Die Gärten von Heligan - Ruf der Fremde - Inez Corbi - E-Book

Die Gärten von Heligan - Ruf der Fremde E-Book

Inez Corbi

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Beschreibung

Das Jubiläum der berühmten Gärten von Heligan rückt näher, und die junge Lexi und ihr Kollege Ben haben mit der Planung der Feierlichkeiten alle Hände voll zu tun. Während die beiden sich dabei allmählich näherkommen, stoßen sie auf die geheimnisvolle Geschichte eines jungen Mannes, der Heligan im Jahre 1815 überstürzt verlassen musste: Avery, der Sohn des Gutsverwalters, flieht nach einem tragischen Duell auf einem Segelschiff in Richtung Indien. Dort schließt er sich einer botanischen Expedition an, die ihn bis ins entlegene Nepal führt - auf ein Abenteuer von betörender Exotik, bei dem er sich unsterblich in eine undurchsichtige Schönheit verliebt und in tödliche Gefahr gerät ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Die handelnden Figuren

Zitat

1 LEXI

2 LEXI

3 LEXI

4 ALLIE

5 AVERY

6 ALLIE

7 ALLIE

8 ALLIE

9 AVERY

10 LEXI

11 LEXI

12 LEXI

13 ALLIE

14 AVERY

15 AVERY

16 ALLIE

17 AVERY

18 AVERY

19 AVERY

20 ALLIE

21 LEXI

22 LEXI

23 LEXI

24 AVERY

25 AVERY

26 AVERY

27 AVERY

28 ALLIE

29 AVERY

30 LEXI

31 LEXI

32 LEXI

33 ALLIE

34 AVERY

35 AVERY

36 AVERY

37 ALLIE

38 LEXI

39 LEXI

Epilog NAVEEN

Nachwort – Der historische Hintergrund

Zum Weiterlesen

Dank

Über dieses Buch

Band 2 der Reihe »Die verlorenen Gärten«

Das Jubiläum der berühmten Gärten von Heligan rückt näher, und die junge Lexi und ihr Kollege Ben haben mit der Planung der Feierlichkeiten alle Hände voll zu tun. Während die beiden sich dabei allmählich näherkommen, stoßen sie auf die geheimnisvolle Geschichte eines jungen Mannes, der Heligan im Jahre 1815 überstürzt verlassen musste: Avery, der Sohn des Gutsverwalters, flieht nach einem tragischen Duell auf einem Segelschiff in Richtung Indien. Dort schließt er sich einer botanischen Expedition an, die ihn bis ins entlegene Nepal führt – auf ein Abenteuer von betörender Exotik, bei dem er sich unsterblich in eine undurchsichtige Schönheit verliebt und in tödliche Gefahr gerät …

Über die Autorin

Schon früh stand für Inez Corbi fest, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik arbeitete sie jedoch erst einmal einige Jahre als Assistentin der Geschäftsführung bei einem Pflegedienst. Erfolge bei Kurzgeschichten-Wettbewerben motivierten sie schließlich, ihren ersten Roman Die irische Rebellin zu schreiben. Mittlerweile sind fünf Romane und ein Jugendbuch aus ihrer Feder erschienen. Inez Corbi lebt mit ihrer Familie bei Frankfurt.

INEZ CORBI

Ruf der Fremde

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, BonnKarte Innenklappe: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © PhotoStock-Israel / Alamy Stock; Siam SK/Shutterstock und Alvaro Puig/ShutterstockUmschlaggestaltung: Sabine Ruhrberg unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: Konstanttin | Jonas MeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2073-1

luebbe.delesejury.de

Die handelnden Figuren

Die historischen Personen sind mit einem * versehen. Zu einigen von ihnen findet sich auch Weiteres im Nachwort.

HELIGAN GARDENS – GEGENWART

Lexi Davies (eig. Emilia Alexandra Andrews)

Constance Andrews, ihre Mutter

Ben Pascoe, Gärtner in Heligan

Theodora »Theo« Williams, Lexis Chefin

Caitriona »Cait« Murphy, Lexis Mitbewohnerin, Kellnerin in der Cafeteria

Derek Yates, Obergärtner

Eliza Morgan, Aushilfe

Orlando Hill, Guide

Phyllis »Filly« Butterworth, Lexis Großtante

Anett Pascoe, Bens Mutter

Richard Payne, Bens Großvater

Rob Harper, Lexis Ex-Freund

VERGANGENHEIT

Heligan

* Henry Hawkins Tremayne, Squire

* John Hearle, sein Sohn

* Caroline, dessen Frau, Schwester von Isabella Buller

Damaris, Henry Hawkins Verwandte

Julian Harrington, Gutsverwalter und Ehemann von Damaris

Avery, ihr Sohn

Lowenna, ihre Tochter

Florence »Florrie«, ihre Tochter

Gordon Curfey, deren Ehemann

Alison »Allie«, Henry Hawkins Verwandte, Damaris’ Schwester

Tristan Harrington, Julians Sohn aus erster Ehe, ihr Gatte

William Bickford, Bediensteter von Allie

Mrs Fitzgibbons, verwitwete engl. Lady

* Edward Jenner, Arzt und Erfinder der Pockenimpfung

Die Familie Buller

* Sir Anthony Buller, Rechtsanwalt und Mitglied des englischen Parlaments

* Isabella, Schwester von Caroline Tremayne, seine Frau

Die Familie Rashleigh

* Charles Rashleigh, Gründer von Charlestown

* Grace, seine Frau, Schwester von Henry Hawkins Tremayne

* Martha, ihre Tochter

Perys, ihr Sohn

INDIEN UND NEPAL

* Nathaniel Wallich, dänischer Botaniker und Arzt, Leiter des Botanischen Gartens in Kalkutta

* Sophia, seine Frau

* Francis de Silva, Wallichs Mitarbeiter, Pflanzensammler bei der Expedition

* Vishnu Prasad, indischer Hindu, Chefzeichner der Expedition

* Edward Gardner, britischer Resident in Kathmandu

Ishani, Geliebte von Avery Harrington

Naveen, ihr Sohn mit Avery

Vikram Kapoor, indischer Arzt

Der Garten schlief.Ein Dickicht entstand, wuchs heran während unzähliger Jahreszeiten, wurde dichter und stärker, bildete eine schwere Decke aus Dornengestrüpp wie eine Haut, die den Garten vor der Außenwelt schützte.Auch viele exotische Pflanzen waren darunter, in einen Kokon aus wuchernder Vegetation gehüllt, bis sie nach Jahrzehnten sanft befreit wurden – ganz im Sinne derer, die sie einst aus der Ferne mitgebracht hatten. Jeder fremde Strauch, jeder vor langer Zeit hier gepflanzte Baum hatte ein Abenteuer hinter sich oder eine Geschichte zu erzählen.Eine Geschichte vom Überleben.

1LEXI

Heligan Gardens, Cornwall, Anfang Mai

Das Rotkehlchen saß auf einem Palmwedel und pickte eifrig an den Resten einer Insektenlarve. Lexi lächelte. Diese Vögel gab es in Heligan wie Sand am Meer, und sie wurde nie müde, die kleinen Piepmätze zu beobachten. Manchmal bildete sie sich sogar ein, von ihrem persönlichen Rotkehlchen begleitet zu werden.

Sie stand in der Mitte der langen, leicht schwankenden Hängebrücke, die sich hoch über den alten Baumfarnen erstreckte, und blickte hinab in den Dschungel, wie das lang gestreckte Tal voller tropischer Pflanzen genannt wurde. Unter ihr breitete sich ein farbenfroher Blütenteppich aus, vielstimmiger Vogelgesang erfüllte die Luft.

Wie fast jeden Tag war sie früh und vor dem offiziellen Einlass gekommen, um den Garten ganz für sich zu haben. Nun ja, natürlich nicht ganz für sich. Abgesehen von den vereinzelten anderen Angestellten, die an diesem Morgen schon im Nutzgarten und am obersten Dschungelteich ihrer Arbeit nachgingen, wimmelte es von kleinen Tieren – Vögel, Eichhörnchen, sogar ein Dachs huschte vorbei. Jetzt, Anfang Mai, blühten Rhododendren in leuchtendem Pink, eingerahmt von Bambus, Bananenstauden und riesigen Palmen, die sich hoch zum Himmel streckten. Es war traumhaft schön hier, und Lexi konnte sich gar nicht sattsehen an all den vielen Naturwundern. Jeden Tag entdeckte sie etwas Neues. Ein kleiner Schwarm von Kaulquappen in einem der vier Dschungelteiche, eine exotische Blüte, die sie noch nie gesehen hatte, oder ein paar lang ausgerollte Farnwedel, die am Vortag noch nicht da gewesen waren.

