Die Gärten von Heligan - Spuren des Aufbruchs - Inez Corbi - E-Book
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Die Gärten von Heligan - Spuren des Aufbruchs E-Book

Inez Corbi

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Beschreibung

Drei Frauen, die Jahrhunderte voneinander trennen
Ein Schiffbrüchiger, der alles verloren hat
Ein prächtiger Garten, der sie alle verbindet


Die Londonerin Lexi sieht erwartungsvoll ihrem neuen Job entgegen: der Planung der großen Jubiläumsfeier in den verwunschenen "Lost Gardens of Heligan" an der Südküste Cornwalls. Bei ihren Recherchen kommt sie zwei Schwestern und ihrer rätselhaften Geschichte auf die Spur:

1781. Die Waisen Damaris und Allie wachsen auf dem Landgut ihres Cousins Henry Tremayne auf. Nach einem Sturm finden sie am Strand den Schiffbrüchigen Julian, dessen Schicksal die Schwestern tief berührt. Während sich zwischen Allie und ihm eine zarte Freundschaft entspinnt, soll die künstlerisch begabte Damaris ihrem Cousin bei der Verwirklichung seines großen Traums helfen: der Anlage eines einzigartigen Gartens. Henrys Ehefrau missfällt die enge Verbindung der beiden, dabei hat Damaris sich längst in einen anderen verliebt - Julian. Doch die Dämonen seiner Vergangenheit drohen ihr Glück zu gefährden ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

1 LEXI

2 LEXI

3 LEXI

4 DAMARIS

5 DAMARIS

6 DAMARIS

7 DAMARIS

8 DAMARIS

9 LEXI

10 LEXI

11 LEXI

12 DAMARIS

13 ALLIE

14 ALLIE

15 DAMARIS

16 DAMARIS

17 ALLIE

18 ALLIE

19 DAMARIS

20 LEXI

21 LEXI

22 LEXI

23 DAMARIS

24 DAMARIS

25 DAMARIS

26 ALLIE

27 ALLIE

28 ALLIE

29 LEXI

30 LEXI

31 LEXI

32 DAMARIS

33 ALLIE

34 DAMARIS

35 DAMARIS

36 DAMARIS

37 DAMARIS

38 LEXI

39 LEXI

Epilog JULIAN

Nachwort und Dank

ÜBER DIESES BUCH

Band 1 der Reihe »Die verlorenen Gärten«

Drei Frauen, die Jahrhunderte voneinander trennen Ein Schiffbrüchiger, der alles verloren hat Ein prächtiger Garten, der sie alle verbindet

Die Londonerin Lexi sieht erwartungsvoll ihrem neuen Job entgegen: der Planung der großen Jubiläumsfeier in den verwunschenen »Lost Gardens of Heligan« an der Südküste Cornwalls. Bei ihren Recherchen kommt sie zwei Schwestern und ihrer rätselhaften Geschichte auf die Spur:

1781. Die Waisen Damaris und Allie wachsen auf dem Landgut ihres Cousins Henry Tremayne auf. Nach einem Sturm finden sie am Strand den Schiffbrüchigen Julian, dessen Schicksal die Schwestern tief berührt. Während sich zwischen Allie und ihm eine zarte Freundschaft entspinnt, soll die künstlerisch begabte Damaris ihrem Cousin bei der Verwirklichung seines großen Traums helfen: der Anlage eines einzigartigen Gartens. Henrys Ehefrau missfällt die enge Verbindung der beiden, dabei hat Damaris sich längst in einen anderen verliebt – Julian. Doch die Dämonen seiner Vergangenheit drohen ihr Glück zu gefährden …

ÜBER DIE AUTORIN

Schon früh stand für Inez Corbi fest, dass sie Schriftstellerin werden m chte. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik arbeitete sie jedoch erst einmal einige Jahre als Assistentin der Gesch ftsführung bei einem Pflegedienst. Erfolge bei Kurzgeschichten-Wettbewerben motivierten sie schlie lich, ihren ersten Roman Die irische Rebellin zu schreiben. Mittlerweile sind fünf Romane und ein Jugendbuch aus ihrer Feder erschienen. Inez Corbi lebt mit ihrer Familie bei Frankfurt.

INEZ CORBI

Spuren des Aufbruchs

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, BonnUmschlaggestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: evannovostro | majeczka | poomooq | Ana Gram | randy andy | travelfoto | Marina Andrejchenko | Gizele | © Flower design sketch gallery; © arcangel: Lee AvisoneBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0399-4

luebbe.delesejury.de

Der Garten schlief.Was einst von kundiger Hand gepflanzt worden war,wurde von der sich ausbreitenden Wildnis aufgenommen.Wurde eingesogen in den ewigen Kreislauf aus Werden und Vergehen.Wurde vergessen.Siebzig Jahre lang schlief der Garten und wartete auf den Moment, bis ihn jemand wiedererweckte.

1LEXI

St Austell, Cornwall, Ende Februar

Das Erste, was Lexi auffiel, als sie an diesem Sonntag aus dem Zug stieg, war der Geruch. Es roch nach Fisch und schwach nach Salz – vollkommen anders als in London. Das Zweite waren die Palmen. Natürlich wusste sie, dass aufgrund des Golfstroms in dieser südwestlichsten Ecke Englands Palmen wuchsen – aber es nur zu wissen und dann tatsächlich zu sehen, waren zwei verschiedene Dinge.

