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Wie können wir Zufriedenheit und Glück im Leben erlangen? Inneres Wachstum und wirkliche Veränderung erfordern den Zugang zu tieferen Schichten der Seele. Doch Heilung und Entwicklung nur auf den begrenzten Bereich der Person auszurichten, ist am Ende zu wenig, so Sylvester Walch, der seit Jahren für eine neue Verbindung von Psychotherapie und Spiritualität plädiert.Anhand seiner jahrzehntelangen Arbeit mit veränderten Bewusstseinszuständen zeigt er, wie wir emotionale Blockaden lösen und Zugang zu innersten Ressourcen finden können. Eine Vielzahl spiritueller Impulse und Meditationsübungen geben Anleitung und Hilfe, den Weg eines bewussteren Lebens zu gehen. Erst so können wir das Leben in seiner ganzen Fülle erfahren - in Achtsamkeit, Verbundenheit, im Mitgefühl mit uns selbst und mit anderen Menschen.
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Seitenzahl: 292
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SYLVESTER WALCHDIE GANZE FÜLLE DEINES LEBENS
fischer & gann
SYLVESTER WALCH
Ein spiritueller Begleiterzu den Kräften der Seele
Minilecturesund Übungen
fischer & gann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© Verlag Fischer & Gann, Munderfing 2016Umschlaggestaltung | Layout: Gesine Beran, TurinUmschlagmotiv: © shutterstock/Peangdao
ISBN 978-3-903072-31-2ISBN E-Book 978-3-903072-38-1
www.fischerundgann.com
Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich früher oder später jedem Menschen. Oftmals taucht sie auf, wenn wir Leid erfahren oder Schicksalsschlägen ausgesetzt sind. Antworten lassen sich allerdings nur dann finden, wenn wir bereit sind, den Weg der Selbsterkenntnis zu gehen. Ein solcher Prozess der Bewusstwerdung erfordert von uns unweigerlich, tiefer zu gehen. Nur so können wir herausfinden, wer wir wirklich sind. Dabei entdecken wir, dass wir mehr sind als unsere Persönlichkeit, unsere Lebensgeschichte oder ein Bündel von Rollen. Zu den tiefsten Geheimnissen des Lebens kann aber nur jener vordringen, der sich öffnet, Vorurteile loslässt und durchlässig wird. Dazu ist es erforderlich, dass wir uns selbst anerkennen und uns mitfühlend begegnen. In meinen Seminaren begleite ich Menschen auf diesem Weg.
Um durch die Geräuschkulisse des Alltagsbewusstseins hindurchzuspüren, um zu hören, was unser Innerstes dazu preisgibt, sind unterschiedliche Praktiken erforderlich: Holotropes Atmen, um in veränderte Bewusstseinszustände zu gelangen, themenzentrierte Kontemplation, um den großen Fragen des Seins nachzugehen, Meditation, um unseren Geist von einengenden Konzepten zu befreien, um die Aufdeckung bestimmter Muster unseres Unbewussten zu ermöglichen, um Sicherheit und Vertrauen in sich selbst zu entwickeln. Heilung, Wachstum und eine segensreiche Lebensführung können so nachhaltig gefördert werden.
Neben der Selbsterfahrung durch das Holotrope Atmen sowie durch kontemplative Übungen in meinen Seminaren habe ich immer wieder Minilectures zum besseren Verständnis des Gesamtprozesses gehalten und sie in den letzten Jahren auch aufgezeichnet. Aus dieser Sammlung wurden nun erste Teile ausgewählt, niedergeschrieben und in Kapitel geordnet, um sie einer breiteren Leserschaft zur Verfügung zu stellen. Für diese immense Arbeit möchte ich ganz besonders Frau Andrea Brückner und Frau Mathilde Fischer danken!
Für mich ist es das erste Mal, dass ich einem solchem Projekt zugestimmt habe, und ich bin auch schon ganz aufgeregt, welche Erfahrungen damit möglich sein werden. Gleichzeitig möchte ich jetzt schon um Verzeihung bitten, falls manches vielleicht außerhalb des Seminarkontextes nicht bis ins letzte Detail nachvollzogen werden kann. Dennoch bin ich überzeugt, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, daraus das für Sie Wichtige schöpfen können. Falls ich Sie noch nicht kenne, würde ich mich selbstverständlich freuen, Ihnen auch persönlich begegnen zu dürfen.
Vielen Dank auch dem Verlag Fischer & Gann für die Wertschätzung und vorzügliche Behandlung meiner Arbeit.
Oberstdorf, im Juli 2016
Ein freies Leben zu führen, wünscht sich jeder, doch selbstverständlich ist das auch heute keineswegs. Oft glauben wir, unabhängig zu sein, und haben dennoch Verhaltensweisen, die durch vergangenes Erleben und alte Muster geprägt sind. Wie selbstbestimmt sind wir also wirklich? Ein gutes Leben zu führen setzt voraus, dass wir uns auch selbst kennen. Doch was ist mit »selbst« gemeint?
In der traditionellen Psychotherapie steht das Selbst einerseits für die Person als Ganzes, also für all das, was ich als zu mir gehörig erlebe. Und andererseits steht das Selbst für meinen innersten Kern, das heißt für alles, was in mir wirkt und mich im Innersten zusammenhält.