Die Gärten von Heligan waren mehr als zwei Jahrhunderte alt und seitdem immer weiter ausgebaut worden. Zu viktorianischen Zeiten war Heligan einer der bekanntesten und schönsten Landsitze Cornwalls gewesen, mit etlichen Gärtnern und Angestellten, die ein florierendes Anwesen am Laufen hielten. Doch als mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs viele Arbeiter und Gärtner in den Schützengräben kämpfen mussten und nicht mehr zurückkehrten, begann der Niedergang. Kurz danach war Heligan von seinen Besitzern – der Familie Tremayne – aufgegeben worden und in Vergessenheit geraten.

Lexi versuchte sich vorzustellen, wie es vor knapp dreißig Jahren hier ausgesehen haben musste, als der Garten aus seinem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf geweckt worden war. Damals hatte ein Erbe der Tremaynes mit einem Freund den verwilderten Garten unter dichten Brombeerranken und Gestrüpp aufgestöbert und bald darauf mit vielen freiwilligen Helfern die Mammutaufgabe in Angriff genommen, dieses gärtnerische Kleinod wieder auferstehen zu lassen. Zu dieser Zeit war auch der neue Name entstanden: die Lost Gardens of Heligan, die Verlorenen Gärten von Heligan. Wie wunderbar poetisch.

Seit gut zwei Monaten war Lexi jetzt hier. In den ersten Tagen noch als Freiwillige, aber bald schon mit einem Projektvertrag. Und vor wenigen Wochen hatte sie den besten Job schlechthin ergattert: Sie sollte die große historische Ausstellung zum dreißigjährigen Jubiläum der Wiedereröffnung organisieren. Dafür hatte sie in den vergangenen Wochen viel gearbeitet und sich in die Geschichte Heligans und seiner Bewohner vertieft.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Schon fast halb zehn. Gleich war sie mit ihrer Chefin verabredet, um gemeinsam die großen Schautafeln für die Ausstellung zu sichten, die am Tag zuvor geliefert worden waren.

Lexi beeilte sich, über die unter ihren Füßen schwingende Hängebrücke auf die andere Seite des Tals zu kommen und dann mit raschen Schritten dem Weg zum Steward’s House zu folgen. Von dem ehemaligen Wohnsitz des Gutsverwalters kannte sie bislang nur das Besuchercafé im Erdgeschoss, in dem sie sich selbst schon öfter einen Kaffee oder etwas zu essen geholt hatte. Aber seit Kurzem hatte sie eine ganz neue Beziehung zu diesem Haus. Da passte es, dass Theo sich hier mit ihr treffen wollte.

Theodora »Theo« Williams stand schon vor dem großen Gebäude aus grauem Stein und rauchte.

»Bin ich zu spät?«, fragte Lexi, als sie die schwarze Frau mit der modischen Zöpfchenfrisur erreicht hatte.

»Nein, ich war zu früh«, gab Theo mit einem schiefen Grinsen zurück. Sie nahm einen letzten tiefen Zug und drückte dann die Zigarette am Mülleimer aus. »Ich sollte dringend damit aufhören, aber du weißt ja, wie das mit solchen Vorsätzen ist.« Sie warf die Kippe in den Mülleimer. »Kommst du?«

Das Café war noch nicht geöffnet, zwei Mitarbeiter legten Servietten bereit und stellten Zuckertöpfe und kleine Kännchen mit Milch auf die Tische. Lexi folgte ihrer Chefin in den hinteren Bereich des Besuchercafés, wo Theo eine Tür mit der Aufschrift Nur für Personal aufschob, und fand sich wieder in einem Treppenhaus, das ins Obergeschoss führte. Hier war Lexi noch nie gewesen – bis vor Kurzem hatte sie nicht einmal gewusst, dass in diesem Gebäude weitere Büro- und Ausstellungsräume existierten.

Von einem Gang gingen mehrere Türen ab. Theo schloss eine davon auf und ließ Lexi in einen Raum eintreten, in dessen Mitte ein paar zusammengerückte Tische standen, auf denen zehn große, flache Verpackungen lagen. Die Schautafeln.

»Du hast sie auch noch nicht gesehen, oder?«, fragte Lexi.

Theo schüttelte den Kopf. »Nein, nur die Vorlagen.« Diese hatten die Frauen vor wenigen Tagen gemeinsam ausgesucht. »Ich dachte, wir schauen sie uns zusammen an.«

Die Ausstellung, die die Geschichte des Gartens widerspiegeln würde, sollte Anfang des nächsten Jahres präsentiert werden, und zwar in drei historischen Phasen: die Anfänge im späten achtzehnten Jahrhundert, das Zeitalter der Pflanzenjäger im neunzehnten Jahrhundert sowie die Zeit um den Ersten Weltkrieg. Mit den Vorbereitungen für die erste Phase war Lexi so gut wie fertig. Vor einiger Zeit hatte sie in Absprache mit Theo den Druck mehrerer großer Kunststofftafeln in Auftrag gegeben, die einen Teil der Vergangenheit Heligans illustrieren sollten.

»Pack sie aus«, forderte Theo sie auf. »Du bist schließlich dafür verantwortlich.«

Lexi zog den Klebestreifen ab, der die Verpackung verschloss, griff hinein und bekam den Rand zu fassen. Theo half ihr, indem sie die Umhüllung festhielt. Die bedruckte Kunststofftafel war nicht schwer, nur etwas unhandlich, und Lexi schaffte es problemlos, die Tafel herauszuziehen und hochkant an die Wand zu stellen.

Ein Lächeln ging über ihr Gesicht, als sie das vergrößerte, gemalte Bild erkannte, das einen Mann mittleren Alters in dunkler Jacke und weißer Zopfperücke zeigte.

»Darf ich vorstellen«, wandte sie sich gespielt förmlich an Theo. »Henry Hawkins Tremayne, Gründer der Heligan-Gärten.«

»Hocherfreut, Mr Tremayne«, gab Theo mit einem winzigen Nicken zurück. Sie musterte das Porträt, das den Betrachter feierlich anblickte. »Er sieht nett aus. Ernst, aber nett.«

»Er war auch nett«, sagte Lexi. »Sogar sehr. Zumindest, soweit ich das herausfinden konnte. Jeder, der über Henry schrieb, betonte immer wieder seine Güte und Menschenfreundlichkeit.«

In den vergangenen Wochen war Henry Tremayne ihr so vertraut geworden, dass sie ihn fast persönlich zu kennen glaubte und ihn nur noch beim Vornamen nannte.

Nach und nach öffnete sie auch die anderen Verpackungen und zog weitere Schautafeln mit vergrößerten Aufnahmen heraus. Einen Plan des Gartenarchitekten Thomas Gray, der um 1785 mit dem Umbau des Gartens begonnen hatte. Eine Collage aus Rechnungen, ausgestellt zwischen den Jahren 1780 und 1790. Das vergrößerte Deckblatt von Henrys Reisetagebuch sowie ein paar kurze Auszüge daraus.

»Ich dachte«, sagte Lexi, während sie eine der Tafeln verschob, »wir zeigen erst die offiziellen Sachen zu Henry und dem Garten, und dann, vielleicht in einem weiteren Zimmer, leiten wir über zu den anderen Inhalten. Du weißt schon. Das Herz im Baum und so weiter.«

Theo wollte nämlich nicht nur den historischen Kontext zum Garten und seinen Erbauern präsentieren, sondern zusätzlich noch etwas ganz Besonderes: Geschichten hinter der Geschichte, wie sie es nannte. Eine Ausstellung, die die Vergangenheit greifbarer und lebendiger werden ließ. Möglichst unterhaltsam sollte dabei auf weniger bekannte Hintergründe eingegangen werden – auf die Menschen, die in und bei Heligan House gelebt hatten, auf ihre Beziehungen, Sorgen und Abenteuer.

Theo nickte. »Ich glaube, das könnte richtig gut werden. Die meisten Leute stehen schließlich auf dieses romantische Zeug.«

Romantisches Zeug. Ganz so profan hätte Lexi es jetzt nicht ausgedrückt, aber es stimmte: Was sie bei ihren Nachforschungen gefunden hatte, war wahrhaftig voller Dramatik und Romantik.

