam verwalten. Der Neubeginn fällt allen schwer, die unterschiedlichen Charaktere der fünf Frauen machen das Zusammenleben der Generationen nicht einfacher. Immer wieder hadert Florence mit ihrer Entscheidung. Wird Ambre ihr den Umzug aufs Land jemals verzeihen? Welches Geheimnis hütet Florence' Mutter? Erst als Uroma Antoinette beginnt, von ihrer tragischen Vergangenheit in der französischen Résistance zu erzählen, erkennt Florence langsam, worauf es im Leben wirklich ankommt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 552

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Silke Ziegler

Die Frauenvon Château Blanc

Roman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2025 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98708-021-0

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für Ulrike Walzer

Danke, dass ich dich kennenlernen durfte.

Der Schwache kann nicht verzeihen.Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.

Mahatma Gandhi

Prolog

Paris

Florence betrat den Jardin du Luxembourg an der Porte Observatoire. Doch selbst der Anblick des prächtigen Palais du Luxembourg, in dem das Oberhaus des französischen Parlaments tagt, konnte ihre trüben Gedanken nicht aufhellen. Während sie den von dicht gewachsenen Bäumen gesäumten breiten Weg entlangeilte, hatte sie weder einen Blick für die anmutigen Statuen, die die Rasenfläche zierten, noch nahm sie die Menschen um sich herum wahr. Das ältere Ehepaar, das sich in gedämpftem Ton miteinander unterhielt, die junge Mutter, die einen grauen Kinderwagen vor sich herschob und ununterbrochen auf ihr weinendes Baby einredete, zwei lachende Jugendliche mit Skateboards unter den Armen.

»Ich habe mit meiner Kollegin in Sète gesprochen. Du kannst dort in vier Wochen anfangen. Chantal hat eine deiner Nachrichten gefunden und mir ein Ultimatum gesetzt.«

Bitterkeit kroch in Florence’ Kehle hoch.

»Bitte nimm es nicht persönlich. Aber wir sind seit fünfzehn Jahren verheiratet. Die Kinder würden es nicht verstehen.«

»Ah!«, platzte es aus Florence heraus.

Zwei Frauen, die ihr entgegenkamen, musterten sie mit merkwürdigen Mienen. Doch das war Florence gleichgültig. Innerhalb von nicht einmal zehn Minuten hatte Jean-Luc Rossier, ihr Vorgesetzter und langjähriger Geliebter, ihr Leben komplett über den Haufen geworfen. Ohne Vorwarnung, ohne irgendwelche Anzeichen, die Florence darauf vorbereitet hätten, was er ihr dann mit kühler und distanzierter Stimme eröffnet hatte. Seine Frau war hinter ihre Affäre gekommen.

Florence ließ ihren Blick über die im warmen Licht der Maisonne glitzernde Wasseroberfläche des Grand Bassin wandern. Sie zog sich einen der unzähligen Stühle heran, die weit verstreut um das Wasserbecken herumstanden. Nur wenige waren besetzt. Frustriert ließ sie sich auf die Sitzfläche fallen. Sie liebte Paris. Die Stadt war in den letzten fünfzehn Jahren zu ihrer Heimat geworden. Florence trug schon lange das Alltagsgefühl der Hauptstädter im Herzen. Paris erschien ihr wie die gute Freundin, die sich in der schwierigsten Zeit ihres Lebens als rettender Anker entpuppt hatte. Die Stadt mit ihren vielen interessanten Ecken, wundervollen Parks, grünen Gärten und eleganten Straßen hatte Florence jeden einzelnen Tag, Monat für Monat, über so viele Jahre erobert und verzaubert. Nicht grundlos wurde Frankreichs Hauptstadt als schönste Stadt der Welt bezeichnet. Diese einzigartige Mischung aus pulsierenden Vierteln, die Sinne anregender Kunst und Kultur und dem dezenten Schleier des Pompösen, der in Paris allgegenwärtig zu sein schien, machte einen Großteil der Faszination aus.

Florence rückte sich einen zweiten Stuhl zurecht und legte ihre Füße hoch. Wie sollte sie ihrer Tochter beibringen, dass sie sich von ihren langjährigen Freundinnen würde verabschieden müssen, dass sie ihre Wohnung, die sich nur zwanzig Gehminuten von hier befand, aufgeben und gegen eine neue Bleibe in Florence’ Heimatstadt eintauschen mussten? Ambre würde toben. Florence’ Augen füllten sich mit Tränen. Konnte der Tag noch schlimmer werden? Normalerweise wäre Jean-Luc der Mensch, bei dem sie nun Halt suchen würde, der sie in den Arm nehmen und ihr erklären würde, dass sie gemeinsam eine Lösung für ihr Problem fänden. Doch nicht diesmal. Diesmal war alles anders. Diesmal würde der blonde Mann mit den eisblauen Augen nicht da sein, um ihr Problem zu lösen, denn er selbst war das Problem. Florence musste daran denken, wie sie ihm das erste Mal begegnet war. Als er sich an jenem warmen Augustmorgen ihrer Abteilung, die aus Florence und drei Kolleginnen bestand, als ihr neuer Vorgesetzter vorgestellt hatte. Für Florence war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Sie schnaufte. Liebe! Konnte sie wirklich jemanden lieben, mit dem sie in fünf Jahren maximal eine Handvoll gemeinsamer Nächte verbracht hatte? Der bei jedem ihrer Treffen stets die Uhr im Auge behalten hatte, um sich bei seiner Familie nicht zu verraten und in Schwierigkeiten zu geraten? Der sein Bett mit einer anderen teilte?

Florence legte den Kopf in den Nacken und beobachtete ein Flugzeug, das über die Stadt flog. Die weißen Kondensstreifen zerrissen den Himmel in zwei Hälften. Auch Florence’ Leben war zerrissen. In die eine Hälfte, die sie in ihrer Heimatstadt Sète verbracht hatte, und in die zweite Hälfte, die sie hier gelebt hatte. Ein Leben ohne Ambre und eines mit ihrer Tochter. Ambre hatte noch nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Jean-Luc gemacht. Ihrer Meinung nach hatte ihre Mutter es nicht nötig, sich mit der Rolle der Geliebten eines Mannes abzufinden, der keine Eier in der Hose hatte, um eine Entscheidung zu fällen.

Doch hatte Florence überhaupt je auf einen Entschluss Jean-Lucs gehofft? War es nicht vielmehr der Reiz des Verbotenen gewesen, die Gewissheit, dass die Affäre nie ernstere Töne würde anschlagen können, was Florence dazu veranlasst hatte, sich auf die Avancen ihres verheirateten Vorgesetzten einzulassen?

Sie schüttelte den Kopf. War sie tatsächlich dermaßen verkorkst, dass sie bereits mit Anfang dreißig all ihre Hoffnungen auf eine von Vertrauen und Harmonie geprägte Beziehung verloren hatte? Dass sie stattdessen lieber nahm, was sich ihr auf dem Silbertablett anbot? Einen Mann, der niemals ihr gehören würde? Ja, beantwortete sich Florence ihre Frage umgehend. Sie war definitiv verkorkst. Anders konnte sie sich nicht erklären, wie sie sich in eine derart ausweglose Situation hatte manövrieren können.

»Ich dachte, es sei für dich am einfachsten, in deiner Heimatstadt wieder Fuß zu fassen. Du hast mir ja sehr oft von der Familie erzählt.«

Florence verdrehte die Augen. Jean-Luc, dieser Idiot! Spielte sich als Heilsbringer auf, dem einzig an ihrem Wohlergehen gelegen war. Als ob es ihn überhaupt auch nur ansatzweise interessierte, wo Florence die nächsten Jahre verbringen würde. Solange es eben nicht in Paris wäre …

Sie atmete tief durch. Musste sie eigentlich so mit sich umspringen lassen? Was war mit ihren eigenen Plänen, mit ihren Zielen, ihrer beruflichen Perspektive? Sie trug die Verantwortung für ihre Tochter. Wer war ihr Vorgesetzter eigentlich, dass er ihr sagte, wie ihre Zukunft auszusehen hatte?

Florence beobachtete zwei Tauben, die am Rand des Wassers entlangstolzierten und um die Wette gurrten. Sète! Hatte sie sich nicht geschworen, nie wieder in ihre Heimat zurückzukehren? Florence wollte nicht von Paris weg. Sie fühlte sich hier wohl, liebte die aufregende Atmosphäre genauso wie die Vielfältigkeit des Alltags, die sich hier bot. Florence bewunderte es, wie die Einwohner dem stressigen Trubel trotzten. Ja, selbst die vollgestopfte Métro gehörte für sie zum Leben dazu. Die Fahrzeuglawinen, die sich auf den Hauptverkehrswegen durch die Stadt quälten, die Menschenmassen, die frühmorgens und nach Feierabend Straßen und Plätze bevölkerten.

War die Welt nicht heute Morgen, als sie ihre Wohnung verlassen hatte, noch in Ordnung gewesen? Die Resignation angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer Lage wich langsam aufkeimender Wut. Ambre hatte recht gehabt. Niemals hätte Florence sich damit begnügen dürfen, bei einem Mann nur die zweite Geige zu spielen. Wer war sie, dass sie sich mit Brotkrumen zufriedengab, die man ihr hinwarf?

Entschlossen wischte sie sich über die Augen und setzte sich aufrechter hin. Eine Florence Fournier gab nicht klein bei. Weder würde sie um ihren Job betteln, noch würde sie diesem Mistkerl auch nur eine weitere Träne hinterherweinen. Wenn sie Paris verließ, dann weil sie es wollte. Weil sie die Entscheidung traf, nicht irgendjemand, der weder an Florence’ noch an Ambres zukünftigem Leben interessiert war.

