Die Gärten von Heligan - Boten des Sturms - Inez Corbi - E-Book

Die Gärten von Heligan - Boten des Sturms E-Book

Inez Corbi

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Beschreibung

Wie im Paradies! So fühlt sich die Ex-Londonerin Lexi in ihrer neuen Heimat Cornwall, frisch verliebt in den charmanten Ben. Während sie die letzten Vorbereitungen zur Jubiläumsfeier der berühmten Gärten von Heligan trifft, zieht die Geschichte einer faszinierenden Frau sie in ihren Bann: 1913 kommt die junge Hailee als Küchenmädchen nach Heligan. Dort freundet sie sich mit der kühnen Ada, der Schwester des Hausherrn, an und beginnt eine heimliche Affäre mit dem Gärtner Tommas. Als dieser jedoch in den Krieg ziehen muss und Hailee schwanger zurücklässt, hat Ada einen Plan, der mehr als hundert Jahre später auch Lexis Herkunft in einem neuen Licht erscheinen lässt ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Die handelnden Figuren

Zitat

1 LEXI

2 LEXI

3 VINCENT

4 VINCENT

5 VINCENT

6 HAILEE

7 HAILEE

8 HAILEE

9 LEXI

10 LEXI

11 VINCENT

12 VINCENT

13 HAILEE

14 VINCENT

15 LEXI

16 LEXI

17 HAILEE

18 HAILEE

19 HAILEE

20 HAILEE

21 VINCENT

22 LEXI

23 LEXI

24 HAILEE

25 HAILEE

26 VINCENT

27 HAILEE

28 VINCENT

29 VINCENT

30 LEXI

31 LEXI

32 HAILEE

33 HAILEE

34 HAILEE

35 VINCENT

36 HAILEE

37 LEXI

38 LEXI

39 LEXI

Epilog JACK

Nachwort und Hintergründe

Zum Weiterlesen

Dank

Über das Buch

Wie im Paradies! So fühlt sich die Ex-Londonerin Lexi in ihrer neuen Heimat Cornwall, frisch verliebt in den charmanten Ben. Während sie die letzten Vorbereitungen zur Jubiläumsfeier der berühmten Gärten von Heligan trifft, zieht die Geschichte einer faszinierenden Frau sie in ihren Bann: 1913 kommt die junge Hailee als Küchenmädchen nach Heligan. Dort freundet sie sich mit der kühnen Ada, der Schwester des Hausherrn, an und beginnt eine heimliche Affäre mit dem Gärtner Tommas. Als dieser jedoch in den Krieg ziehen muss und Hailee schwanger zurücklässt, hat Ada einen Plan, der mehr als hundert Jahre später auch Lexis Herkunft in einem neuen Licht erscheinen lässt …

Über die Autorin

Inez Corbi wusste schon früh, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik arbeitete sie zunächst jedoch einige Jahre als Assistentin der Geschäftsführung eines Pflegedienstes. Erfolge bei Kurzgeschichten-Wettbewerben motivierten sie schließlich, ihren ersten Roman zu schreiben. Mittlerweile sind etliche Romane und Jugendbücher aus ihrer Feder erschienen. Inez Corbi lebt mit ihrer Familie bei Frankfurt.

INEZ CORBI

Boten des Sturms

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, BonnUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de und Kirstin Osenau unter der Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: KOSOL PHUNJUI | LilKar | Roman Rudiak | Sarah Cheriton-Jones | mrkob | pixel creatoreBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-4192-7

luebbe.delesejury.de

Die handelnden Figuren

Die historischen Personen sind mit einem * versehen. Zu einigen von ihnen findet sich auch Weiteres im Nachwort.

HELIGAN GARDENS – GEGENWART

Lexi Davies (eig. Emilia Alexandra Andrews)

Ben Pascoe, ihr Freund, Gärtner in Heligan

Theodora »Theo« Williams, Lexis Chefin

Caitriona »Cait« Murphy, Lexis Mitbewohnerin, Kellnerin in der Heligan-Cafeteria

Derek Yates, Obergärtner

Eliza Morgan, Aushilfe, Lexis Kollegin

Orlando Hill, Heligan-Guide, Elizas Freund

Constance Andrews, Lexis Mutter

Steve Andrews, Lexis Vater

Anett Pascoe, Bens Mutter

Richard Payne, Bens Großvater (und Enkel von Vincent)

Millicent und Edwin Woods, Betreiber einer B&B-Pension in Heligans Nähe

Rob Harper, Lexis Ex-Freund

HELIGAN HOUSE AND GARDENS – VERGANGENHEIT

* John Claude »Jack« Tremayne, letzter Squire von Heligan

Ada Tremayne, seine Schwester

* Ralph Vivian Babington, ihr Neffe

* Mr und Mrs Babington, Ralphs Eltern

Hailee O’Connor, Küchenmädchen in Heligan House

Tommas Quinn, Gärtner in Heligan

Susannah »Sukey«, ihre gemeinsame Tochter

Demelza »Demi«, Zimmermädchen in Heligan House

Mrs Hammett, Köchin in Heligan House

Lizzie, Küchenmädchen in Heligan House

Fanny, Spülmädchen in Heligan House

Mrs Appleford, Hausdame in Heligan House

Mr Pritchard, Butler in Heligan House

Dr. Ashley, Arzt aus Mevagissey

* Edward Harry Cullum, Chauffeur in Heligan House

Captain Angus Hayford, verletzter Offizier

Vincent Payne, Gärtner in Heligan

Nicholas Barnett, Gärtner in Heligan

* Mr Griffin, Obergärtner in Heligan

* Charles Dyer, Gärtner in Heligan

Colin Jones, Fotograf

Emma Arlington, eine Besucherin

Der Garten schlief.In der feuchten, fruchtbaren Stille wuchsen die Pflanzen vor sich hin, wucherten Setzlinge und Unkraut. Innerhalb kürzester Zeit krochen Brombeerranken über Wege und Gärten.Kletterpflanzen überwucherten die Gewächshäuser. Unkraut verschlang den Italienischen Garten. Der Dschungel wurde immer dunkler und undurchdringlicher.Und so schlief der Garten, versunken unter einem schützenden Mantel aus Sträuchern und Efeu, und träumte seine Gartenträume.Aber an einem schönen Tag konnte man den Hauch des Lächelns sehen, das er einst getragen hatte.

1LEXI

Heligan Gardens, Cornwall, Anfang Dezember

Es war recht früh am Morgen. Um diese Uhrzeit waren Heligans Pforten noch für Besucher geschlossen, lediglich die Cafeteria verkaufte schon Frühstück und kleine Snacks.

Lexi nutzte die Zeit vor der offiziellen Öffnung um zehn Uhr für eine kleine Joggingrunde durch einen Teil der Gärten. In leichtem Trab lief sie oberhalb von Flora’s Green, der großen, von alten Rhododendren umgebenen Rasenfläche, entlang. Die wässrige Wintersonne, die sich an diesem Morgen über den Horizont erhoben hatte, konnte die Nebelschleier nicht durchdringen, noch immer war es feucht und diesig. Aber wie hieß es? Es gab kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung.

Heligan lag in einer malerischen Ecke Cornwalls, an der Spitze eines Tals in der Nähe des kleinen Fischerortes Mevagissey. Seit dem achtzehnten Jahrhundert hatte die Familie Tremayne über mehrere Generationen hinweg die Gärten erschaffen und immer mehr erweitert, bis diese nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben worden waren und verwahrlosten. Heligan war fast völlig in Vergessenheit geraten, als in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Nachfahre der Familie Tremayne zusammen mit einem Freund das Gelände besuchte und die beiden entschieden, dieses verlorene Kleinod wieder zum Leben zu erwecken. Gemeinsam mit einer Gruppe von freiwilligen Helfern begannen sie, den jahrzehntealten Verfall in mühsamer Kleinarbeit rückgängig zu machen.