Die Geschichte von Henry Tremaynes junger Verwandter Damaris, die 1785 mit Henry auf eine mehrwöchige Grand Tour durch Englands prächtigste Gärten aufgebrochen war, bevor er den Umbau seines eigenen Gartens in Angriff genommen hatte. Von einem Schiffbrüchigen namens Julian Harrington, der später als Henrys Wildhüter gearbeitet hatte. Und davon, dass Damaris und Julian ein Liebespaar geworden waren.

Lexi zog die letzte der zehn Schautafeln aus der Verpackung: die vergrößerte Aufnahme eines verwitterten, kaum noch leserlichen Namens, der zusammen mit einem verzogenen Herz in die Rinde einer der uralten Buchen am Georgian Ride eingeritzt worden war. Lexi war fest davon überzeugt, dass die nur zum Teil noch lesbaren Buchstaben »Julian« bedeuten sollten. Und ebenso war sie davon überzeugt, dass es Damaris gewesen war, die diesen Namen vor mehr als zwei Jahrhunderten dort hineingeschnitten hatte.

Sie stellte auch diese Tafel an die Wand und trat einen Schritt zurück, um einen besseren Überblick zu haben.

Theo nickte zufrieden. »Sieht gut aus.«

Durch die beiden Fenster fiel helles Morgenlicht auf die weiß gestrichenen Wände. Darunter konnte man die Struktur der alten Mauer erkennen.

»Ich habe übrigens noch was rausgefunden«, sagte Lexi.

»Und das wäre?«

»Das Gebäude, in dem wir hier sind – das war doch früher das Haus des Gutsverwalters.«

»Ja. Von ihm und seiner Familie. Es soll irgendwann Ende des achtzehnten oder Anfang des neunzehnten Jahrhunderts errichtet worden sein. Inzwischen ist es natürlich umgebaut und erweitert worden, mit mehr Räumen und Nebengebäuden.« Theo sah sie an. »Sag bloß, du weißt noch mehr darüber?«

»Allerdings. Und das wird dich umhauen.« Lexi strahlte voller Vorfreude. »Ursprünglich wollte ich nur versuchen, ob ich noch mehr zu Avery Harrington rauskriegen kann. Du weißt, Julians und Damaris’ Sohn, der offenbar das Land verlassen hat.«

Vor wenigen Tagen erst hatte sie zufällig einen Brief von Damaris an deren Schwägerin Grace entdeckt, in dem von einem »verhängnisvollen Duell« die Rede gewesen war, das offenbar zwischen Avery und Perys, den beiden Söhnen der Frauen, stattgefunden hatte. Wie es ausgegangen war und ob Perys dabei womöglich ums Leben gekommen war, dazu hatte Lexi nichts herausfinden können. Aber es musste ernst gewesen sein, sonst wäre Avery nicht außer Landes geflohen.

»Über ihn weiß ich leider nicht mehr«, fuhr Lexi fort, »aber ich habe noch ein bisschen in alten Taufregistern gestöbert. Und sieh mal, was ich noch gefunden habe: Damaris und Julian haben nach Avery noch zwei weitere Kinder bekommen. Zwei Mädchen, Lowenna und Florence, getauft 1791 und 1795.« Sie suchte auf ihrem Handy den fotografierten Auszug und zeigte ihn Theo, die ihn wortlos betrachtete.

»Und dabei hab ich noch was aufgespürt.« Lexi vergrößerte das Foto mit zwei Fingern und deutete auf einen Vermerk im Taufregister, der bei einem früheren Eintrag zu Averys Taufe noch nicht vorhanden gewesen war: Beruf des Vaters.

Theos Miene, als sie den handschriftlichen Eintrag studierte, war sehenswert. »Julian Harrington war Gutsverwalter von Heligan?«

»Yep.«

»Das ist toll. Wirklich!« Lexi hatte ihre Vorgesetzte bislang noch nie so enthusiastisch erlebt. »Das heißt also, Damaris und Julian Harrington haben mit ihrer Familie sehr wahrscheinlich genau hier, im Steward’s House, gelebt.«

Lexi nickte glücklich. Es tat gut, ihre Entdeckung so gewürdigt zu wissen, auch wenn sie versuchte, ihren Triumph nicht allzu deutlich zu zeigen.

Sie zögerte kurz, dann gab sie sich einen Ruck. »Vermutlich ist es eine blöde Idee, aber ich hatte überlegt – meinst du, ich könnte demnächst meinen Arbeitsplatz hierher verlegen? Dann könnte ich dort arbeiten, wo Damaris und Julian gewohnt haben. Natürlich nur, wenn das möglich ist.«

Theo hob überrascht die perfekt geformten Brauen. »Das ist gar keine blöde Idee«, sagte sie langsam, dann nickte sie. »Ja, das ist sogar eine ausgesprochen gute Idee. Momentan überlegen wir sowieso, einen Teil der Computer-Arbeitsplätze aus dem Empfangsgebäude auszulagern. Und wie du siehst, gibt es hier auch Strom und alles andere, was man so braucht. Zum Archiv hättest du es dann allerdings etwas weiter.« Sie verzog den Mund zu einem halben Lächeln. »Da ist nur noch ein kleines Problem.«

Natürlich. Lexis Hoffnung sank. Wäre ja auch zu schön gewesen. Vermutlich war der Internet-Anschluss hier extrem störanfällig. Oder sie hatten einen Wasserschaden.

»Welches?«, fragte sie, auf das Schlimmste gefasst.

»Fürchtest du dich vor Fledermäusen?«

»Fledermäuse?« Lexi lachte erleichtert auf. Sie fürchtete sich zwar vor einigen Dingen, aber nicht davor. »Es gibt Fledermäuse in diesem Gebäude?«

Theo bejahte. »Und zwar jede Menge. Komm mit, ich zeige sie dir.«

»Na, bist du schon aufgeregt?« Cait, mit der sich Lexi seit Kurzem eine Wohnung in Mevagissey teilte, setzte einen großen Topf mit Nudelwasser auf den Herd und schaltete die elektrische Kochplatte an. Cait war eine Kollegin, die in der Heligan-Cafeteria arbeitete und mit der sich Lexi sofort gut verstanden hatte.

Lexi räumte die letzten Einkäufe in den Kühlschrank und schloss die Tür. »Warum sollte ich aufgeregt sein?«

»Weil du morgen mit einem heißen Typen einen Ausflug machst, deswegen.«

»Wir machen keinen Ausflug, das ist rein geschäftlich.« Den »heißen Typen« ließ Lexi lieber unkommentiert.

Cait hob beide Hände und grinste breit. »Klar. Ist rein geschäftlich. Ich kann mich nur an eine Frau erinnern, die gesagt hat, dass Ben Pascoe voll in ihr Beuteschema fällt.«

»Hab ich das?«, gab Lexi betont ruhig zurück, auch wenn ihr Herz plötzlich ein paar Takte schneller schlug.

Ben war ebenfalls ein Heligan-Kollege, der als Teil des Gartenentwicklungsteams für die Instandhaltung der Außenbereiche verantwortlich war. Er hatte angeboten, Lexi ins dreißig Meilen entfernte Cornwall-Archiv von Kresen Kernow zu fahren. Dann würde er seine Verwandten besuchen, die in der Nähe wohnten. Sie mochte Ben, sehr sogar, und sie hatte durchaus den Eindruck, dass auch er sich zu ihr hingezogen fühlte. Andererseits war es viel zu früh für eine neue Beziehung. Nicht nach allem, was ihr Ex-Freund Rob ihr angetan hatte.

»Oh ja, das hast du.« Cait begann, die Post durchzusehen, die sie mitgebracht hatte und die jetzt auf einem kleinen Stapel neben dem Herd lag.

»Hier ist auch was für dich.« Sie reichte Lexi einen dünnen Umschlag. »Abgestempelt in London. Aus deinem früheren Leben.«

Ihr früheres Leben. Nein, daran wollte sie am liebsten gar nicht mehr denken. Nach ihrer überstürzten Abreise aus London wegen Rob hatte sie hier in Cornwall eine neue Arbeit gefunden, die sie glücklich machte und sie erfüllte. Selbst der Gedanke an ihn schien ihr inzwischen nur noch wie ein ferner Albtraum, der nach dem Aufwachen schnell wieder verschwand.

