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Die Geschichte eines der wichtigsten Bauwerke der Welt - und eine große Liebe.
Die Welt hält den Atem an, als Notre Dame in Flammen steht. Restauratorin Josie hilft, die Kathedrale wiederaufzubauen. Im Zuge der Arbeiten findet sie einen geheimnisvollen Brief und einen Ring. Der Kunsthistoriker Antoine hilft ihr bei der Spurensuche, die die beiden in die Zeit der Französischen Revolution führt, zu Lucile, die für ihre Liebe zu einem Revolutionär kämpfte. Und plötzlich begegnen Josie und Antoine sogar der Madonnenstatue wieder, die Antoine in der Brandnacht aus den Flammen retten konnte, und sie stoßen auf ein weiteres Geheimnis …
Der große Roman von Bestsellerautorin Eva-Maria Bast über ein Bauwerk, das die Herzen der Menschen bewegt.
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Seitenzahl: 396
Restauratorin Josie ist nach Paris zurückgekehrt, um endlich die Kathedrale zu besuchen, die sie als Kind so fasziniert hat. Und dann muss sie mit ansehen, wie Notre Dame in Flammen steht. Josie wird Teil des Restauratorenteams und entdeckt einen geheimnisvollen Brief und einen Ring. Die Spurensuche führt sie zu Lucile, die während der Französischen Revolution um ihre Liebe zu einem Revolutionär kämpfte und sich der Frauenbewegung anschloss. Ihre Tochter Marie arbeitet als Steinbildhauerin am Wiederaufbau der Kathedrale mit, der in den Wirren der Revolution starke Zerstörungen zugefügt wurden. Zu verdanken ist die Instandsetzung Maries engem Freund, dem Literaten Victor Hugo, und seinem bekanntesten Werk »Der Glöckner von Notre Dame«.
Eva-Maria Bast ist Journalistin und Autorin mehrerer Sachbücher, Krimis und zeitgeschichtlicher Romane. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Als eine Hälfte des Autorenduos Charlotte Jacobi schrieb sie u. a. den Spiegel-Bestseller »Die Douglas-Schwestern«. Die Autorin lebt am Bodensee.
Im Aufbau Taschenbuch sind bisher ihre Romane »Vanilletage – Die Frauen der Backmanufaktur«, »Zuckerjahre – Die Frauen der Backmanufaktur« und »Zimtträume – Die Frauen der Backmanufaktur« erschienen.
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Eva-Maria Bast
Die Frauen von Notre Dame
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2 — 189 Jahre zuvor
Kapitel 3 — 189 Jahre später
Kapitel 4 — 194 Jahre zuvor
Kapitel 5 — 194 Jahre später
Kapitel 6 — 191 Jahre zuvor
Kapitel 7 — 191 Jahre später
Kapitel 8 — 189 Jahre zuvor
Kapitel 9 — 189 Jahre später
Kapitel 10 — 189 Jahre zuvor
Kapitel 11 — 189 Jahre später
Kapitel 12 — 189 Jahre zuvor
Kapitel 13 — 189 Jahre später
Kapitel 14 — 189 Jahre zuvor
Kapitel 15 — 44 Jahre zuvor
Kapitel 16 — 44 Jahre später
Kapitel 17 — 189 Jahre später
Kapitel 18 — 185 Jahre zuvor
Kapitel 19 — 185 Jahre später
Kapitel 20 — 230 Jahre zuvor
Kapitel 21 — 56 Jahre später
Kapitel 22 — 174 Jahre später
Kapitel 23 — 174 Jahre zuvor
Kapitel 24 — 56 Jahre zuvor
Kapitel 25 — 56 Jahre später
Kapitel 26 — 174 Jahre später
Kapitel 27 — 230 Jahre zuvor
Kapitel 28 — 230 Jahre später
Kapitel 29 — 230 Jahre zuvor
Kapitel 30 — 230 Jahre später
Kapitel 31 — 174 Jahre zuvor
Kapitel 32 — 174 Jahre später
Kapitel 33 — 174 Jahre zuvor
Kapitel 34 — 174 Jahre später
Kapitel 35 — Exakt 230 Jahre zuvor
Kapitel 36 — 60 Jahre später
Kapitel 37 — 60 Jahre zuvor
Kapitel 38 — 230 Jahre später
Kapitel 39 — 229 Jahre zuvor
Kapitel 40 — 229 Jahre später
Kapitel 41 — 168 Jahre zuvor
Kapitel 42 — 60 Jahre zuvor
Kapitel 43 — 60 Jahre später
Kapitel 44 — 168 Jahre später
Kapitel 45 — 160 Jahre zuvor
Kapitel 46 — 67 Jahre zuvor
Kapitel 47 — 227 Jahre später
Kapitel 48 — 160 Jahre zuvor
Kapitel 49 — 66 Jahre zuvor
Kapitel 50 — 226 Jahre später
Kapitel 51 — 226 Jahre zuvor
Kapitel 52 — 226 Jahre später
Kapitel 53 — 226 Jahre zuvor
Kapitel 54 — 226 Jahre später
Kapitel 55 — 225 Jahre zuvor
Kapitel 56 — Zur gleichen Zeit
Kapitel 57 — 225 Jahre später
Kapitel 58 — 225 Jahre zuvor
Kapitel 59 — 71 Jahre später
Kapitel 60 — 71 Jahre zuvor
Kapitel 61 — 225 Jahre später
Kapitel 62 — 225 Jahre zuvor
Kapitel 63 — 225 Jahre später
Spuren der Realität
Danksagung
Literatur & Quellen
Impressum
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Eugène Viollet-le-Duc
Paris, Sommer 1820
Und nun schön leise, Monsieur Eugène. Immerhin gehen wir in ein Gotteshaus. Da muss man andächtig sein.«
Der kleine Eugène fürchtete sich etwas und krallte seine Hände in den Kittel des alten Dieners, der ihn heute begleitete. Gleichzeitig konnte er es aber auch nicht erwarten, diese wunderbare, riesige Kathedrale zu besuchen. Und auf dem Arm von Monsieur Bernard war er sicher. Monsieur Bernard mochte zwar alt sein, aber er war größer als Eugènes Vater. Und das wollte etwas heißen.
In der Kathedrale empfing sie eine tiefe Stille. Eine Stille, die eigentlich gar keine war, wie Eugène schnell feststellen sollte. Zwar war kein Geräusch zu hören, aber die vielen Eindrücke überfluteten ihn regelrecht, machten die Geräuschlosigkeit zu tosendem Lärm. Überall schrien die Figuren und Statuen ihm ihre Geschichten entgegen, gingen Bögen und Linien ineinander über, trugen Säulen wunderbare Gewölbedecken. Mit offenem Mund blickte der kleine Junge sich um, als er auf einmal etwas entdeckte, was ihn vollkommen in seinen Bann zog: Ein Sonnenstrahl fiel durch das südliche Rosettenfenster und warf einen magischen Farbkegel in seine Richtung. Eugène spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Was war das? Zaghaft streckte er die Hand nach dem Farbstrahl aus, vermochte ihn jedoch nicht einzufangen. Dabei wurde die Farbe doch sogar auf den Boden gemalt! Staunend hob er den Kopf, um den Quell des Farbstrahls, das Fenster, etwas genauer in Augenschein zu nehmen: Er sah unzählige Farbflächen und Felder.