Allerdings passte das Wetter so gar nicht zu den Palmen. Ein kräftiger Wind beugte die Wedel, wehte Lexi feinen Sprühregen ins Gesicht und zerrte ihr ein paar helle Haarsträhnen aus der Kapuze, zwei Möwen kreisten schreiend über ihr. Sie kämpfte mit ihrem Gepäck und verfluchte stumm ihren großen Koffer, an dem eine Rolle blockierte. Vermutlich hatte sich ein Steinchen im Rad verkeilt. Und jetzt drohte auch noch die schwere Reisetasche von ihrer Schulter zu rutschen. Lexi blieb stehen und schaute sich um.

An der hölzernen Fassade des Bahnhofs blätterte weiße Farbe ab, vor dem Gleis standen ein paar eckige, rot angestrichene Kübel mit weiteren Palmen.

Niemand außer ihr war hier ausgestiegen. Für einen Moment überfielen sie Zweifel. War es wirklich richtig gewesen hierherzukommen? Rasch suchte sie den Bahnsteig ab, blickte hinter sich, wie so oft in letzter Zeit. Nein, da war sonst keiner. Doch: ein Mann mit Kappe, der jetzt langsam auf sie zu geschlendert kam. Auch Lexi setzte sich wieder in Bewegung.

»Mr Woods?«, fragte sie, als sie ihn erreicht hatte.

Der Mann – älter, mit freundlichem Gesicht unter der karierten Kappe – nickte. »So ist es. Und Sie sind Mrs …«

Andrews, hätte Lexi fast reflexartig gesagt. Emilia Andrews.

Sie räusperte sich. »Davies«, gab sie zurück. »Aber sagen Sie doch Lexi zu mir.«

»Alles klar«, sagte der Mann. »Ich bin Edwin. Edwin Woods.«

»Ich hoffe, Sie haben nicht zu lange gewartet, Mr Woods.«

»Edwin.« Als er lächelte, legte sich sein breites Gesicht in viele kleine Fältchen. Er deutete auf die Uhr am Bahnhofsgebäude, die kurz nach zwei Uhr nachmittags zeigte, und sagte noch etwas, allerdings mit einem so breiten kornischen Akzent, dass Lexi Mühe hatte, ihn zu verstehen.

»Wie bitte?«

»Fast pünktlich«, wiederholte er und griff nach ihrem Koffer. »Geben Sie mal her. Mein Auto steht gleich da drüben.«

Mr Woods’ – Edwins – Wagen war ein alter dunkelgrüner Ford, dessen Beifahrerseite erhebliche Kratzspuren aufwies. Entweder war der gute Mann ein schlechter Autofahrer, oder er hatte schon öfter in die Hecken ausweichen müssen. Was auch nicht wirklich vertrauenerweckend war.

Kaum saß sie neben ihm, verengte sich etwas in ihrer Kehle. Sie war allein mit einem fremden Mann. Am liebsten wäre sie wieder ausgestiegen. Dann riss sie sich zusammen. Ein fremder Mann war nicht das Problem. Und Edwin Woods wirkte ungefähr so bedrohlich wie ein Teddybär.

Dennoch umklammerte sie ihre Tasche fester und tastete unauffällig von außen nach dem kleinen Sprühfläschchen darin. Das Wissen, dass sie ihr Pfefferspray dabeihatte, beruhigte sie etwas.

Edwin startete den Motor, der nach einem ungnädigen Stottern einmal aufheulte und dann zögernd ansprang.

»Sehr nett von Ihnen, mich abzuholen«, zwang Lexi sich zu sagen.

»Kein Problem. Ist ja nicht weit. Und bei dem Wetter schickt man keinen Hund vor die Tür.«

»Regnet es schon lange?«, fragte Lexi. Eigentlich war ihr gar nicht nach Reden. Aber Reden half gegen die Angst.

»Oh, wir hatten einen ziemlich nassen Februar«, nahm er bereitwillig das Gespräch auf. »Aber jetzt steht ja der März vor der Tür, da wird es wohl besser werden.«

Der Regen hielt an, der Himmel sah aus wie stumpfes Spülwasser. Sie fuhren durch den Ort, bogen an einer Tankstelle nach rechts und folgten dann einer fast schnurgeraden Landstraße. Kaum hatten sie St Austell verlassen, wurde es grüner und ländlicher.

Die Heizung lief, die Scheibenwischer arbeiteten sich laut quietschend am stärker werdenden Regen ab. Es wurde schnell feuchtwarm im Wagen, und Lexi spürte, wie die Anspannung ein wenig von ihr abfiel. Nur ein wenig. Nicht genug, um nachlässig zu werden.

Die Hecken, die die Landstraße säumten, wurden erst höher, dann verschwanden sie und gaben den Blick frei auf eine hügelige Wiesenlandschaft voller Schafe mit schwarzen Köpfen, denen der Regen nichts auszumachen schien. An vielen Bäumen erblickte Lexi Knospen, und in einem Garten blühte schon eine Magnolie.

Irgendwo bog Edwin nach rechts in eine schmale Straße ab, kaum mehr als ein besserer Feldweg, und bald darauf wusste sie, woher die Schrammen an der linken Wagenseite stammten. Die Straße wurde immer schmaler, die Hecken zu beiden Seiten höher. Vor einer uneinsehbaren Kurve fuhr Edwin langsamer, und kaum waren sie hindurch, kam ihnen ein anderes Fahrzeug entgegen. Ein Trecker, der fast genauso breit wie die Straße war. Lexi hielt die Luft an, aber Edwin bremste nur gelassen, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr geschickt zurück bis um die Kurve, wo er in einer schmalen Haltebucht zum Stehen kam – nicht ohne etwas dorniges Gestrüpp zu streifen, das knirschend über den Autolack kratzte. Der Trecker fuhr an ihnen vorbei, der Fahrer nickte Edwin zu, der die Hand hob, dann ging die Fahrt auch schon weiter.