Wieder blickte sie in den Himmel und versuchte, sich daran zu erinnern, wie blau der Horizont über dem Mittelmeer strahlte. Florence schloss die Augen und stellte sich vor, wie eine leichte Brise vom Wasser her wehte. Wie der Wind ihre Haut streichelte, wie das Salz in der Luft ihre Lungen erreichte. Nichts davon gab es in dieser Stadt. Stattdessen waberte die Hitze über dem Asphalt, dass man das Gefühl bekam, kaum frei atmen zu können. Abkühlung erfuhr man nur in den grünen Parks der Stadt, die Straßen waren im Hochsommer wie leer gefegt. Wer konnte, verließ die Hauptstadt, um der drückenden Schwüle zu entkommen. Florence’ Körper entspannte sich ein wenig.

Sie würde an einen Ort zurückkehren, wo andere Menschen ihren Urlaub verbrachten. Wo eine Arbeit auf sie wartete, die Florence mit Dankbarkeit erfüllte. Und wo ihre Familie lebte. Was würde ihre Mutter, ihre Oma, ihre Uroma sagen, wenn sie erführen, dass Florence und Ambre Paris verließen und heimkehrten?

1

Sechs Wochen später

»Was machst du?«

Florence blickte kurz zu ihrer Tochter, die neben ihr saß und mit ihren monströsen Kopfhörern auf den Ohren aussah wie ein NASA-Astronaut. »Ich halte kurz an.«

»Was?« Ambre schüttelte den Kopf.

Florence deutete auf die Kopfhörer.

Widerwillig schob Ambre sie nach hinten und zeigte demonstrativ auf ihr freigelegtes Ohr. »Also?«

»Ich brauche eine kurze Pause.«

»Nach sieben Stunden Fahrt?« Ihre Tochter runzelte die Stirn. »Wir sind doch fast da.«

»Ich brauche eine Pause, bevor ich …« Florence hielt inne. »… bevor ich den Frauen der Familie gegenübertrete.«

»Den Frauen der Familie?«, wiederholte Ambre in ungläubigem Tonfall. »Wie das klingt! Wir sind doch nicht verdammt oder so.«

»Nein, das sind wir nicht.« Florence seufzte. Dann öffnete sie die Tür. »Gib mir einfach einen Moment, okay?« Nachdem sie den Wagen verlassen hatte, legte sie eine Hand aufs Autodach und beugte sich nochmals herab. »Möchtest du nicht auch aussteigen?«

Ambre verdrehte die Augen. »Nee, lass mal. Mir ist gerade nicht so nach ›in Erinnerungen schwelgen‹ oder anderem philosophischem Kram.«

Florence musste schmunzeln und drehte sich vom Fahrzeug weg. Der Étang de Thau lag still und glänzend vor dem Parkplatz, den sie angesteuert hatte. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und trat näher an die Uferkante. Das Wasser schwappte in sanften Wellen gegen die Felsen. Von hier aus konnte sie Sète bereits sehen. Der Mont Saint-Clair ragte unübersehbar am gegenüberliegenden Ufer empor. Das Anwesen ihrer Familie, das ehemalige Weingut Château Blanc, lag außerhalb der Stadt, inmitten von Weinfeldern. Ihre Mutter hatte erst überrascht, dann freudig reagiert, nachdem Florence ihr verkündet hatte, dass sie nach Sète zurückkehren würde.

Aufgrund des angespannten Wohnungsmarkts und der Kurzfristigkeit ihres Umzugs waren sie übereingekommen, dass Florence und Ambre vorübergehend in die Rosenvilla ziehen sollten, einen kleinen Anbau, der sich hinter dem Haupthaus des Weinguts befand, in dem Florence’ Mutter Louise mit ihrer eigenen Mutter Pauline und Uroma Antoinette lebte. Florence’ Opa Pierre Castelloux war bereits vor mehr als fünfundzwanzig Jahren nach einer schweren Krebserkrankung gestorben. Da sich seine Frau Pauline damals nicht in der Lage gesehen hatte, das Gut allein weiterzuführen, hatte sie in Rücksprache mit ihrer Tochter, Florence’ Mutter, und deren Mann, der als Staatsanwalt tätig war, mehrere Weinberge verkauft, um ihren weiteren Lebensunterhalt zu sichern. Das verbliebene Grundstück, das zum Haupthaus gehörte, umfasste auch nach den Landverkäufen noch immer stattliche drei Hektar, sodass Florence’ Mutter über genügend Fläche für ihren Gemüse- und Obstanbau sowie ihre Blumenzucht verfügte. Seit dem Tod von Florence’ Vater vor zwanzig Jahren war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter getrübt. Florence hatte daher keine Ahnung, wie sich das Zusammenleben mit den drei Frauen gestalten würde. Aber vielleicht machte sie sich auch einfach nur viel zu viele Gedanken.

Sie blickte zum Wagen zurück. Ambre hatte ihre nackten Füße auf das Armaturenbrett gelegt und wippte mit dem Kopf. Florence lächelte. Ihre Tochter hatte nach Florence’ Verkündung des Umzugs vier Tage lang nicht mit ihr gesprochen. Ganz behutsam hatte Florence immer wieder versucht, Ambre die Vorzüge eines Neuanfangs im Süden schmackhaft zu machen. Und war letztlich erfolgreich gewesen. Noch immer überwog die Skepsis bei Ambre, aber die Aussicht auf tägliches Baden im Meer, den Strand vor der Haustür und die wesentlich milderen Wintertemperaturen hatte ihre Wut leicht abgeschwächt. Florence hoffte inständig, dass ihrer Tochter der Neuanfang in der Schule nicht allzu schwer gemacht würde. Auf keinen Fall wollte sie, dass Ambre durch den Umzug Nachteile entstünden.

Als ihre Tochter aufsah, winkte Florence, doch Ambre schüttelte nur den Kopf.

Der kleine Sturkopf! Florence schmunzelte bei dem Gedanken. War sie je anders gewesen? Wenn sie ehrlich in sich hineinhörte, kannte sie die Antwort. Sie musste daran denken, wie überstürzt sie vor mehr als fünfzehn Jahren ihre Heimat verlassen hatte und nach Paris gezogen war. Mit rationalen Gründen hatte Florence’ Entscheidung damals wenig zu tun gehabt.

Sie atmete aus und blickte zurück aufs Wasser. Was würden die nächsten Wochen für sie bereithalten? Von Ambre wusste Florence, dass diese bereits ihren Vater über ihre Rückkehr informiert hatte. Um ihr den Neustart so leicht wie möglich zu machen, wollte Florence auch Julien mit ins Boot holen. Er war in Sète gut vernetzt und wusste als Lehrer sicherlich, wie sie Ambre in Bezug auf die neue Schule unter die Arme greifen konnten.

»Maman, kommst du? Ich muss mal!«

Jetzt gab es kein Entrinnen mehr. Florence musste sich ihrer Vergangenheit stellen. Ihrer Familie mit all den Unwägbarkeiten, die sie vor so langer Zeit hinter sich gelassen hatte. Dem Mann, von dem sie vor langer Zeit so bitter enttäuscht worden war, und dem Ort, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, mit all den Höhen und Tiefen, die die ersten Jahre ihres Lebens geprägt und beeinflusst hatten.

Keine Viertelstunde später bog Florence in den sandigen Feldweg ein, der zum ehemaligen Weingut ihrer Familie führte. Die Junisonne brannte selbst jetzt am späten Nachmittag unerbittlich auf die ausgetrockneten Felder ringsum. Die hellen Mauern des Weinguts, die dem Anwesen einst seinen Namen gegeben hatten, wurden von der Sonne in gleißendes Licht getaucht.

»Ich habe Hunger.« Ambre schob die Kopfhörer etwas nach hinten.

»Wir haben noch ein paar Sandwiches in der Kühlbox.« Florence verlangsamte das Tempo, als das schmiedeeiserne Tor vor ihnen auftauchte. »Endlich geschafft!«

»Können wir Pizza bestellen?«

Florence verzog die Mundwinkel. »Lass uns erst mal ankommen, dann sehen wir weiter, d’accord?«

»Meinetwegen.«

Während sie vor die breite Treppe des Haupthauses fuhren, dessen weiße Fassade das helle Licht reflektierte, wurde auch schon die Tür aufgerissen, und Florence’ Mutter humpelte heraus, in der rechten Hand einen Gehstock. Hinter ihr tauchte Oma Pauline auf, die Antoinettes Rollstuhl schob, der die alte Frau seit Jahren begleitete.

»Oma!«, entfuhr es Ambre, während sie bereits die Beifahrertür aufstieß.

Florence zählte innerlich bis zehn, bevor sie den Motor abstellte und ihrer Tochter folgte.

»Ambre! Florence!«, rief Louise Fournier, breitete den linken Arm aus und eilte ihrer Tochter und Enkelin entgegen.

»Willkommen zu Hause«, erklärte Antoinette, bevor sie ihre Tochter anwies, sie über die Rampe auf den Vorplatz zu schieben.

Florence umarmte die Frauen und sah, wie auch ihre Tochter von ihnen lautstark begrüßt und geherzt wurde.

»Hattet ihr eine gute Fahrt?« Ihre Oma musterte Florence eindringlich.

Sie nickte. »Kein Stau, kein Unfall, keine besonderen Vorkommnisse.« Sie lächelte.

»Ich kann es noch gar nicht glauben«, merkte Louise an, die mit Tränen in den Augen von ihrer Tochter zu ihrer Enkelin sah. »Ich habe …«

»Noch heute Morgen meinte sie, ihr kämt nicht. Dass ihr es euch in letzter Minute anders überlegen würdet.« Florence’ Oma schüttelte den Kopf.