Und dann setzte Musik ein. Raumgreifend und mächtig. Die Musik vertrieb den Lärm der Eindrücke und verband sich auf eigenartige Weise mit den Farbstrahlen, die in Eugènes Richtung zuckten. Bewegten sie sich nicht im Rhythmus der Musik? Begannen sie nicht, miteinander zu tanzen?
Eugène starrte und staunte, glaubte, es sei das Fenster, das diese wundervollen, mächtigen Klänge erzeugte. Schließlich war das Fenster auch in der Lage, all diese wundervollen Farben hervorzubringen!
»Das Fenster kann Musik machen!«, flüsterte er ergriffen. »Und es kann Farben zaubern.«
Lachend drückte der Diener ihn an sich. »Nein, Monsieur Eugène«, sagte er, »das Fenster kann keine Musik machen. Dort oben«, er deutete auf ein Instrument mit unzähligen Pfeifen, »dort oben sitzt ein Mann und musiziert.«
Empört schüttelte Eugène den Kopf: »Nein«, sagte er entschieden, »nein, das ist das Fenster. Es ist ganz einfach: Die hohen Töne kommen aus den hellen Farben und die tiefen aus den dunklen. Sehen Sie?« Er deutete hinauf.
Der Diener lächelte nur. Er schien der Ansicht zu sein, dass es wohl besser wäre, dem Kleinen seinen Glauben zu lassen.
In diesem Moment schwoll die Musik zu einem mächtigen Klang an. Das Fenster schien zu zittern, die Farbblitze zuckten immer schneller über den Boden. All das vermischte sich in Eugène zu einem einzigen großen Farb-Klang-Teppich. Und plötzlich war auch der Lärm der Eindrücke wieder da. Mit einem Mal war es ihm, als schrien ihm all die vielen Figuren und Statuen ihre Geschichten noch lauter entgegen, als stimmten sie in den vollen, satten Ton des Fensters mit ein. Das war zu viel! Viel zu viel!
Aufkeuchend presste er sich die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Tränen kullerten ihm unter den geschlossenen Lidern hervor über die Wangen.
Der Diener trug ihn hastig nach draußen.
Josie & Antoine
Paris, 15. April 2019
Josie legte den Kopf in den Nacken und blickte zum strahlend blauen Himmel empor, an dem nicht ein einziges Wölkchen zu sehen war. Die Blüten der Kastanien- und Kirschbäume bildeten wunderbare, hingehauchte Farbtupfer, als hätte sich hier einer jener großartigen Künstler verewigt, die Paris zu ihren berühmten Werken inspiriert hatte. Van Gogh zum Beispiel oder Monet.
Paris! Sie war endlich in Paris! Und gleich würde sie ihre Kathedrale wiedersehen: Notre Dame!
Ein wenig Sorge hatte sie gehabt, ausgerechnet jetzt in die französische Hauptstadt zu reisen – immerhin hatte das, was man in den Nachrichten über die Gelbwesten erfuhr, nicht sonderlich erfreulich geklungen. An zweiundzwanzig Samstagen hatte es in den französischen Städten – vor allem in Paris – Demonstrationen gegeben, die eine Spur der Zerstörung hinterließen.
Doch von alldem dem war an diesem wunderbaren Frühlingsnachmittag überhaupt nichts zu spüren. Im Gegenteil. Ein tiefer Friede lag über der Stadt. Friede in Kombination mit ganz viel Hoffnung und einer Art Aufbruchsstimmung, wie sie alljährlich wiederkehrt, wenn die Wintermonate strahlenden Sonnentagen weichen, wenn die Knospen der Bäume und Blumen aufspringen und die Welt in ein leuchtendes Farbenmeer verwandeln. Josie wusste auch, dass Präsident Emmanuel Macron sich am Abend in einer Fernsehansprache an die Nation wenden wollte, darin sollte es vor allem um die Gelbwesten und ihre Forderungen gehen. Sie hoffte, dass das eine Befriedung der Lage und keine erneute Eskalation zur Folge haben würde, hatte aber vorsorglich beschlossen, den Abend in ihrem Hotelzimmer zu verbringen. Nur noch ein kurzer Spaziergang zur Kathedrale – dann wollte sie für heute wieder in ihr Hotel zurückkehren.
Als Josie an einer Bäckerei vorbeikam, drang ihr ein köstlicher Duft nach frischem Gebäck in die Nase. Sie warf einen Blick in die Auslage und erspähte eine köstliche Apfeltarte. Das wäre jetzt genau das Richtige. Oder sollte sie lieber in das benachbarte Käsegeschäft gehen? Dazu Rotwein und ein Baguette? Beides könnte sie, überlegte Josie, am Abend auf ihrem kleinen Balkon einnehmen. Sie studierte die Auslagen. Der Walnuss-Brie lachte sie ganz besonders an. Ja, den würde sie sich gönnen. Kurz entschlossen betrat sie die Fromagerie und ließ sich eine Auswahl Käse einpacken, in der Boulangerie nebenan kaufte sie Baguette und zwei Stück Apfeltarte, später wollte sie noch einen Wein besorgen.
Als sie die Boulangerie wieder verließ, läuteten die Glocken von Notre Dame bereits zur Abendmesse. Dieser Klang war, wie Josie wusste, der Kopf, das Herz und das Mark von Paris. Gleich würden Hunderte Gläubige der Messe mit Reverend Jean-Pierre Caveau beiwohnen. Josie lächelte, packte ihre Einkaufstüte fester und eilte in Richtung Kathedrale.
Vielleicht, dachte sie, sollte sie genau das tun: die Abendmesse besuchen. Oder nein, das würde sie sich noch ein bisschen aufheben. Den großen Moment noch ein klein wenig hinauszögern. Der Apfelkuchen duftete verführerisch aus der Papiertüte. Kurz entschlossen setzte sie sich auf eine Parkbank, holte den Kuchen heraus, biss hinein und schloss genießerisch die Augen. Köstlich!
Nach Paris zu reisen, sich treiben zu lassen – wie lange hatte sie sich das gewünscht! Eigentlich, dachte sie, seit ihre Mutter mit ihr hier gewesen war. Zwanzig Jahre war das nun her und Josie hatte gerade ihre ersten Sommerferien verlebt. Sie erinnerte sich nicht mehr an viele Details jenes Sommers. Weder an das Hotel, in dem sie gewohnt, noch an die Süßwarenläden, die sie besucht hatten – obgleich das doch die Dinge waren, die sich einem Kind tief einprägen, wie der Geschmack eines Bonbons im Mund, das säuerlich-süß zerschmilzt. Doch von alldem wusste Josie nichts mehr. Als wäre es gestern gewesen, spürte sie aber noch das Gefühl in sich, das sie ergriffen hatte, als sie mit ihrer Mutter Notre Dame besuchte: Wie sie das riesige Schiff betraten und dann staunend in einer der Kirchenbänke saßen. Sprachlos hatte das Mädchen, das sie gewesen war, sich in der Kathedrale umgesehen, Figuren bestaunt, Bögen und Linien betrachtet – alles war so perfekt! Eine Orgel begann zu spielen, das farbige Licht flog durch die Fenster – und dann liefen ihr Tränen über die Wangen angesichts der Gewaltigkeit dieses Gotteshauses. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Menschen so etwas Wundervolles schaffen konnten. Wie betäubt war sie schließlich wieder aus der Kathedrale hinausgegangen – noch nicht ahnend, dass dieser Besuch ihr ganzes Leben prägen würde.