Von diesem Selbst gehen enorme Integrationsleistungen aus, die bewirken, dass wir uns über die Zeit hinweg als stabil erleben können, also auch eine unveränderte Subjektivität verkörpern: Einfach gesagt, wenn wir schlafen gehen und in der Früh wieder aufwachen, dann wissen wir noch, wer wir sind. Die Person mit zwölf Jahren ist auch die Person mit sechzig Jahren, obwohl sich der Körper alle sieben Jahre komplett erneuert. Mich trotz dieses Wandels als eine konstante Einheit zu erleben, ist eine wunderbare Leistung meines Selbst und gar nicht so einfach. Deshalb braucht es dieses Selbst, das uns so zusammenhält. Es ermöglicht uns, uns zu erkennen, uns zu erleben und uns als jemand zu sehen, der oder die im Leben steht, der seinen Weg geht und mit sich selbst identisch ist. Das personale Selbst hat die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, sich mit sich zu identifizieren und sich in seiner Ganzheit zu erleben.
Wenn der Mensch in seinem Leben großen Belastungen ausgesetzt ist, kann sich das Selbst nicht richtig ausdehnen und entwickeln. Gewalterfahrungen, Defizite an Liebe und Geborgenheit, chronische Konflikte und traumatische Erfahrungen können massiven Druck auf diesen innersten Kern ausüben, wodurch bestimmte Fähigkeiten auf der Strecke bleiben. Der Mensch errichtet dann eine innere Mauer oder eine Schutzhülle um das Selbst, um es vor möglichen Bedrohungen abzuschirmen und keinen unwirtlichen Situationen auszusetzen. Dadurch wird auch das sich entwickelnde Gefühl von Ganzheit beeinträchtigt, denn das entstehende Selbst zieht sich zusammen und erzeugt eine vor der bedrohlichen Welt schützende Fassade, eine Scheinpersönlichkeit, hinter die es sich zurückziehen kann. Gleichzeitig wird der innere Boden als brüchig und instabil empfunden, sodass man in sich selbst keinen Halt finden kann.
Die Folge ist eine gewisse »Fassadenhaftigkeit«: Menschen erscheinen dann nicht so, wie sie wirklich sind. Sie wirken nicht authentisch, können nicht zeigen, was in ihnen ist. Bei anderen kann dann der Eindruck entstehen, dass etwas falsch oder unecht an ihnen ist. Die Psychologie verwendet hier den Begriff »falsches Selbst«. Gemeint ist damit eine aufgezwungene Art zu leben, die eigentlich nicht dem Innersten entspricht. Menschen versuchen dann ihren eigentlichen Kern vor der feindlichen Umwelt zu schützen, um den Preis, dass sie sich von sich selbst abgeschnitten fühlen. In diesem Kontext stoßen wir auf Begriffe in der Psychologie, die manchmal moralisch erscheinen, aber es nicht sind: das falsche oder wahre Selbst.
Das falsche Selbst, die Scheinpersönlichkeit, tut etwas, das ihr nicht wirklich entspricht. Sie erfüllt Erwartungen oder versucht, Bedürfnisse über Umwege, Inszenierungen und Dramatisierungen zu befriedigen, weil es ihr nicht möglich ist, direkt zu sagen, was sie braucht. Das falsche Selbst verursacht zum Beispiel einen Unfall, löst Krankheiten aus, um die Liebe, die es verdient hat, zu bekommen.
Es bedarf langer Arbeit an uns selbst, um unsere ursprüngliche Wesensnatur wieder freizulegen. Wir müssen die Mauern abtragen, die Schutzpanzer auflösen, um uns wieder frei und unbeschwert fühlen zu können. Das wahre Selbst, wie es Karen Horney schön beschreibt, »sorgt für das pulsende innere Leben; …es ist jener Teil in uns, der sich ausdehnen, wachsen und selbst erfüllen will.«1 Wenn wir mehr und mehr in Kontakt mit uns selbst sind und uns wirklich fühlen und spüren können, dann machen wir manchmal eine wunderbare Erfahrung: Wir erkennen, dass wir sogar mehr sind als nur Persönlichkeit, Lebensgeschichte oder das, was unser Leben überschaubar ausmacht oder wir glauben zu sein. Es gibt mehr in uns. Es gibt etwas Größeres in uns.
Menschen, die das erfahren haben, fühlen sich plötzlich nicht mehr nur auf sich selbst bezogen. In ihrer Lebendigkeit, Wachheit und Authentizität fühlen sie sich verbunden mit anderen und der Natur, können ihre Schönheit wahrnehmen. Hier beginnt das, was spirituelle Richtungen als das höhere Selbst bezeichnen. Etwas, das nicht nur auf uns persönlich bezogen ist, sondern über uns hinausgeht: die Innere Weisheit, das größere Ganze oder unsere göttliche Natur.
Die transpersonale Psychologie geht davon aus, dass das Selbst nicht nur immanenter Teil der individuellen Persönlichkeit ist, sondern eine Qualität oder Ressource besitzt, die über diesen ganz individuellen Teil hinausreicht. Das Selbst ist also nicht, wie die klassische Psychologie nahelegt, allein auf die Persönlichkeit bezogen, sondern auch offen zum Überpersönlichen hin, daher die Bezeichnung transpersonal oder universal.