Als Lexi in den weitläufigen Gemüsegarten einbog, schälte sich allmählich der Umriss von Diggory, der gut gekleideten Vogelscheuche, die inmitten der Felder thronte, aus dem Nebel. Auf der fast schwarzen Erde erblickte Lexi das dunkle Grün verschiedener Wurzelgemüse und Wintersalate. Im Mittelweg waren Apfelbäume zu einem Bogengang geformt worden – im Frühling würde es hier mit den rosa-weißen Blüten herrlich aussehen, aber jetzt, im Winter, war alles kahl.

Auf einem hölzernen Stecken saß eines der vielen Rotkehlchen, die in Heligan zu Hause waren, und flötete mit Inbrunst. Lexi blieb ein paar Yards entfernt stehen und sah ihm zu. Sie hatte gehört, dass die männlichen Rotkehlchen im Winter besonders laut sangen, um damit ein Weibchen anzulocken.

»Ich fürchte«, sagte sie leise, um den Vogel nicht zu verschrecken, »du musst noch weiter singen. Ich bin schon vergeben.«

An den kahlen Zweigen des Apfelbogens hingen dicke Wassertropfen, im Nebel wirkten die Gärten wie aus der Zeit gefallen. Heligan war am schönsten im Regen. Das hatte Ben einmal zu ihr gesagt, als sie noch ganz neu hier gewesen war.

In Heligan hatte sie nicht nur Zuflucht und Arbeit gefunden, sondern auch eine neue Liebe: Ben Pascoe, der in Heligan als Gärtner und Landschaftspfleger arbeitete und mit dem sie nun schon seit einigen Wochen zusammen war.

Sie ließ den Gemüsegarten hinter sich und verlangsamte ihre Schritte, bis sie die gemauerte, leicht gebogene Wand des Melonenhofs erreicht hatte und durch eine geöffnete grün gestrichene Tür eintrat.

In dem ummauerten Hof mit seinen Treibhäusern und Schuppen war zu dieser frühen Stunde noch kein Mensch zu sehen. Lexi blieb stehen, um eines der alten Treibhäuser zu betrachten, an dessen Scheiben Wassertropfen herunterrannen. An ihrem unteren Rand hatte sich eine feine grüne Moosschicht gebildet. Am Ende des Winters würde die gesamte Heligan-Belegschaft hier wieder putzen müssen. Das war auch eine von Lexis ersten Aufgaben gewesen, als sie vor gut neun Monaten nach Heligan gekommen war.

Durch die leicht beschlagenen Glasscheiben einer abgedeckten, gemauerten Grube konnte sie verschwommen die Umrisse einiger Ananas erkennen, die hier wie in früheren Zeiten mithilfe von frischem Pferdemist gezogen wurden. Dies war die einzige funktionierende, mit Dung beheizte georgianische Ananasgrube der Welt, wie jeder der Heligan-Guides nie müde wurde zu betonen.

Lexi lenkte ihre Schritte zum alten Steward’s House aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Früher hatte hier der Gutsverwalter mit seiner Familie gewohnt. Jetzt gab es im Erdgeschoss ein Besuchercafé, und im ersten Stock lagen einige Büros für Mitarbeiter. Darunter auch Lexis, das sie sich mit der Aushilfe Eliza teilte.

Zeit, mit der Arbeit anzufangen.

In diesem Jahr waren dreißig Jahre seit der Wiedereröffnung Heligans vergangen. Zu diesem Anlass sollte es neben diversen Feierlichkeiten und Veranstaltungen auch eine große dreiteilige Ausstellung geben, in der auf einige historische Hintergründe eingegangen würde. Diese auszugestalten lag in Lexis Verantwortung.

Nachdem sie sich in der ersten Etage, die den Mitarbeitern vorbehalten war, kurz frisch gemacht hatte, schaute sie in einem der Nebenräume vorbei. Hier sammelte sie die Unterlagen, die sie bereits für die Ausstellungen vorbereitet hatte. Dabei würden drei historische Epochen, die für Heligan wichtig waren, näher beleuchtet werden. Bei diesen Ausstellungen, so der Wunsch ihrer Chefin Theodora, sollte es vor allem um »Geschichten hinter der Geschichte« gehen. Zu diesem Zweck hatte Lexi in den vergangenen Monaten nicht nur in Heligan und seinem Archiv recherchiert und viele interessante Dinge zusammengetragen, sondern war mit Ben auch im großen Cornwall-Archiv von Kresen Kernow gewesen, wo sie weitere historische Dokumente hatte einsehen können.

Inzwischen waren die Materialien für zwei der Ausstellungen fertig.

Im ersten Teil würde es um das späte achtzehnte Jahrhundert gehen, als die Heligan-Gärten unter ihrem Gutsherrn Henry Hawkins Tremayne neu gestaltet worden waren. Lexi hatte nicht nur viel über englische Landschaftsgärten herausgefunden, sondern auch die Lebensgeschichte von Henrys junger Verwandten Damaris Tremayne ausgekramt. Damaris hatte Henry auf einer langen Reise, einer sogenannten Grand Tour, durch Englands Gärten begleitet, wo Henry Inspiration für sein eigenes Anwesen suchte. Einige Zeit nach ihrer Rückkehr hatte Damaris ihre heimliche Liebe Julian Harrington geheiratet, einen ehemaligen Schiffbrüchigen, der später Henry Tremaynes Gutsverwalter geworden war. Damaris und Julian hatten mit ihrer Familie im Steward’s House gelebt – dem Haus, in dem Lexi ihr Büro hatte.

Der zweite Teil der Ausstellung würde sich mit den Pflanzenjägern beschäftigen. So nannte man die reisenden Botaniker und Abenteurer, die im neunzehnten Jahrhundert fremde Länder auf der Suche nach exotischen Pflanzen besuchten und die unbekannten Gewächse nach Europa brachten. Mehr durch Zufall war Lexi bei ihren Recherchen auf den Namen Avery Harrington gestoßen, offenbar ein Sohn von Julian und Damaris. Auch über ihn hatte Lexi einiges herausbekommen. Er war nach einem verbotenen Duell nach Indien geflohen und hatte an einer Expedition nach Nepal teilgenommen.

Jetzt stand noch der dritte und letzte Teil aus, der den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts behandeln sollte, als Heligan florierte, bis der Erste Weltkrieg über Europa hereinbrach.

Zu Lexis Überraschung war einer von Bens Vorfahren damals ebenfalls Gärtner in Heligan gewesen. Dieser Vorfahr, Vincent Payne, war ebenso wie viele andere seiner Kollegen in den Krieg gezogen. Bens Opa Richard war Vincents Enkel – Lexi hatte den alten Herrn vor knapp zwei Wochen kennengelernt, als Ben sie zu seiner Familie mitgenommen hatte, die an der Nordküste Cornwalls lebte. Bei dieser Gelegenheit hatte sie mit Bens Großvater auch über Vincent reden können, woraufhin er ihr unter anderem dessen militärische Erkennungsmarke gezeigt und ihr erlaubt hatte, sie für ihre Ausstellung zu fotografieren.