Josie war seither nie wieder in Paris gewesen – aber sie hatte, ganz im Bann ihrer Eindrücke, eine Ausbildung zur Steinbildhauerin und Restauratorin gemacht und anschließend Kunstgeschichte studiert. Derart Großartiges wie die Kathedrale von Notre Dame würde sie wohl nie schaffen können. Aber sie könnte es wenigstens versuchen, hatte sie damals gedacht.
Als Jugendliche hatte sie das Klettern für sich entdeckt. Das Gefühl, wenn sie in den Bergen war, sich an Felsen entlanghangelte und die Schönheit der Natur genoss, glich jenem, das sie bei ihrem Besuch in der Kathedrale gehabt hatte. Sie verspürte Andacht und Demut bei dem Gedanken, dass etwas derart Schönes und Vollkommenes wahr sein konnte. Diese besondere Schönheit zu suchen und zu finden, war ihr zur Lebensaufgabe geworden. In den Bergen war sie es selbst, der kleine Mensch inmitten dieser gewaltigen Natur, die direkte Auseinandersetzung mit den Elementen, das Gefühl, eins mit Berg und Fels zu werden. In der Steinbildhauerei war es die Kunst, diesen rauen Stein zu kultivieren, ihm eine Form abzuringen, etwas Besonderes und Großartiges zu schaffen. Es ging darum, sich mit dem Material zu verbinden und es zu lieben. Und als Josie ihren Meister gemacht hatte, hatte sich noch eine ganz andere Verbindung ergeben: Sie war Fassadenkletterin geworden und vermochte nun, Kunstwerke in luftigen Höhen zu restaurieren. Die ganze Zeit über hatte sie die nun schon seit 850 Jahren andauernde Geschichte von Notre Dame bis ins kleinste Detail studiert, sie regelrecht in sich aufgesogen. Tiefe Dankbarkeit hatte sie dabei stets gegenüber Maurice de Sully empfunden, jenem Bauernsohn, der seinerzeit Bischof in Paris gewesen war und im ausgehenden 12. Jahrhundert den Bau von Notre Dame vorangetrieben hatte. Das Herz hatte ihr geblutet, als sie während ihres Studiums erfuhr, wie barbarisch man, vor allem während der Französischen Revolution, mit manchen Werken umgegangen war – und dass es viel Mühe und Geduld erfordert hatte, um sie wieder zu restaurieren.
Und nun würde Josie zurückkehren. Endlich. Sie würde jeden Stein betrachten, jedem noch so kleinen Detail wollte sie Beachtung schenken. Genüsslich schob sie sich das letzte Stückchen Apfelkuchen in den Mund – und empfand eine gewisse Wehmut, weil der Kuchen nun aufgegessen war. Sollte sie sich noch ein Stück holen? Plötzlich störte etwas den herbsüßen Geschmack in ihrem Mund. Sie schnupperte. Es roch nach Rauch. Ob es irgendwo brannte? Josie verzog das Gesicht. Der Rauchgeruch wurde stärker, sie würde lieber auf das zweite Stück verzichten. Und das Wiedersehen mit Notre Dame hatte sie auch schon lange genug aufgeschoben. Jetzt war es so weit! Sie bog um die nächste Ecke, gleich würde sie Notre Dame wiedersehen.
Doch dann glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Das konnte nicht sein! Aus dem Dach der Kathedrale schlugen rote und orangefarbene Flammen! Erst jetzt bemerkte Josie, dass die Menschenmenge um sie herum unglaublich dicht geworden war. Außer sich vor Entsetzen, mit bleichen Gesichtern, über die die Tränen in Strömen liefen, starrten die Pariser hinauf – und konnten nicht glauben, was sie sahen. Notre Dame stand in Flammen! Ascheteilchen und feurige Flocken trieben durch die Luft.
***
Nervös sah Antoine Girard auf die Uhr, als er seine Wohnungstür aufschloss. Es war bereits nach halb sieben, um sieben war er mit seinem Freund Lucien im Boutary zum Abendessen verabredet. Große Lust hatte er auf dieses Essen nicht, wenn er ehrlich war. Lucien war ein überzeugter Streiter bei den Gelbwesten und kannte kein anderes Thema mehr. Wahrscheinlich würde er sich beim Abendessen über alles und jeden echauffieren. Auch über ihn, Antoine, wenn er denn zu spät käme. Lucien würde argwöhnen, dass Antoine sich für etwas Besseres hielt.
Eigentlich hätte er genügend Zeit gehabt, doch nachdem er an der Sorbonne seine Vorlesung über »Victor Hugo und seine Verbindung zu Notre Dame« beendet hatte, hielt eine junge Studentin ihn auf, weil sie mit ihm eine Art Grundsatzdiskussion führen wollte. Und sosehr der Kunsthistoriker und Literaturprofessor engagierte Studentinnen und Studenten auch mochte, besonders, wenn sie den Mut hatten, in neue Richtungen zu denken, etwas zu hinterfragen und zu diskutieren, so wenig passte es ihm heute. Vor allem, als er bemerkte, dass die junge Frau immer wieder versuchte, seinen Blick zu fesseln – und dass es ihr um etwas ganz anderes ging als um Victor Hugo.
Antoine hatte innerlich aufgeseufzt. Mit seinem fein geschnittenen, aber dennoch sehr markanten und männlichen Gesicht und dem dichten braunen Haar, das er immer ein wenig zu lang trug, war er ein äußerst attraktiver Mann. Schon häufig hatte er erlebt, dass sich die eine oder andere Studentin in ihn verliebte. Er aber hatte strikte Regeln: Studentinnen waren für ihn tabu. Und er hatte seit dem zwei Jahre zurückliegenden Drama mit Simone ohnehin keine Lust auf eine Beziehung.
Das Klingeln seines Mobiltelefons riss ihn aus seinen Gedanken. Wer um alles in der Welt wollte denn jetzt etwas von ihm? Unten auf der Straße erklangen Martinshörner. Antoine schenkte ihnen zunächst keine weitere Beachtung. Einsatzwagen, die mit Blaulicht durch die Stadt rasten, gehörten zum Pariser Alltag. Doch dann vervielfältigte sich der Klang, als seien mindestens hundert Wagen im Einsatz. Und sein Handy hörte nicht auf zu klingeln. Fluchend fischte er danach und erkannte erstaunt und erschrocken die Nummer der Denkmalschutzbeauftragten. Die rief nun wahrlich nicht alle Tage an. Er wollte den Anruf entgegennehmen, doch es war zu spät. Sie hatte bereits aufgelegt. Hastig entsperrte er sein Mobiltelefon – auf dem Bildschirm erschienen mehrere Nachrichten, alle hatten den gleichen Inhalt: Notre Dame brennt. Das konnte doch nicht sein! Und plötzlich nahm er es ganz deutlich wahr: Rauchgeruch lag in der Luft. Er stürzte ins Wohnzimmer, von wo aus er einen hervorragenden Blick auf die Kathedrale hatte – und keuchte entsetzt auf. Es stimmte. Notre Dame stand in Flammen! Ohne weiter nachzudenken, hechtete er zurück in den Flur, zerrte seine alte Feuerwehruniform aus dem Schrank, zog seine Stiefel an, setzte den Helm auf und raste nach unten. Schon lang war er nicht mehr bei der Feuerwehr – vierzehn Jahre, um genau zu sein –, aber das spielte jetzt keine Rolle. Jetzt gab es nur eines. Er musste die Madonna retten. Koste es, was es wolle.