Sie war noch immer in England, aber es fühlte sich an, als wäre sie auf einem anderen Planeten.

Die Woods Lodge war in Wirklichkeit noch schöner als auf den Bildern im Internet: ein einsames, am Ende eines Feldwegs gelegenes Country House im Regency-Stil, umgeben von einem großen Grundstück mit hohen Bäumen. An der steingrauen Fassade des verwunschen wirkenden Gebäudes wanden sich verästelte Zweige von Glyzinien empor, die hübsche Eingangstür hatte ein Sprossenfenster mit blau eingefärbten Glasscheiben.

Es hatte aufgehört zu regnen. Lexi stieg aus – und blieb stocksteif stehen, als ein bunt gefleckter Mischlingshund schwanzwedelnd auf sie zustürmte. Von einem Hund hatte nichts auf der Website gestanden.

»Das ist Watson«, sagte Edwin. »Er tut nichts.«

Lexi rang sich ein gequältes Lächeln ab und versuchte unauffällig, das Tier von sich fernzuhalten. »Weiß das auch der Hund?«

Der Witz war alt, aber Edwin legte sein Gesicht in freundliche Falten.

»Watson ist sehr zutraulich, und er liebt Gäste. Bis vor Kurzem hatten wir noch einen zweiten Hund, Holmes, aber der ist gestorben. Watson, aus!« Der Hund legte sich nieder, sein Schwanz klopfte auf den gekiesten Boden der Einfahrt. »Sehen Sie: Er ist lammfromm.«

»Wenn Sie es sagen …« Lexi wollte gerade nach ihrem Gepäck greifen, als ein schriller Schrei ertönte. Sie zuckte zusammen.

»Und das ist Chester«, erklärte Edwin gelassen. »Auf den müssen Sie aufpassen, der mag es nicht, wenn Sie seinen Damen zu nahe kommen.«

»Seinen Damen?«

»Unseren Hennen. Chester ist unser Hahn, und er verteidigt sein Harem nach Kräften.«

»Herzlich willkommen!«, rief in diesem Moment jemand, und Lexi drehte sich um.

Eine ältere Frau mit modischer Kurzhaarfrisur trat aus dem weiß gestrichenen Wintergarten, der sich direkt ans Haus anschloss.

»Ich bin Mrs Woods, aber sagen Sie ruhig Millicent zu mir, das tun alle.« Die Frau wischte sich die Hände an der geblümten Schürze ab und nickte ihr freundlich zu. »Hatten Sie eine gute Anreise?«

»Ja, danke. Ihr Mann war ja so liebenswürdig, mich vom Bahnhof abzuholen.«

»Das tut er gern, nicht wahr, Edwin?«

Edwin brummte eine gutmütige Zustimmung.

»Und nun kommen Sie, meine Liebe«, sagte Millicent. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, und dann wird es Zeit für eine gute Tasse Cream Tea, nicht wahr?«

»Sehr gern.«

Lexi folgte ihrer Wirtin die steile, mit einem hellbraunen Teppich belegte Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Auch hier erwartete sie Regency-Pracht – der Traum eines jeden Cornwall-Touristen. Das Zimmer mit eigenem Bad hatte einen Kamin und war mit geblümten Vorhängen und passender Bettwäsche ausgestattet. Als wäre die Zeit stehen geblieben. In einer Jane-Austen-Verfilmung hätte es vermutlich kaum anders ausgesehen. Das Zimmer war teurer, als sie es sich eigentlich leisten konnte, aber für die ersten Tage würde es schon gehen. Lexi hatte sich diese Pension ausgesucht, weil sie zum einen nicht weit von St Austell mit seinem Bahnhof lag, und zum anderen, weil ihre neue Arbeitsstelle von hier aus mit dem Bus erreichbar war.

Kaum war Lexi allein, ließ sie ihren Koffer neben dem hohen Bett stehen und öffnete das alte Sprossenfenster. Es ließ sich nur schwer und leise ächzend nach oben schieben.

Neben ihrem Fenster ragte ein riesiger Baum ohne Blätter auf, doch an den Zweigen zeigten sich bereits die ersten Knospen. Lexi schaute hinunter auf den Garten, der zum Haus gehörte. Die weitläufige, mit niedrigen Steinmauern umgrenzte Rasenfläche war gesprenkelt vom Weiß kleiner Gruppen von Schneeglöckchen. Ein Stück vom Haus entfernt stand ein Magnolienbaum, der schon etliche seiner prächtigen, weißrosa Blüten geöffnet hatte.

Es war schön hier, wirklich schön. Der Regen hatte wieder eingesetzt, aber das sanfte Rauschen und die frische Luft taten Lexi gut.

Sie atmete tief durch. Jetzt war sie hier. Endlich.

Hatte sie ihre Spuren gut genug verwischt? Sie hatte überall herumerzählt, sie würde auf die Malediven auswandern, um dort in der Tauchschule ihrer Eltern zu arbeiten. Sonne, Meer, ein Traumstrand – was hatten die Kollegen sie beneidet.

Wenn es doch nur so wäre …

Mit leichter Anstrengung zog sie das Fenster wieder herunter und starrte noch eine Weile nach draußen, hinaus in den Regen und den Garten.

Ich werde dich finden, hatte er gesagt. Egal, wohin du gehst, ich finde dich.