Wieder zurück in Heligan hatte sie dann im Archiv eine alte sepiafarbene Fotografie im Postkartenformat gefunden, sie aber zwischenzeitlich wieder vergessen. Diese Karte nahm sie an diesem Morgen noch einmal vorsichtig in die Hand.

Es war keine Jahreszahl verzeichnet, aber der Kleidung der Menschen nach musste das Bild Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen worden sein. Sie drehte die Karte um. Mr Dalby Smith, Mevagissey, stand dort zu lesen. Aber keine weiteren Namen oder Informationen zu den Abgebildeten. Schade.

Sie betrachtete erneut die Vorderseite. Das Bild zeigte einige Gärtner und Arbeiter aus Heligan, die sich zu einem Gruppenfoto vor der großen Holztür zusammengefunden hatten, die in den Blumengarten führte. Insgesamt waren dort zwölf ernst blickende Männer abgebildet, alle in Sonntagsstaat mit Anzügen, Weste und manche mit Krawatte. Fast alle trugen eine Kopfbedeckung – Bowler oder Schiebermütze –, und die meisten von ihnen waren jung.

Hinten in der Mitte standen zwei junge Männer. Bens Opa hatte Lexi bei ihrem Besuch auch ein Porträtfoto seines Großvaters Vincent gezeigt, auf dem dieser in Uniform abgebildet war. Jetzt ärgerte sich Lexi ein wenig, dass sie dieses Bild nicht ebenfalls fotografiert hatte. Inzwischen war sie sich nämlich nicht mehr sicher, welcher der abgebildeten Männer wirklich Bens Vorfahren zeigte. Sie glaubte, sich zu erinnern, dass Vincent blond gewesen war. Allerdings war es der dunkelhaarige junge Mann neben dem Mann, den sie für Vincent hielt, weil er Ben viel ähnlicher sah.

*

»Sieh mal, das Original davon habe ich im Archiv gefunden.« Lexi öffnete das Bild der Arbeiter auf ihrem Laptop und drehte ihn so, dass Ben es sehen konnte. Sie saßen am Küchentisch in seiner kleinen Wohnung in St Austell. Lexi hatte die alte Postkarte fotografiert und auf ihrem Laptop gespeichert. »Kennst du es?«

Ben betrachtete das Bild und nickte langsam. »Das hab ich schon mal irgendwo gesehen.«

»Vermutlich in einem Buch. Dein Opa meinte ja auch, dass irgendwo so ein Bild existiert«, sagte Lexi. »Ich werde für die Ausstellung einen großen Abzug davon machen lassen. Und auch noch einen kleineren, den ich Richard zukommen lasse, das habe ich ihm schließlich versprochen.«

»Das ist sehr nett von dir. Darüber wird er sich sicher freuen.«

Sie drehte den Rechner wieder ein wenig weiter zu sich. »Und? Welcher von diesen Männern ist dein Ururgroßvater Vincent Payne?«

Ben überlegte nur kurz. »Der da«, sagte er dann und deutete auf denselben blonden jungen Mann, den auch Lexi bislang für Vincent gehalten hatte. »Glaube ich.«

»Aber du bist dir nicht ganz sicher?«

»Doch, ziemlich. Allerdings kenne ich ja auch nur ein Foto von ihm – dasselbe, das mein Opa dir neulich gezeigt hat. Also habe ich auch nicht mehr Informationen als du.«

»Okay. Und was ist mit dem Mann daneben? Der dunkelhaarige?«

Ben warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. »Was soll mit ihm sein?«

»Findest du nicht, dass er dir ziemlich ähnlich sieht?«

»Mir?« Er schaute noch einmal genauer hin und runzelte die Stirn. »Könnte sein. Vielleicht.« Er blickte Lexi an. »Und was soll mir das jetzt sagen? Dass nicht Vincent mein Vorfahr ist, sondern dieser andere hier?«

»Nein, natürlich nicht. Vermutlich ist es nur eine zufällige Ähnlichkeit.«

Er grinste. »Du meinst, ich habe so ein Dutzendgesicht, da kommt so was schon mal vor?«

»Du hast ganz sicher kein Dutzendgesicht, im Gegenteil!« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn. Als sie sich ein paar Minuten später voneinander lösten, fiel Lexi etwas ein, und sie zog den Laptop wieder zu sich.

»Das hätte ich ja fast vergessen. Ich habe geschaut, ob irgendwo steht, wer die Leute auf dem Bild waren, aber ich habe nichts gefunden. Nur den Namen des Fotografen, und den habe ich natürlich gegoogelt.«

Dalby Smith, hatte sie herausgefunden, war ein Fotograf mit einem Studio in Mevagissey gewesen, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts viele Ansichtskarten gestaltet und Fotos von Menschen und der Umgebung gemacht hatte.

»Aber dann«, sagte sie in leisem Triumph, »habe ich es entdeckt. In einem Buch über Heligan. Und zwar einen Auszug aus dem Arbeitsbuch des Obergärtners von damals.«

Sie öffnete eine neue Datei und präsentierte Ben ihren Fund. Abgebildet waren dort zwei Seiten eines großen Notizbuchs, auf denen oben links in gut lesbarer Handschrift »April 1914« eingetragen war. Auf den abgebildeten Seiten standen die Namen etlicher Männer, dazu die Wochentage und die verschiedenen Bereiche, in denen sie gearbeitet hatten – im Garten und auf den übrigen Gutsflächen. Am Ende jeder Zeile waren die Anzahl der gearbeiteten Tage aufgelistet sowie der Wochenlohn.

»Sieh dir die Namen an«, sagte Lexi.

»A. Smaldon«, las Ben vor. »J. James, G. Holman, V. Payne – wow, das muss Vincent sein! Und gearbeitet hat er von Montag bis Samstag.« Er hob den Kopf. »Ich bin beeindruckt. Hast du noch mehr davon?«

Lexi schüttelte den Kopf. »Nein, leider waren in dem Buch nur diese beiden Seiten abgebildet. Aber so leicht gebe ich nicht auf.«

Demnächst würde sie noch einmal weiter im Heligan-Archiv auf die Suche gehen. Möglich, dass irgendwo dort auch das Original des Arbeitsbuchs existierte.

2LEXI

Heligan Gardens, Cornwall, Ende Dezember

Heligan hatte ganzjährig geöffnet, nur am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag war für Besucher geschlossen. Was allerdings nicht bedeutete, dass auch die Belegschaft freihatte, denn in einer großen Anlage wie Heligan gab es immer etwas zu tun. An Weihnachten und Silvester musste Ben arbeiten – er hatte im vergangenen Jahr Urlaub gehabt, und nach dem Wechselprinzip war er dafür in diesem Jahr dran.

Auch Lexi nutzte die Zeit, um einige liegen gebliebene Sachen zu erledigen, und am fünfundzwanzigsten Dezember feierten sie Weihnachten zu dritt – Lexi, ihre Mitbewohnerin Cait und Ben, ganz altmodisch mit Braten, Plumpudding und einigen mit Süßigkeiten gefüllten roten Socken, die sie in Ermangelung eines Kamins an die Fensterbank hängten.

Cait leckte sich die Finger ab, nachdem sie eine ihrer geschenkten Schokopralinen verputzt hatte. »Wenn ich daran denke, dass ich letztes Jahr Weihnachten mit meinem bekloppten Ex zusammen verbracht habe …« Sie schüttelte sich.

Lexi nickte. »Ich auch mit meinem«, sagte sie leise.