Glücklicherweise wohnte er nur zwei Minuten von der Kathedrale entfernt, Sekunden später stürzte er über die Brücke und mit jedem Augenblick realisierte er es mehr: Es war kein böser Traum, kein übler Scherz. Notre Dame brannte. Dicht an dicht standen die Menschen und blickten in stummem Entsetzen hinauf in die Flammen. Entschuldigungen murmelnd bahnte Antoine sich seinen Weg durch die Menge, bis er die Polizeiabsperrung erreichte. Zu seiner unendlichen Erleichterung ließ der Polizist ihn mit einem Nicken passieren.
»Sind schon einige Ihrer Kollegen da«, murmelte er, »ich hoffe, dass Sie die Kunstwerke da rausbekommen. Und die Dornenkrone. Retten Sie bloß die Dornenkrone!«
Mit einem gemurmelten »Merci Monsieur« eilte Antoine auf die Kathedrale zu. Aus den Augenwinkeln sah er etliche Feuerwehrleute, die bereits im Begriff waren zu löschen und ihm zum Glück keine weitere Beachtung schenkten: Antoine hatte kein großes Interesse daran, irgendjemandem zu begegnen. Schließlich war er nicht mehr im Dienst und dürfte eigentlich gar nicht hier sein! Es gelang ihm, mehr oder weniger ungesehen in die Kathedrale zu gelangen. Angst verspürte er nicht, auch wenn ihm völlig klar war, dass er im Begriff war, sein Leben zu riskieren. Aber er hatte keine Wahl. Natürlich hatte er keine Wahl. Er dachte an Victor Hugo und zitierte im Stillen: »Die Architektur ist das große Buch der Menschheit, der hauptsächliche Ausdruck des Menschen von verschiedenen Entwicklungsständen, entweder als Kraft oder als Intelligenz.«
Seine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft, als er das Innere der Kathedrale betrat, zugleich fühlte er sich wie in Trance. Er beobachtete, dass einer der Feuerwehrleute durch das Löschwasser zu dem Holzschrank stapfte, in dem sich, wie Antoine wusste, ein kostbarer Kelch befand. Er selbst steuerte auf eine Vitrine zu, hinter der sich die Maria Immaculata befand. Er musste sie retten. Es gab gar keine Alternative. Er hatte das Gefühl, auch sein eigenes Leben hinge an der Maria mit der Mondsichel – und so war es ja in gewisser Weise auch.
Er setzte ein Stemmeisen an der Vitrinentür an und versuchte, sie aufzubekommen. Vergeblich. Seine Fähigkeiten hatten noch nie auf dem grob Technischen gelegen.
Die Tür bewegte sich keinen Millimeter, und die Zeit lief ihm davon. Antoine wurde bewusst, dass er völlig unnötigerweise Vorsicht walten ließ. Die Vitrine würde er ohnehin nicht retten können, und sie war auch völlig unwichtig. Er musste sich auf die Madonna konzentrieren.
Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Feuerwehrmann, der neben ihm arbeitete, den Hammer hob, ihn mit voller Wucht gegen die Scheibe sausen ließ und die Reliquie, die dahinterlag, sorgsam heraushob.
Kurz entschlossen tat Antoine es ihm gleich. Das Sicherheitsglas begann zu bröseln. In diesem Moment hätte der Alarm einsetzen müssen, aber es blieb still. Der Rauch brannte in seinen Augen, doch Antoine bemerkte es gar nicht. Die glühenden Ascheteilchen und Fragmente hingegen, die ununterbrochen durch die Kathedrale wehten, wirkten äußerst bedrohlich. Am heftigsten waren die kleinen heißen Kugeln aus geschmolzenem Blei. Es wurde immer schlimmer. Und genau in dem Moment, in dem er das Gefühl hatte, es nicht mehr aushalten zu können, gelang es ihm endlich, die Maria aus der Vitrine zu bergen, und er eilte mit ihr nach draußen.
***
Josie wusste gar nicht, wohin sie schauen sollte: Auf einmal war alles voller Feuerwehrleuten mit riesigen Wasserschläuchen im Schlepptau. Die Menschen um sie herum waren wie versteinert und starrten ungläubig auf das Geschehen. Notre Dame – nicht weniger als die Seele von Paris – war in größter Gefahr.
Voller Panik bahnte Josie sich ihren Weg durch die Menschenmenge. Sie musste näher heran, zur brennenden Notre Dame! Irgendwann war sie auf dem Vorplatz angekommen, wo alle in stummem Entsetzen nach oben starrten. Nur das Geräusch knisternder Holzbalken war zu hören. Ansonsten herrschte Grabesstille. Doch dann, es war gegen 19.45 Uhr, begann der Spitzturm, sich zu neigen. Ein gellender Schrei aus Tausenden Kehlen drang in den Pariser Nachthimmel und durchbrach die Stille. »Nein!«, schrien die Menschen fassungslos. »Der Spitzturm! Nein!«
Im nächsten Moment beobachtete Josie entsetzt, wie der obere Teil des Turmhelms, der auf dem 750 Tonnen schweren Vierungsturm saß, in sich zusammensank und auf das steinerne Gewölbe des Schiffs krachte.
189 Jahre zuvor
Eugène Viollet-le-Duc
Paris, Notre Dame, Februar 1830
Hier!« Eugènes Hände schossen gen Himmel und skizzierten mit raschen Bewegungen ein hohes, schmales Gebäude, »hier stand einmal ein Turm. Ein Vierungsturm. Er wurde, wie ich vermute, zwischen 1220 und 1230 gebaut, stürzte Mitte des letzten Jahrhunderts ein, weil er dem Winddruck auf Dauer nicht standhielt, und wurde dreißig Jahre später, zwischen 1786 und 1792, vollständig abgetragen.«
Er wandte den Blick wieder vom Himmel ab und sah den Mann neben sich an. Es war der Diener Bernard, auf dessen Arm er zehn Jahre zuvor die Kathedrale, vor der sie nun standen, zum ersten Mal besucht hatte. Damals war der kleine Eugène von den bunten Lichtern, die durchs Fenster fielen, wie verzaubert gewesen. Vielleicht, dachte Eugène, war er in jenem Moment ja wirklich in eine Art Bann geraten, der ihn nun auf immer mit Notre Dame verband?
»An den Turm erinnere ich mich sogar noch, oder besser: an seine Reste. Ich dachte nur immer, die Revolutionäre seien es gewesen, die ihn entfernten, kurz nachdem sie die steinernen Könige geköpft hatten«, sagte der Diener.
»Ja und nein«, erwiderte Eugène. »Er war vorher schon sehr baufällig und halb in sich zusammengestürzt. Wenn ich nur wüsste, wo die Könige sind. Ich würde sie so gern zurückbringen«, fügte er seufzend hinzu.
»Es ist wirklich faszinierend, wie viel Sie über die Kathedrale wissen, Monsieur.«
Eugène nickte eifrig. »Alles über sie zu wissen, genügt mir nicht. Ich muss etwas tun, um sie zu retten …« Er sah Bernard mit glühenden Augen an: »Sie verfällt immer mehr – wenn das so weitergeht, wird irgendwann nicht nur der Turm eingestürzt sein.«
»Monsieur, wenn Sie erlauben, ich habe noch nie einen derart zielstrebigen Menschen kennengelernt wie Sie. Wenn Sie es sich zum Ziel machen, diese Kathedrale zu retten, dann wird Ihnen das auch gelingen.«
»Danke! Sie halten mich also nicht für einen Phantasten?«
»Ganz und gar nicht, Monsieur!«
Ermutigt von dem Zuspruch seines alten Wegbegleiters stellte Eugène seine nächste Frage ganz leise: »Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich diesen Turm wiederaufbauen will?«
Für einen Moment zuckte so etwas wie Überraschung über das Gesicht des Mannes, doch im nächsten Augenblick war dieser Ausdruck wieder verschwunden. »Auch dann nicht, Monsieur.«
Eugène nickte. »Wissen Sie, seit jenem ergreifenden Moment mit Ihnen in der Kathedrale bin ich überzeugt davon, dass Notre Dame und ich … eine ganz besondere Verbindung haben. Ich will so gerne wiedergutmachen, was man ihr in den vergangenen 300 Jahren angetan hat.«
»Dass man sie verfallen ließ?«, vergewisserte sich Bernard.