Bildlich gesprochen ist im innersten Kern unserer Persönlichkeit eine Öffnung, durch die sie mit dem Seinsganzen verbunden erscheint. C. G. Jung beschreibt es so: »Dieses Etwas ist uns fremd und doch so nah, ganz uns selber und uns doch unerkennbar, ein virtueller Mittelpunkt von … geheimnisvoller Konstitution … Ich habe diesen Mittelpunkt als das Selbst bezeichnet…(Es) könnte ebenso wohl als ›Gott in uns‹ bezeichnet werden. Die Anfänge unseres ganzen seelischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkt zu entspringen, und alle höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen.«2 Mit diesem transpersonalen Selbst, das über uns hinausgeht, können wir im Zuge eines Entwicklungsweges, den er als Individuationsweg bezeichnet, eine Qualität in unserem tiefsten Inneren erfahren, die größer ist als wir selbst.
Was das psychologische, persönliche oder personale Selbst angeht, so kann ich diesem Konzept auch aus meiner Erfahrung nur zustimmen. Aber es ist nicht alles.
Wenn wir das personale Selbst noch tiefer erkunden, dann ist es nicht mehr auf unsere Person begrenzt, sondern es öffnet sich – hin zum Seins-Ganzen. Wir erfahren uns dann nicht mehr als Einzelwesen, sondern fühlen uns verbunden, getragen, durchdrungen und geöffnet vom größeren Ganzen.
In diesem Buch wird diese transzendente Wirklichkeit als »größeres Ganzes«, als »Mehr«, als »Es«, als »Essenz« oder als »das Göttliche« bezeichnet. Als tiefste innere Instanz wird es auch als transpersonales, universales oder höheres Selbst oder Innere Weisheit beschrieben. Dieses größere Ganze umfasst uns, durchdringt uns, wirkt in uns und ist in uns eingebettet. Deshalb können wir es in uns selbst gewahren, auch wenn es unsere Vorstellungen weit übersteigt. So kann es uns auch in Form von Sinngestalten und Symbolen zugänglich werden. Menschen, die es erfahren, fühlen sich verbunden, liebevoll und getragen.
Um sich dafür vorzubereiten, lohnt es sich zu meditieren, denn durch die Beruhigung der Innenwelt kann das Bewusstsein leichter das Umgreifende erspüren und sich direkter mit dem größeren Ganzen verbinden. Dabei ist stets mit im Auge zu behalten, dass spirituelle Praxis nicht vom Leben wegführen soll, sondern mitten in der Lebenswirklichkeit zu verankern ist. Nur wer Spiritualität im Menschlichen selbst und zur Welt gehörig empfindet, unterliegt nicht der Gefahr der Erhöhung und Idealisierung.
Ausschlaggebend ist somit bei spirituellen Erfahrungen die direkte Erfahrung. Die Verfeinerung des Spürbewusstseins, das meditative Innehalten und das Hineinhören in die sich öffnenden Innenräume ermöglichen uns, zu diesen transzendenten Wirklichkeiten vorzudringen. Das gilt gleichermaßen für Einsichten in die Ursachen des Leidens, die Entfaltung von Potenzialen und die Erkundung von Sinnhorizonten. Diese drei sich ergänzenden Perspektiven des Bewusstheitsprozesses fördern seelische Gesundheit und spirituelle Befreiung. In den verschiedensten religiösen und spirituellen Traditionen ist diese Innere Weisheit immer schon beschrieben worden: Im Christentum heißt es: »Das Reich Gottes ist in dir«, im Buddhismus: »Schau nach innen, du bist der Buddha«, im Siddha-Yoga: »Gott wohnt in dir als du«, im Hinduismus: »Atman (das individuelle Bewusstsein) und Brahman (das universelle Bewusstsein) sind eins«, in der Sufi-Tradition des Islam: »Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.« Manchmal wird auch vom göttlichen Funken oder dem Funken des Kosmos gesprochen, der in allem existiert.
Das personale Selbst der klassischen Psychologie ist das, was wir als identitätsfördernde und persönlichkeitsleitende Integrationsinstanz in uns sehen können, das uns das Gefühl gibt, eine Ganzheit und mit uns identisch zu sein. Wenn das gestört ist, werden wir im Leben nicht gut funktionieren und unseren Weg nicht hinreichend gut gehen können.
Die transpersonale Psychologie und die spirituellen Richtungen fügen dem hinzu: Das Selbst ist nicht nur auf uns selbst bezogen, sondern weist über uns selbst hinaus. Der Mensch ist kein Einzelwesen, sondern verbunden, getragen und durchdrungen. Genau diese Qualitäten beschreiben die transpersonale Psychologie und die spirituellen Richtungen.
Diese beiden Konzepte lassen sich zu folgendem Satz zusammenbringen: Das personale Selbst ist im transpersonalen Selbst aufgehoben, beherbergt und überschritten. Es ist sinnvoll, dieses psychologische Selbstkonzept durch das transpersonale und spirituelle Selbst zu erweitern, ohne das psychologische außer Kraft zu setzen.
Menschen haben oft eine tiefe Sehnsucht in sich, in spirituelle Welten einzutauchen, große Reisen nach innen und außen zu unternehmen, um das Leben zu verstehen und sich vom Leid zu befreien. Ich habe schon mit vielen Menschen gearbeitet und bin deshalb überzeugt, dass das Ziel der vollständigen Leidbefreiung zu hochgesteckt ist. Ich glaube, dass es vielmehr günstig ist, stets die Tatsache mit einzubeziehen, dass wir Menschen sterblich und verletzlich sind, auch wenn es sich manchmal wie eine narzisstische Kränkung anfühlt.