»Wir haben bereits Nachmieter für unsere Wohnung«, erklärte Florence, während sie sich dem Kofferraum zuwandte. »Die Anzeige war noch keine drei Stunden online, als ich schon zwanzig Besichtigungstermine vereinbart hatte.« Sie hob die Koffer aus dem Wagen.

»Soll ich dir helfen?« Ihre Mutter trat neben sie.

Florence schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Lass nur. Deinem Bein scheint es ja nicht besonders zu gehen.«

Louise seufzte. »Es ist immer mal besser, mal schlechter.«

»Und heute ist es schlechter?« Florence sah ihre Mutter voller Mitgefühl an.

Diese zuckte mit den Achseln.

»Erzähl mir von Paris«, hörte Florence im Hintergrund ihre Uroma sagen, bevor Ambre begeistert dazu ansetzte, die Hauptstadt in den leuchtendsten Farben zu beschreiben.

Da ihre Mutter ihr berühmtes Zitronenhähnchen mit Reissalat für Florence’ und Ambres Ankunft vorbereitet hatte, war die Pizzabestellung ausgefallen.

Nun sah Florence sich in dem kleineren Schlafzimmer der Rosenvilla um und legte ihren Koffer aufs Bett. Aus dem Raum nebenan ertönte Ambres Stimme, die gerade mit ihren Pariser Freundinnen telefonierte. »Hier ist absolut nichts, Léonie. Nur Einöde. Wenn ich aus dem Haus komme, sehe ich nur Felder und … na ja, nichts eben. Du kannst dir nicht vorstellen …«

Florence musste schmunzeln, obwohl ihr klar war, dass ihr einige Kämpfe und Diskussionen mit ihrer Tochter bevorstehen würden. Insgeheim musste sie Ambre natürlich recht geben. Das Freizeitangebot für Jugendliche in Paris, die Ablenkungsmöglichkeiten, das Sport- und Kulturangebot, war mit dem von Sète kaum zu vergleichen. Das Leben hier im Süden verlief anders. War das damals nicht auch einer der Gründe für Florence’ Weggang gewesen?

Sie stellte sich ans Fenster und blickte auf die dichten Rosenstöcke neben den Mauern, die dem Anbau vor vielen Jahren seinen Namen verliehen hatten. Bei dem Gebäude handelte es sich keineswegs um eine Villa im herkömmlichen Sinn. Es war Antoinettes Großvater gewesen, der seiner Frau, einer begnadeten Malerin, ein Atelier hatte erschaffen wollen, wo sie ungestört ihrer Kunst nachgehen konnte. Der Anbau war Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden. Erst Antoinettes Tochter, Florence’ Oma, hatte mit ihrem Mann die großräumige Werkstatt zu einem kleinen Gästehaus umgebaut, in dem sich mittlerweile zwei gemütliche Schlafzimmer mit eigenen Bädern sowie ein Wohnzimmer mit integrierter Küchenzeile befanden. Es war nicht groß, aber Florence war ihrer Mutter dankbar, dass diese ihnen nicht vorgeschlagen hatte, zu ihr, Pauline und Antoinette ins Haupthaus zu ziehen. Fünf Frauen unter einem Dach, Florence verdrehte die Augen. Das würde nicht lange gut gehen. Hier konnten sich Ambre und sie zumindest etwas zurückziehen, wenn sie dem Familientrubel mal entkommen wollten.

Hinter den Rosenstöcken, die weiß, orange und rot blühten, hatte ihre Mutter ein großes Lavendelfeld angelegt, das Florence noch nicht kannte. Louise probierte gern neue Dinge aus. Sie hatte früher viele Jahre als Floristin gearbeitet und nach dem Tod von Florence’ Vater beschlossen, das weitläufige Grundstück des ehemaligen Weinguts zu nutzen, um sich endlich selbstständig zu machen. Ein Schicksalsschlag als Chance für einen Neubeginn, dachte Florence nicht ohne Bitterkeit. Auch sie selbst hatte diese Erfahrung machen müssen. Hatte lernen müssen, dass Zukunftspläne nichts wert waren, wenn einem das Leben einen Strich durch die Rechnung machte.

Sie riss sich zusammen. Sie war kaum eine Stunde hier. Warum mussten die negativen Gedanken schon wieder die Oberhand gewinnen? Hatte sie sich nicht vorgenommen, ihr neues Leben in Sète unbelastet zu beginnen? Florence ließ sich aufs Bett sinken. Unbelastet. Wie sollte das funktionieren? Jede Ecke der Stadt, jede Straße, jeder Platz war mit Erinnerungen behaftet. Dieser Ort war ihre Heimat. Wäre sie in die Normandie oder in die Bretagne gezogen, wäre ein unbelasteter Neuanfang eventuell möglich gewesen. Aber nicht hier im Süden, nicht in der Kleinstadt, wo sie mehr als ihr halbes Leben verbracht hatte.

»Und es ist so heiß, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen«, erklang Ambres Stimme aus dem Nebenraum. »Wie gern würde ich jetzt mit euch im Parc de Bercy sitzen und eine kühle Cola trinken.« Ambre stöhnte auf. »Es nervt alles so! Ich hoffe nur, dass die Mädels hier unten genauso gechillt sind wie ihr.« Sekunden später lachte sie laut auf.

Florence erhob sich wieder und öffnete den Koffer. Sobald sie ausgepackt hatte, wollte sie noch in die Stadt gehen. Vielleicht konnte sie Ambre davon überzeugen, sie zu begleiten. In den letzten zwei Jahre hatte sie ihre gesamten Sommerferien hier unten bei ihrem Vater verbracht. Florence hingegen war jeweils nur wenige Tage geblieben, nachdem sie ihre Tochter hergebracht hatte.

Bis heute hatte sie nicht verwunden, dass ihre Mutter von einem Kletterausflug, den sie mit Florence’ Vater vor vielen Jahren in die französischen Alpen unternommen hatte, allein zurückgekehrt war. Er war abgestürzt und hatte nur noch tot geborgen werden können. Es war Florence’ Mutter gewesen, die auf den Ausflug gedrungen hatte. Ihr Mann hatte Bedenken gehabt, Florence bei Oma und Uroma allein zu lassen. Als ob er geahnt hätte, was passieren würde. Doch Louise hatte einen Streit mit ihm vom Zaun gebrochen und erklärt, sie sei schließlich nicht nur Mutter und habe ein Recht darauf, ihrem geliebten Hobby nachzugehen. Ja, sie hatte ihm sogar gedroht, allein loszufahren, wenn er nicht mitkommen wolle.

Florence legte eine Hand auf ihre Brust und atmete einige Male tief ein und aus. Bis heute hegte sie den Verdacht, dass ihr Vater an jenem Tag den Kopf nicht frei gehabt hatte. Dass er abgestürzt war, weil er ihre Mutter widerwillig begleitet hatte und nicht über die nötige und so wichtige Konzentration und Fokussierung verfügte.

Seit dem Vorfall war das Verhältnis zwischen Florence und Louise nachhaltig gestört. Ihre Mutter hatte nie auch nur ansatzweise versucht, mit Florence über das traumatische Ereignis zu sprechen. Jegliche Fragen seitens ihrer Tochter hatte sie bisher ausweichend und schwammig beantwortet. Florence fuhr sich übers Gesicht. Es war müßig, dem alten Groll erneut Raum zu geben. Laurent Fourniers Tod lag zwanzig Jahre zurück. Florence konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Und sie wusste, dass es ihr nicht guttat, zu sehr in der Vergangenheit zu kramen.

Sie holte ihre Kleidung aus dem Koffer und legte sie in den Schrank. Daneben hing das Porträt eines Kindes. Antoinette, Florence’ Uroma. Lorraine, die Künstlerin und Großmutter von Antoinette, hatte es gemalt, als ihre Enkelin fünf Jahre alt war. Florence bewunderte die feinen Gesichtszüge, die klar ausgearbeitete Haarpracht, die Antoinette auf dem Bild in einer ausgeklügelten Zopffrisur trug. Florence streckte ihre Hand aus und fuhr sachte über die Leinwand. Ganz vage konnte sie die Züge ihrer Uroma in dem Kind erkennen, das ihr mit strahlender Miene aus klaren Augen entgegenblickte.

Mittlerweile war Antoinette neunundneunzig Jahre alt, fast ein ganzes Jahrhundert Leben. Florence hatte es gerade einmal auf ein Drittel davon geschafft. Wie viel Leid und Freud passten in eine einzige Biografie?

Sie schüttelte den Kopf. Abstruse Gedanken an diesem schönen Samstagnachmittag. Sonnenstrahlen erhellten das Zimmer. Staubpartikel wirbelten durch die Luft. Florence räumte ihre Unterwäsche in die Schublade der Kommode neben der Tür und stellte den leeren Koffer in die Nische zwischen Wand und Schrank. Dann verließ sie das Zimmer. Nebenan redete Ambre pausenlos wie ein Wasserfall. Florence ging davon aus, dass der Koffer ihrer Tochter noch unberührt neben deren Bett stand.

Sie trat ins Freie und steuerte das kleine Lavendelfeld an. Die violetten Blüten und der vertraute Geruch vertrieben ihre Grübeleien. Sie rieb mit Daumen und Zeigefinger an einer der Pflanzen und roch dann an ihrer Hand. Der Ärger mit Jean-Luc war in diesem Moment fast vergessen, Paris schien weiter weg als der Mond. Und Florence überkam das eigentümliche Gefühl, sich an genau dem Ort zu befinden, wo sie hingehörte. War das möglich?