»Ja, und dass man sie so … stümperhaft restaurierte. Sie kennen doch die Stellen, an denen man sie einfach weiß angestrichen hat?«
Bernard nickte.
»Daran ist nicht zuletzt Napoleon schuld!«, rief Eugène.
»Napoleon, Monsieur?«, hakte der Diener verwundert nach.
»Oui!« Eugène warf in einer verzweifelten Geste die Hände in die Luft. »Weil er sich doch in der Kathedrale gekrönt hat. Seine Architekten fanden das Innere der Kathedrale zu dunkel und haben die Wände und das Deckengemälde deshalb noch mal weiß getüncht. Das war schon vorher zweimal passiert. Und danach auch nochmals. Und das Problem ist …«, echauffierte sich Eugène, »das Problem ist, dass die Wandmalereien durch diese Kalkschichten zerstört werden. Ich bin sicher, dass es dort Wandmalereien gab. Ich glaube an die Magie der Farben – seit meinem Erlebnis mit der Südrosette.«
»Es ist wirklich beachtlich, über welch reichhaltiges Wissen Sie mit Ihren sechzehn Jahren bereits verfügen«, wiederholte der Diener, »ein breites Fundament, auf dem Sie aufbauen können, um Ihr Ziel zu erreichen.«
»Ja«, bestätigte Eugène leise, »ja, ich habe ein großes Ziel. Aber ich weiß auch, dass ich mich sehr, sehr, sehr umfassend vorbereiten muss, um dieses Ziel zu erreichen.«
»Werden Sie eine der Kunstakademien besuchen, Monsieur? Die École des Beaux-Arts oder die Académie de France à Rome?«
Eugène schüttelte den Kopf. Für ihn war klar: Zwischen Bauwerk und Architekt gab es ein direktes, unmittelbares Band – der Besuch von Kunstakademien würde dieses Band schwächen. Er musste sich Wissen aneignen, musste lernen, aber er durfte nicht zulassen, dass ihm irgendjemand seine Meinung überstülpte, dass sich irgendjemand zwischen ihn und seinen inneren Architekten drängte, das Band zwischen ihm und der Kathedrale zerschnitt.
Das, worum es ihm eigentlich ging, wofür sein Herz schlug, darüber wurde, so hatte er das Gefühl, an den Kunstakademien ohnehin die Nase gerümpft: Das Mittelalter, jene Zeit, die für Eugène eine Offenbarung war, wurde abfällig als »bizarrerie« bezeichnet, als eine Zeit voller dunkler Räume und seltsamer Wesen. Er jedoch wusste, dass das Gegenteil der Fall war: Er erkannte Klarheit, Struktur und Rationalität. Auch in Notre Dame.
Daher schüttelte er den Kopf. »Nein, es muss anders gehen. Ich werde einen Weg finden, mir alle Fertigkeiten anzueignen, die ich benötige, um meine Lebensaufgabe zu erfüllen. Dann werde ich diesen Turm bauen. Einen Turm, dem auch der stärkste Wind nichts anhaben kann. Wenn ich einen Turm baue, wird dieser niemals einstürzen.«
189 Jahre später
Josie & Antoine
Paris, Notre Dame, 15. April 2019
Kaum hatte Antoine die Kathedrale verlassen, geschah das Unglaubliche: Die Spitze des Vierungsturms knickte ab und durchschlug das Joch des Langschiffs. Es war kurz vor acht. Gleich darauf fiel auch der untere Teil des Turms in sich zusammen. Antoine sank, die Statue in den Armen, entsetzt auf dem Vorplatz in die Knie.
»Gerade noch mal gut gegangen«, ächzte der Feuerwehrmann, der mit ihm in der Kathedrale gewesen war. »Ich bin übrigens Pierre.«
»Antoine.« Er rappelte sich wieder hoch.
»Kaplan Jean-Marc Fournier ist noch drin«, sagte der andere. »Sie versuchen, den Safe aufzubekommen und die Dornenkrone herauszuholen.«
»Hoffentlich schaffen sie es rechtzeitig wieder raus«, murmelte Antoine.
Er wusste, dass die Dornenkrone ursprünglich gar nicht in Notre Dame, sondern in der Sainte-Chapelle gelegen hatte – zumindest war sie dorthin nach der Fertigstellung der Sainte-Chapelle im Jahr 1248 umgezogen. Hier war sie schon einmal in Gefahr geraten, als Revolutionäre Teile des Kirchenschatzes eingeschmolzen hatten, um den Krieg zu finanzieren. Die Dornenkrone war zum Glück verschont geblieben, und nach der Revolution hatte Napoleon dann dafür gesorgt, dass sie wieder an Notre Dame übergeben wurde. Hätte er sie doch in der Sainte-Chapelle gelassen, dachte Antoine voller Angst. Und natürlich machte er sich auch um Fournier Sorgen. »Das ist ja viel näher am Brand, als wir es …« Er hatte seine Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als Jean-Marc Fournier die Kathedrale verließ. Er war vollkommen erschöpft, aber in seinen Armen lag die Dornenkrone, die Jesus der christlichen Überlieferung zufolge bei seiner Kreuzigung getragen hatte.
Langsam ging er mit der geborgenen Reliquie auf den Lastwagen zu, der bereitstand, um die geretteten Schätze ins Rathaus zu bringen.
»Gott sei Dank!« Antoine schluchzte auf.
»Wir sollten unsere Kunstgegenstände auch dort in Sicherheit bringen«, sagte Pierre. »Die Bürgermeisterin hat angeordnet, dass sie erst mal ins Rathaus gebracht werden.«
Antoine nickte und folgte seinem Kollegen. Als sie am Lastwagen angekommen waren, wickelte Antoine die Statue ganz vorsichtig in ein bereitliegendes Schutztuch ein. Dann informierte sie ein Feuerwehrmann: »Wir gehen jetzt geordnet rein, um die weiteren Kunstgegenstände zu retten. Wir bilden eine Menschenkette.«
Während Pierre nickte, gestand Antoine: »Ich bin eigentlich gar nicht mehr im Dienst. Aber ich helfe gerne mit.«
»Auf keinen Fall«, blaffte der Mann ihn an.
»In Ordnung.« Antoine wusste, dass er sich nicht regelkonform verhalten hatte – aber was machte das schon! Immerhin hatte er sie gerettet! Seine Maria. Und für ihn war sie um einiges wichtiger als die Dornenkrone. Er fühlte unendliche Erleichterung, doch im nächsten Moment war die Sorge wieder da. Auf dem großen Bildschirm, der inzwischen aufgebaut worden war, wurden die Bilder der Drohnen übertragen, die Notre Dame in diesem Moment überflogen. Wie ein riesiges flammendes Kreuz lag die Kathedrale in der Dunkelheit.