Es gibt vielleicht Aspekte in uns, die mit Unsterblichkeit zu tun haben. Es gibt jedoch auch einen Teil, der todsicher vergänglich ist. Gerade in der letzten Lebensphase werden wir bemerken, dass die körperlichen Fähigkeiten weniger werden, die Gedankenkraft nachlässt, bestimmte Kompetenzen, die uns im Leben ausmachen, die uns Halt, Sicherheit und Stabilität gegeben haben, nicht mehr verfügbar sind. Wer sind wir dann, wenn wir all dies nicht mehr haben? Wohin bewegen wir uns, wenn wir damit konfrontiert werden, immer mehr loslassen zu müssen, wer und was wir bisher waren? Dann wird uns klar, dass dieses angeblich so stabile System vielleicht gar nicht so beständig ist, wie es uns erschien. Es ist dann vielleicht ähnlich den Gedanken, die kommen, aufsteigen und wieder absteigen. Dann wird uns bewusst, dass es darum geht, aufgeben und loslassen zu lernen. In diesem Prozess gewinnen wir aber vielleicht auch die Einsicht, dass es dennoch etwas in uns gibt, das bleiben wird.
Wenn es nun aber so wäre, dass eine vollständige Befreiung von Leid, wie es in den verschiedenen spirituellen Richtungen als Ziel ausgegeben wird, nur annäherungsweise oder vielleicht gar nicht erreichbar ist, dann können wir uns zumindest einem zweiten Ziel widmen: das Leid in uns zu akzeptieren, um im Umgang mit dem, was uns Schwierigkeiten bereitet, neue Freiräume und Spielräume gewinnen zu können.
Wir sollten lernen, Leid nicht als absolut zu nehmen, so wie wir uns selbst nicht als absolut nehmen sollten. Dass wir zum Beispiel sagen können: Mein Partner hat mich verlassen, das bereitet mir große Schmerzen – aber dies ist nur ein Aspekt in meinem Leben.
Wenn wir leiden, sind wir hellhörig allem gegenüber, was mit diesem Leid zusammenhängt, nicht nur in uns, sondern auch draußen in der Welt, und sind schwerhörig zu dem hin, was es sonst noch gibt. Wenn es uns gelingt, diese Leidfixierung zu lockern und die dazugehörigen körperlichen Anspannungen zu lösen, können wir besser mit den Schwierigkeiten umgehen und die freiwerdenden Kräfte wieder für unser Leben nutzen. Wir brauchen dann nicht mehr so viel Zeit und Energie dafür aufzuwenden und sind nicht mehr so auf das Leid festgelegt.
Das Holotrope Atmen bietet durch die Hyperventilation, durch das dynamischere Atmen die Chance, dies zu unterstützen. Durch das dabei praktizierte schnellere Atmen können sich Widerstände senken, wie Wilhelm Reich, andere körperorientierte Forscher und yogische Traditionen herausgefunden haben. Widerstände gegen uns selbst, gegen tiefere Erfahrungen und intensivere Gefühle werden meistens über körperliche Blockaden und körperliche Spannungsfelder aufgebaut und aufrechterhalten. In diesen Verpanzerungen können auch frühere Bedrohungsszenen, angstauslösende Impulse oder schreckliche Traumainhalte gespeichert sein, um sie von dem Bewusstsein fernzuhalten (dissoziierte Anteile der Seele). Dadurch verflacht sich automatisch der Atem, weil ich mich in diesem Moment innerlich nicht spüren darf. Wenn wir nun bewusst schneller atmen, werden diese Blockierungen etwas »aufgelockert«. Zudem wird das Unbewusste mobilisiert, sodass unverarbeitete Aspekte der Seele, die dann durch diese Öffnungen hindurchströmen, leichter zugänglich werden.
Viele Themen und Inhalte sind peripher lokalisiert. Obwohl vorhanden und unbewusst wirksam, werden sie nicht identifiziert, und plötzlich, durch das Atmen, kommen sie ans Licht.
Zum Beispiel: Mitten im Atmen erlebe ich mich auf einmal als Kind im Gitterbett, Vater oder Mutter beugt sich über mich und schlägt mich, weil ich schreie. Plötzlich wird mir klar, dass es in der Zeit, als ich noch im Mutterleib war, ungeheuer viele Spannungen zwischen meinen Eltern gab. Diese Spannungen sind auf mich übergegangen und verursachten in mir Unruhe, die ich auch heute noch erlebe. Dieser Prozess der Bewusstwerdung kann sich durch innere Bilder, körperliche Zustände oder sensorische Eindrücke vollziehen. Manche meinen sogar, im veränderten Bewusstseinszustand erlebt zu haben, wie sie gezeugt worden sind. Ob das genau dann der außenkausalen Realität entspricht, ist immer eine schwierige Frage. Die Frage, ob Erinnerungen real sind, ist so alt wie die Psychotherapie selbst.
Ob psychische Inhalte einen expliziten Charakter haben, der validierbar oder gültig ist, kann wohl niemals hinreichend geklärt werden. Aber wir können von einer Tatsache ausgehen: Alles, was als psychischer Inhalt in uns ist, zieht eine Wirkung nach sich.