Ein unangenehmer Druck breitete sich in ihrer Brust aus, der zunehmend stärker wurde. Sie beugte sich vor, stützte die Hände auf die hölzerne Fensterbank. Als sie sich umdrehte, schienen die Wände ihres Zimmers plötzlich auf sie zuzukommen, alle Farben verblassten. Ihre Kehle schnürte sich zu, es fühlte sich an, als würde sich eine unsichtbare Hand um ihren Hals legen und ihr die Luft abschneiden. Ihre Hände zitterten, in ihren Ohren rauschte es.

Unvermittelt wurde ihr übel. Sie schaffte es gerade noch ins Bad und erbrach sich in die Toilette. Danach rutschte sie an der tapezierten Wand nach unten, bis sie auf dem Boden saß, auf den kalten Fliesen. Sie holte Luft, so tief, wie es nur ging, und noch mal, und noch mal, immer schneller hintereinander. Ihre Hände kribbelten. Ihr Herz raste, und ihr war noch immer übel. Vermutlich würde sie gleich sterben. Allein in einem wunderschön altmodischen Badezimmer.

Sie starb nicht. Und ganz allmählich beruhigte sich ihr fliegender Atem, ließ die abgrundtiefe Angst nach.

Er war nicht hier.

Er war nicht hier!

Sie war in Sicherheit. Hier würde er sie nicht finden.

Der Boden unter ihr fühlte sich kalt und fest an. Er würde sie halten.

Als ihr Puls nicht mehr in ihren Ohren rauschte, schluckte sie und fuhr mit den Händen durch ihr Haar. Dann erhob sie sich zittrig. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf, klatschte sich kühles Wasser ins Gesicht und ließ den Kopf in das weiche, fliederfarbene Handtuch sinken. Verdammte Panikattacke.

Als sie in den Spiegel sah, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Eine Fremde starrte sie an. Die neue Haarfarbe, mit der sie ihr bis dahin dunkelbraunes Haar im aktuell modischen Silbergrau gefärbt hatte, schien auch ihr ganzes Gesicht verwandelt zu haben. Nur ihre Augen waren dieselben geblieben – ein Paar erschreckter brauner Augen, deren Wimperntusche etwas verlaufen war.

Sie machte sich daran, ihr Make-up aufzufrischen – und fuhr zusammen, als von unten ihr Name gerufen wurde. Himmel, was war sie schreckhaft geworden!

Dann atmete sie tief durch. Vermutlich war eine Tasse heißer Tee jetzt genau das Richtige.

»Aber nicht doch so!«, sagte Millicent mit einem Ausdruck mildem Tadels. »Sie müssen es auf die kornische Art machen, mein Vögelchen.«

Lexi ließ die Hand mit dem Sahneschüsselchen verwirrt sinken.

»Erst die Marmelade«, belehrte Millicent sie. »Danach die Clotted Cream. Andersherum ist es die Devon-Art. Und wir sind hier doch in Cornwall.«

Lexi seufzte innerlich, stellte aber das Schüsselchen ab, griff nach der Erdbeermarmelade und bestrich das süße Brötchen damit. Dann löffelte sie eine dünne Schicht von dem Rahm darauf.

Zusammen mit den Woods saß sie an einem großen Tisch in Millicents Küche, in der ein riesiger vanillegelber Gusseisenofen stand, der eine angenehme Wärme verbreitete.

»Nehmen Sie ruhig mehr«, sagte Millicent. »Ich habe genug davon. Und Sie können es sich leisten, Sie sind viel zu dünn.«

Lexi verzog den Mund. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie jemand so gängelte wie Millicent gerade. Andererseits hatte die Frau ja recht: In den vergangenen Wochen hatte sie ein paar Pfund abgenommen, ohne es zu wollen.

Sie häufte noch etwas mehr Streichrahm auf die Marmelade, dann biss sie in den Scone.

Es schmeckte köstlich. Warm und süß und saftig und sahnig – alles zugleich. Nach dem ersten Bissen merkte sie, wie hungrig sie war. Kein Wunder, sie hatte ja am Morgen außer einem hastigen Frühstück, das aus einem Toast mit Orangenmarmelade bestand, und ein paar Nüssen, die sie unterwegs geknabbert hatte, noch nichts gegessen. Das Käse-Sandwich, das sie in der Paddington Station gekauft hatte, lag noch immer unangetastet in ihrer Reisetasche.

»Was meinen Sie«, fragte Millicent, während sie sich eine neue Tasse Tee einschenkte, »leben wir hier nicht auf einem wundervollen Fleckchen Erde?«

»Oh ja«, entgegnete Lexi. »Und es ist ja schon richtig frühlingshaft. Ganz anders als in …«, sie unterbrach sich kurz, »als in London.«

»Oh, wir hier in Cornwall haben früher Frühling als im Rest des Landes«, erklärte Millicent mit wichtiger Miene und reichte Lexi den Teller mit den Scones. »Nehmen Sie, mein Vögelchen. Wussten Sie, dass wir hier ganz offiziell den Beginn des Frühjahrs in England verkünden dürfen?«

»Tatsächlich?« Lexi war sich nicht sicher, ob Millicent sie auf den Arm nehmen wollte. Sie griff nach einem weiteren Brötchen.

Millicent nickte. »Seit einigen Jahren gibt es eine sehr verlässliche Methode, und zwar die Anzahl der geöffneten Magnolienblüten in den sechs großen Gärten von Cornwall. Die Chefgärtner dort dokumentieren jedes Frühjahr, wie viele Blüten an einem vorher bestimmten Magnolienbaum geöffnet sind. Sobald jede dieser sechs Magnolien fünfzig geöffnete Blüten trägt, wird der Frühlingsanfang in Cornwall verkündet. In diesem Jahr war das gestern.« Sie deutete durch das Küchenfenster. »Und unser Magnolienbaum ist auch schon voller Blüten.«

»Ja, den habe ich schon von meinem Zimmerfenster aus bewundert«, sagte Lexi.