»Das ist eine Katastrophe!«, stöhnte Antoine auf, als er sah, welches Ausmaß die Flammen angenommen hatten.
Ein Satz des Dichters Gérard de Nerval kam ihm in den Sinn: »Notre-Dame ist alt und gut: Vielleicht werden wir sogar erleben, wie sie Paris begräbt, dessen Geburt sie miterlebt hat.«
Bitte nicht, dachte Antoine verzweifelt. Bitte nicht.
Neben ihm sank der Domdekan ohnmächtig zusammen. In letzter Sekunde fing die Bürgermeisterin ihn auf.
***
»Der Präsident und seine Frau sind eingetroffen«, erfuhr Josie gegen halb neun von den Umstehenden.
Die Fernsehansprache, dachte sie, eigentlich sollte Macron doch jetzt eine Fernsehansprache zu den Gelbwesten halten. Sie wollte sicher in ihrem Hotelzimmer sitzen und das Baguette essen und den Käse, den sie vorhin gekauft hatte. Und Rotwein trinken. Stattdessen hatte sie nun zugesehen, wie der Spitzturm von Notre Dame einstürzte. Wie absurd das alles war!
***
»Feuer im Nordturm!«, hörte Antoine aus der Einsatzzentrale. »Mon Dieu!«, erschrocken starrte er am Nordturm empor. Dort hingen acht Glocken an schweren Holzbalken aus dem Mittelalter. Die Glocken namens Gabriel, Anne-Geneviève, Denis, Marcel, Étienne, Benoit-Joseph, Maurice und Jean-Marie wogen zusammen 16,6 Tonnen. Wenn die Balken, an denen sie befestigt waren, Feuer fingen und die Glocken herunterkrachten, stürzte womöglich nach dem Spitzturm auch noch der Nordturm ein. Und wenn der Südturm, in dem zwei weitere Glocken hingen – Emmanuel, 13,2 Tonnen schwer, und Marie, sechs Tonnen schwer –, ebenfalls Feuer fing und einstürzte, könnte möglicherweise das ganze Bauwerk in Trümmer gelegt werden.
Antoine warf einen Blick auf den Chef der Pariser Feuerwehr, den 54-jährigen General Gallet, der sich mit seinen Männern beriet und dann das Krisenzentrum betrat. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte er. »Die Lage ist so angespannt und ernst, dass wir keine andere Wahl haben, als fünfzig Personen des Sondereinsatzkommandos GRIMP auf die Türme zu bringen, damit sie das Feuer von dort aus bekämpfen können.« Er holte tief Luft, dann stieß er hervor: »Wenn wir wollen, dass die Türme morgen noch stehen, ist dies unsere einzige Chance. Wir sind uns des hohen Risikos bewusst und bereit, es einzugehen.«
Antoine beobachtete, dass sich Präsident Macron erhob und mit seiner Frau Brigitte auf Monsieur Gallet zusteuerte. »Danke, General«, sagte der Präsident und legte ihm ermutigend eine Hand auf den Arm. »Tun Sie, was getan werden muss.«
Gallet und seine GRIMP-Truppe verloren keine Zeit mehr und rannten zur Kathedrale, um dort die Wendeltreppe hinauf zu der Balustrade zu eilen, die zwischen den beiden Türmen verlief. Sie hatten Steigeisen bei sich, für den Fall, dass der Weg über die Treppen später nicht mehr passierbar sein würde und sie sich über die Fassade in Sicherheit bringen mussten.
Auf dem Weg in den Einsatz zogen sie mit konzentrierten Mienen an ihm vorbei, in manchen Gesichtern meinte Antoine auch Angst zu lesen. Die Feuerwehrleute blickten nicht nach rechts und nicht nach links. Trotzdem, dachte Antoine, wollte er ihnen noch seinen Segen mit auf den Weg geben.
»Viel Glück!«, stieß er hervor, als der Letzte in der Reihe an ihm vorbeiging. Es war eine Frau, erkannte Antoine, wie jung sie war. Eigentlich noch ein Kind. In ihren Augen lag eiserne Entschlossenheit. Und namenlose Angst. Er schluckte. Er wusste, was sie in diesem Moment alle wussten, wie sie hier auf dem Platz standen: Ob die Feuerwehrleute lebend wieder herauskommen würden, war vollkommen unklar.
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Die Menschenmenge um Josie herum stöhnte kollektiv auf, als sie die Feuerwehrleute hoch oben auf dem Dach entdeckte. »Mon Dieu!«, flüsterte eine Frau weinend. »Das werden die doch niemals überleben.« Auch Josie blickte voller Angst hinauf. Die Flammen, die inzwischen vom Nordturm in den dunklen Nachthimmel emporzüngelten, waren sicherlich zehn Meter hoch! Inmitten dieses Infernos kämpften die Feuerwehrleute um die Rettung der Kathedrale. Sie riskieren ihr Leben, dachte Josie, und empfand tiefe Dankbarkeit und Demut. Auch sie hätte alles gegeben, um die Seele Frankreichs zu retten!
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»Was ist das für ein Geräusch?« Stirnrunzelnd sah Antoine nach oben.
»Was meinst du?«, fragte sein Kollege Clemens Petit, der ebenfalls Kunsthistoriker war und, ebenso wie etliche weitere seines Fachs, herbeigeeilt war, um beim Verpacken der Kunstwerke zu helfen, die die Feuerwehrleute geborgen hatten. Auch die Denkmalschutzbeauftragte Marie-Helene Didier war inzwischen eingetroffen und hatte voller Andacht das Hemd des von den Katholiken als heilig verehrten Königs Ludwig IX. aus den Händen eines Feuerwehrmanns entgegengenommen.
»Das Knacken?«, fragte Clemens nun. »Das sind die brennenden Holzbalken.«
»Nein«, erwiderte Antoine, »hör doch mal genau hin.«
Clemens lauschte. »Ich höre ein Wimmern«, sagte er dann. »Aus dem Südturm. Als ob … als ob Notre Dame weint.«
»Genau!«, rief Antoine ergriffen. »Aber das kann doch nicht sein! Wenn du es nicht auch hören würdest, würde ich an meinem Verstand zweifeln.«
»Das ist bestimmt Emmanuel, der durch die Auswirkungen des Brandes leicht zu schwingen begonnen hat«, fand Clemens eine logische Erklärung.
Antoine nickte. Ja, das würde es sein. Emmanuel, eine der größten Glocken der Welt, hatte dort oben ein Klagelied angestimmt. Hoffentlich, schoss es Antoine durch den Kopf, ist es kein Totenlied.
Er schauderte. Dann sah er zu Präsident Macron hinüber, der in stummer Verzweiflung ebenfalls zum Südturm hinaufblickte, dem Zuhause der Glocke, die seinen Namen trug. Ob sie aufgrund der Namensgleichheit für den Präsidenten von besonderer Bedeutung war?
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Auf einem in der Mitte der Menge aufgebauten Bildschirm, auf dem Fernsehsender ununterbrochen die Nachrichten übertrugen, tauchte um 21.35 Uhr General Gallet auf: »Wir wissen nicht, ob es uns gelingen wird, den Nordturm zu ret… das Feuer zu stoppen. Jeder von Ihnen kann sich bestimmt ausmalen, was passiert, wenn er zusammenstürzt.«
Kollektives Aufstöhnen um Josie herum war die Antwort, während die Journalisten auf dem Bildschirm eine wahre Flut von Fragen auf den General einprasseln ließen, die dieser jedoch ignorierte und sich stattdessen wieder seinen Leuten zuwandte. Er hatte Dringenderes zu tun, als Journalisten zu antworten.