Inzwischen erschien ihr ihr früheres Leben in London, wo sie als PR-Managerin gearbeitet hatte, wie eine ferne, sehr schlechte Erinnerung, dabei war es nicht einmal ein Jahr her, dass sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte. Noch immer wusste kaum jemand davon, dass Lexi Davies nicht ihr richtiger Name war, sondern Emilia Andrews, und dass sie vor ihrem brutalen Freund Rob geflohen war, der mehrmals gedroht hatte, sie umzubringen. Und nicht nur gedroht – einmal hatte er sie so stark gewürgt, dass sie tatsächlich geglaubt hatte zu sterben. Erst vor wenigen Wochen hatte sie es gewagt, sich Ben anzuvertrauen und ihm die ganze vertrackte Geschichte zu erzählen. Cait wusste bislang nur, dass Rob noch immer nicht aufgegeben hatte, nach ihr zu suchen.

Bens Hand schloss sich um Lexis und drückte sie leicht, und sogleich fühlte sie sich wieder stärker. Sie war nicht mehr allein.

*

Schon kurz nach dem Jahreswechsel tauchten die ersten Frühblüher in Heligan auf. Fast täglich konnte man beobachten, wie neue lilafarbene Krokusse und weiße Schneeglöckchen auf den Rasenflächen erschienen, und im Nördlichen Garten brachten gelbe Narzissen Farbe und eine erste Ahnung von Frühling.

Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen des Landes hielt der Frost in Cornwall nie lange an, was bedeutete, dass die Blüte früh einsetzte. Jetzt begann auch die Zeit der Kamelienblüte – Pflanzen, die schon seit hundertfünfzig Jahren in Heligan wuchsen. Viele davon waren bereits von Jack Tremayne, dem letzten Squire, hier angepflanzt worden. Nahe beim Western Ride konnte man die ersten tiefrosa blühenden Kamelienbüsche sehen.

Und Mitte Februar öffneten sich dann die ersten Magnolienknospen. Obergärtner Derek übermittelte jeden Tag die genaue Anzahl der geöffneten Blüten an das Spring Story Bloomometer, denn Heligan war einer der Gärten, die dazu beitragen durften.

Als Lexi im vorigen Jahr an einem regnerischen Tag Ende Februar in St Austell angekommen war, hatte sie zum ersten Mal von dieser noch nicht allzu alten Tradition gehört. Für das Bloomometer dokumentierten die sechs großen Gärten von Cornwall jedes Frühjahr, wie viele Blüten an einem vorher bestimmten Magnolienbaum geöffnet waren. Sobald jede dieser sechs Magnolien fünfzig geöffnete Blüten trug, wurde der Frühlingsanfang in Cornwall verkündet. In diesem Jahr war es am 22. Februar endlich so weit: Alle sechs Gärten meldeten fünfzig geöffnete Magnolienblüten. Der Frühling war in Cornwall angekommen.

Zum Jubiläum von Heligans Wiedereröffnung vor dreißig Jahren sollte es nicht nur Lexis drei Ausstellungen geben, sondern auch eine Outdoor-Theater-Aufführung, für die eine örtliche Theatergruppe engagiert worden war. Die ersten Proben dafür hatten schon kurz nach dem Jahreswechsel begonnen. Das Stück war ohne Lexis Mitwirkung entstanden, aber es passte gut, denn es würde ebenso wie Lexis dritte Ausstellung die Zeit des Ersten Weltkriegs behandeln.

Neben einer Handvoll professioneller Schauspieler brauchte man dafür etliche freiwillige Statisten. Einige Heligan-Mitarbeiter hatten sich dazu bereit erklärt, aber weil vor allem männliche Statisten fehlten, hatte man auch Ben gefragt, ob er Lust hätte mitzuspielen. Nach kurzem Zögern – er wisse doch gar nicht, was er da tun solle – hatte er zugestimmt. Er durfte sich aussuchen, in welcher der Gruppen er sich beteiligen wollte, und hatte sich für einen der Soldaten entschieden.

Seit einigen Monaten teilte Lexi sich eine Wohnung mit ihrer Kollegin Cait im nahe gelegenen Mevagissey. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, sah die Küche aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Überall lagen und standen Schüsseln, Küchenutensilien und Zutaten herum, alles war mit Mehl bestäubt.

»Heute nicht beim Liebsten?«, fragte Cait.

Lexi schüttelte den Kopf. »Ben ist beim Sport. Trainiert die Jugendgruppe.«

»Stimmt ja. Aikido, richtig?«

Lexi nickte. »Was machst du da?«

»Das frage ich mich auch gerade.« Cait schob sich eine rote Strähne hinters Ohr. »Ich probiere etwas Neues aus. Du hast doch mal so ein richtig altes Rezept mitgebracht, weißt du noch?«

Lexi stellte ihre Tasche ab und begutachtete das Chaos. »Du meinst das älteste bekannte Rezept für Cornish Pastys? Hatte das nicht irgendjemand an den Vater von Henry Hawkins Tremayne geschickt?«

Cornish Pastys waren die in ganz Cornwall berühmten gefüllten Teigtaschen.

»Ganz recht, genau das.« Cait nickte. »Es ist über zweihundertfünfzig Jahre alt.«

»Und das willst du nachbacken?«

»So ist es. Mein Chef Peter und ich haben beschlossen, diese Pastys auszuprobieren. Und wenn sie was werden, dann wollen wir sie zum Jubiläum in der Cafeteria servieren. Ich versuche, mich ganz genau an das Rezept zu halten, aber manche Dinge erschließen sich mir einfach nicht.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich rote Farbe reintun soll.«

»Rote Farbe?«, wiederholte Lexi skeptisch.

»Schau her.« Cait hielt ihr einen Computerausdruck unter die Nase. Ältestes Rezept für Cornish Pasty aus dem Jahr 1746, stand darüber. Ihr Finger deutete auf eine Zeile recht weit oben.

»Hier. Lies selbst.«

Das Fleisch einer Hammelkeule wird mit Cochenille eingerieben, dann mit Muskatblüte, Nelken und Piment gewürzt, jeweils in gleicher Menge, mit Salz und ein wenig Pfeffer.

»Cochenille?«, Lexi schaute sie fragend an.

»Das ist besagter roter Farbstoff«, erklärte Cait. »Ich hab mich informiert. Wurde früher aus Läusen gewonnen, und damit färbte man das, was man in die Pastete packte. Heute nutzt man künstlichen Farbstoff dafür.« Sie schüttelte den Kopf. »Wobei ich es nicht wirklich verstehe. Solches Zeug schmiere ich mir in die Haare, aber doch nicht ins Essen.«

Lexi hob die Schultern. »Keine Ahnung, warum. Vermutlich, damit es appetitlicher aussieht.«

Sie entschieden sich gegen die Rotfärbung der Fleischfüllung. Lexi half Cait beim Fertigstellen, und bald schon befand sich eine kleine Schar gefüllter Teig-Halbmonde im Ofen.

»Nachdem ich heute für das Essen gesorgt habe«, sagte Cait und kratzte sich mit einer mehlbestäubten Hand am Kinn, »bist du dran, dir einen Film auszusuchen.«

»Okay.« Lexi hatte sich schnell entschieden. »Titanic.«

Cait grinste so breit, dass man die beiden winzigen silbernen Piercings unter ihrer Oberlippe sehen konnte. »Super. Ich steh auf Leo DiCaprio, und du kannst zeitgenössische Recherchen für deine nächste Ausstellung betreiben.«

Und nach einem Imbiss mit den Cornish Pastys nach altem Rezept, die noch ein wenig verbesserungswürdig waren, machten sie es sich auf dem Sofa bequem, um in die Welt von 1912 einzutauchen und dem Zusammentreffen von Jack und Rose auf dem legendären Luxusdampfer entgegenzufiebern.