»Und Sie machen hier Urlaub? Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt, wenn ich das so sagen darf. Aber natürlich ist es jetzt noch nicht so überlaufen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gute Tipps für Ihre Urlaubsgestaltung geben. Der alte Hafen von Charlestown zum Beispiel, das Eden-Projekt, die Zinnminen oder Caerhays Castle. Und selbstverständlich die Verlorenen Gärten von Heligan. Die müssen natürlich Ihr erstes Ziel sein für Ihren Urlaub in dieser Ecke von Cornwall. Ich verspreche Ihnen, Sie haben noch nie einen beeindruckenderen Garten gesehen. Warten Sie, ich müsste irgendwo noch einen Prospekt haben – Edwin, wo sind die Prospekte von den Heligan-Gärten?« Sie stand auf.

»Das ist sehr nett«, unterbrach Lexi den Wortschwall, »aber ich bin nicht zum Urlauben hier.«

Millicent hielt mitten in der Bewegung inne. »Nicht?«

»Nein. Ich fange hier einen neuen Job an. In den besagten Heligan-Gärten.«

Millicent strahlte sie an. »Sie werden in Heligan arbeiten?«

»Ja. Als Freiwillige. Mal sehen, wie es mir gefällt.« Mehr sagte sie nicht. Kein Wort darüber, dass sie ihren Job in London Hals über Kopf gekündigt und ihre Zelte in der Hauptstadt abgebrochen hatte.

»Das ist ja wunderbar! Noch einen Scone?« Millicent reichte ihr erneut den Teller mit dem frischen Gebäck. »Sie müssen nämlich wissen, mein Vögelchen, dass ich selbst schon in Heligan als Freiwillige gearbeitet habe. Vor über zwanzig Jahren.«

Edwin trank seinen letzten Schluck Tee aus. »Na, dann hat Millie ja jetzt was zu erzählen«, murmelte er und griff nach der Zeitung.

2LEXI

Woods Lodge, Ende Februar

Millicent war enttäuscht gewesen, dass Lexi kein Abendessen wollte. Aber der üppige Cream Tea mit Scones lag ihr noch im Magen, und sie brauchte dringend etwas Zeit für sich.

Sie studierte den Prospekt von Heligan, den Millicent ihr gegeben hatte. Hätten Sie die Tür geöffnet? war dort über einem Bild einer angelehnten alten Tür zu lesen, hinter der es offensichtlich ins Grüne ging.

The Lost Gardens of Heligan – die Verlorenen Gärten von Heligan. Was für ein romantischer Name. Er klang nach Miltons Paradise Lost, nach Burnetts Secret Garden, nach Dornröschen und nach Geheimnissen. Millicent hatte ihr am Vortag noch ein wenig davon erzählt. Die Gärten waren im späten achtzehnten Jahrhundert angelegt worden und nach dem Ersten Weltkrieg in Vergessenheit geraten, bis sie vor knapp dreißig Jahren wiederentdeckt und zu alter Pracht hergerichtet worden waren.

Noch lebhaft erinnerte Lexi sich an den Tag vor zwei Wochen, als sie in der Fußgängerzone von London gestanden und die Musik gehört hatte. An jenem Tag war sie völlig kopflos gewesen. Überall glaubte sie, Rob zu sehen. Jeder Mann mit Lederjacke, jeder dunkle Haarschopf ließ sie zusammenzucken. Dazu die gestressten Menschen um sie herum, schreiende Kleinkinder, hupende Autos. Und dann plötzlich – leise Gitarrenklänge. Als sie näher kam, sah sie den Straßenmusiker, der mit angenehmer Stimme, nur von seiner Gitarre begleitet, den alten Joni-Mitchell-Song sang, der vom goldenen Sternenstaub erzählte und von der Rückkehr in den Garten.

Der Garten. War es Schicksal gewesen, dass sie kurz danach an einem Plakat vorbeikam, das für die Lost Gardens of Heligan an Cornwalls Südküste warb? Es war Lexi wie eine Offenbarung erschienen, wie ein Lichtblick in der Dunkelheit. Ein sicherer Hort, weitab von der hektischen Großstadt und der Gefahr, der sie dort ausgesetzt war.

Als kleines Kind war sie schon einmal in Heligan gewesen, vermutlich, als sie mit den Eltern Großmutter und Großtante in Liskeard besucht hatte. Lexi erinnerte sich kaum mehr daran. Nur noch an ein freundliches, halb in der Erde versunkenes Riesengesicht mit Haaren aus Gras und an das Gefühl, an einem magischen Ort gelandet zu sein.

Als sie in London nach Hause gekommen war, hatte sie die Website von Heligan aufgerufen, sich über die Möglichkeit einer freiwilligen Mitarbeit informiert und sich per Mail beworben. Wenige Tage später hatte sie mit einer ausgesprochen netten Frau von der Personalabteilung telefoniert und sich kurz entschlossen für den 1. März, den frühestmöglichen Termin, als freiwillige Helferin registrieren lassen.

Dafür gab es zwar kein Geld, aber es war eine einfache und anonyme Möglichkeit, unterzutauchen, ohne das Land zu verlassen. Ihre Angaben wurden nicht geprüft, es gab keine großen Fragen zu ihrem Hintergrund, und niemand verlangte von ihr, sich auszuweisen oder Referenzen beizubringen. Ein paar Wochen würde sie auch ohne Verdienst durchhalten. Außerdem hatte die Frau von der Personalabteilung ihr versichert, dass man in Heligan oft freiwillige Helfer vertraglich übernehme, sofern sie sich bewährten.