Dazu ein einfaches Beispiel: Du fühlst dich sehr minderwertig im Leben und hast eine neue Arbeitsstelle. Du trittst deinem Chef gegenüber, und der zieht gerade die Augenbrauen hoch, weil es ihn dort juckt. In dem Moment wirst du nervös und hast vielleicht das Gefühl, dass er dich kritisiert. Das muss aber gar nicht der Fall sein. Psychische Inhalte können somit eine immense Wirkung entfalten, auch wenn sie gar nicht mit dem übereinstimmen, was im Äußeren geschieht.
Es können sogar Erfahrungen gegenwärtig werden, die aus einer Zeit stammen, die wir normalerweise nicht erinnern können, also vor dem zweiten Lebensjahr oder noch im Mutterleib. Ich habe das selbst erlebt. Ich fragte mich, was ist dran an diesen Erlebnissen? Was ist real? Und dann hatte ich selbst manche Erfahrungen beim Holotropen Atmen, die mit äußeren Verhältnissen zusammenstimmten, und andere, die nicht dazu passten. Es ist sicherlich nie ganz zu erklären. Dennoch ist es wichtig, auch wenn man im ersten Moment nichts damit anfangen kann, allen Erfahrungen weiter nachzugehen, Verständnis dafür zu entwickeln und vielleicht der einen oder anderen Spur auch im Äußeren zu folgen.
Es ist gar nicht immer so wichtig, ob es mit beweisbaren Tatsachen übereinstimmt oder nicht. Es geht darum, alle Erfahrungen, die zugänglich werden, anzuerkennen. Durch den veränderten Bewusstseinszustand haben wir die große Chance, an mehr Material, das in uns latent vorhanden ist, heranzukommen.
Wenn wir uns nur einmal vorstellen: Pro Sekunde wirken etwa 11 Millionen Sinneseindrücke auf uns ein. Etwa 40 davon erleben wir bewusst. Das Holotrope Atmen macht den Filter durchlässiger und erhöht gleichzeitig die Erregbarkeit der Nervenzellen, sodass wir mehr Informationen über uns selbst und die Welt gewinnen können.
Es können beim Atmen aber auch Eindrücke auf uns zukommen, die weit über unsere begrenzte Lebensgeschichte hinausreichen, so etwa phylogenetische oder stammesgeschichtliche Erfahrungen. Beispielsweise hat sich jemand einmal als Drache erlebt. Dies kann selbstverständlich in mehrfacher Weise gedeutet und gesehen werden. Man könnte dabei vielleicht mit einer Kraft in Kontakt kommen, die lange unterdrückt wurde. So gesehen hätte es sicher einen heilsamen Wert, weil wir plötzlich eine Stärke in uns wahrnehmen, die wir uns möglicherweise bisher nicht erlauben konnten. Es kann aber auch sein, dass wir uns mit etwas identifizieren, das in uns als überindividueller Teil der Kultur- und Naturgeschichte gespeichert ist.
Manche Forscher sprechen von einem unbewussten oder impliziten Gedächtnis3, das auch solche Themen beinhalten kann. Rupert Sheldrake4 spricht von morphogenetischen Feldern, in denen über Zeit und Raum hinweg Erfahrungen der Menschheits- und Kulturgeschichte gespeichert sind. Und offenbar ist es so, wenn wir durch die Membran unseres alltäglichen Bewusstseins hindurchgehen, dass vielerlei solcher Erfahrungen im Holotropen Atmen für uns bereitliegen. Sie können uns in unserer Entwicklung unterstützen und stärken. Sie helfen uns, bisher unterdrückte Impulse wahrzuhaben, Selbstheilungskräfte zu mobilisieren, mystische Dimensionen des Seins zugänglich zu machen, neue Sinnhorizonte zu erschließen und Probleme des Lebens besser zu lösen. Im Holotropen Atmen liegt die umfassende Möglichkeit, dem Leben, so wie es in uns und außerhalb von uns ist, tiefer und intensiver zu begegnen.
Dabei muss aber ein wichtiger Aspekt berücksichtigt werden: Wir sollten nicht abheben, auch wenn die Methode des Holotropen Atmens zunächst spektakulär erscheint. Denn eines bleibt uns trotz diesem vielfältigen Erfahrungspotenzial nicht erspart: Nachdem eine Erfahrung bewusst geworden ist, ist es wichtig, auch deren tieferen Sinn zu verstehen. Der nächste wichtige Schritt heißt: das, was ich erlebt und erfahren habe, auch im Alltag umzusetzen, was gewöhnlich eine große Hürde darstellt. Vieles erscheint plötzlich vielleicht klar, doch das Leben hat sich oft dennoch nach solchen Erfahrungen nicht in der Weise geändert, wie wir uns das erhofft haben.
Hier müssen wir kleinere Brötchen backen. Entwicklungsprozesse brauchen neben der Katharsis, neben der Einsicht auch eine Portion Disziplin, um alte Muster, die unsere vorübergehende Stabilität und Identität gewährleisten, schrittweise zu verändern.
Auch wenn die Atemerfahrungen noch so tief greifend gewesen sind – letztlich kommt es darauf an, wie wir uns verändern und entwickeln.