Sie nahm den Umschlag, dessen Adressfeld mit einem Aufkleber mit ihrer neuen Anschrift überklebt war. Es gab keinen Absender. War der Brief von ihren Eltern? Nein, das konnte nicht sein, die lebten nach wie vor auf den Malediven und kümmerten sich um ihre Tauchschule.

Mit einem unguten Gefühl öffnete sie den Brief. Ein einzelnes Blatt fiel heraus. In großen, handgeschriebenen Lettern standen nur drei Worte darauf:

Hab ich dich!

Lexi glaubte zu spüren, wie ihr Herz gleich für mehrere Schläge aussetzte. Auch ohne Unterschrift erkannte sie die Handschrift, die wie gedruckt wirkenden Buchstaben: Der Brief kam von Rob.

O Gott. Oh nein. Ohneinohneinohnein! Er hatte sie gefunden. Er war hier!

Sie spürte, wie die Wände um sie näherzurücken schienen, wie ihr Herz nach dem ersten Aussetzer wild zu schlagen begann.

»Hey, Lexi, was ist denn los? Du bist weiß wie ein Laken!« Cait war neben ihr erschienen. »Schlechte Nachrichten? Darf ich?« Sie nahm Lexi das Blatt aus der Hand. »Hab ich dich – Was ist das denn für ein schlechter Scherz? Sag bloß, das ist von deinem Ex?«

Lexi zwang sich zu einem Nicken, während in ihrem Kopf ein einziger Gedanke in Dauerschleife lief: Sie musste fort von hier. Musste erneut fliehen, am besten ganz weit weg, und sich eine neue Bleibe und eine andere Arbeit suchen.

Dabei hatte sie doch geglaubt, sie wäre diesem gestörten Freak entkommen, so gut hatte sie ihre Spuren verwischt und ihn und fast alle ihrer früheren Kontakte glauben lassen, sie sei bei ihren Eltern auf den Malediven. Stattdessen hatte sie sich in die südwestlichste Ecke Englands begeben und – zumindest inoffiziell – einen anderen Namen angenommen. Lexi Davies, nach ihrem zweiten Vornamen und dem Mädchennamen ihrer Mutter. Aber davon wusste niemand ihrer neuen Freunde und Kollegen. Nicht mehr, als dass Lexi eine unglückliche Liebesgeschichte hinter sich hatte und sich von ihrem Lover getrennt hatte.

Eine Szene spulte sich vor ihrem inneren Auge ab.

»Wo warst du?«, fragte Rob. »Warum kommst du so spät?«

Sie sah ihn erst in dem Moment, als er aus dem Schatten in den Lichtkegel der Straßenlaterne vor ihrer Wohnung trat. Wie lange wartete er schon auf sie? Sie waren nicht verabredet – was tat er hier an diesem späten Oktoberabend?

»Auf der Arbeit«, beantwortete sie den ersten Teil seiner Frage. Sie war müde und erschöpft, der Tag war anstrengend gewesen, und sie wollte nur noch auf ihre Couch und ausspannen. »Hi, Honey, ich freue mich auch, dich zu sehen.«

»So lange? Es ist schon nach neun.«

Was dachte er sich? Ihr Widerspruchsgeist erwachte. »Bin ich dir jetzt Rechenschaft schuldig?«

»Allerdings, das bist du«, gab er zurück. »Du gehörst zu mir. Da muss ich wissen, mit wem du dich rumtreibst.«

»Ich habe mich nicht herumgetrieben. Ich war mit ein paar Kollegen noch was trinken.«

Seine Augen verengten sich. »Mit wem?«

»Kontrollierst du mich jetzt?«

»Du warst in Soho. Im Mouse and Sheep.«

»Woher weißt du das? Bist du mir etwa gefolgt?«

»Ich weiß es eben.« Er trat einen Schritt näher. »Und jetzt will ich wissen, mit wem du dort warst.«

Es hatte den halben Abend gedauert und etliche Anläufe gebraucht, bis er ihr endlich glaubte, dass sie tatsächlich nur mit ein paar Kollegen in einer Bar den Feierabend eingeläutet hatte. Danach war er voller Reue und versprach, ihr nie wieder zu misstrauen. Es wäre nur seine Liebe zu ihr gewesen, die ihn habe überreagieren lassen.

Sie hatte ihm geglaubt. Auch wenn sie sich fragte, woher er so genau wissen konnte, wo sie gewesen war.

Wenige Tage später fand sie mithilfe des Internets eine versteckte Tracking-App auf ihrem Handy.

»Offenbar kennt er deine neue Adresse nicht«, stellte Cait fest, die jetzt auch den Umschlag in der Hand hielt. »Sonst wäre der Brief dir kaum nachgesendet worden.«

Allmählich beruhigte sich Lexis rasender Herzschlag. Cait klang so ruhig, dass auch sie langsam wieder klarer denken konnte.

Den Nachsendeauftrag hatte Lexi erst vor Kurzem online erteilt. Sie erinnerte sich, wie genau sie die Datenschutzbestimmungen studiert hatte, in denen es hieß, niemand, der nicht befugt sei, werde von der Royal Mail ihre neue Adresse erfahren. Und Rob war nicht befugt.

Aber dann kam ihr ein weiterer Gedanke, der sie alarmiert auffahren ließ, und sie nahm Cait hastig den Umschlag wieder aus der Hand: Konnte es nicht sein, dass Rob irgendeine Wanze oder einen Tracker oder irgendein anderes Gerät mitgeschickt hatte, das ihm ihren Aufenthaltsort verriet?

Nein, da war nichts. Und auch das Papier war sauber. Er hatte sie einfach nur erschrecken wollen.

Dennoch: War die einstweilige Verfügung, die sie gegen ihn erwirkt hatte, etwa schon abgelaufen? Waren die drei Monate tatsächlich schon um? Es war schwierig genug gewesen, überhaupt eine Verfügung zu bekommen, und jetzt war auch dieser geringe Schutz vorbei. Bedeutete das, dass sie jetzt öfter Post von ihm bekommen würde?

Sie atmete tief durch. Ließ den Atem dann langsam wieder ausströmen und begann, rückwärts zu zählen, wie Ben es ihr einmal geraten hatte, als er ihr aus einer Panikattacke geholfen hatte. Ließ nicht zu, dass sie die Furcht übermannte.

Sie hatte alles unter Kontrolle. Rob wollte ihr Angst machen, aber er konnte nicht wissen, wo sie war. Er würde sie nicht finden. Sie konnte überall auf der Welt sein. Nein, von diesem Scheißkerl würde sie sich ihr Leben nicht länger bestimmen lassen.

Sie ging ins Bad, wo sie das Blatt in viele kleine Schnipsel zerriss und anschließend in die Toilette warf. Da gehörte es hin. In den Abfluss.

Als sie alles hinuntergespült hatte, fühlte sie sich besser.

2LEXI

Mevagissey, Cornwall, Anfang Mai

Sie war ein bisschen aufgeregt, das musste Lexi zugeben. Natürlich nur, weil sie an diesem Tag endlich das große Cornwall-Archiv in Redruth besuchen würde und nicht etwa, weil Ben sie dorthin fahren würde. Sie horchte in sich hinein. Na ja, vielleicht auch deswegen.

Doch, ganz sicher auch deswegen.

Zum wiederholten Mal kontrollierte sie, ob sie alles in ihren kleinen Rucksack gepackt hatte, was sie brauchte – den Laptop, einen Notizblock, Stifte, ihr Smartphone und ein wenig Proviant. Cait war schon fort, um den Bus zu kriegen – da die Cafeteria ab halb zehn Frühstück servierte, musste sie spätestens um neun in Heligan sein.

Ein paar Minuten vor der vereinbarten Zeit ging Lexi nach unten. Ben sollte nicht erst mühsam einen Parkplatz suchen müssen, was in den engen Gassen von Mevagissey sicher kein Vergnügen war. Die ein- und zweistöckigen Häuser des kleinen Fischerortes schmiegten sich wie bunte Vogelnester um die schmale, lang gestreckte Bucht. Im inneren Hafen schaukelten ein paar Fischerboote, leise klatschten die Wellen an die Hafenmauer. Möwenschreie und ein leichter Geruch nach Fisch und Schalentieren erfüllte die Luft.