3VINCENT

Hafen von Southampton, April 1912

Der riesige schwarze Schiffsrumpf schien direkt vor ihm aus dem Wasser zu wachsen. Vincent musste den Kopf in den Nacken legen, um bis zum obersten Deck schauen zu können, wo sich die vier leicht schrägen Schornsteine erhoben. Die RMSTitanic war ein wahres Ungetüm aus Stahl und ein Beispiel hervorragender Ingenieurskunst.

Am Kai herrschte bereits jetzt, zwei Stunden vor der geplanten Abfahrt, ein ziemliches Durcheinander. Viele ärmlich gekleidete Menschen, darunter etliche Kinder, drängten sich vor einer Zugangsbrücke, wo ihnen ein livrierter Mann Anweisungen erteilte. Rufe und Lachen hallten über den Platz. In Vincents Nähe fuhr ein Automobil vor, dem ein vornehmes Paar entstieg, während sein Personal sich um das Gepäck kümmerte. Was die beiden wohl nach Amerika führte?

Ein freundschaftlicher Stoß in die Seite holte ihn aus seinen Gedanken.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass es gigantisch ist?«, fragte Nicholas. »Das größte Schiff, das je gebaut wurde. Natürlich zusammen mit ihren beiden Schwesterschiffen.«

»Ich weiß«, gab Vincent zurück. »Es ist ja nicht so, als hättest du mir das alles nicht schon hundertmal erzählt.«

»Natürlich. Aber es ist doch etwas anderes, dieses Wunder der Technik in natura zu sehen. Die Titanic ist unsinkbar. Sie kann bis zu vierundzwanzig Knoten schnell fahren, und sie hat Platz für mehr als zweitausend Menschen.«

Diese Zahlen waren zwar erstaunlich, interessierten Vincent allerdings nicht so sehr wie Nicholas, der für jede technische Neuerung zu haben war. Für Vincent dagegen zählte vor allem, dass sie mit diesem riesigen Schiff nach Amerika reisen würden.

»Ja«, sagte er. »Und wir werden zwei davon sein. Sofern dieser Joe Brown mit unseren Fahrkarten rechtzeitig auftaucht.«

Nicholas – genau wie Vincent zwanzig Jahre alt, ein paar Inches größer als sein Freund, dunkelhaarig und gut aussehend – schulterte seinen einfachen Rucksack aus Segeltuch.

»Natürlich wird er das. Na los, lass uns diesen Pub suchen.« Er warf einen Blick auf den Zettel mit der kurzen Wegbeschreibung, die man ihnen gegeben hatte, und deutete auf eine nahe gelegene Kreuzung. »Dort entlang.«

Vincent folgte seinem Freund, der sich nun von der Menge fortbewegte und zielstrebig durch die Straßen lief.

»Da ist es«, sagte Nicholas nach wenigen Minuten und deutete auf ein dreistöckiges gelbes Backsteingebäude, über dessen Eingang in großen goldenen Lettern The Grapes prangte. Der Pub, in dem sie sich mit ihrem Mittelsmann treffen sollten, existierte also wirklich. Vincent hatte bis zuletzt leise Zweifel daran gehabt. Jetzt erfüllte ihn eine Mischung aus Erleichterung, Anspannung und Vorfreude. Wenn alles glatt liefe, wären sie demnächst an Bord der Titanic.

Als sie den Pub betraten, war kein freier Platz mehr zu finden, obwohl es noch nicht einmal elf Uhr war.

Vincents Blick glitt suchend durch den Raum. Der Pub war voll mit Menschen jeglichen Alters und unterschiedlicher Nationalität. An einem Tisch am Fenster saßen vier Männer, die sich in einem Gemisch aus Englisch und einer anderen Sprache unterhielten und Karten spielten. Nur Mr Brown war nicht da. Dabei wäre der etwas übergewichtige, rotgesichtige Mann nicht so leicht zu übersehen gewesen.

»Er kommt sicher gleich«, sagte Nicholas. »Er hat doch gesagt, er würde sich möglicherweise etwas verspäten. Und wenn er selbst nicht kommen kann, dann schickt er einen Vertreter.«

»Und wenn nicht?«

»Jetzt sei doch kein solcher Schwarzseher. Es wird schon alles gut werden.« Dennoch sah Vincent seinem Freund einen kleinen Zweifel an.

Sie warteten einige Minuten, aber kein neuer Gast trat ein. Als zwei Plätze am Tresen frei wurden, nutzten sie die Gelegenheit und fragten den Wirt des Pubs, ob ein Mr Joe Brown hier etwas für sie abgegeben habe oder sogar selbst anwesend sei. Aber der Wirt schüttelte nur den Kopf und fuhr fort, Bier auszuschenken und zwischendurch die Theke abzuwischen.

Ein junger Mann mit Schiebermütze trat neben sie an den Tresen, um sein leeres Glas zurückzugeben.

Nicholas, der stets der Erste war, wenn es darum ging, auf Leute zuzugehen, wandte sich an ihn. »Kennen Sie zufällig einen Joe Brown?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid. Ich bin nicht von hier«, sagte er mit dem Hauch eines Akzents, den Vincent allerdings nicht einordnen konnte. Er deutete auf ihr Gepäck. »Ihr wollt also auch nach Amerika?«

»Allerdings«, gab Nicholas zurück. »Mit der Titanic.«

»Dann werden wir wohl zusammen reisen«, sagte ihr neuer Bekannter und hielt Nicholas die Hand hin. »Colin. Colin Jones. Weltreisender und Fotograf.«

»Nicholas Barnett«, sagte Nicholas und schüttelte ihm die Hand. »Und das ist mein Freund Vincent Payne.«

Auch Vincent ergriff die dargebotene Hand.

»Sie sind … Du bist Fotograf?« Wenn der andere so vertraut mit ihnen sprach, konnten sie sich auch duzen.

»Unter anderem. Ich werde Mr und Mrs Straus auf dieser Reise ablichten«, sagte Colin mit kaum verhohlenem Stolz. »Ihr wisst, wer Isidor und Ida Straus sind? Eines der reichsten Paare Amerikas. Ihnen gehört ein Kaufhaus.«

»Natürlich.« Nicholas nickte, als ob er darüber Bescheid wüsste, dabei war Vincent sicher, dass sein Freund genau wie er selbst noch nie von den beiden gehört hatte. »Wir sind Gärtner.«

»Gärtner«, wiederholte Colin. »Und was macht man als Gärtner in Amerika?«

»Gibt es in Amerika keine Gärten?«

Colin lachte. »Nun, ich gehe doch mal davon aus.« Er musterte sie kurz. »Ich nehme an, ihr reist dritter Klasse?«

Vincent nickte. »Sofern wir überhaupt noch an unsere Tickets kommen.«

Colins Augen wurden groß. »Ihr habt noch keine Tickets?«

»Nein. Das heißt, doch. Fast. Wir warten hier auf den Mann, der uns unsere Fahrkarten bringen soll.«

»Diesen Joe Brown, nach dem ihr mich gefragt habt?«, fragte Colin. »Wie seid ihr denn an den geraten?«

Und so erzählten sie es ihm. Bislang hatten sie beide in einer Handelsgärtnerei in East Hampshire gearbeitet. Vor wenigen Wochen waren sie nach Feierabend in einen Pub gegangen, um etwas zu trinken, und kamen irgendwann auf ihre Pläne zu sprechen, nach Amerika auswandern zu wollen. Zu ihrer Freude hatten sie an diesem Tag dort einen Mann getroffen, der auf der Durchreise war und der ihnen zusicherte, an günstige Tickets für die Titanic kommen zu können. Für eine entsprechende Anzahlung würde er sich um alles kümmern. Die Restsumme könnten sie später ratenweise in Amerika abbezahlen, sobald sie dort Arbeit gefunden hätten. Das klang für sie nach einem fairen Handel.