Noch gestern um diese Zeit hatte sie mit einer langjährigen Kollegin in einem ihrer Stammcafés im Quartier Latin gesessen und einen Latte macchiatto getrunken. War das wirklich erst vor vierundzwanzig Stunden gewesen? Florence schlenderte an dem Feld entlang und ließ ihren Blick über die Quitten-, Kirsch- und Feigenbäume wandern, die das Grundstück Richtung Süden befriedeten. Daneben befanden sich mehrere Olivenbäume, auf der anderen Seite grenzten unzählige Beete mit bunt blühenden Blumen, deren Namen Florence nicht kannte, an das Haupthaus. Einige Meter entfernt befand sich das großzügige Auslaufgehege von Louise’ Hühnern. Florence betrachtete die Tiere, die unermüdlich nach Körnern pickten.

Das Wetter war klar, zu ihrer Rechten erstreckten sich endlose Felder, auf denen Weinstöcke Reihe um Reihe hintereinanderstanden. Früher gehörten diese Ländereien zum Château Blanc. Heute kümmerten sich die neuen Eigentümer, Winzer aus der weitläufigen Nachbarschaft, um die Reben. Florence sah zum Haus zurück, auf der Veranda des Haupthauses entdeckte sie Antoinette in ihrem Rollstuhl. Sie winkte ihrer Urgroßmutter zu, doch Antoinette regte sich nicht. Wahrscheinlich war die alte Frau eingenickt. Die friedliche Idylle, die der Anblick Florence vermittelte, wärmte ihr Herz.

Eine Stunde später stand Florence am Quai Général Durand und blickte auf das glitzernde Wasser des Kanals, der Sète durchzog. Ambre hatte keine Lust gehabt, mit ihr in die Stadt zu fahren. So hatte sich Florence eines der alten Fahrräder aus dem Schuppen hinter der Rosenvilla hervorgeholt und war über die Felder in den Ortskern gefahren. Langsam dämmerte ihr, welch gravierende Änderungen ihnen bevorstanden. Die letzten Wochen waren wie Nebelschwaden an ihr vorbeigezogen. All die bürokratischen Aspekte eines Umzugs hatten erledigt werden müssen. Florence hatte funktioniert. Sie hatte sich eine Liste erstellt, was sie alles bedenken mussten, und ihre Aufstellung Punkt für Punkt abgearbeitet. Doch in dieser Zeit hatte sie überhaupt nicht bemerkt, dass sie ihr Gefühlsleben, die emotionale Seite eines derart großen Schrittes, komplett ausgeblendet hatte. Nun stand sie hier in der Abendsonne, das tiefblaue Wasser des Mittelmeers vor ihr, die drei- und vierstöckigen Stadthäuser auf der anderen Uferseite ihr gegenüber, und ihr wurde zum ersten Mal bewusst, was sie getan hatte. Was in den letzten Tagen alles geschehen war. Ambre und sie hatten ihren Lebensmittelpunkt aufgegeben. Ihr sicheres Nest, das Florence für ihre Tochter und sich in mühsamer Arbeit in Paris eingerichtet hatte, existierte nicht mehr. Sie setzte sich auf einen der Betonklötze und streckte ihre Beine aus. Am Nachmittag war leichter Wind aufgekommen, der nun ihre vom Radfahren erhitzten Wangen etwas kühlte. Ein Ausflugsschiff verließ gerade den Anleger. Der Boden des Boots war verglast, sodass die Touristen im Untergeschoss des Schiffs während ihrer einstündigen Fahrt einen klaren Blick in die Unterwasserwelt rund um Sète genießen konnten. Auch Florence war bereits mehrfach mit Ambre auf dem Boot gewesen und die Küste entlanggetuckert. Mittlerweile würde ihre Tochter ihr lediglich ein müdes Lächeln schenken, wenn sie ihr einen derartigen Vorschlag unterbreiten würde. Ja, Ambre war fast erwachsen. Florence war kaum älter als ihre Tochter gewesen, als sie bemerkt hatte, dass sie schwanger war. Soweit sie bisher mitbekommen hatte, hatte ihre Tochter allerdings noch keinen Freund. Doch konnte Florence sich da wirklich sicher sein? Würde Ambre es ihr erzählen, wenn es einen Jungen in ihrem Leben gäbe? Florence schloss die Augen und lauschte auf das Stimmengewirr um sie herum. Sie wollte auf jeden Fall verhindern, dass ihr Kind dieselben Fehler machte wie sie selbst. Wobei sie Ambre niemals als Fehler bezeichnen würde.

Ganz im Gegenteil, ihre Tochter war das Beste, was Florence in ihrem Leben zustande gebracht hatte. Natürlich war sie unbestreitbar viel zu früh schwanger geworden. Damals war sie selbst noch ein halbes Kind gewesen. Mittlerweile hatte sich die Situation relativiert, und Florence genoss es regelrecht, im Gegensatz zu vielen Bekannten, eine junge Mutter zu sein. Ambre war fast volljährig, und Florence hatte ebenfalls noch einen Großteil ihres Lebens vor sich.

Sie seufzte. Blendete sie den unangenehmen Aspekt ihrer Situation nicht aus, weil es zu schmerzhaft wäre, zugeben zu müssen, dass eben nicht alles so lief, wie sie es sich wünschte? Wann hatte Ambre ihr das letzte Mal von sich erzählt? Von ihrem Leben, ihrem Alltag? War es in Paris nicht eher ein Nebeneinanderherleben gewesen? Eine Art Wohngemeinschaft zweier Personen, die zufällig Mutter und Tochter waren?

Florence öffnete wieder ihre Augen und betrachtete ein junges Pärchen, das eng umschlungen an ihr vorbeischlenderte. Wann genau hatte sie die Verbindung, die Nähe zu Ambre verloren? Obwohl ihre eigene Jugend nicht allzu weit zurücklag, war Florence klar, dass sie kaum die passende Ansprechpartnerin für ihre Tochter war, wenn es um Probleme mit Jungs ging oder um die Frage, welche Klamotten gerade hip waren. Trotz ihres jungen Alters war sie eben doch Ambres Mutter, nicht ihre Freundin, Schulkameradin oder gute Bekannte. Florence erhob sich und stellte sich dicht an die Uferkante. Das dunkle Wasser unter ihr schwappte gegen die Betonwand. Sie konnte ein paar kleine Fische erkennen, die zwischen einem Ausflugsschiff und der Mauer herumschwammen.

Auf der Pont de la Savonnerie stand eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die einem herannahenden Motorboot zuwinkten. Florence musste lächeln. Als Ambre jünger war, hatte sie es ebenfalls geliebt, Wildfremden in vorbeifahrenden Autos oder Schiffen zuzuwinken. Wenn sie jemand bemerkt und zurückgegrüßt hatte, war sie jedes Mal in lauten Jubel ausgebrochen. Florence schüttelte unmerklich den Kopf. Wo war nur die Zeit geblieben? War es nicht erst gestern gewesen, als ihre kleine Tochter ihre schmale Hand in Florence’ geschoben hatte, wenn sie durch einen der unzähligen Parks in Paris spaziert waren? Wenn sie einen der vielen Spielplätze in ihrem Viertel angesteuert hatten? Ja, damals war das Leben noch einfacher gewesen. Zumindest erschien es Florence in ihrer Erinnerung als berechenbarer, planbarer.

Was würden die nächsten Wochen bringen? Wie würde sie sich an ihrem neuen Arbeitsplatz einleben? Florence liebte ihren Job als Sozialarbeiterin über alles. Und es hatte ihr fast das Herz gebrochen, als sie all die Schicksale ihrer Schützlinge und von deren Familien, die sie aktuell betreut und unterstützt hatte, in die Hände ihrer Kollegen hatte legen müssen. Florence war noch nie eine Angestellte gewesen, die von acht bis fünf arbeitete. Oft waren die Jugendlichen, die ihre Hilfe benötigten, frühstens am späten Nachmittag erreichbar, manchmal sogar erst abends. Obwohl Florence offiziell feste Arbeitszeiten hatte, hatte sie noch nie ein Kind oder einen Jugendlichen abgewiesen, der sie nach acht Uhr abends oder auch am Wochenende mit der Bitte angerufen hatte, schnellstmöglich zu kommen. Alkohol- oder Drogenprobleme, Gewalt, psychische Einschränkungen und Missbrauch kannten keinen Feierabend.

Wenn Florence gebraucht wurde, war sie da. Immer. Zu vielen ihrer Schützlinge hielt sie den Kontakt auch noch, wenn diese ihr Leben längst in den Griff bekommen hatten. Sie traf sich mit ihnen auf einen Kaffee, telefonierte mit ihnen, um sich von den neuesten Entwicklungen in deren Leben berichten zu lassen, oder sah sie, wenn sie einen anderen Fall an der gleichen Schule, im gleichen Haus betreute. Da Florence für ein Viertel in der nördlichen Banlieue von Paris zuständig war, begegnete sie immer mal wieder den gleichen Gesichtern. Doch davon musste sie sich nun endgültig verabschieden. Einige »ihrer« Jugendlichen hatten geweint, als Florence sie über ihren Wegzug informierte. Auch Florence war manches »Au revoir« so schwergefallen, dass sie sich wiederholt gefragt hatte, ob sie wirklich das Richtige tat. Selbst jetzt war sie sich nicht sicher, ob ihr Entschluss, der ihr quasi aufgezwungen worden war, alternativlos war. Sie war vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Was hätte sie gegen ihre Versetzung tun sollen? Doch so bekamen Ambre und Florence nun die Möglichkeit, unbelastet in die Zukunft zu blicken.