Und nun war es so weit. Sie war hier. Am nächsten Tag würde ihr neues Leben beginnen.

Ein durchdringender Schrei riss Lexi aus einem unruhigen Schlaf. Mit rasendem Herzen fuhr sie hoch, und für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Wieder ertönte der Schrei, und sie erkannte halb amüsiert, halb erleichtert, dass es Chester war, der Hahn. Er krähte, um den Morgen zu begrüßen.

Durch die Ränder des zugezogenen schweren Vorhangs mit seinem bunten Blumenmuster fiel weiches Licht. Lexi schlug die Bettdecke zurück und lauschte. Im Haus war noch alles still, nur das leise Knacken der Heizungsrohre war zu hören. Frühstück sollte es um acht Uhr geben, hatte sie mit Millicent vereinbart, und es war erst kurz nach halb sieben.

Leise stand sie auf, begnügte sich vorerst mit einer kurzen Katzenwäsche, schlüpfte in ihre Sportsachen, schlich die Treppe hinunter und trat ins Freie.

Die rote Katzendame Ginger, die ihr am Vortag ebenfalls vorgestellt worden war, saß auf einer niedrigen Steinmauer und sah Lexi in regloser Hochnäsigkeit an. Als Watson, der gefleckte Mischlingshund, Lexi erblickte, kam er freudig wedelnd auf sie zugelaufen. Ginger warf ihm einen Blick voller Verachtung zu.

»Na, du Racker«, begrüßte Lexi den Hund, vor dem sie ihre Angst verloren hatte. »Willst du mich begleiten?«

Als hätte er sie verstanden, wedelte er noch heftiger mit dem Schwanz und folgte ihr dichtauf, als sie in einen leichten Trab verfiel. Vom Grundstück der Woods ging es ein kurzes Stück an der Straße entlang, auf der zu dieser frühen Stunde noch kein Auto fuhr, dann einen Feldweg hinein. Rechts und links erstreckte sich eine Patchworkdecke aus Wiesen, Hecken und Weiden. Die Sonne stand noch tief über dem Horizont, und es war recht kühl. Zarte Nebelschlieren schwebten über den Feldern, weiter hinten stieg eine kleine Schar Vögel auf. Kurz blieb Lexi stehen, um sich zu orientieren. Ein Stück vor ihr konnte sie das grün-weiße Schild einer Bushaltestelle sehen. Von dort würde sie nachher den Bus nach Heligan nehmen.

»Das kommt gar nicht infrage«, sagte Millicent, als Lexi eine knappe Stunde später geduscht und umgezogen vor einem riesigen Berg von Rühreiern mit Toast und Bohnen saß. »An Ihrem ersten Arbeitstag wird Edwin Sie fahren.«

»Das ist wirklich nicht nötig«, widersprach Lexi und schob den Eierberg auf ihrem Teller zur Seite. »Die Bushaltestelle …«

»Ab morgen dürfen Sie gern mit dem Bus fahren, aber heute machen wir eine Ausnahme. Wir wollen doch nicht, dass Sie zu spät kommen.«

Die Eier waren wirklich lecker. Was vermutlich damit zusammenhing, dass ihre Produzenten in einer kleinen Schar vor dem Küchenfenster herumliefen und Körner pickten, während ihr Herr und Gebieter Chester argwöhnisch über sie wachte.

Lexi gab nach. »Ist es Ihnen auch wirklich recht, Edwin?«

Er nickte bedächtig und blätterte raschelnd seine Zeitung um. »Aber natürlich, meine Liebe. Sie sind ja zurzeit unser einziger Gast. Und ein bisschen Abwechslung hat noch keinem geschadet.«

Diese Fahrt mit Edwin war mindestens genauso aufregend wie die erste bei ihrer Ankunft. Nach der Landstraße ging es über ein paar weitere enge Straßen, bei denen Lexi vor jeder Kurve betete, dass ihnen kein anderes Fahrzeug entgegenkam. Sie fuhren durch weite grüne Felder, die in der Frühlingssonne lagen, vorbei an windzerzausten Büschen und niedrigen Bäumen, bis Edwin rechts in eine Straße einbog, an der zu beiden Seiten ein Schild auf die Lost Gardens of Heligan hinwies.

Lexi war aufgeregt wie eine Erstklässlerin bei der Einschulung, als sie sich von Edwin verabschiedete, der sie am Parkplatz vor dem Eingang abgesetzt und ihr mit hochgerecktem Daumen Glück gewünscht hatte.

Sie beobachtete, wie die ersten Besucher ihre Tickets lösten. Ein paar Schritte neben dem Kassenhäuschen versammelten sich nach und nach ungefähr fünfzehn Personen, vermutlich eine Gruppe, die eine Führung gebucht hatte, denn alle trugen einen Aufkleber auf ihrer wetterfesten Kleidung.

An der Seitentür neben den Schaltern, wo Lexi sich einfinden sollte, stand schon eine junge Frau mit kurzen roten Haaren. Offenbar war Lexi also nicht die Einzige, die an diesem Tag hier anfangen würde.

»Hi«, sagte die junge Frau. »Auch dein erster Tag?«

Lexi nickte.

»Jessica«, sagte die andere.

»Lexi.«

Kurz darauf gesellte sich mit Kevin ein weiterer Freiwilliger zu ihnen, ein Mann mit dichtem Bart und Fleshtunnel in den Ohrläppchen.

Lexi sah auf die Uhr. Fast halb elf. Um diese Zeit sollte sie sich hier einfinden, hatte es geheißen. Die anderen beiden vermutlich auch.