Wie kann Entwicklung tatsächlich stattfinden? Hier geht es darum, dass wir lernen, in kleinen Schritten vorwärts zu gehen, dass wir lernen, uns innerlich wirklich auf eine Entwicklungsarbeit einzulassen, die ein Leben lang währt. Vielleicht können wir dafür Spielräume schaffen, uns zum Beispiel innerlich besser mit uns selbst vertragen und auch mit unserer Umwelt möglicherweise besser umgehen.
Dennoch wird es in unserem Leben immer wieder Phasen des Leides zu durchschreiten geben. Mit der Zeit werden wir aber erkennen, dass uns das, was uns an Schwierigkeiten begegnet, sogar unser Leben bereichern kann. Jedes Hindernis ist wie ein helfender Freund. Ein Engpass im Leben ist stets etwas, woran wir lernen und uns auseinandersetzen können. Mit dieser Erkenntnis werden das Leid und die Schicksalsschläge für uns eine Aufforderung, denn sie tragen Botschaften in sich, die uns weiterhelfen können auf unserem Entwicklungsweg.
Dann wird die Verletzung, die uns vielleicht zugefügt wird, nicht mehr nur wehtun, sondern wir werden uns auch fragen: Was möchte mir die Situation sagen? Was drückt sie aus, welche Bedeutung hat sie für mein Leben? Leid kann auch auf den zweiten Blick eine innovative Wirkung haben: Es bringt uns weiter. Es trägt uns in die Entwicklung hinein, es trägt uns fort. Manche Entwicklungslinien verstehen wir erst, wenn wir zurückblicken. Dann werden wir sagen: Dies oder jenes, was damals für mich so katastrophal erschien, hat mich weitergebracht. Und in diesem Sinne wandeln sich eben Engpässe und Schwierigkeiten von einer Hypothek zum Kapital, zur Substanz für unsere weitere Entwicklung.
Das Holotrope Atmen hilft uns dabei, all das flüssig und weich werden zu lassen, was sich durch vielerlei Kränkungen und Prägungen verhärtet hat.
Bewusstseinsarbeit ist manchmal auch harte Arbeit: Arbeit, die wir zu leisten haben, um alte Muster aufzubrechen. Und manchmal müssen auch die Fetzen fliegen, damit sich endlich zeigen kann, was vielleicht in uns über Jahrzehnte abgekapselt, abgespalten und gepanzert war. Daher gilt: alles, was passiert, als Erfahrung nehmen. Wir dürfen innere Erfahrungen nicht nach dem Inhalt bewerten, sondern nach deren Energie.
Es kann in uns auch Muster und Sozialisationserfahrungen geben, die sich in der Seele bzw. im »Fühl-Denk- und Empfindungsraum« verfestigt haben. Chronische Belastungen, Defizite oder traumatische Erfahrungen können derart gravierende Spuren in uns hinterlassen, dass wir uns alleine durch Loslassen nicht von ihnen lösen können. Es braucht für derartige Verfestigungen in unserem Inneren eine gewisse innere Aufrüttelung, sodass das, was sich so festgesetzt hat, wieder ins Fließen kommen kann. Durch die Methode des Holotropen Atmens werden dissoziierte Anteile oder Fremdkörper in unserer Seele, die wir abgespalten haben, energetisch aufgeladen. Sie beginnen sich so von dem Bereich jenseits unserer bewussten Wahrnehmung allmählich in unser Bewusstsein hinzubewegen.
Das schnellere Atmen hilft dabei, dass diese schon festgesetzten Anteile in uns mobilisiert werden und ins Innere unseres Bewusstseinsraumes kommen.
Wichtig ist, alles, was sich zeigt, zuzulassen, auszudrücken und in dynamischer Weise innerlich in Bewegung zu halten. Auch Impulse, die zuvor nicht möglich waren, weil man sich durch sie in irgendeiner Weise ausgeliefert oder ohnmächtig fühlte. In der Atemsitzung kommt es nach einer gewissen Zeit der Spannungssteigerung zu einem Höhepunkt, an dem alles zugelassen und ausgedrückt wird. Und am Ende, wenn alles Material ausgedrückt und erlebt worden ist, kann es sich allmählich mit seiner Energie dem »Gesamtsystem« zur Verfügung stellen.
Diese inneren Erfahrungen und Erinnerungen wurden gesehen, wurden beachtet, müssen deshalb nicht mehr aus dem Unbewussten heraus uns unangenehm beeinflussen. Sie haben die Anerkennung erfahren, die sie für die Integration brauchen.
Wenn wir solche Erfahrungen einmal zugelassen haben und sie später dann wieder auftauchen, zum Beispiel beim Meditieren, dann können wir sie auch besser loslassen. Denn durch ihre Entladung haben sie sich aus ihrer energetischen Gebundenheit gelöst. So kann das Atmen in seiner Dynamik auch das Loslassen in der Meditation unterstützen.
Es gibt auch vieles, was uns zur Gewohnheit geworden ist. Zum Beispiel: wenn mich mein Vater geschlagen hat, ich im Rückblick wütend werde und die Wut auch ausdrücke. Selbst wenn sich mit der Zeit alles entladen hat, gibt es in mir noch immer diese Identifizierung, das heißt, sobald ich mit etwas in Kontakt komme, das ich nicht genau erkenne, identifiziere ich es mit der Wut auf meinen Vater – denn da kenne ich mich ja aus. Das bedeutet, bestimmte Muster haben, selbst wenn sie bearbeitet wurden, einen Gewohnheitsaspekt. Man nennt das Schema.