Sie spürte Bitterkeit in sich aufsteigen. Nie wieder würde sie sich auf einen verheirateten Mann einlassen. Am besten machte sie die nächsten Jahre einen großen Bogen um jegliches männliche Wesen, das zufällig ihren Weg kreuzte. Zweimal hatte sie sich zutiefst getäuscht. Und zum zweiten Mal musste sie nach einer schweren Enttäuschung ihr Leben neu ordnen. Nie wieder würde sie zulassen, dass ein Mann ihre Zukunft beeinflusste. Ab sofort würde Florence sich ganz genau überlegen, wen sie in ihr Leben, in ihre Familie ließ und wen nicht. Und obwohl ihr bewusst war, dass diese Erkenntnis reichlich spät kam, möglicherweise sogar zu spät, schwor sie sich, Ambres und ihr eigenes Wohlbefinden über alles zu stellen. Über jede anstehende Entscheidung. Sie würde nicht akzeptieren, dass irgendwer sie oder Ambre ein weiteres Mal verletzte.

Als Florence auf das Haupthaus zufuhr, erblickte sie schon von Weitem ihre Uroma Antoinette mit Oma Pauline und ihrer Mutter auf der weitläufigen Terrasse.

»Setz dich ein wenig zu uns.« Pauline winkte ihr zu.

Aus dem Wohnzimmer klang Édith Piafs Stimme herüber, die gerade betonte, dass sie nichts bereue. Florence musste schmunzeln. Seit sie denken konnte, war Antoinette der größte Fan der französischen Chansonette, den man sich überhaupt vorstellen konnte. In ihren jungen Jahren hatte sie die herausragende Sängerin, die in Frankreich eine Art Nationalikone darstellte, mehrfach live gesehen. Wie oft hatte sie Florence von den Konzerten der Piaf erzählt? Von der Ausdrucksstärke der Sängerin geschwärmt?

Florence brachte das Fahrrad in den Schuppen und umrundete das Haus. »Manche Dinge ändern sich offensichtlich nie«, merkte sie grinsend an, während sie die Stufen zur Veranda erklomm.

»Manche Dinge werden mit der Zeit immer besser«, korrigierte ihre Uroma sie mit einem angedeuteten Lächeln.

Florence ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen. »Wo ist Ambre?«

»Sie ist noch nicht aus ihrem Zimmer herausgekommen«, erwiderte Louise und schob Florence einen kleinen Teller mit Madeleines hin.

»Nein, danke«, wehrte sie ab. »Nach dem grandiosen Hühnchen schaffe ich keinen Bissen mehr.«

»Du hast doch gerade einiges abtrainiert.« Pauline lachte.

»Ihr seid wieder zu Hause«, schaltete sich Antoinette mit leiser Stimme in das Gespräch ein.

Zu Hause, wiederholte Florence stumm. Waren sie zu Hause? Ihre Uroma fasste nach ihrer Hand und drückte sie leicht. »Ihr seid heimgekehrt.«

»Ja, das sind wir wohl«, stimmte Florence zu und verzog ihr Gesicht. »Es fühlt sich aber noch nicht so an. Und ich hoffe sehr, dass dies irgendwann Ambres Zuhause werden kann.«

»Gib euch Zeit«, mahnte Pauline ernst und nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse. »Es wird sich alles finden, wenn Ambre ihre neuen Klassenkameraden kennengelernt hat und du deine neue Stelle angetreten hast.«

Nachdenklich blickte Florence in die Gesichter der Frauen. Vielleicht benötigten sie wirklich Geduld und Zeit. Zeit, um ihre Wurzeln zu verpflanzen. Zeit, um anzukommen. Um sich ein neues Nest zu bauen.

Im Gras neben dem Haus zirpten die ersten Zikaden. Ein Geräusch, das sie beinahe vergessen hatte. Ein Geräusch, das unverwechselbar für Südfrankreich stand. Für ihre Heimat. Für ihr Zuhause.

2

Als Florence am nächsten Morgen erwachte, hörte sie – nichts. Trotz dreifach verglaster Fenster war es in ihrer Wohnung in Paris nie derart ruhig gewesen wie in diesem Moment in ihrem Schlafzimmer. Kein pausenloses Hintergrundrauschen des Autoverkehrs, kein Stimmengewirr, das vom Bürgersteig heraufdrang, kein Gepolter der Nachbarn im angrenzenden hellhörigen Treppenhaus. Florence drehte sich auf die Seite und lauschte in die Stille. Sie angelte sich ihr Handy vom Nachttisch, kurz nach neun. Wann hatte sie das letzte Mal länger als bis sieben geschlafen?

Als ihr Magen knurrte, setzte sie sich auf und schlug die Decke zurück. Ambre schien noch nicht wach zu sein. Florence stand auf und öffnete erst das bodentiefe Fenster, bevor sie die außen liegenden Holzklappläden löste und zurückschlug. Sie fuhr sich durch ihr kinnlanges Haar und atmete den süßen Duft der Blumenpracht ein, die sich über die Beete neben dem Anbau erstreckte. Aber Florence erkannte noch eine andere Geruchsnote. Das war doch …

Sie trat ins Freie und sah sich um. Tatsächlich! An der Klinke der Eingangstür hing eine weiße Tüte, aus der es verdächtig nach Baguette und Croissants duftete. Mit nackten Füßen lief Florence an der Außenmauer entlang und nahm die Tasche von der Klinke.

Ihre Mutter bog um die Ecke. »Bonjour, Florence!«

»Bonjour, Maman.« Sie zeigte auf ihre Hand. »Hast du das Frühstück für uns bestellt?

Louise schmunzelte. »Deine Urgroßmutter schwört nach wie vor jeden Morgen auf ihr Pain au chocolat. Und Hugo hat seit mehr als einem Jahr einen Lieferservice im Angebot. So muss ich nicht täglich zu seiner Boulangerie fahren. Ich dachte, ein gutes Frühstück würde euch euren Neubeginn etwas versüßen und erleichtern.«

Nachdenklich musterte Florence ihre Mutter und nickte. »Das ist sehr nett. Ambre scheint noch zu schlafen. Aber wenn sie aufwacht, hat sie sicherlich großen Hunger.« Sie deutete mit dem Daumen zu ihrem Zimmer. »Ich mache mir dann mal einen Kaffee.«

Sie wollte sich umdrehen und wieder ins Innere verschwinden.

»Florence?« Ihre Mutter folgte ihr.

»Hm?« Florence nestelte am Tütengriff herum.

»Was ist in Paris geschehen?« Louise’ Blick wurde eindringlich.

Florence schluckte. »Was meinst du?«

»Magst du mir nicht erzählen, warum ihr wirklich zurückgekommen seid?« Sie berührte Florence’ rechten Oberarm. »Gab es Probleme in der Schule?«

Florence zögerte. »Wie kommst du darauf?«

Ihre Mutter verzog den Mund. »Florence, ich kenne dich. Als wir das letzte Mal telefoniert hatten, hast du kein Wort davon erwähnt, dass ihr überlegt habt, aus Paris wegzugehen. Und keine zwei Wochen später verkündest du wie aus heiterem Himmel, dass ihr nach Sète ziehen wollt.«

Was sollte sie darauf erwidern? Florence wandte ihren Kopf ab. »Ich habe einen Fehler gemacht.« Eine Biene landete auf einem der Rosenbüsche und krabbelte einen Stängel entlang.

»Was für einen Fehler? In deinem Job?«

Florence schüttelte den Kopf.

»Ein Mann?«, wollte Louise mit behutsamer Stimme wissen.

Florence seufzte.

»Klar, ein Mann. Was sonst?« Ihre Mutter fuhr Florence sachte übers Haar. »Wenn du reden möchtest …«

Florence erwiderte nichts, drehte sich um und betrat ihr Schlafzimmer.

»Lasst es euch schmecken!«

Sie hob ihre Hand und nickte, sah aber nicht mehr zu Louise zurück.

Den Vormittag verbrachte Florence damit, erst das Wohnzimmer zu inspizieren, indem sie sämtliche Schranktüren öffnete und den Inhalt, alte Fotoalben und Bücher, Kartenspiele und Puzzles, begutachtete, bevor sie sich auf den Weg zu einem Rundgang über das Grundstück machte. Überall entdeckte sie Neues. In der hintersten Ecke des Gartens hatte ihre Mutter einen Pavillon aus Holz errichten lassen, der wie gemacht war, um sich dort niederzulassen und in Ruhe ein gutes Buch zu genießen. Um einen gemütlichen Nachmittagskaffee einzunehmen. Oder auch für ein nettes Treffen mit Freunden. Dick gepolsterte Loungesessel und eine farblich dazu passende Bank standen um einen runden Holztisch herum und luden zum Innehalten ein.

In einer anderen Ecke hatte Louise einen steinernen Springbrunnen errichten lassen. Das leise und gleichmäßige Plätschern des Wassers wirkte beruhigend, sanft und wunderbar harmonisch inmitten der farbenfrohen Rhododendronbüsche. Fast erschien es Florence, als erwache das Anwesen zu einem neuen Leben. Als die Familie vor vielen Jahren das Weingut aufgegeben hatte, lag die größte Fläche des Grundstücks brach. Weder Pauline noch Louise hatten nach dem Krebstod von Paulines Mann Pierre die Energie, über alternative Nutzungsmöglichkeiten des Bodens nachzudenken. Erst seit dem Fortgang Florence’ nach Paris war das Anwesen nach und nach wiederauferstanden, wenn auch nun nicht mehr als Weingut.

Den Nachmittag verbrachte Florence mit ihrer Familie. Ambre kroch gegen fünfzehn Uhr aus ihrem Zimmer und sah sich sofort nach etwas Essbarem um, bevor sie wieder verschwand, um sich erneut bei ihren Freundinnen über die Einöde zu beschweren, in der sie gelandet war.