Colins Miene war ernst. »Lasst mich raten: Ihr habt die Anzahlung geleistet?«

Nicholas nickte. »Ja, haben wir. Das waren fast unsere gesamten Ersparnisse, aber das war es uns wert.« Er warf einen Blick zur Tür. »Ich hoffe, er kommt bald. Sonst wird es langsam eng.«

Colin seufzte. »Tut mir leid, Jungs, euch das sagen zu müssen, aber das hört sich ganz so an, als wärt ihr einem Betrüger aufgesessen.«

Vincent wurde es plötzlich ganz kalt.

»Was?« Nicholas schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Mr Brown hat uns sogar seine Visitenkarte gegeben. Hier.« Er kramte in seiner Westentasche und zeigte Colin die Karte mit der feinen Prägung, von der sie damals ziemlich beeindruckt gewesen waren.

Colin war es nicht. »Jeder mit ein bisschen Geld kann sich so eine Visitenkarte drucken lassen. Das ist kein großes Hexenwerk und beweist gar nichts.« Er drehte die Karte in der Hand. »Und was ist das überhaupt für ein Name: Joe Brown? Findet ihr nicht, dass sich das irgendwie falsch anhört?«

Ein lautes Schiffshorn ertönte dreimal kurz hintereinander, und auf dieses Zeichen hin leerte sich der Pub schlagartig. Auch Colin griff nach seiner Reisetasche.

»Tut mir wirklich leid für euch, Jungs. Ich hätte gern noch länger mit euch geplaudert, aber ich muss los, sonst verpasse auch ich das Schiff, und dann kann ich meine Anstellung vergessen. Ich drücke euch die Daumen, dass ich unrecht habe und dieser Mr Brown doch noch in den nächsten Minuten auftaucht.«

Er verabschiedete sich von ihnen und ging.

Mr Brown kam nicht und auch nicht ein Ersatzmann. Nicht in den nächsten Minuten und auch nicht in der nächsten Stunde. Colins Vermutung hatte sich bewahrheitet: Man hatte sie betrogen.

Und so standen sie beide um kurz nach zwölf in der jubelnden Menge am Kai und sahen stumm zu, wie die Titanic ablegte und in See stach, der Neuen Welt entgegen. Nur leider ohne sie.

»Danke«, murmelte Nicholas, während sich die Zuschauer allmählich zerstreuten.

»Wofür?«

»Dass du nichts sagst wie ›Ich hatte gleich ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache‹ oder so was.«

Vincent seufzte. Was würde es bringen, seinem Freund jetzt Vorwürfe zu machen? »Ich bin genauso auf diesen Betrüger hereingefallen wie du.«

Von einer Bude am Hafen wehte der Geruch von Fish and Chips zu ihnen herüber. Trotz der Enttäuschung fing Vincents Magen an zu knurren.

»Lass uns was zu essen kaufen«, schlug er vor.

Das taten sie, und kurz darauf saßen sie auf der Kaimauer und teilten sich eine Portion frittierten Fisch mit Kartoffelstäbchen. Manche der Kartoffelstücke wiesen schwärzliche Flecken von der Druckertinte der Zeitung auf, in die sie eingepackt waren, aber das störte sie nicht.

»Vielleicht sollte das so sein.« Nicholas lachte, wenn auch ohne wirkliche Freude. »Wer weiß, vielleicht geht das Schiff ja unter. Dann ist es nur gut, dass wir nicht drauf sind.«

Vincent warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Hast du mir nicht vorhin erst zum wiederholten Mal erzählt, die Titanic sei unsinkbar?«

»Natürlich ist sie das. Ich hab das nur gesagt, damit du dich besser fühlst.« Nicholas wischte sich die fettigen Hände an seinem Leinenrucksack ab, den er neben sich auf die Kaimauer gestellt hatte. »Wir finden ein anderes Schiff.«

»Wir haben kaum noch Geld«, erinnerte Vincent ihn.

»Dann werden wir es uns erarbeiten. Gute Gärtner werden immer gebraucht.«

»Wenn du es sagst.«

»He, Kopf hoch, Vince. Wir finden schon was.«

»Natürlich. Fragt sich nur, wo.«

Nicholas zuckte mit den Schultern. »Wir könnten es zum Beispiel in London versuchen, in den Kew Gardens.«

»Einfach so, auf gut Glück?«

»Ja, warum nicht? Oder hast du eine bessere Idee?«

Vincent steckte sich das letzte frittierte Kartoffelstäbchen in den Mund und kaute gründlich und mit Bedacht. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal etwas Anständiges zu essen bekommen würden? Er schluckte und leckte seine Finger ab, die ein wenig nach Druckerschwärze schmeckten. Dann nahm er die Zeitungsseite, in die ihr Mahl wie in einer Tüte eingewickelt gewesen war, und strich sie sorgfältig glatt. »Bell News« war auf der oberen Zeile zu lesen.

»Man könnte zum Beispiel hier anfangen. Sieh mal«, sagte er. »Hier sind sogar ein paar Stellenanzeigen.«

Gemeinsam beugten sie sich über die Seite und studierten die eng gedruckten Anzeigen, bei denen manche Buchstaben durch das Fett etwas verschwommen waren. Hauspersonal wie Zimmermädchen und Kammerdiener wurde gesucht, aber natürlich keine Gärtner.

Nicholas sprang von der Mauer. »Ich frage den Essensverkäufer, ob er uns noch ein paar Anzeigenseiten gibt.«

Vincent sah ihn mit dem Händler reden, dann kehrte er mit einigen weiteren, in große Dreiecke geschnittenen Zeitungsseiten zurück.

»Ich musste ihm versprechen, sie zurückzugeben, wenn wir sie durchgesehen haben.«

Er reichte Vincent zwei der Zeitungsdreiecke und vertiefte sich in die Lektüre.

»Sieh mal«, stieß Vincent kurz darauf aufgeregt hervor. »Hier wird tatsächlich ein Gärtner gesucht!«

»In Kew?«

»Nein, irgendwo in – warte, hier steht es – in Cornwall. In einem Garten namens Heligan.«

»Nie gehört.« Nicholas ließ seine Seiten sinken und beugte sich mit Vincent über die Anzeige.

Stelle zu besetzen, stand dort. Gärtner zum nächstmöglichen Zeitpunkt gesucht. Muss Erfahrung und Empfehlungen früherer Arbeitgeber haben. Für Einzelheiten und Lohn bewerben Sie sich bei B. Griffin, Heligan Gardens, Pentewan R.S.O., Cornwall.

Vincent hob den Kopf. »Das hört sich doch gut an, oder nicht?«

»Sie suchen nur einen Gärtner, nicht zwei«, gab Nicholas zu bedenken.

»Wenn sie einen nehmen, nehmen sie auch zwei. Und es ist ja nicht so, dass wir keine Referenzen hätten.«

»Aber das ist in Cornwall. Bestimmt irgendwo am Ende der Welt«, sagte Nicholas. »Ich bin immer noch für Kew. Das ist viel bekannter und renommierter.«

»Und ich für Heligan«, gab Vincent zurück. Seine verstorbene Mutter stammte aus Cornwall, und auch wenn er selbst noch nie dort gewesen war, fühlte er sich der Gegend verbunden.