Hier ist eine Restfixierung geblieben, denn etwas, das uns unbekannt ist, wird mit einem alten, in der Therapie längst erkannten Muster identifiziert. In diesem Fall hilft nur das Loslassen in der Meditation.
Ein spiritueller Weg kann helfen, aus der Opferrolle auszusteigen. Was aber nicht heißt, dass es nicht auch sehr wichtig war, uns als Opfer zu erleben und dass wir die dazugehörigen Gefühle wie Schmerz und Wut ausgedrückt haben. Der spirituelle Weg hat somit nicht nur eine öffnende Wirkung – indem er uns dem größeren Ganzen näherbringt –, sondern gleichzeitig auch eine kurative und heilende Wirkung. Weil er uns erstens hilft, längst bearbeitete Muster endgültig loszulassen – sozusagen den Kinderschuhen zu entwachsen –, und zweitens, weil wir im spirituellen Raum die transpersonale Dimension als Ressource erleben, die uns immer zur Verfügung steht und auf die wir jederzeit zurückgreifen können.
Wer kennt nicht diesen Satz: »Das ist so und nicht anders?« In Religionssystemen und spirituellen Gemeinschaften ist er relativ oft zu hören. Je geschlossener eine Gruppe ist, desto starrer sind die Normen und die Dogmen.
Mystiker sind oftmals angetreten, um aber radikal der eigenen Erfahrung Raum zu geben und diese wertzuschätzen. Der Blick nach innen ist ihnen das Allerwichtigste. Das erklärt, warum Mystiker oft auch nicht sehr beliebt waren in den verschiedenen Systemen. Sie vertrauten weniger äußeren Instanzen, sondern in erster Linie der inneren. Das führte immer wieder zu Auseinandersetzungen und zu Kritik.
Das ist auch gut so. Gerade im Bereich kosmologischer oder weitreichender Theorien sind wir oft sehr anfällig für Ideologien. Wenn man schon einmal zu wissen glaubt, was es mit der Welt auf sich hat und was sie im Innersten zusammenhält, dann will man auch, dass andere das genauso sehen. Zu berücksichtigen bleibt, dass wir als menschliche Wesen von unserem Bewusstsein her, vom Verständnis für tieferliegende Prozesse, in vielem noch im Dunkeln tappen. Karl Popper formuliert dies sehr schön, wenn er sagt: »Wir mögen uns vielleicht in Erfahrung und Wissen etwas unterscheiden, aber im Nichtwissen sind wir alle gleich.«5
Wir haben in den großen Fragen immer nur Aspekte in der Hand, Teile des Gesamten, die in unserem Bewusstseinsraum erkannt und identifiziert werden. Außerdem sind wir so geschaffen, dass unsere Vorstellungen und Konzepte natürlich immer durch unsere persönlichen Erfahrungen geprägt sind, also immer auch subjektiv, zeitlich begrenzt und auch in gewisser Weise fehlerbehaftet. Das müssen wir immer wieder bedenken. Ich habe einmal gesagt, falls es sich herausstellen würde, dass viele unserer Annahmen über unser Sein in der Welt sich irgendwann als Illusionen herausstellen – und wir sind auf dem Weg etwas mitfühlender, etwas lebendiger, etwas vertrauensseliger geworden –, dann hat es sich dennoch gelohnt.
Wenn wir über unser Sein als Menschen nachdenken, dürfen wir nie vergessen, dass wir auch verletzlich und sterblich sind. In unseren Bemühungen um ein gutes Leben erfahren wir immer wieder auch Rückschritte, wir stoßen vielleicht immer wieder an Grenzen. Lassen wir uns davon nicht entmutigen, das geht uns allen so.
Das Universelle dieses Zustandes kann uns eine beruhigende Botschaft vermitteln: Ich bin damit nicht alleine. Auch das ist sehr wichtig, denn wenn wir einmal das Gefühl haben, von einem Weg abgekommen zu sein, können wir jederzeit wieder neu beginnen. Es kann vorkommen, dass wir uns vielleicht schämen, dass wir nicht das tun, was wir für richtig erachten. Doch gerade dann müssen wir barmherzig mit uns sein. Das ist das beste Mittel. Denn normalerweise werten wir uns dann ab. Gerade in dem Moment, wo wir am meisten Liebe von uns bräuchten, machen wir häufig das Gegenteil. Aber es ist oft ein Vor und Zurück. Also auf der einen Seite gelingt es, bestimmte Dinge zu erarbeiten, die hilfreich und gut für uns als Person sind – man schafft, das eine oder andere zu verwirklichen –, und dann verpufft das Ganze aber wieder. Doch hier ist es wichtig, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern immer wieder neu zu beginnen.
Kant beschreibt treffend, was wir zu berücksichtigen haben: »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.«6 Von dieser Tatsache müssen wir immer wieder ausgehen, deshalb gnädig und barmherzig mit uns umgehen. Wenn wir unsere Haltung uns gegenüber nicht in Richtung Mitgefühl verändern, verhärten wir uns, verbittern vielleicht sogar. Doch was passiert eigentlich, wenn wir hart werden? Wir ziehen uns zusammen, »es« kontrahiert in uns. Und wie lassen sich Kontraktionen am besten lösen? Indem sie Wärme bekommen. Dann kann es wieder Ausdehnung, Durchlässigkeit und Öffnung geben.