Kurz darauf schlenderte ein dunkelhäutiger junger Mann mit langen Dreadlocks auf sie zu. Auf seiner blauen Jacke war der Schriftzug von Heligan eingestickt.

»Seid ihr die Freiwilligen, die heute anfangen?«

Lexi und die anderen beiden bejahten.

Der junge Mann lächelte und zwinkerte Lexi zu. »Wunderbar. Ich bin Orlando, euer Mentor. Soll heißen – wann immer ihr Fragen oder Probleme habt, könnt ihr zu mir kommen. Gleich findet eine Führung für diese Damen und Herren hier statt« – er wies mit dem Kopf auf die Gruppe neben dem Kassenhäuschen – »da könnt ihr erst mal mitlaufen und euch ein erstes Bild machen. Später zeige ich euch dann, was ansteht.«

Er wartete, bis alle aus der Gruppe zusammenstanden.

»Willkommen in einem der geheimnisvollsten Landsitze Großbritanniens«, begann er dann, »den Verlorenen Gärten von Heligan. Warum verloren? Nun, weil dieser Ort viele Jahrzehnte lang in einer Art Dornröschenschlaf lag und nur durch einen Zufall wiederentdeckt wurde. Die Geschichte seiner Wiederentdeckung ist fast ebenso spektakulär wie der Garten selbst. Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.«

Zuerst kamen sie am Giant’s Head vorbei. Lexi lächelte, als sie die Skulptur aus Erde und Pflanzen wiedererkannte, die den halb versunkenen Kopf einen Riesen darstellen sollte, der von der Nase aufwärts aus dem Boden schaute. Ja, daran erinnerte sie sich noch. Ein dichtes Gewirr aus Gräsern und Blumen bildete seine Haare. Natürlich musste jeder erst einmal fotografieren.

Orlando wartete derweil geduldig, dann führte er sie in einen von einer halbrunden Mauer umgebenen Hof, wo er vor einem flachen Gebäude stehen blieb. »Das hier ist der Melonenhof, wo früher heimische und exotische Früchte für die Tafel des Herrenhauses angebaut wurden. Hier war es, dass Heligan neu entdeckt wurde.« Jetzt hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer.

»Stellen Sie sich vor«, fuhr er fort, »Sie erben ein Grundstück. Vollkommen verwildert, fast undurchdringlich. Eigentlich wollen Sie es verkaufen, weil Sie nicht wissen, was Sie mit dieser riesigen Fläche von Wildwuchs anfangen sollen. Als Sie mit einem Interessenten über das Grundstück gehen, knietief überwuchert von Brombeerranken und Efeu, verschwindet plötzlich Ihr kleiner Hund. In wachsender Panik suchen Sie ihn in dem überbordenden Gestrüpp, rufen nach ihm, außer sich vor Sorge«, er machte eine kurze, wirkungsvolle Pause, »und hören ihn plötzlich bellen, von irgendwo tief unter Ihnen. Sie gehen dem Geräusch nach, räumen Unterholz und Ziegel beiseite, hacken sich mit einer Machete durch die Ranken. Und dort, unter bröckelndem Mauerwerk, entdecken Sie schließlich einen kleinen Raum in der Ecke eines ummauerten Gartens. Dabei handelte es sich, wie sich später herausstellte, um den Raum mit dem Donnerbalken – Sie wissen, was ein Donnerbalken ist? So nannte man früher eine einfache Toilette.« Wissendes Nicken von den zumeist älteren Zuhörern. »An der Wand dieses kleinen Raums, der daraufhin freigelegt wurde«, fuhr Orlando fort, »fand sich so etwas wie Graffiti. Keine Zeichnungen, sondern etliche Unterschriften, dicht gedrängt, zum Teil schwer lesbar. Und darunter ein Datum: August 1914. Der Monat, in dem Großbritannien in den Ersten Weltkrieg eintrat.«

Nacheinander durfte jeder aus der Gruppe den kleinen Raum betreten, dessen hintere Wand mit Plexiglas geschützt war. Auch Lexi bekam einen Ausschnitt davon zu sehen – eine altersfleckige Wand, darauf ein paar fast unleserliche Runen. L. Warne konnte sie entziffern, bevor sie den Platz für den nächsten Besucher räumen musste.

»Wenn Sie genau zählen, werden Sie mehr als ein Dutzend mit Bleistift geschriebene Namen sehen – die Unterschriften derer, die hier in diesem Garten gearbeitet haben. Kurz darauf zogen die meisten dieser Männer in den Krieg.« Orlando machte eine erneute kurze Pause. »Kaum einer von ihnen kehrte zurück.«

Aus der Gruppe ertönten vereinzelte Laute der Bestürzung.

»Die Gärten verfielen, für mehr als siebzig Jahre«, fuhr Orlando fort. »Bis dieser Raum hier quasi durch den Hund wiederentdeckt wurde – und natürlich durch Tim Smit, von dem Sie sicher schon gehört haben. Er war verantwortlich dafür, dass diese Gärten nach Jahrzehnten der Vernachlässigung in ein blühendes Paradies zurückverwandelt wurden. Jetzt sieht es in Heligan wieder so ähnlich aus wie damals, als die Gärten im späten achtzehnten Jahrhundert unter Henry Hawkins Tremayne angelegt wurden. Damals zählte Heligan zu den imposantesten Gärten Cornwalls.«

Orlando ging weiter.

Neben dem alten Toilettenhäuschen erstreckte sich eine Reihe gemauerter Gräben, mit Glas und Holzplanken abgedeckt.