»Also, was machen wir? Werfen wir eine Münze?«

Das hatten sie schon oft getan, wenn es um größere oder kleinere Entscheidungen ging.

»Einverstanden.«

Nicholas kramte aus seiner Westentasche einen silbernen Shilling heraus, wog ihn kurz in der Hand, warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf und legte ihn verdeckt auf seinem linken Handrücken ab.

»Kopf für Heligan, Krone für London?«, schlug er vor.

Vincent nickte.

Nicholas nahm die Hand von der Münze. Das Abbild des kahlen, bärtigen Kopfes von König George V. lag oben.

»Also wird es Heligan«, sagte Nicholas leicht enttäuscht.

4VINCENT

Auf dem Weg nach Heligan, April 1912

Die knapp zweihundert Meilen nach Heligan legten Vincent und Nicholas hauptsächlich zu Fuß zurück. Zweimal konnten sie eine kurze Strecke auf einem Pferdefuhrwerk mitfahren, aber die meiste Zeit liefen sie. Unterschlupf für die Nacht fanden sie in Scheunen, Ställen oder auch unter freiem Himmel, und da es in diesem April, anders als im Vormonat, nur wenig regnete, war das alles kein Problem.

Fünf Tage später erreichten sie St Austell. Dort schliefen sie in einem Heuschober etwas außerhalb der Stadt, bevor sie sich auf die letzte Strecke des Weges machten.

Als sie sich Heligan näherten, fiel ihnen die üppig gewachsene Allee aus Hartriegelgewächsen auf, die im Frühsommer sicher herrliche Blüten bilden würden. Bald darauf kam ihnen ein offenes rot lackiertes Automobil entgegen, das allmählich langsamer wurde und schließlich neben ihnen stoppte. Am Steuer saß ein Chauffeur mit typischer schwarzer Mütze und daneben eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters, die sich jetzt an die beiden wandte.

»Wohin des Weges, meine Herren?«

»Nach Heligan, Ma’am«, gab Nicholas zurück und zog sich mit leichter Verspätung die Kappe vom Kopf. »Wir hoffen, dort Arbeit zu finden.«

»Als was, wenn ich fragen darf?«

»Wir sind ausgebildete Gärtner.«

»Haben Sie Referenzen?«

»Natürlich, Ma’am.«

»Sehr schön. Gute Gärtner kann man immer gebrauchen.« Die Dame begutachtete sie kurz, aber nicht unfreundlich, dann schien sie sich ihr Urteil gebildet zu haben. »Über Ihre Einstellung muss unser Obergärtner entscheiden, aber vielleicht hilft ja meine Empfehlung. Melden Sie sich bei Mr Griffin und sagen Sie, Mrs Tremayne spreche sich für Sie aus. Mr Cullum, fahren Sie.«

Sie nickte ihnen freundlich zu, dann fuhren sie los, noch bevor Vincent oder Nicholas ihnen danken konnten.

Vincent stand da wie vom Donner gerührt, er konnte kaum atmen vor Freude. »Mrs Tremayne? Das war sicher die Frau des Gutsherrn!«

Nicholas nickte, während er den Blick nicht von dem Automobil abwandte, das sich in einer gelblichen Staubwolke von ihnen entfernte.

»Hast du gesehen? Das war ein C.G.V.! Ich würde sagen, ein 1905er-Modell. 25 CV, glaube ich.«

»Was immer du sagst.« Vincents Herz jubelte. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatten sie ihren nächsten Job so gut wie sicher.

Der kleine Raum wirkte heimelig. Vincent stand neben seinem Freund im Büro des Obergärtners und nahm alles in sich auf: das Licht, das durch die beiden Fenster hereinfiel; den gemauerten Kamin in der Ecke, auf dem ein Teekessel stand; die Regalbretter mit eingelegtem Gemüse und den Schreibtisch, an dem Mr Griffin saß und sie mit unbewegtem Gesicht ansah.

»Mrs Tremayne empfiehlt euch also?«, wiederholte er jetzt Nicholas’ Aussage.

»Ja, Sir, das tut sie«, antwortete Nicholas. Er hielt genau wie Vincent seine einfache Kappe in der Hand und knetete sie nervös.

»Alle beide?«

»Ja, Sir, uns beide. Die Gattin des Squire ist mit einem roten Automobil an uns vorbeigefahren. Dann hat sie anhalten lassen, kurz mit uns gesprochen und gesagt, wir sollen sagen, sie spreche sich für uns aus.«

Mr Griffin hatte die Arme über der Brust verschränkt und sah sie mit unbewegtem Gesicht an.

»So, so, die Gattin des Squire«, sagte er schließlich. »Das glaube ich kaum. Der Squire, Mr Jack Tremayne, weilt zurzeit in Italien. Und er ist schon lange nicht mehr verheiratet.«

Alle beide machten betroffene Gesichter. Waren sie etwa schon wieder einer betrügerischen Person aufgesessen?

Dann verzogen sich die Lippen des Obergärtners zu einem schwachen Lächeln, das sofort wieder verschwand. »Ihr habt höchstwahrscheinlich Mrs Ada Tremayne getroffen, die Schwester des Squire. Sie lässt sich Mrs nennen, auch wenn sie nicht verheiratet und somit eigentlich eine Miss ist. Sie hat hier das Sagen, wenn ihr Bruder nicht in Heligan ist.«

Er schaute zwischen Nicholas und Vincent hin und her, dann kratzte er sich am Bart. »Eigentlich brauche ich ja nur einen von euch Burschen.«

Nicholas hielt seinem Blick stand. »Beide oder keinen«, gab er mit fester Stimme zurück.

Der Obergärtner zuckte mit den Schultern, dann glitt abermals der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. Er erhob sich und reichte jedem von ihnen die Hand. »Nun, da Mrs Tremayne sich so für euch einsetzt, will ich es mal mit euch beiden versuchen.«

Gleich am nächsten Tag konnten sie anfangen.

Auf dem Heligan-Gelände waren mehr als zwanzig Gärtner, Arbeiter und Handwerker beschäftigt, die für die Instandhaltung und Pflege der Gartenanlage sowie des Gemüse- und Blumengartens zuständig waren. Außerdem gab es noch zwei junge Lehrlinge von vierzehn oder fünfzehn Jahren.

Da die meisten aus der Gegend kamen, gab es keine eigene Unterkunft für die Gärtner und Arbeiter von Heligan. Aber dafür fand sich schnell eine Lösung. Nicholas kam auf dem Bauernhof einer Pächterfamilie unter, deren Sohn vor Kurzem nach Kanada ausgewandert war. Vincent fand ein bezahlbares Zimmer bei einer älteren Witwe in Mevagissey, die eingewilligt hatte, ihm die Miete bis zu seiner ersten Gehaltszahlung zu stunden. Auch wenn er es zuerst bedauert hatte, dass in Nicholas’ Pächterfamilie nicht auch noch für ihn ein Platz frei gewesen war, so schätzte er bald die Ruhe seiner eigenen Unterkunft.

Jeden Morgen kamen sie alle als Erstes beim Obergärtner zusammen. Dann trug Mr Griffin die Anwesenden in sorgfältiger Schrift in sein großes Buch ein und verteilte die Arbeiten, denen sie alle den Tag über in den Gärten oder den Gewächshäusern nachgehen würden.

Aber als sie sich zwei Tage nach ihrer Ankunft zum Arbeitsbeginn mit den Kollegen im Büro des Obergärtners versammelten, war etwas anders als sonst.