Sie hatte es wirklich gut getroffen. Sobald klar gewesen war, dass sie länger in Heligan arbeiten würde, hatte sie sich nach einer bezahlbaren Wohngelegenheit umgeschaut, da das B&B von Millicent und Edwin Woods, in dem sie bis dahin untergekommen war, allmählich zu teuer geworden war. Zu ihrem Glück hatte sie bald darauf Cait gefunden, die gerade auf der Suche nach einer Mitbewohnerin war. Mittlerweile waren sie und Cait gute Freundinnen geworden.

Lexi hatte noch keine fünf Minuten gewartet, als sie ein dumpfes Brummen hörte, das sich ihr näherte. Sie blickte auf. Nein, das war jemand auf einem Motorrad.

Jemand in schwarzer Ledermontur, der jetzt die Maschine am Straßenrand neben Lexi zum Stehen brachte und den Helm abnahm. Lexi klappte der Mund auf, als darunter Bens Kopf zum Vorschein kam. Mit einer Hand fuhr er sich durch die kurzen dunklen Haare, bis sie zu Berge standen.

»Guten Morgen«, sagte er. »Bereit für einen kleinen Ausflug?«

»Oh«, gab Lexi ein wenig einfältig zurück, »ich hatte gedacht, du kommst mit dem Auto …«

»Ich habe kein Auto. Nur meinen Freund hier.« Er klopfte mit einer behandschuhten Hand leicht auf den Tank der Yamaha vor ihm. »Hatte ich dir nicht erzählt, dass ich Bike fahre?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sorry, dann hatte ich das wohl vergessen.« Er stieg ab. »Ich hoffe, das ist kein Problem für dich.«

»Nein, ist es nicht«, sagte sie. »Ich war nur … überrascht. Ich hab noch nie auf so einem Ding gesessen.«

»Das macht nichts. Du musst dich nur hinter mich setzen und dich festhalten. Ich verspreche, ich fahre ganz vorsichtig.«

Sie nickte wortlos, nicht wirklich überzeugt, und für einen winzigen Moment war sie tatsächlich versucht abzusagen. Dann schob sie diesen Gedanken beiseite.

»Ist das wirklich okay für dich, mich mitzunehmen?«

»Du willst doch nach Kresen Kernow?«

»Unbedingt.«

»Na also. Es ist verdammt schwer, in Cornwall mit öffentlichen Verkehrsmitteln irgendwohin zu kommen. Also ja, natürlich ist es kein Problem, sonst hätte ich es nicht angeboten.«

Ben öffnete einen der beiden Seitenkoffer am Heck, entnahm ihm einen zweiten Helm und reichte ihn Lexi.

Sie nahm den Helm, überlegte kurz, dann gab sie sich einen Ruck. »Meinst du, wir könnten vorher noch kurz auf dem Friedhof von St Ewe vorbeischauen? Das ist nicht weit und liegt auf dem Weg.«

»Du willst Henry Tremaynes Grab besuchen?«

»Ja, sehr gern. Ich habe mich jetzt schon so viel mit ihm beschäftigt, da ist es ja schon peinlich, dass ich noch nie dort war, wo er begraben liegt.«

»Alles klar.«

Alles klar – der in Cornwall gebräuchliche Universalausdruck für alles und jedes, brachte Lexi zum Schmunzeln. Ben half ihr, ihren Rucksack in dem frei gewordenen Fach zu verstauen, und verriegelte alles wieder mit einem Schlüssel. Lexi stülpte sich den Helm über.

»Richtig?«

Er nickte. »Du musst nur noch den Kinnriemen festzurren. Siehst du … so.«

Ben erklärte ihr kurz, wie sie sich als Mitfahrerin verhalten sollte, dann schwang er sich auf das Motorrad und sah sie erwartungsvoll an. »Steig auf.«

Ein wenig zögerlich kletterte Lexi hinter ihm auf den Sitz der Yamaha. Er wartete, bis sie richtig saß, dann zog auch er seinen Helm wieder auf und klappte das Visier herunter.

»Alles klar?«, fragte er.

Sie nickte und hob den Daumen. »Alles klar.«

»Halt dich an mir fest.«

Lexi legte die Arme um seine Taille, dann startete Ben die Maschine.

Er fuhr wirklich vorsichtig, vermutlich, um sie an das Gefühl zu gewöhnen, auf einem Motorrad zu sitzen. Dennoch war Lexi angespannt wie auf einer Achterbahn. Sie war erleichtert, als sie nach knapp fünf Minuten Fahrt durch enge Landstraßen in St Ewe ankamen und Ben sein Bike auf einem kleinen Parkplatz vor der Kirche zum Halten brachte.

St Ewe war eine winzige Ortschaft, die offenbar nur aus einer Hauptstraße mit einigen Häusern, einem Pub und der Kirche bestand. Lexi fühlte sich wie in eine andere Zeit versetzt.

Als sie die Stufen zur Kirche hinaufstieg, sah sie einen großen Strauch mit pinkfarbenen, zum Teil schon verwelkten Blüten.

»St-Ewe-Kamelien«, sagte Ben. »Die blühen schon im Dezember.«

»Die Pflanze heißt wie das Dorf?«

Er nickte. »Sie wurde ganz in der Nähe gezüchtet, auf dem Gelände von Caerhays Castle.«

Lexi trat näher. Die dunklen, wachsartigen Blätter und rosafarbenen Blüten umrahmten ein keltisches Kreuz aus Granit. Auf den drei Seiten des steinernen Sockels standen ein paar Namen – Gefallene aus dem Ersten Weltkrieg.

Sie bückte sich und hob einen der im Gras liegenden, noch fast vollständig intakten Blütenköpfe auf, dann ging sie weiter.

Mehrere Palmen flankierten das mittelalterliche Portal und verliehen dem Platz damit eine leicht exotische Atmosphäre. Hinter der Kirche erstreckten sich Felder und ein großer, zum Teil ummauerter Friedhof voller alter Grabsteine, die allesamt von Flechten überzogen waren.

Lexi blieb erneut stehen. »Fühlt sich komisch an, zu wissen, dass Henry hier irgendwo begraben ist.«

Ben nickte. »Aber nicht auf dem Friedhof, sondern in der Familiengruft in der Kirche. Hab ich mir irgendwann schon mal angeschaut. Komm, lass uns reingehen.«

Er öffnete die Tür und betätigte einen Lichtschalter, und sofort wurde der Raum erleuchtet. Es war eine einfache Kirche mit einem Tonnengewölbe, das einzige Schmückende stellte der Altarraum mit seinem kompliziert gearbeiteten Gitter im gotischen Stil dar.

Lexi verharrte einen Moment in andächtiger Stille. Das hier war die Kirche der Tremaynes gewesen. Über viele Jahrzehnte hinweg hatten sie sich für den Erhalt dieses Gotteshauses eingesetzt – die Buntglasfenster mit den christlichen und heraldischen Motiven stammten von ihnen. Hier waren Generationen von ihnen getauft und getraut worden. Hier hatten – vermutlich – Damaris und Julian geheiratet, und hier waren Avery und zwei weitere ihrer Kinder getauft worden.

»Lexi?« Ben war in der Mitte des südlichen Seitenschiffs stehen geblieben. »Schau, hier ist es.«

Sie ging zu ihm, und er deutete auf eine große, im Boden eingelassene Schieferplatte mit eingesenktem Griff, auf der die Enden von zwei hölzernen Kirchenbänken standen. Die Platte zeigte das Wappen der Tremaynes: drei jeweils im rechten Winkel gebeugte Arme, die aus einer gemeinsamen Mitte entsprangen. Dasselbe Motiv, das sich auch in den Buntglasfenstern und in dem rautenförmigen Bild über dem Eingang fand.

Hier ging es zur Familiengruft der Tremaynes, abgeschlossen und nicht zu betreten. Lexi fühlte sich plötzlich ganz seltsam.

»Ich frage mich, warum sie gerade diese komischen drei Arme für ihr Wappen gewählt haben«, sagte Ben.

»Das bezieht sich auf ein französisches Wortspiel mit dem Familiennamen«, erklärte Lexi.

Er schüttelte den Kopf. »Der Name Tremayne ist Kornisch, nicht Französisch. Er bedeutet so viel wie ›Stadt aus Stein‹.«

»Ich weiß. Aber im achtzehnten Jahrhundert hat man gern eine mögliche Verbindung zum Französischen gesucht. Und da kam man eben auf den Gleichlaut von trois mains, drei Hände. Daher wohl dieses eigenartige Wappen.«

Sie legte den Helm auf eine der Kirchenbänke und ging langsam in die Hocke. Ihre Kehle wurde eng. Auch wenn Henry Hawkins Tremayne seit fast zweihundert Jahren tot war – so nah war sie ihm noch nie gewesen.