Josie bemerkte, dass mehrere Menschen neben ihr auf die Knie fielen, die Hände zum Gebet erhoben. Junge, Alte, Männer, Frauen, Kinder, Arme und Reiche – alle knieten sie hier auf dem Pariser Boden und beteten für Notre Dame.
Josie schluckte. Sie blickte wieder zur Fassade empor. Auch die Südrosette konnte sie von hier aus sehen. Stürzte die Kathedrale in sich zusammen, würde sie auch diese wundervolle Glaskunst mit sich reißen und in tausend Scherben legen. Sie hoffte, dass die Feuerwehrleute die Scheiben aus dem 13. Jahrhundert nicht zuvor schon durch das Löschwasser vollständig zerstörten. Immerhin war auf den Schläuchen eine Menge Druck!
Und dann begannen von überallher die Glocken zu läuten. Da sank auch Josie auf die Knie.
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»Die Glocken läuten für ihre bedrohten Brüder und Schwestern«, flüsterte Antoine, als auf einen Schlag alle Kirchenglocken von Paris erklangen – als würden sie ein hoffnungsvolles Lied anstimmen. Er musste angesichts der Kraft dieses Moments und dieses Klangs gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.
Clemens an seiner Seite nickte und hielt Antoine sein Smartphone vor die Nase. Der las einen Tweet von Erzbischof Aupetit. »An alle Priester von Paris: Die Feuerwehrleute kämpfen in diesem Moment darum, die Türme von Notre Dame zu retten. Das Gebälk, das Dach und der Spitzturm wurden bereits zerstört. Lasst uns beten. Lasst eure Glocken läuten und die Botschaft verbreiten.«
»Sie haben seinem Aufruf sofort Folge geleistet«, sagte Antoine beeindruckt. Er konzentrierte sich und hörte genau hin. »Und ich glaube, dass Emmanuel wieder antwortet, wenn auch nur ganz schwach und leise.«
»Hören können wir es wohl nicht, dazu ist der Klang der anderen Glocken zu laut«, erwiderte Clemens, »aber ich glaube, dass du recht hast.«
»Ich habe schon immer eine tiefe Demut und Ehrfurcht vor Notre Dame verspürt«, murmelte Antoine. »Aber nun, wo ich Emmanuel läuten hörte, ist sie für mich irgendwie … lebendig geworden.«
»Ja, ja, das geht mir auch so.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, sank Antoine vor dem brennenden Gotteshaus auf die Knie, um für dieses wunderbare steinerne Wesen zu beten.
Antoine hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er hätte nicht sagen können, wie viele Stunden vergangen waren, bevor um 23 Uhr die erlösende Nachricht kam: Der Nordturm war gerettet und das Feuer unter Kontrolle. Antoine sprang auf und fiel seinem Freund um den Hals. Präsident Macron sprach den Feuerwehrleuten sein großes Lob aus und machte sich bereit, vor die Kameras zu treten.
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Josie starrte auf den Präsidenten, der soeben auf dem Bildschirm erschienen war. Ernst blickte Emmanuel Macron in die Kameras, dann sagte er: »Was heute Abend geschehen ist, ist eine schreckliche Tragödie, und ich würde gern als Erstes den 500 Feuerwehrleuten meinen Respekt aussprechen, die unglaublich mutig und professionell gegen das Feuer gekämpft haben und noch immer kämpfen und deren Kommandant eine große Entschlusskraft an den Tag gelegt hat.«
Die Menge um Josie herum begann zustimmend zu murmeln, während der Präsident auf dem Bildschirm fortfuhr: »Ich möchte ihnen den Dank der ganzen Nation übermitteln. Auch wenn der Kampf noch nicht vorbei ist, konnte das Schlimmste verhindert werden. Schwere Stunden liegen noch vor uns, aber dank ihres Mutes konnten die Fassade und die beiden Türme vor dem Einsturz bewahrt werden.«
Einige junge Männer begannen zu applaudieren, wurden aber von der umstehenden Menge mit lautem »Psssst« zum Schweigen gebracht. Man wollte hören, was der Präsident zu sagen hatte.
»Ich denke an all die Pariser und an all unsere Landsleute, denn Notre Dame ist unsere Geschichte, unsere Literatur, unsere kollektive Vorstellungskraft, der Ort, wo wir unsere bedeutendsten Momente erlebt haben, unsere Kriege und Befreiungen«, fuhr Emmanuel Macron fort. »Notre Dame ist das Epizentrum unserer Existenz, der Fundamentalpunkt Frankreichs, sie ist die Heldin so vieler Bücher, so vieler Bilder, die Kathedrale aller Franzosen, selbst jener, die noch nie einen Fuß in sie gesetzt haben. Ihre Geschichte ist unsere Geschichte, und jetzt brennt sie. Ich spüre die gleiche Traurigkeit wie Sie, diesen inneren Schauder, der alle ergriffen hat, aber ich möchte auch, dass wir Hoffnung haben.«
Josie sah den französischen Präsidenten auf dem Bildschirm lächeln, dann fuhr er fort: »Und in der Tat macht es uns nicht nur stolz, sondern auch hoffnungsvoll, wenn wir all diese Menschen sehen, die tapfer kämpfen, um das Schlimmste zu verhindern, und wissen, dass wir vor 850 Jahren diese Kathedrale erbaut haben.«
Macron holte einmal tief Luft, um die folgenden Worte zu betonen: »Und jetzt verspreche ich Ihnen feierlich, dass wir sie wiederaufbauen werden, alle zusammen. Das ist unser Schicksal. In wenigen Stunden werden wir einen Fonds anlegen und die besten Talente bitten, uns beim Wiederaufbau zu helfen, denn das werden wir, wir werden Notre Dame noch schöner wiederaufbauen. Das erwarten die Franzosen, das sind wir unserer Geschichte schuldig, denn das ist unser Schicksal.«
194 Jahre zuvor
Marie & Victor
Paris, Notre Dame, Frühjahr 1825
Er konnte sich dem Bann einfach nicht entziehen: Wieder und wieder zog es ihn zu diesem einzigartigen, magischen Ort. Und jedes Mal, wenn er die Kathedrale auf der Île de la Cité, diesen dicht mit Fachwerkhäuschen bebauten Ort, betrat, schlug sein Herz ein wenig schneller. Er hatte dann das Gefühl, seine Sinne seien noch ein wenig schärfer als sonst, sein Körper aufs Höchste angespannt und sein Blick besonders wach, wenn er in diese so besondere Welt eintauchte. Wie oft war er schon hier gewesen! Er kannte jeden Stein in diesem wunderbaren Gotteshaus, und doch war er von seinem Ziel, dieses Bauwerk in seiner ganzen Großartigkeit und Komplexität vollständig zu begreifen, noch weit entfernt. Deshalb musste er wiederkommen, immer und immer wieder, bis er auch das letzte Detail vollkommen in sich aufgenommen hatte. Und dann erst würde die eigentliche Arbeit beginnen: Dann wäre er in der Lage, in Worte zu fassen, was er hier sah und fühlte – und was diese Kathedrale so einzigartig machte.
Langsam stieg Victor Hugo zu einem der Türme hinauf. Unablässig suchten seine Augen auf den Wänden nach Spuren aus der Vergangenheit, Dinge, die ihm die Kathedrale näherbringen und ihm dabei helfen konnten, ihre Geschichte und, ja, nicht weniger als ihr Herz und ihre Seele zu entschlüsseln. Und plötzlich stockte ihm der Atem. ANÁIKH stand hier in dicken Buchstaben in die Mauer eingegraben. Victor sank vor der Inschrift auf die Knie und tastete mit der Hand über die großen, griechischen Lettern, die das Alter schwarz verfärbt hatte.