Mr Griffin hatte den Daily Mirror aufgeschlagen, auf dessen Titelseite die Abbildung eines Überseedampfers zu sehen war. Einen, den sie kannten.

Titanic-Katastrophe, lautete die Titelzeile darunter. Das größte Passagierschiff der Welt sinkt nach der Kollision mit einem Eisberg auf seiner Jungfernfahrt.

»Was?«, entfuhr es Nicholas, sobald er die Seite gesehen hatte.

Und dann hörten alle in stummem Entsetzen zu, wie Mr Griffin mit ernster Miene aus dem Innenteil der Zeitung vorlas:

»Ein schreckliches Unglück hat den großen Dampfer Titanic, das größte und luxuriöseste Schiff der Welt, ereilt. Der Dampfer, das jüngste Mitglied der White-Star-Flotte, verließ am vergangenen Mittwoch Southampton auf seiner Jungfernfahrt nach New York und befand sich in der Nähe der Neufundlandbänke südlich von Cape Race, als er auf einen Eisberg auflief – eine in diesen Breitengraden zu dieser Jahreszeit allgegenwärtige Gefahr –, und sank. Es wird befürchtet, dass dabei 1.700 Menschen starben.«

Mr Griffin ließ die Zeitung sinken. Der sonst so stoische Schotte war bleich geworden. »Wie fürchterlich«, murmelte er.

»Wir wären auch fast mitgefahren«, sagte Vincent dumpf in die allgemeine Betroffenheit hinein.

»Und ich hatte noch im Scherz gesagt, vielleicht sinkt sie ja«, ergänzte Nicholas erschüttert. »Aber nur, weil ich mich so geärgert habe, dass wir keine Tickets bekommen haben. Jetzt kann ich gar nicht fassen, wie viel Glück wir hatten!«

Mehr sagte er nicht, aber Vincent war sich sicher, dass sein Freund genau wie er selbst an den jungen Fotografen Colin dachte, den sie am Hafen von Southampton kennengelernt hatten. Ob er sich hatte retten können? Oder lag er jetzt auch wie so viele andere Unglückliche auf dem Grund des Ozeans?

Auch wenn alle natürlich bestürzt waren über das schreckliche Unglück der Titanic, war doch niemand direkt davon betroffen. Und so gingen das Leben und die Arbeit in Heligan schon bald wieder weiter wie bislang.

Der Melonengarten mit seinen geschwungenen Mauern war das Herz des Gartens. In den beiden engen und düsteren Arbeitsgebäuden lagerten Werkzeuge und Geräte, und hier wurden sie auch repariert. Daneben fanden im Melonengarten täglich die wichtigsten Tätigkeiten statt, die Heligan über das Jahr mit frischen Lebensmitteln versorgten. Pflanzensamen wurden in Saatschalen ausgesät, die Setzlinge ausgedünnt, eingetopft und in die Frühbeete gebracht. Sobald das Wetter es erlaubte, wurden diese Pflanzen hinausgetragen, wo sie im Freiland wachsen konnten.

Der Melonengarten war auch ein Ort voller Gerüche. Dung in verschiedenen Duftnoten und weitere Kompostmischungen lagerten in Behältern unter den Bänken des Pflanzschuppens, bereit zum Gebrauch. Überall roch es nach Feuchtigkeit und bittersüß nach Teeröl und Petroleum.

Sie fingen morgens um sieben Uhr an, gearbeitet wurde von Montagfrüh bis Freitagabend und auch noch den halben Samstagnachmittag. Mr Griffin schrieb jeden Tag akribisch auf, wie lange jeder von ihnen tätig gewesen war, und rechnete am Ende der Woche daraus den Lohn zusammen, der ihnen jeden Samstag ausgezahlt wurde.

In Heligan gab es eine komplexe Struktur von Regenwasserkanälen und dampfbetriebenen Gewächshausheizungen, von der Vincent nicht allzu viel verstand. Es genügte ihm, mit den anderen Gärtnerkollegen den Garten und alles, was damit zusammenhing, zu pflegen.

Morgens bewegte er sich als Erstes meist zwischen den Kräuterbeeten, sammelte Petersilie, Schnittlauch und Thymian und zog Karotten- oder Frühlingszwiebelbüschel aus der Erde. Später schnitt er dann gemeinsam mit Nicholas Blumen, setzte vorgekeimte Kartoffeln in die Erde und kümmerte sich um das, was noch anfiel.

Inzwischen blühte auch die Allee aus Cornus capitata, wie diese immergrüne Hartriegelsorte genannt wurde, rechts und links von Heligans Zufahrt – eine herrliche gelb blühende Pracht, die einst, wie Vincent gehört hatte, von einem der Pflanzenjäger Heligans aus dem fernen Nepal nach England gebracht worden war. Angeblich war die Zufahrt in einem Gartenjournal sogar einmal als »eine der schönsten des ganzen Landes« bezeichnet worden.

Jeden Tag wurde geerntet. Was immer man zusammentrug, ging zuerst in den Melonengarten. Dort wurden Obst und Gemüse von den Gärtnern gewaschen und sortiert, und auch die Blumen wurden vorsortiert und in lockeren Bündeln zusammengefasst, bevor alles an der Hintertür von Heligan House abgegeben wurde.

Das große Haus mit den vielen Fenstern, das bis zum obersten Stockwerk mit Efeu bewachsen war, imponierte Vincent, genauso wie seine lange Geschichte. Schon seit mehr als drei Jahrhunderten war Heligan im Familienbesitz der Tremaynes, hatte er von Mr Griffin erfahren. Vor vier Generationen hatte Henry Hawkins Tremayne begonnen, die Gärten vollkommen neu zu gestalten. Alle seine Nachfahren hatten diese Tradition fortgesetzt und den Gärten einen eigenen Stempel aufgeprägt.

Bislang hatten Vincent und Nicholas den Squire noch nicht zu Gesicht bekommen, aber im Mai machte die Nachricht die Runde, dass Mr Tremayne von seinem Italienaufenthalt zurückgekehrt sei, und kurz darauf sahen sie einen schlanken, elegant gekleideten Herrn gemeinsam mit Ada Tremayne durch den Blumengarten flanieren.

Vincent nahm den Rest des Butterkuchens, den es zum Abschluss des gemeinsamen Mittagessens gegeben hatte, und ging damit ein paar Schritte weiter in Richtung der Gewächshäuser. Er lächelte, als er die Vögel sah, die schon auf ihn warteten: etliche Rotkehlchen, Amseln und auch zwei Meisen. Er verteilte die Kuchenkrümel auf dem Boden vor dem Zitronenhaus und sah zu, wie seine gefiederten Freunde begierig die Leckereien aufpickten.

»Ist der Kuchen so schlecht, dass du ihn schon an die Vögel verfüttern musst?«, fragte ihn Nicholas scherzhaft. Die Sonne schien in seine Augen und ließ sie in einem hellen, fast durchscheinenden Blau schimmern.

Vincent schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, der Kuchen schmeckt wunderbar. Aber die Vögel lieben ihn auch.«

»Dann pass bloß auf, dass Lizzie nichts davon erfährt, dass du ihren schönen Kuchen verschmähst.«

»Lizzie, das Küchenmädchen? Ist das deine neueste Herzensdame?«, fragte Vincent, während er die letzten Krümel von seinen Fingern wischte.

Nicholas lachte. »Sie ist nicht meine Herzensdame. Sie ist nur ein nettes Mädchen, das eine Schwäche für mich hat.«