Und hier kommt ein weiterer Punkt dazu. Manche Menschen – und wer kennt das nicht? – wären gerne anders, als sie sind. Wir sind aber, wie wir sind. Das Leben hat die Partitur so geschrieben. All diese Zusammenhänge unseres Lebens – unsere Eltern, die uns gezeugt haben, die Gene, die wir mitbringen, die Sozialisationsbedingungen, die wir vorgefunden haben und mit denen wir uns auseinandersetzen mussten –, all dies hat uns geformt. Es gibt keine andere Chance, als Ja zu sagen zu dem, wie wir sind, was wir geworden sind. Denn wenn wir ganz anders sein wollen, geraten wir in Verbitterung, weil wir das nicht ändern können. Und deshalb ist es der beste Weg, bei jeder Gelegenheit auch anzuerkennen und wertzuschätzen, dass wir sind, wie wir sind. Ja zu sagen, das auch anzunehmen und uns darauf einzulassen. Erst wenn wir uns auf diese Haltung einlassen, kann Veränderung stattfinden. Und diese Veränderung, das zeigen uns viele Meditationslehrer, findet immer im gegenwärtigen Erleben statt.
Dies ist auch der Grund, warum meditative Richtungen gerne Übungen anbieten, mit denen wir uns in der Gegenwärtigkeit spüren können. Denn nur in der Gegenwärtigkeit, so sagen die meisten spirituellen Richtungen – nicht, wenn wir gedanklich in der Vergangenheit oder der Zukunft sind, sondern am Nullpunkt, dort wo Vergangenheit und Zukunft zusammenkommen –, kann sich auch Vergangenes wandeln. Nur im gegenwärtigen Augenblick, durch den Ausdruck zum Beispiel, durch das Holotrope Atmen, kann sich grundlegend etwas ändern. Aber dafür ist es notwendig, dass wir zulassen, was geschieht.
Meine langjährige Erfahrung mit dieser Art von Arbeit ist es, dass wir nicht von allem wissen, was uns ändert, und auch nicht alles begreifen können, was auf unser Inneres einwirkt.
Manchmal kommt es vor, dass gleich nach einer Atemsitzung noch jemand eines bestimmten Bildes gewahr ist, einer Erfahrung, die er erlebte, diese aber wenig später wieder weg ist. Dann hörte ich schon bedauernd: »Schade, ich habe es vergessen, jetzt ist mir dieser wichtige Impuls verloren gegangen.« Doch dann antworte ich: »Wenn es erlebt wurde, dann ist es auch in uns.« Es ist in unserem inneren Raum, es ist vorhanden. Manchmal fehlt uns der Zugriff dazu.
Das Wichtigste ist, einverstanden zu sein mit dem, was geschieht. Das meint zuallererst mit dem, was mir bewusst begegnet im Außen und in inneren Bildern. Und zum Zweiten, einverstanden zu sein mit dem Gedanken, dass in mir eine mögliche Kraft wirkt, von der ich vielleicht noch nicht so viel weiß, und im blinden Vertrauen mich auf diese Kraft auch zu beziehen. Ich weiß, dass blindes Vertrauen in manchen Lebenssituationen nicht hilfreich ist, zum Beispiel, wenn wir einen Vertrag unterzeichnen. Aber wenn wir uns auf einen spirituellen Weg einlassen, ist der Vertrag mit dieser Kraft, die aus dem Inneren kommt, längst geschlossen. Es ist günstig, immer dem Herzen zu folgen, das mehr Liebe ins Leben fließen lässt. Das sind zwei Prüfsteine, an denen wir das immer wieder abgleichen können: Kommt durch meine Handlungen mehr Liebe, mehr Mitgefühl und Gemeinsamkeit ins Leben? Habe ich das Gefühl, nicht nur mir persönlich, sondern auch dem größeren Ganzen in stärkerem Maße zu dienen?
Und sollte das Gegenteil der Fall sein, dann geht es darum, auch dies im Moment anzuerkennen: Jetzt möchte ich im Mittelpunkt stehen, jetzt müssen meine Bedürfnisse erfüllt werden. Es gibt solche Zeiten, da ist das erforderlich. Aber es ist wichtig, dies bewusst wahrzunehmen, die Unterscheidung auch zu fühlen und dann auch wieder zurückzukehren in das anerkennende freundschaftliche Verhältnis zu sich selbst. Nur wenn wir uns freundschaftlich zu uns selbst verhalten, können wir möglicherweise auch das eine oder andere Schwierige abbauen und lösen.
Denn auch in Fällen, wo wir mit uns selbst und anderen destruktiv umgehen, was immer wieder passieren wird, sei es in Beziehungen oder am Arbeitsplatz, sind auch diese Situationen – wenn wir es uns bewusst machen – voller Öffnungs- und Heilungsenergie. Jede Schwierigkeit, die du ins Leben bringst durch das, was du tust, wird erst dann zur Schwierigkeit, wenn du nicht bereit bist, dir das bewusst zu machen, nicht bereit bist, genauer hinzuschauen. Solange du bereit bist hinzuschauen, können auch destruktive, schwierige Seiten deines Lebens, die diese oder jene Konsequenzen in deinem Alltag haben, verändert werden oder sich aufweichen. Wir sollten uns daher immer alles bewusst machen, und wir können das dann am besten tun, wenn es uns gelingt, uns selbst dafür nicht abzuwerten.