»Alles okay mit dir?«, fragte Ben.

Hastig wischte sie sich eine Träne fort und nickte. »Ich bin nur gerade etwas sentimental.« Mit dem Finger fuhr sie die drei Arme des Wappens im Boden nach.

»Hallo, Henry«, sagte sie leise.

Dann legte sie die mitgebrachte Kamelienblüte auf die Schieferplatte.

3LEXI

Auf dem Weg nach Redruth, Cornwall, Anfang Mai

Die Weiterfahrt empfand Lexi nicht mehr so einschüchternd wie zu Beginn. Nach und nach gewöhnte sie sich an das Gefühl, auf einem Motorrad zu sitzen. Ben fuhr sicher und nicht übertrieben schnell, und nach ein paar weiteren verkrampften Minuten entspannte sie sich allmählich.

Bald gab Ben etwas mehr Gas, aber jetzt machte es ihr nichts mehr aus – im Gegenteil, sie begann, die Fahrt zu genießen: das Brummen des Motors, der unter ihr vibrierte, der Fahrtwind, der ihre Haarsträhnen, die unter dem Helm herausschauten, verwirbelte, die vorüberfliegende Landschaft rechts und links neben ihr.

Wie er es ihr gesagt hatte, passte Lexi sich Bens Bewegungen an, drückte sich enger an ihn, legte sich mit ihm leicht in die Kurven. Als er an einer roten Ampel hielt, rutschten ihre vor seinem Bauch verschränkten Hände ein Stück nach unten, und peinlich berührt schob sie sie wieder höher.

Nach einer Weile kamen sie durch Truro, Verwaltungssitz und einzige Stadt Cornwalls, wo es nach mehreren Kreisverkehren weiter Richtung Westen ging. Sie fuhren durch neu angelegte Wohnsiedlungen und durch ein Industriegebiet. Die sich anschließende Strecke nach Redruth war wenig spektakulär – eine zweispurige Schnellstraße, die fast schnurgerade durch eine eher eintönige Landschaft verlief.

Als sie nach einer Stunde in Redruth eintrafen, hatte Lexi sich so an das Motorrad gewöhnt, dass es für sie gern noch länger hätte dauern können. Ben fuhr durch den Ort, bis er auf dem kleinen Parkplatz von Kresen Kernow zum Stehen kam. Er klappte den Fußständer herunter, drehte das Vorderrad zur Seite und stellte den Motor aus.

Mit leicht zittrigen Beinen stieg Lexi ab.

Ben tat es ihr nach. »Na, lebst du noch?«

»Na klar.« Lexi grinste. »Was bekommst du an Benzingeld?«, fragte sie, während er den Seitenkoffer aufschloss.

Er schüttelte den Kopf. »Gar nichts, ich wäre ja sowieso gefahren. Und du hast mir neulich schon die Hälfte deiner Pizza abgegeben.«

»Das ist doch schon ewig her.«

Er reichte ihr ihren Rucksack. »Noch keine Woche.«

»Darf ich dir dann wenigstens mal einen Kaffee ausgeben?«

»Jederzeit.« Er deutete auf die steinerne Fassade des Cornwall-Archivs. »Wenn du willst, gleich nachher? Da drinnen gibt’s einen richtig guten Kaffee.«

»Du warst auch schon mal da?«

»So ist es. Ich war neugierig und wollte nach meinem eigenen Stammbaum forschen.«

»Ging es da um deinen Vorfahren, der früher auch in Heligan gearbeitet hatte?« Davon hatte er ihr einmal erzählt: Der Großvater seines Großvaters war um die Zeit des Ersten Weltkriegs Gärtner in Heligan gewesen.

Er nahm ihr den Helm aus der Hand und packte ihn in den Seitenkoffer. »Um den auch. Und um noch ein paar weitere Leute. Aber ich habe weniger rausgefunden, als ich mir erhofft hatte.« Er setzte sich wieder auf seine Maschine. »Wann soll ich dich abholen?«

»Wie lange bist du denn bei deiner Familie?«

Er zuckte mit den Schultern. »Bis nach dem Mittagessen, denke ich.«

»Das passt super. Ich denke, bis dahin müsste ich fertig sein.«

Lexi sah ihm nach, bis er vom Parkplatz gefahren war, dann schulterte sie ihren Rucksack und machte sich auf den Weg ins Cornwall-Archiv.

Das moderne Archivzentrum befand sich im Gebäude einer ehemaligen Brauerei. Die steinerne Fassade wies mehrere spitzgiebelige Dächer auf, die eng nebeneinanderstanden. Hier wurde die größte Sammlung der Welt zu kornischer Forschung aufbewahrt – Dokumente, Bücher, Landkarten und anderes mehr aus 850 Jahren Geschichte. In die alten Gemäuer waren moderne Elemente wie Glas und Holz eingefügt, eine interessante Mischung aus Alt und Neu.

Lexi nahm ihren Laptop, Notizheft, Handy, Portemonnaie und zwei Stifte aus ihrem Rucksack und packte den Rest ihrer Sachen in eines der Schließfächer, die sich im Eingangsbereich befanden. Dann ging sie an die Ausgabe, um die reservierten Unterlagen abzuholen.

Am Vortag hatte sie online etliche alte Dokumente geordert, von denen sie sich weitere Einsichten zur Geschichte Heligans und ihrer Bewohner versprach – Informationen zu den Familien Tremayne, Harrington, Rashleigh und Buller.

Der Archivmitarbeiter nickte zufrieden, als Lexi ihm die beiden Bleistifte präsentierte, die sie mitgebracht hatte, denn Kugelschreiber waren in dieser Abteilung verboten, und suchte dann aus einem hohen Regal im Hintergrund vier niedrige Pappschachteln heraus.

»Sie haben ja ganz schön viel bestellt«, sagte er und schob ihr die Schachteln – drei dunkelgraue und eine hellgraue – über den Tresen. »Ich gebe Ihnen erst mal den ersten Schwung, den zweiten kriegen Sie, wenn Sie den ersten zurückgeben.«

Lexi bedankte sich, nahm die vier Kartons an sich und steuerte damit den Raum im ersten Stock an, den man ihr zugewiesen hatte, damit sie ungestört arbeiten konnte.

Das kleine Zimmer hatte ein gemauertes Tonnengewölbe und eine Glasfront, aus der Lexi nach draußen auf eine gepflasterte Terrasse mit viel Grün schauen konnte. Sie stapelte ihre Schätze auf der großen Tischplatte, dann klappte sie ihren Laptop auf und öffnete die gescannte Kopie des Briefs, der der Hauptgrund für ihren Besuch in Kresen Kernow war. Ein Schreiben vom 12. April 1815 an Henry Tremaynes Schwester Grace Rashleigh, unterzeichnet von Damaris.

Liebste Grace, ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich bedaure, was vorgefallen ist. Obwohl Avery mein Sohn ist und ich ihn immer lieben werde, ist es unverzeihlich, was er getan hat. Dennoch hoffe ich, dass dieses verhängnisvolle Duell es nicht vermag, einen Keil zwischen unsere tiefe Freundschaft zu treiben, und dass Du mir und meiner Familie weiterhin gewogen bleibst. Ich bete für euch und vor allem für Perys. In innigster Verbundenheit und in der Hoffnung auf Deine Vergebung, Deine Freundin Damaris Harrington.

Es folgte noch ein kurzes Postskriptum, aber damit würde Lexi sich später befassen, jetzt waren erst einmal Nachforschungen zu diesem ominösen Duell dran. Schon in Heligan hatte sie versucht, mehr darüber herauszufinden – leider vergeblich. Hoffentlich hatte sie hier mehr Erfolg.

Sie zog den ersten der vier flachen Kartons mit der Beschriftung Familie Rashleigh von Duporth Manor, St Austell näher zu sich. Damit würde sie anfangen.

Sie holte tief Luft und hob behutsam den Deckel an.

Sie entdeckte eine Abschrift des Letzten Willens von Henrys Schwager Charles Rashleigh, der 1823 verstorben war. Lexi überflog die altertümlichen Formulierungen auf der Suche nach irgendetwas Brauchbarem. Nein, da gab es nicht viel. Nur eine lange Auflistung einzelner Gegenstände, die Charles seiner Frau Grace und seinen Kindern hinterlassen hatte. Ansonsten fanden sich Abschriften von Urkunden, Pachtverträgen, Nachlassakten und Ähnliches mehr.