Am späten Abend fasste sich Florence endlich ein Herz und nahm ihr Smartphone, um den Anruf zu absolvieren, den sie gern vermieden hätte und schon den ganzen Tag vor sich hergeschoben hatte.

»Pergolet.«

Florence blickte kurz zu der geschlossenen Tür von Ambres Zimmer und lehnte sich auf der Couch zurück. »Ich bin es, Florence.«

»Florence!« Julien zögerte kurz. »Seid ihr schon angekommen?«

Sie wusste natürlich, dass Ambre ihrem Vater bereits vor Wochen von ihrem Umzug nach Sète erzählt hatte. »Gestern am späten Nachmittag.«

»Hat alles gut geklappt? Wie läuft es mit deiner Familie?«

Während ihrer Beziehung hatte Julien die Reibereien zwischen Florence und ihrer Mutter immer wieder mitbekommen. Und selbstverständlich kannte er durch sie auch die Vorgeschichte, die zum Unfall ihres Vaters geführt hatte, auch wenn er selbst ihn nie persönlich kennengelernt hatte. »Wir sind noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier«, wich sie aus.

Er lachte kurz. »Stimmt auch wieder.«

Florence schloss die Augen und versuchte, die aufwallenden Erinnerungen zu verdrängen. »Warum ich anrufe …«

»Ja?« Er klang erwartungsvoll.

»Es geht um Ambre«, begann sie gedehnt.

»Das habe ich mir fast gedacht.« Wieder erklang sein so vertrautes Lachen.

In den letzten Jahren hatte Florence ihn kaum gesehen. Sie hatte Ambre meist nur bei ihm abgesetzt, und außer zwei, drei Sätzen Small Talk hatte es zwischen ihnen nichts zu reden gegeben. Ihre Tochter war mittlerweile alt genug, um ihren Vater selbst über die Neuigkeiten in ihrem Leben auf dem Laufenden zu halten.

»Ich möchte, dass wir ihr den Neubeginn so leicht wie möglich gestalten«, fuhr Florence fort. »Dass wir sie unterstützen. Eine neue Schule, neue Klassenkameraden … Ich befürchte, dass es nicht ganz einfach für sie werden könnte.«

»Wo ihr euren Umzug ja auch nicht wirklich freiwillig beschlossen habt«, ergänzte Julien.

Florence fuhr sich über die Stirn. Er wusste es. Verdammt, Ambre!

»Sie hat es dir erzählt?« Eigentlich hätte sie sich die Frage sparen können, doch die Worte waren raus, bevor sie darüber nachdenken konnte.

»Sie ist meine Tochter, Florence. Hätte sie mich anlügen sollen?«

Er hatte recht. Sie waren erwachsene Menschen. Eine Affäre mit dem eigenen Vorgesetzten war weder strafbar noch ein Weltuntergang. Sie war auch nur ein Mensch. Wer könnte sie besser verstehen als Julien, setzte sie in Gedanken hinzu.

»Nein«, erklärte sie leise. »Nein, natürlich nicht.«

»Es tut mir leid.« Seine Stimme klang ehrlich, ohne Häme, ohne auch nur den Hauch von Schadenfreude.

Fast wurde ihr wehmütig ums Herz. »Tja, so ist das Leben, nicht wahr?«

»Wenn du mal reden möchtest …«

Sie verzog das Gesicht. »Danke, aber ich denke, eher nicht. Worum ich dich aber bitten möchte, ist, dass du dich etwas mehr um Ambre kümmern solltest. Sie ist wegen des Umzugs nicht allzu gut auf mich zu sprechen. Und da die meiste Arbeit in den letzten Jahren an mir hing, würde ich …«

»Die meiste Arbeit, ja?«, unterbrach Julien sie ungehalten. »Was hätte ich denn bitte schön tun sollen, Hunderte Kilometer von euch entfernt?«

Wut kochte in ihr auf. »Klar, ich bin also selbst schuld, dass ich meine Tochter fünfzehn Jahre lang allein großziehen musste. Hätte ich mir ja denken können.«

»Du weißt, dass ich das so nicht gesagt habe.« Er bemühte sich hörbar um Ruhe, doch sein überheblicher oberlehrerhafter Ton brachte Florence nur noch mehr auf die Palme. »Hör zu, ich wollte dir einfach nur erklären, dass du dich bitte ihrer annimmst. Wie ein Vater. Sie wohnt jetzt nicht mehr weit von dir entfernt. Es wird wohl nicht zu viel verlangt sein, dass du deinen Vaterpflichten nachkommst.« Florence wusste, dass sie unfair wurde, aber die aufgestaute Enttäuschung, die Scham über ihr eigenes Versagen und der Zorn, der noch immer in ihr loderte, hinderten sie daran, ihren Ton zu entschärfen.

»Das werde ich«, erklärte er kühl. »Danke für den Hinweis. Bonne soirée!«

Im nächsten Moment klickte es in der Leitung.

Fassungslos starrte Florence auf ihr Telefon.

Das durfte doch nicht wahr sein! Ihr Plan, unbelastet und ohne jegliche negativen Gefühle in ihr neues Leben in Sète zu starten, hatte ja hervorragend geklappt.

Wütend schlug sie auf das Kissen neben ihr.

3

Jacqueline Drugot war eine Frau wie ein Naturereignis. Laut, temperamentvoll, alles mit sich reißend, was sich in ihrem Umfeld befand, und übermächtig. Florence versuchte sich auf ihre neue Vorgesetzte zu konzentrieren. Die gestrige Auseinandersetzung mit Julien hatte ihr mehrere Stunden Schlaf geraubt. Erst frühmorgens war sie nach endlosem Grübeln und Selbstvorwürfen endlich eingeschlafen. Heute Morgen nach dem Aufwachen hatte ihr Kopf gedröhnt, als ob sich eine komplette Baustelle samt Presslufthammer in ihrem Hirn breitgemacht hätte. Nicht die besten Voraussetzungen, um mit voller Energie eine neue Arbeitsstelle anzutreten. Sie bemühte sich, dem Monolog ihrer Chefin zu folgen.

»Ich schätze es sehr, wenn meine Mitarbeiter sich kreative Lösungen überlegen. Es muss nicht nach Schema F laufen. Sie machen Ihren Job ja auch nicht erst seit gestern. Daher denke ich, Sie verstehen, was ich meine.« Jacqueline Drugot beugte sich über den Schreibtisch. »Was ich nicht schätze, sind Alleingänge, Madame Fournier.« Ihre hellen Augen blitzten auf. »Wir arbeiten im Team, und ich erwarte, dass wir uns absprechen. Dass wir unsere Fälle diskutieren, insbesondere wenn eine Klärung nur sehr schwierig möglich ist.« Sie schob ihr Kinn vor. »Monsieur Rossier hält sehr große Stücke auf Sie. Als er mich vor vier Wochen angerufen hat, hat er Sie angepriesen, als ob Sie den kompletten Laden in Paris allein geschmissen hätten.« Ihr Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an.

Florence riss sich zusammen und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. »Wir waren in Paris eine sehr gut eingespielte Mannschaft«, wich sie der unausgesprochenen, im Raum hängenden Frage aus.

Für Sekunden musterte Jacqueline Drugot Florence, bevor sie schließlich nickte. »Hm. D’accord.« Sie lehnte sich zurück. »Darf ich fragen, ob Ihr Umzug mit Ihrer … Arbeit zusammenhing?«

Florence erwiderte Drugots Blick offen. »Ich bin aus privaten Gründen nach Sète zurückgezogen.«

Der Blick ihrer Vorgesetzten wurde bohrender. »Gut. Ich hoffe sehr, dass die Lobeshymne Ihres ehemaligen Chefs keine heiße Luft war.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich möchte Ihnen um Gottes willen nichts unterstellen, Madame. Aber bei einer derart übersteigerten Ankündigung einer neuen Mitarbeiterin werde ich natürlich hellhörig. Nichts für ungut.« Sie streckte ihre rechte Hand über den Schreibtisch. »Willkommen in meinem Team, Madame Fournier. Auf eine gute und fruchtbare Zusammenarbeit!«

»Danke, Madame.« Florence erwiderte den Händedruck. »Ich werde mein Bestes geben.«

»Davon gehe ich aus.« Ihre Chefin zwinkerte. »Wie lange waren Sie nicht hier?«

»Da meine Familie und der Vater meiner Tochter hier leben, bin ich auch in den letzten Jahren regelmäßig in Sète gewesen«, erzählte Florence. Ihr Kopf fühlte sich mittlerweile an, als sei er in einer Schraubzwinge eingespannt, die mit jeder Minute fester gezogen wurde. Sie musste dringend eine Schmerztablette nehmen.

»Das heißt, Sie kennen die Örtlichkeiten«, folgerte Jacqueline Drugot hörbar zufrieden. »Es ist auf jeden Fall von Vorteil, wenn Sie sich in der Stadt zurechtfinden. Ich nehme an, dass Ihnen unsere Schulen und Kindertagesstätten ebenfalls bekannt sind.«

»Da ich für Ambre, also für meine Tochter, eine neue Schule suchen musste, habe ich einen groben Überblick über die Einrichtungen.« Florence fuhr sich über die Stirn. Vor ihren Augen flimmerte es, sie betete stumm, dass es nicht noch schlimmer würde. Das Bild an der Wand hinter ihrer Vorgesetzten, das zwei weiße Pferde zeigte, die durch aufspritzendes Wasser galoppierten, verschwamm vor Florence’ Augen.