»Das muss aus dem Mittelalter stammen«, murmelte er, »die Züge erinnern an die gotische Schreibkunst.«
ANÁIKH, das bedeutete so viel wie Schicksal oder Vermächtnis. »Welche Geschichte verbirgst du? Welche Hand hat dich eingemeißelt?«, flüsterte Victor. Eine bedrängte Seele musste es gewesen sein, die noch ein letztes verzweifeltes Zeichen setzen wollte, ehe sie die Welt verließ! Ob sie sich wohl hinabgestürzt hatte von diesem Turm, voller Verzweiflung? Rasch sprang Victor auf und sah nach unten. Und plötzlich wusste er, in welcher Zeit der Roman spielen sollte, den er irgendwann einmal, wenn er dessen würdig war, über dieses Bauwerk schreiben wollte. Das Mittelalter musste es sein. Jene Zeit, in der ein verzweifeltes Wesen jenes letzte Zeichen hinterlassen hatte. Er spürte, wie helle Freude durch seine Glieder flutete. Ja, das war groß, das war ganz, ganz groß. Er war auf dem richtigen Weg. Das Mittelalter würde im Mittelpunkt seines Buches über Notre Dame stehen. Und das Wort, das er gerade entdeckt hatte. ANÁIKH. Schicksal.
***
Voller Tatkraft verließ Victor Hugo die Kathedrale eine halbe Stunde später. Er wusste nicht viel über das Mittelalter. Aber er war wild entschlossen, das zu ändern – er wollte die hiesigen Buchhandlungen und Antiquariate durchkämmen und alles lesen, was die Gelehrten je zu dieser Zeit geschrieben hatten. Er musste sich vorbereiten, akribisch vorbereiten, und er musste sich Zeit lassen, um würdig zu werden, über die Kathedrale zu schreiben.
Er war gerade ein paar Schritte gegangen, als er mit einer etwa 30-jährigen Frau zusammenstieß.
»Marie«, erkannte er erstaunt die Tochter seiner guten Freundin Lucile Desmoulins. »Was machen Sie denn hier?«
»Einige Besorgungen für Maman«, erwiderte Marie. »Und was Sie hierhertreibt, muss ich ja wohl nicht fragen.« Victor Hugos Leidenschaft für die Kathedrale war kein Geheimnis.
Er lachte. »Erlauben Sie, dass ich Sie ein Stück begleite? Ich möchte auch noch einige Besorgungen machen.«
»Gern«, stimmte Marie zu. Als sie die Seine überquerten, fragte sie:
»Was ist es eigentlich, das Sie an Notre Dame derart fasziniert?«
»Das lässt sich nicht so einfach beantworten, dazu ist es zu vielschichtig«, erwiderte Victor, der spontan beschloss, Marie noch nichts von seinem Erlebnis im Turm zu erzählen. Und auch sonst niemandem. Da wollte er es wie Adèle halten, seine Frau, wenn diese ein Kind unter dem Herzen trug. »Es soll noch keiner wissen, Victor«, pflegte sie in den ersten drei Monaten stets zu sagen. »Es ist noch so zart und zerbrechlich. Wir müssen ihm den Schutz des Schweigens geben.«
Marie sah ihn fragend an und Victor entschied sich zu einer allgemeineren Antwort.
»Ein wichtiger Teil ist sicher, dass die Architektur, die sich hier auf derart großartige Weise offenbart, von Anbeginn das Buch der Menschheit war, bis sie im 15. Jahrhundert von der Druckerkunst abgelöst wurde.«
Mit großen Augen sah Marie den Schriftsteller an. »Das klingt faszinierend. Könnten Sie das näher erläutern?«
Victor nickte. »Die Architektur fing wie jede Schreibkunst an: Sie war zuerst Alphabet.«
»Ich verstehe nicht.«
»Nun, ein Stein, den irgendjemand aufrecht hinstellt, ist ein Buchstabe. Jeder Buchstabe ist eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruht eine Gedankengruppe, wie das Kapitell auf der Säule. Auf diese Weise schufen die ersten Völker überall auf der ganzen Erde Botschaften. Später bildeten sie Worte, indem sie Stein auf Stein stellten. Der keltische Dolmen oder der etruskische Tumulus zum Beispiel sind Worte. Zeitweilig sogar, wenn viel Steine und eine weite Landstrecke vorhanden waren, schrieb man einen Satz. Die ungeheure Steinmasse von Karnak ist schon eine ganz vollkommene Formel.«
»Das ist wirklich faszinierend«, sagte Marie, die nun begriffen hatte. »Und was ist diese Kathedrale dann?«
»Ein Gebet«, flüsterte Victor Hugo. »Diese Kathedrale ist ein Gebet. Eines Tages will ich über sie schreiben. Aber erst, wenn ich es vermag, Worte hervorzubringen, die ihrer würdig sind. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.«
194 Jahre später
Josie & Antoine
Paris, Notre Dame, 15. April 2019
Warum hat es so lange gedauert, bis die Feuerwehr kam?«, fragte Antoine den neben ihm stehenden und erschöpft wirkenden Sicherheitsmann. Sie standen in der Polizeipräfektur, die sich auf dem Vorplatz der Kathedrale befand. Hier hatte man im Erdgeschoss eine Art Krisen- und Informationszentrum eingerichtet. Es herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen von Feuerwehrleuten, außerdem war inzwischen fast die ganze Regierung eingetroffen. Der Premierminister war da, der Kultusminister, der Präsident der Nationalversammlung, der Generalstaatsanwalt. Außerdem natürlich nach wie vor Bürgermeisterin Anne Hidalgo sowie der kreidebleiche Erzbischof von Paris, Monsignore Michel Aupetit, offenbar im Gebet versunken, und an seiner Seite der nicht minder bleiche Generalvikar Benoist de Sintey. Auch der Domdekan von Notre Dame, Patrick Chauvet, hatte sich eingefunden. Und dann und wann eilte General Gallet zu ihnen, um über den Fortschritt der Löscharbeiten zu informieren.
Der Sicherheitsmann an Antoines Seite fuhr sich verzweifelt durchs Haar. »Das war meine Schuld!«, rief er. »Es gab schon um 18.18 Uhr einen ersten Feueralarm, aber in der Zone Schiff, Sakristei. Ich habe mich natürlich sofort überzeugt, ob es brennt, aber als ich dann feststellte, dass es eben nicht brennt, hielt ich es für einen Fehlalarm. Zumal es in der letzten Zeit, seit die Restaurierungsarbeiten am Vierungsturm begonnen haben, häufig Fehlalarme gab.«
»Sie konnten nichts dafür.« Der müde aussehende Kommandant war an seine Seite geeilt und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Keiner hat Ihnen gesagt, dass das Feuerwarnsystem nicht ganz präzise ist. Woher hätten Sie wissen sollen, dass es statt in der Sakristei im Hauptdachstuhl brennt?«
»Ich mache mir aber dennoch Vorwürfe«, ließ sich der Sicherheitsmann nicht so leicht trösten. »Die Verantwortung lag bei mir. Jedenfalls, als die Sirene dann um 18.43 Uhr erneut ertönte, rannte ich die 300 Stufen hinauf zum Wald.«