Ein Stapel handgeschriebener Briefe erschien Lexi am vielversprechendsten. Sie blätterte sie durch und empfand eine stille Freude, als sie in einigen davon Henry Tremaynes Schrift erkannte. Nur wenige Dokumente waren bereits transkribiert und in Druckschrift übertragen worden, aber Lexi hatte kaum noch Probleme, die alten Briefe zu lesen. Vor allem Henrys Handschrift war ihr inzwischen vertraut wie die eines alten Freundes.

Einige weitere Schreiben stammten von Freunden und Bekannten der Rashleighs, andere von Grace’ Töchtern. Darunter ein Brief ihrer ältesten Tochter Martha Rashleigh, die schrieb, sie habe sich verliebt und sei voller Hoffnung, dass der Angebetete sich ihr bald erklären würde.

Lexi lächelte. Die Liebe war eben zu allen Zeiten etwas Wundervolles.

Aber nichts über ein Duell oder etwas, was damit zusammenhängen könnte.

Sie legte alles wieder sorgfältig zurück und schloss den Deckel, dann nahm sie sich den nächsten Karton vor, der mit Familie Tremayne von Heligan, St Ewe beschriftet war. Eine kleine handschriftliche Notiz auf dem Pappdeckel lautete: Unkatalogisiertes Material. Davon hatte Lexi ins Blaue hinein gleich mehrere bestellt.

Vorsichtig öffnete sie die Schachtel und spähte hinein. Auch hier waren die meisten Dokumente leicht vergilbte Originale, die zum Teil in Plastikhüllen steckten. Lexi fasste sie vorsichtig an, um ihnen nicht zu schaden. Wie schon im Rashleigh-Karton fanden sich hier persönliche Papiere und Korrespondenz, dazu ein paar dünne Mappen mit Abrechnungen und einige Zeichnungen, darunter ein ungerahmtes Aquarellbild, das Heligan darstellte, wenn man vom Garten aufs Meer blickte, und eine kleine Bleistiftskizze von Heligan House, unterzeichnet mit J.C.Tremayne, aus dem Gedächtnis. Nein, diese Sachen waren wirklich nicht sortiert. Bei J.C. handelte es sich höchstwahrscheinlich um John Claude Tremayne, Henrys Urenkel und der letzte Eigentümer von Heligan, bevor der Erste Weltkrieg den Zerfall des Gartens einläutete. Hochinteressant, aber für ihre momentanen Recherchen leider nicht hilfreich.

Fotos mit dem Handy zu machen war erlaubt, also fotografierte sie das meiste, dann legte sie alles sorgsam zurück und wandte sich der nächsten Schachtel zu. Familie Harrington von Heligan, St Ewe.

Mit leicht zittrigen Fingern öffnete sie den Deckel.

Als Erstes fiel ihr eine weitere Zeichnung in die Hände, und ihr stockte der Atem. Es zeigte das Steward’s House mit einem kleinen Garten davor und war mit D. Harrington unterschrieben. Das hatte ganz sicher Damaris gezeichnet! Damaris, deren Lebensgeschichte Lexi jetzt schon so intensiv verfolgt hatte.

Diese Funde aus der Vergangenheit hatten etwas seltsam Intimes. Dieses Blatt Papier hatte Damaris gehalten, hatte darauf mit einem Stift gezeichnet. Für einen Moment schloss Lexi die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, den Arm über die Zeiten hinweg auszustrecken und Damaris’ Hand zu ergreifen. So lebhaft war die Empfindung, dass sie für einen winzigen Augenblick glaubte, tatsächlich Damaris’ Finger zu spüren.

Sie öffnete die Augen wieder. Sie saß noch immer in dem Raum mit dem Tonnengewölbe und der Glasfront, vor sich auf der Tischplatte einige Kartons mit alten Dokumenten. Und noch immer hatte sie nichts über ein Duell zwischen Avery und Perys gefunden. Allmählich machte sich Enttäuschung in ihr breit.

Dann fiel ihr ein weiteres Dokument in die Finger. Eine Art Lehrlingsvertrag für einen achtjährigen Jungen:

William Bickford, ein Waise und ehemaliger Kaminkehrerjunge aus Plymouth, Lehrling der Eheleute Harrington aus Heligan, wird bei diesen wohnen und arbeiten, beginnend vom Datum dieses Vertrags an, bis der besagte Lehrling sein volles Alter von einundzwanzig Jahren erreicht haben wird. Dafür wird er Nahrung, Unterkunft und eine Ausbildung erhalten.

Lexi hob den Kopf. Ehepaar Harrington? Ging es hier etwa um Damaris und Julian? Der Lehrlingsvertrag war auf das Jahr 1809 datiert, das konnte möglich sein. Genauso gut konnte es sich dabei aber auch um ihren Sohn Avery und dessen mögliche Frau handeln. Avery dürfte um diese Zeit dreiundzwanzig Jahre alt gewesen sein – gut möglich, dass er schon verheiratet gewesen war.

Sie suchte weiter und fand einen Brief, der mit Liebste Maris begann, datiert vom Juni 1785.

Maris? Damit war doch sicher Damaris gemeint!

Der Briefbogen war zerknickt und abgestoßen, als wäre er schon oft aufgefaltet und gelesen worden. Die Schrift war kindlich und mit ein paar Tintenflecken verunziert, und auch die Sprache war die eines Kindes.

Liebste Maris, ich habe einen neuen Freund. Du erinnerst Dich doch noch an Mr Harrington? Ich darf Julian zu ihm sagen, und er sagt Allie zu mir. Wir sehen uns manchmal, und dann fährt er mich in meinem rollenden Stuhl herum. Er ist gar nicht immer so unfreundlich, wie ich anfangs dachte. Ich habe ihn sogar schon zum Lachen gebracht. Wir waren auch schon am Meer. Und ich habe ihm die Grube gezeigt, in der die Ananaspflanzen wachsen. Wir hoffen beide sehr, dass eine davon reif ist, wenn ihr wieder zurückkommt. Deine Dich liebende Schwester Allie.

Lexi wurde von Entdeckerfreude durchströmt. Das waren ja gleich mehrere wunderbare Informationen auf einmal!

Es gab also nicht nur Damaris, sondern auch noch eine vermutlich jüngere Schwester namens Allie. Eine Schwester, die offenbar in einer Art Rollstuhl saß – Lexi erinnerte sich dunkel, irgendwo in den gesammelten Dokumenten im Heligan-Archiv eine Rechnung über einen »rollenden Stuhl« gesehen zu haben. Und so, wie die kindliche Schreiberin von Julian Harrington sprach, musste sich diese beginnende Freundschaft zeitlich noch vor Damaris’ und Julians Romanze abgespielt haben. Wie wunderbar! Allmählich fielen immer mehr Puzzleteilchen zusammen zu einem großen Bild.

Lexi fotografierte den Brief mehrfach, von neuem Jagdfieber erfüllt. Das würde sie noch gut in die Ausstellung zur ersten Phase einfügen können – notfalls auch als einfachen Papierausdruck.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Schon fast zwölf? Die Zeit verflog ja im Nu. Wenn sie den nächsten Packen noch durchsehen wollte, bevor Ben kam, musste sie sich ranhalten.

Sie zog ein weiteres Schriftstück aus dem Karton und vertiefte sich erneut in die Dokumente aus einer lange vergangenen Zeit.

4ALLIE

Heligan House, April 1815

Allie nahm die gepolsterten Griffe ihrer Krücken aus den Achseln und lehnte die beiden Gehstützen an die weiß gestrichene Bank am Rand des Rosengartens. In ihrer Kindheit hatte sie lange an einer Knochenkrankheit gelitten, und selbst jetzt konnte sie längere Strecken nur mithilfe ihrer Krücken laufen.

Die Sonne stand noch niedrig, aber es wehte schon ein warmer Frühlingshauch durch Heligan, als sie sich gemeinsam mit Isabella Buller setzte. Isabella war eine angeheiratete Cousine der Familie, ihre Schwester Caroline war die Frau von Henry Tremaynes Sohn John Hearle.