»Alles in Ordnung?«

Florence nickte. »Nur ein wenig Kopfweh.«

»Das kann am anderen Klima liegen. Kommen Sie, ich stelle Ihnen Ihre beiden neuen Kollegen vor. Wir haben jeden Montag eine Teamsitzung, in der wir uns über die aktuellen Fälle austauschen. So bekommen Sie gleich einen ersten Einblick in die Arbeit, die hier auf Sie wartet.« Jacqueline Drugot hievte sich aus ihrem Sessel.

Florence stand ebenfalls auf, griff nach ihrer Tasche und folgte der kräftig gebauten Frau, die sie auf Mitte fünfzig schätzte.

Ihre Chefin klopfte an der Bürotür nebenan, bevor sie die Klinke herunterdrückte.

»Bonjour! Ich möchte euch unsere neue Kollegin vorstellen.« Sie nannte Florence’ Namen, während diese ihren Blick durch das Zimmer schweifen ließ.

Vor dem breiten Fenster standen sich zwei Schreibtische gegenüber. Am rechten saß ein blonder Mann, der Anfang bis Mitte dreißig war. Er hob zur Begrüßung die Hand und nickte Florence lächelnd zu. Jacqueline Drugot stellte ihn als Thomas Marlant vor. Die ältere Frau an dem anderen Tisch hieß Sylvie Famony. Sie verzog nicht die geringste Miene und machte keinen Hehl aus ihrer offenkundigen Ablehnung. Das konnte ja heiter werden!

Ein offener Rundbogen zu ihrer Linken führte in ein weiteres Büro. »Und das dort ist Ihr Schreibtisch. Ihre Vorgängerin ist vor neun Monaten in Rente gegangen. Es wurde also höchste Zeit, dass wir Ersatz bekommen.« Drugot zeigte in den kleinen Raum hinein. »Sie können sich dort einrichten, wie Sie möchten. Telefon, Laptop und Drucker sind bereits vorhanden. Wenn Sie noch etwas benötigen, sagen Sie mir einfach Bescheid. Die Gelder sind naturgemäß knapp, aber ich werde schauen, was ich tun kann.«

Florence begutachtete die Nische, die etwa halb so groß wie das Büro ihrer Kollegen und durch den Rundbogen zwar dem geräumigeren Raum angegliedert war, durch die angrenzenden Mauern aber fast den Charakter eines abgetrennten Zimmers hatte.

»Schön«, merkte sie an. In Paris hatte sie sich mit fünf Kollegen ein Großraumbüro geteilt.

»Ich dachte, es sei ein guter Einstieg für Madame Fournier, unserer Teamrunde beizuwohnen«, fuhr ihre Vorgesetzte fort und forderte ihre Mitarbeiter mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben.

Gemeinsam verließen sie den Raum und steuerten das Zimmer gegenüber an. Als Jacqueline Drugot die Tür öffnete, erkannte Florence einen Besprechungsraum, in dem sich ein ovaler Tisch und fünf Stühle befanden.

»Diesen Raum nutzen wir auch für Eltern- oder Familiengespräche«, erläuterte die Leiterin in Florence’ Richtung. »Hier können wir Diskretion und Privatsphäre wahren. Auf dem Server ist eine Datei hinterlegt, in der jeder von uns einträgt, wann er das Zimmer benötigt. So wissen alle auf einen Blick, wie sie ihre Gesprächstermine legen können. Bitte.«

Sie setzten sich.

»Seit zwei Monaten bieten wir einmal wöchentlich eine Art offene Sprechstunde an«, erzählte Jacqueline Drugot weiter. »Natürlich sind wir per Mail oder Telefon immer während unserer Arbeitszeiten erreichbar. Aber wir dachten, es sei nicht verkehrt, wenn Jugendliche auch ohne vorherige Kontaktaufnahme hier vorbeikommen könnten.« Sie sah zu Thomas Marlant, bevor sie sich Sylvie Famony zuwandte. »Diese Woche betreut Sylvie die Sprechstunde. Wir wechseln uns wöchentlich ab. Das heißt, Sie müssten sich diesen Termin blocken, sobald Sie an der Reihe sind.« Sie hielt inne und schien zu überlegen. »Wie wäre es mit übernächster Woche? So haben Sie diese und nächste Woche genug Zeit, um sich mit Ihren neuen Fällen und der Arbeitsweise hier im Haus vertraut zu machen.« Ihre Miene wurde fragend.

Florence nickte. »Das klingt gut. Vielen Dank.«

Jacqueline Drogot nickte. »Bien! Dann wollen wir mal loslegen. Thomas, fängst du vielleicht an?«

Als Florence ihn von der Seite musterte, wandte er seinen Kopf und lächelte. »Einen guten Start auch von mir.«

»Danke.«

Sylvie Famony, die Florence gegenübersaß, blieb weiter stumm, während ihr Kollege begann, von einem kleinen fünfjährigen Jungen zu berichten, der nach seiner persönlichen Einschätzung sexuellen Missbrauch erlitt. Das Kind äußerte sich nicht, daher vermutete Thomas Marlant, dass es jemand aus dem näheren Umfeld des Jungen sein musste. Er hegte die starke Befürchtung, dass Paul, so hieß das Kind, ein Familienmitglied schützte. Dass der Kleine eingeschüchtert, möglicherweise sogar bedroht worden war. Thomas öffnete die Akte und schob sie Florence hin. Ein trauriges Schicksal, aber leider Alltag in ihrem Job. Paul war kein Einzelfall. Und es erschütterte Florence immer wieder aufs Neue, wenn sie von derartigen Verdachtsfällen erfuhr.

Florence lenkte den Wagen an den Straßenrand und sah aufs Meer, das zwischen den Häusern in der Ferne hindurchblitzte. Es war ein heißer Junimorgen, die Sonnenstrahlen ließen die Wasseroberfläche wie Millionen Diamanten glitzern. Vor einer Viertelstunde hatte Florence eine Schmerztablette genommen, seitdem beruhigte sich das Dröhnen in ihrem Schädel etwas. Ihr erster Fall in Sète!

Sie atmete einmal durch, während sie ihren Blick über den Neubau wandern ließ. Der Kindergarten war klein, bestand nur aus zwei Gruppen. Eine der Erzieherinnen hatte mit Jacqueline Drugot Kontakt aufgenommen, da sie bei einem Geschwisterpaar, Léonie und Mathéo Rammiers, drei und fünf Jahre alt, seit einigen Wochen gravierende Verhaltensänderungen festgestellt hatte. Die Mutter hatte sie bereits darauf angesprochen, doch deren gleichgültige Reaktion ließ bei der Angestellten weitere Alarmglocken schrillen. Florence sollte sich nun das Gebaren der Kinder ansehen. Noch war überhaupt nicht klar, was hinter dem veränderten Benehmen der Kinder steckte. Kleinkinder durchlebten immer wieder unterschiedliche Phasen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich Charakterzüge zu gewissen Zeitpunkten deutlicher und dadurch eben auch auffälliger formierten. Ein Indiz, dass in diesem Fall möglicherweise innerfamiliäre Probleme dahinterstecken könnten, war, dass bei beiden Kindern im gleichen Moment Auffälligkeiten bemerkt worden waren. Ebenso schien die merkwürdige Reaktion der Mutter darauf hinzudeuten, dass sie die Ursache für das veränderte Verhaltensmuster ihrer Kinder wenn nicht gar kannte, so doch zumindest erahnte.

Florence nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen aus. Madame Génier, die Erzieherin, hatte darum gebeten, dass sie nach halb elf kam, da dann die erste gemeinsame Singrunde vorüber war und die Kinder frei spielen konnten. Florence erinnerte sich noch gut an die Zeit, als Ambre in dem Alter gewesen war. Damals bestand ihr Alltag noch nicht aus endlosen Diskussionen mit ihrer Tochter. Ambre war ein sehr pflegeleichtes Kind gewesen.

In der École maternelle hatte sie nie Probleme gehabt, Freunde zu finden oder sich anzupassen. Erst als sie auf die École primaire, die Grundschule, gewechselt hatte, trat immer wieder die Frage auf, warum ihr Papa nicht bei ihnen lebte. Ihre Fragen waren bohrender und drängender geworden. Ambre hatte die Aufenthalte bei Julien schon immer sehr genossen. Offensichtlich machte sie sich damals erstmals ernsthafte Gedanken darüber, wie andere Familien zusammengesetzt waren. Auch wollte sie immer wieder von Florence wissen, warum sie denn keine Geschwister habe.

Obwohl Florence damals erst Mitte zwanzig gewesen war, war ihr tief in ihrem Inneren immer bewusst gewesen, dass sie kein zweites Kind bekommen würde. Als sie Jean-Luc kennenlernte, fühlte sie sich in ihrer Vorahnung bestätigt. Ein Kind mit einem verheirateten Mann wäre das Allerletzte gewesen, was Florence in den Sinn gekommen wäre. Niemals hätte sie ein weiteres unschuldiges Wesen in ihre zerrissene Familie aufnehmen wollen. Florence’ Traum von Vater, Mutter, Kind hatte sich nicht erfüllt, war frühzeitig geplatzt, ohne dass sie daran etwas hätte ändern können. Sie war alleinerziehend, weil die Umstände sie dazu gezwungen hatten. Freiwillig hatte sie sich auf ein weiteres derartiges Abenteuer nicht mehr einlassen wollen.

Sie verdrängte das Gedankenchaos und konzentrierte sich auf den anstehenden Termin. Während sie auf den Eingang der École maternelle zusteuerte, erklang lautes Kinderlachen aus dem Gartenbereich hinter dem Gebäude. Florence trat an die gläserne Eingangstür und spähte ins Innere. Sie entdeckte einen engen Flur mit einer langen Reihe Garderobenhaken. An jedem Haken war ein kleines Bildchen angebracht. Florence erkannte rot-weiße Boote, gelbe Sonnen und grüne Palmen. Zwei Türen gingen von dem Gang ab. Florence vermutete, dass sich dahinter die Gruppenräume befanden. Da sie keine Klingel fand, klopfte sie gegen die Scheibe.