Ein paar Meisen nutzten die vertrockneten Stängel der Stockrosen zum Nestbau. Es war recht früh am Morgen, aber die beiden Frauen hatten bereits gefrühstückt. Von ihrem Platz vor dem Rosengarten aus konnten sie sehen, wie einige Angestellte eine lange Tafel vor dem Herrenhaus aufbauten und auf einer Wiesenfläche ein paar niedrige Tore für ein Pall-Mall-Spiel. An diesem Tag würde ein kleines Gartenfest zu Ehren der Bullers stattfinden, die demnächst England verlassen würden.

»Der Garten ist wirklich herrlich geworden«, sagte Isabella und strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. »Inzwischen ist er über Cornwall hinaus bekannt, heißt es.«

Isabella hatte recht. Seit Henry Hawkins Tremayne sich vor knapp dreißig Jahren entschlossen hatte, sein Anwesen zu einem modernen Landschaftsgarten umzugestalten, war Heligan stetig weiter verbessert und verschönert worden. Im milden, feuchten Klima Cornwalls waren die Bäume, die das Anwesen wie einen Schutzgürtel umgaben, prächtig und zahlreich gewachsen und schützten das Haus vor den starken Weststürmen. Etliche immergrüne Sträucher fassten jetzt die hufeisenförmige Fläche nördlich des Hauses ein. Die Gärten, der Melonenhof und der Blumengarten hatten sich prachtvoll entwickelt, im Obstgarten standen die Kirschbäume in voller Blüte. Am schönsten aber fand Allie den Teil, der sich unterhalb des Hauses ausbreitete – geschwungene Wiesenflächen und dahinter den Alten Wald mit seinen vielen Reitwegen, dessen Boden zurzeit Tausende von leuchtend blauen Glockenblumen bedeckten.

»Wann werdet ihr aufbrechen?«, fragte Allie.

Isabella drehte den Griff ihres bislang geschlossenen Sonnenschirms. »Am Nachmittag. Dann müssten wir am frühen Abend in Lostwithiel sein.«

Isabella und Anthony Buller hatten in Heligan übernachtet, während ihre sechs Kinder mit einem Diener, der Kinderfrau und dem Großteil ihres Gepäcks in ein Gasthaus in der Nähe von Plymouth vorgefahren waren. Dort würden die Eltern noch an diesem Abend dazustoßen. Am nächsten Morgen wollten dann alle gemeinsam nach Plymouth weiterfahren und ein Schiff nach Indien besteigen, wo Anthony Buller eine Stelle als Richter angenommen hatte.

»Ich muss zugeben, liebe Cousine, ich finde das wirklich bewundernswert«, sagte Allie. »Mit der ganzen Familie nach Indien zu reisen, ohne zu wissen, was einen dort erwartet.«

Isabella lachte auf – ein wenig gequält, wie Allie fand. »Nun ja, so habe ich meine Kinder wenigstens um mich, muss mir keine Sorgen um sie machen und bin nicht einsam im fremden Land.«

Allie seufzte leise auf. »Manchmal wünschte ich, ich könnte auch in ferne Länder reisen, aber das geht ja leider nicht. Versprich mir zu schreiben, ja? So oft du nur kannst.«

Isabella lächelte. »Aber gern. Ich kann gar nicht glauben, wie schnell das alles geht. Morgen sind wir schon auf dem Schiff, und wer weiß, wann ich England wiedersehen werde.«

Allie schloss die Augen, hielt ihr Gesicht in die wärmende Frühlingssonne und stellte sich vor, wie es wäre, so weit zu reisen. Ein Teil von ihr beneidete Isabella um die Abenteuer, die vor ihr lagen. Abenteuer, die sie selbst niemals erleben würde.

»Sieh nur«, sagte Isabella, und Allie öffnete die Augen wieder. »Sind das dort nicht deine Schwester und ihr Mann?« Isabella deutete mit dem Kopf zur Seite, wo sich einige Schritte entfernt gerade ein Paar zärtlich voneinander verabschiedete.

»Damaris und Julian? Ja, das sind sie.«

»Die beiden scheinen sehr glücklich miteinander zu sein.«

Allie nickte gedankenversunken. Ihre ältere Schwester war schon lange mit dem Mann verheiratet, den sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr liebte.

»Ist es wahr, was man sich erzählt?«, fragte Isabella. »Dass du es warst, die die beiden zusammengebracht hat?«

»Gewissermaßen.« Allie lächelte, als sie sah, dass Julian sie bemerkt hatte und auf sie zukam. »Zumindest war ich nicht ganz unschuldig daran.«

Es dauerte nicht lange, bis er sie erreicht hatte. »Guten Morgen, Allie, Isabella«, begrüßte er sie mit einem Kopfnicken.

Isabella Bullers hübsches Gesicht rötete sich leicht. »Mr Harrington.«

»Julian«, sagte er. »Wenn ich die Verwandtschaftsverhältnisse richtig verstanden habe, dann sind wir über drei Ecken verschwägert.«

Isabella nickte langsam. »In Ordnung, dann also – Julian.«

Ihre Antwort kam so zögernd, dass Allie ein Lächeln unterdrücken musste. Sie wusste, wie einschüchternd Julian manchmal wirken konnte.

Er war schon lange Henry Tremaynes Gutsverwalter. Mit Ende fünfzig war er noch immer ein attraktiver Mann, auch wenn inzwischen graue Strähnen sein dunkelblondes Haar durchzogen.

Er blieb vor der Bank stehen. »Und, Isabella – bist du schon sehr aufgeregt?«

Die junge Frau nickte erneut. »Ja, ein bisschen schon. Wenn man bedenkt, dass unsere ganze Familie in wenigen Monaten in Indien sein wird. Ich glaube, ich werde das alles hier sehr vermissen. Den englischen Regen, die Gärten, das vertraute Essen. Aber ich freue mich auch sehr auf die Wärme Indiens und unser schönes Haus und die Möglichkeit, Neues kennenzulernen.« Isabella drehte wieder den Griff ihres Sonnenschirms. »Ich gestehe, dass ich mich etwas weniger auf die lange Schiffsreise freue. Vor allem, wenn ich daran denke, was dabei so alles passieren könnte – Stürme, Krankheiten, Schiffbruch …« Sie schlug die Hand vor den Mund, als ihr klarwurde, was sie gerade gesagt hatte, und sah Julian mit schreckgeweiteten Augen an. »O Gott, ich bitte vielmals um Entschuldigung … Ich hatte ja ganz vergessen …«

Julian war für einen Moment blass geworden, dann winkte er ab. »Das ist lange her.«

Vierunddreißig Jahre, um genau zu sein. Dieses Datum würde Allie niemals vergessen.

Jeder im Umkreis von hundert Meilen kannte inzwischen die Geschichte von dem Schiffbrüchigen, den Allie und Damaris damals halb tot in einer nahe gelegenen Bucht gefunden hatten. Julian war ein ehemaliger englischer Siedler aus Amerika, der mit seiner Familie auf dem Rückweg in die alte Heimat gewesen war. Bei einem Schiffbruch vor der Küste Cornwalls hatte er seine Frau und seine zwei kleinen Töchter verloren. Henry Tremayne hatte ihn großzügig aufgenommen und ihm Arbeit und ein Heim gegeben. In den darauffolgenden Jahren hatte Julian als Wildhüter zurückgezogen in den Tremayne’schen Wäldern gelebt.

»Es geht nach Madras, nicht wahr?«, wandte sich Julian jetzt an Isabella.

»Ja«, sagte sie, offenbar dankbar für den Themenwechsel. »Zumindest für die erste Zeit. Möglich, dass Anthony später noch einmal versetzt wird.«

»Wo genau liegt Madras eigentlich?«

»An der Ostküste Indiens, am Golf von Bengalen«, gab Allie an Isabellas Stelle zur Antwort. »Die Stadt ist seit fast zwei Jahrhunderten englische Kronkolonie. Das sollte man wissen, Julian.«

Julian sah sie in gespielter Missbilligung an, unter der Allie tiefe Zuneigung erkannte.

»Du hast dich kein bisschen verändert, Allie«, sagte er kopfschüttelnd. »Du bist immer noch dieselbe vorlaute kleine Person wie früher. Nur etwas älter.«

Isabella lachte. »Sie war schon früher so?«

»Oh ja«, wandte Julian sich an sie. »Man sollte es nicht glauben, aber Allie hat so einiges angestellt, als sie ein junges Mädchen war. Und das, obwohl sie damals noch in einem rollenden Stuhl saß.« Er schien sichtlich Spaß bei dieser Erinnerung zu haben. »Hast du davon gehört?«