Kurz darauf erschien eine junge Frau im Flur. Sie hatte einen dicken Schlüsselbund in der rechten Hand und kramte sekundenlang daran herum. Dann öffnete sie die Tür.

»Bonjour, Madame. Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Florence Fournier. Sind Sie Madame Génier?«

Die Erzieherin lachte. »Nein, ich bin Giselle Lunot, eine Auszubildende. Madame Génier befindet sich bei ihrer Gruppe im Garten. Kommen Sie doch herein, ich bringe Sie hin. Geht es um Léonie und Mathéo?«

Florence bestätigte ihre Vermutung und folgte ihr durch eine der Türen, hinter denen sie richtigerweise die Gruppenräume vermutet hatte. Zwölf kleine Stühlchen standen in einem Kreis. Es gab verschiedene Themenbereiche an den Wänden. Florence erkannte eine kleine Holzküche neben einem hohen Stapel Gesellschaftsspiele. Gegenüber türmten sich mehrere Kisten mit Bausteinen, zwei rote Bobbycars standen verwaist vor einem der großen Fenster.

»Sehen Sie die Dame mit dem hochgesteckten Haar an der Schaukel?« Die Auszubildende zeigte ins Freie.

Florence folgte ihrem Blick und nickte.

»Das ist Madame Génier.« Die Angestellte verzog ihr Gesicht. »Ich muss zurück in die Küche. Eines der Kinder wartet dort auf mich.«

»Danke.«

Die junge Frau verschwand durch eine weitere Tür. Florence betrat das Außengelände und verfolgte, wie schätzungsweise fünfundzwanzig Kinder laut durcheinanderredeten und lachten, während einige in einem Sandkasten aus Holz gerade Kuchen backten und andere mit Stelzen über das Gelände stolzierten, schaukelten oder auf Dreirädern über die mit Kreide aufgemalten Spielstraßen sausten.

Florence ging auf Madame Génier zu und stellte sich vor, während sie ihr die Hand hinhielt.

»Danke, dass Sie so schnell kommen konnten.« Die etwa Sechzigjährige zögerte. »Ich war mir nicht sicher, ob ich Sie überhaupt kontaktieren sollte.« Sie zeigte unauffällig auf einen dunkelhaarigen Jungen, der mit einem Mädchen neben dem Sandkasten stand und laut diskutierte. »Das ist Mathéo. Letzte Woche hat er sich mit einem anderen Jungen geprügelt, der bis dahin sein bester Freund war. Er hat ihn an der Wange verletzt …« Sie seufzte. »Nicht schwer, aber das Kind hat geblutet. Da war für mich ein Punkt erreicht, an dem ich mir gesagt habe, es müsse etwas unternommen werden.«

Florence nickte. Die Bedenken, die Menschen ihr gegenüber äußerten, ob und wann man sich einmischen dürfe, einmischen solle, waren ihr zur Genüge bekannt. Die meisten Menschen taten sich schwer damit, Behörden einzuschalten, wenn sie Dinge beobachteten, die sie für falsch hielten. Sei es die Nachbarin, die immer wieder einmal mit einem blauen Auge oder Prellungen an den Oberarmen gesichtet wurde, sei es das kleine Nachbarskind, das entweder immer verschüchterter wirkte oder von Tag zu Tag aggressiver wurde.

»Es ist auf jeden Fall kein Fehler gewesen, Madame Génier. Kinder können sich nur sehr bedingt selbst schützen. Und wenn es Probleme innerhalb der Familie gibt, ist die Hemmschwelle für sie umso größer, sich jemand Fremdem anzuvertrauen. Sie wollen ihre Eltern verständlicherweise nicht anschwärzen, einige werden auch unter Druck gesetzt, nicht zu reden. Wenn es Ihnen recht ist, bleibe ich ein Weilchen hier und sehe mir die beiden einfach ein wenig an. Dann können wir im Anschluss entscheiden, ob ich noch Einzelgespräche mit ihnen führe oder auch mit beiden gemeinsam. Sicher fällt uns das Passende ein.« Sie lächelte aufmunternd. »Wo ist Mathéos Schwester?«

»Léonie sitzt da drüben auf dem grünen Dreirad. Das blonde Mädchen mit der roten Hose.«

Florence betrachtete das Kind, das etwas abseits von den anderen auf einem der Fahrzeuge saß und teilnahmslos das Treiben um sich herum verfolgte. »Was können Sie mir über die beiden sagen?«

Die Erzieherin blickte von Léonie zu deren Bruder zurück. »Ich kenne Mathéo schon sehr lange. Er ist seit gut drei Jahren bei uns, seine Schwester seit zwanzig Monaten. Beide waren immer sehr unauffällige Kinder. Unauffällig im positiven Sinn«, setzte sie nach. »Sie haben sich gut in die Gruppen eingefügt, waren hilfsbereit, lernbegierig, kontaktfreudig.«

»Klingt erst mal gut«, merkte Florence an, während sie beobachtete, wie Mathéo das Mädchen neben sich zu schubsen begann.

Als Madame Génier sich in Bewegung setzen wollte, um einzugreifen, hob Florence eine Hand. »Würden Sie bitte einen Moment warten?«

»Natürlich.«

»Du blöde Schnepfe«, schimpfte Mathéo lauthals los. »Du weißt doch gar nicht, wovon du redest.«

»So geht das fast jeden Tag. Mehrmals.« Madame Génier zuckte mit den Achseln. »Wir reden dann selbstverständlich mit ihm und erklären ihm auch, dass das so nicht geht, aber …« Sie verstummte.

Nachdem sich Florence das Verhalten der beiden Kinder innerhalb der Gruppe noch eine weitere Stunde angesehen hatte und die Erzieherin ihr mehr Eckdaten zu der Familie genannt hatte, entschied sie, dass ein Gespräch mit Léonie und Mathéo nicht schaden konnte. Die Ausdrucksweise des Jungen deutete stark darauf hin, dass sein Verhalten von zu Hause beeinflusst wurde.

4

Ambres Herz schlug laut gegen ihren Brustkorb, als sie die schwere Holztür ihrer neuen Schule aufstieß. Sie hasste es, die Neue zu sein. Sie hasste es, dass in wenigen Minuten zig Augenpaare sie mustern würden, dass ihre neuen Klassenkameraden im Bruchteil einer Sekunde ein erstes Urteil über sie fällen würden.

Was will die Bohnenstange hier?

Uh, sieh dir mal an, wie arrogant sie da steht.

Aus Paris? Warum ist sie dann jetzt hier? Wahrscheinlich stimmt mit ihr etwas nicht.

Massen von Schülern drängten an Ambre vorbei über die engen Flure. Hastig überflog sie die Tafel neben dem Eingang, an der ein Plan der Schule hing. Ihr zukünftiges Klassenzimmer befand sich im ersten Stock, fand sie nach sekundenlangem Suchen heraus. Wie sie all das hier verabscheute! Sie wollte bei ihren Freundinnen sein, in Paris, ja, selbst eine Doppelstunde bei ihrer verhassten Mathelehrerin Madame Laurens erschien ihr in diesem Moment als die verlockendere Option.

Ambre drehte sich um und verfolgte, wie die Jugendlichen drängelnd und lachend durch die Flure stoben. Viele bewegten sich laut diskutierend in Gruppen fort, andere ließen sich schweigend mittreiben. Keiner von ihnen wirkte so verloren, wie Ambre sich gerade fühlte. Mit jedem Schritt, den sie dem Klassenzimmer mit den vielen unbekannten Gesichtern näher kam, wurden ihre Beine schwerer. Sie musste sich regelrecht zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Eine halbe Stunde hatte sie heute Morgen vor ihrem Kleiderschrank verbracht und sich letztlich doch für ihre ausgebleichte, enge Lieblingsjeans und ein bequemes kariertes Hemd zu ihren hohen schwarzen Doc Martens entschieden.

Wieso hatte ihre Mutter sie nur in diese verfluchte Situation bringen müssen? Dieser Idiot von Jean-Luc! Ambre war von Anfang an klar gewesen, dass die Affäre ihrer Mutter in einer Katastrophe enden würde. Warum hatte ihre Mutter sich ausgerechnet auf ihren verheirateten Chef einlassen müssen? Für ihr Alter sah Florence doch gar nicht so schlecht aus mit ihrem schwarzen kinnlangen Haar und dem ebenmäßigen Gesicht. Auch Falten waren bisher kaum bei ihr zu erkennen. Immer wieder wurde sie für Ambres Schwester gehalten. Es gab doch wirklich genug Männer auf dieser Welt!

Aber erst hatte es mit Ambres Vater nicht geklappt und nun der Ärger mit Jean-Luc. Sie seufzte, als sie am oberen Treppenabsatz ankam. Ihre Handinnenflächen waren schweißnass, sie begann zu zittern. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihr nur noch zwei Minuten blieben. Zwei Minuten, bevor sie die Höhle des Löwen betreten musste. Zwei Minuten, bevor sie …

»Ambre?«

Sie drehte sich um und sah einen hageren älteren Mann auf sich zukommen.

»Ambre Fournier?«

Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Sie nickte.

»Bonjour. Ich bin Monsieur Katouche, dein neuer Klassenlehrer. Ich unterrichte deine Klasse in Englisch und Chemie.«

Ihre Lieblingsfächer, schoss es Ambre dankbar durch den Kopf.

»Bonjour, Monsieur«, stammelte sie unbeholfen.