»Und hier unser nächstes Prunkstück«, sagte Orlando. »Ein originalgetreu restaurierter georgianischer Ananasgraben. Früher wurden hier Ananas für die Tafel des Herrenhauses gezüchtet. Und auch heute noch heizt man ihn wie schon vor zweihundert Jahren: mit Pferdemist, ein damals überall verfügbarer Rohstoff.«

Anschließend führte Orlando sie durch den Nutzgarten, aus dessen dunkler Erde die ersten grünen Spitzen lugten. Im Walled Garden, dem ummauerten Garten, blühten bereits die ersten Blumen, und einige Leute waren damit beschäftigt, die Pflanzen aus einem der großen alten Gewächshäuser in ein anderes zu bringen. Putzeimer und weitere Utensilien stapelten sich daneben.

Orlando blieb stehen. »Und hier sehen wir einen Teil der Heligan-Belegschaft bei ihrer heiß geliebten Aufgabe, dem großen Frühjahrsputz der Gewächshäuser.«

Ein paar der Männer und Frauen lachten. »Keine Sorge, Orlando«, sagte einer von ihnen mit einem dunklen Basecap. »Du darfst auch gleich mithelfen.«

Danach ging es zu einer von Hecken gesäumten Rasenfläche mit einer alten Sonnenuhr und einem italienisch anmutenden Garten, und zum Schluss führte Orlando sie in einem weiten Bogen durch einen von hohen Bäumen gesäumten Weg bis zur Mud Maid, dem Schlammmädchen – einer aus Erde geformten, auf der Seite liegenden Figur, deren Haare und Kleidung aus Pflanzen bestanden. Dort ruhte sie, halb versunken im Boden, überlebensgroß und überwuchert von Gras, Moos und Efeu – eine schlafende Schönheit, die auf ihr Erwachen wartet. Ein passendes Symbol für dieses verlorene und wieder aufgeweckte Gartenwunder.

Lexi war überrascht, dass die Führung schon zu Ende war – sollte wirklich schon eine Stunde verstrichen sein? Sie hätte Orlando noch stundenlang zuhören können.

Er verabschiedete sich von der Gruppe, der er einen ausführlichen Besuch von Heligan ans Herz legte, dann wandte er sich an die drei Freiwilligen.

»Und jetzt zu euch. Da ihr euch noch nicht aus dem Staub gemacht habt, gehe ich davon aus, dass ihr wirklich hier arbeiten wollt. Kommt mit.«

Sie folgten ihm in ein kleines Büro, wo von jedem von ihnen ein Ausweis mit Foto und Namen erstellt wurde, eingeschweißt und mit einem Band versehen. »Hängt euch das um den Hals. Dann sieht man gleich, dass ihr Freiwillige seid«, sagte Orlando. »Und damit offiziell willkommen in den Reihen der Heligan-Gemeinschaft. Ach, fast vergessen – ich brauche auch noch eure Telefonnummern.«

»Wozu?«, fragte Lexi misstrauisch.

Orlando lachte. »Keine Sorge, ich fange nicht an, euch zu stalken. Ich brauche sie für die Koordination eurer Einsätze, und damit ich euch Bescheid geben kann, wenn’s brennt.« Er zückte sein Handy. »Ruf mich an, dann habe ich deine Nummer.«

Lexi zögerte. Ihr neues Prepaid-Handy hatte sie nur für absolute Notfälle angeschafft. Aber sie sah ein, dass das hier wichtig war. Sie holte ihr Telefon hervor und wählte die Nummer, die Orlando ihr diktierte. Gleich darauf ertönte The Lion Sleeps Tonight – Orlandos Klingelton. Irgendwie passend. Lexi grinste verhalten.

»Bestens, danke. Und deine?«, wandte er sich an Kevin.

Nachdem alle Formalitäten geklärt waren, führte Orlando sie wieder in den Walled Garden, wo sogleich ein hochgewachsener, schlanker Mann auf sie zukam. Er war mehr als einen Kopf größer als die meisten von ihnen und bewegte sich mit der schlaksigen Selbstverständlichkeit eines Jugendlichen, dabei war er sicher schon über vierzig. Seine dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare standen in alle Richtungen ab, als wäre er sich immer wieder mit den Händen hindurchgefahren. Er war Lexi sofort sympathisch.

»Ah, ein paar weitere Helfer für unseren heiß geliebten Frühjahrsputz!« Er schüttelte jedem von ihnen die Hand. »Hi, ich bin Derek.«

Das war Derek Yates, der Obergärtner, und damit gewissermaßen ihr Chef? Lexi war erleichtert. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz sicher nicht diesen entspannten langen Lulatsch.

»Wer von euch hat Gartenerfahrung?«, fragte er.

Kevin und Jessica hoben die Hand.

»Und du?«

Lexi schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Sorry.«

»Kein Problem, wir haben noch für jeden etwas gefunden. Wo hast du bislang gearbeitet?«

Sie zögerte kurz. »In der PR«, sagte sie schließlich. »Public Relations.« Mehr musste er nicht wissen. Kein Name ihres bisherigen Arbeitgebers, das war zu riskant.

»Oh, gut«, sagte Derek. »Dann könnte Theo vielleicht morgen was für dich haben.« Er deutete mit dem Kopf auf die versammelte Mannschaft. »Ihr seht ja, wir sind schon schwer beschäftigt. Schnappt euch einen Lappen und macht einfach mit.«

Und das taten sie dann auch. Lexi fand sich mit einem Eimer Wasser zu ihren Füßen und einem Lappen in der Hand an der Außenseite des Gewächshauses wieder, wo sie neben einigen anderen Helfern die unzähligen kleinen Glasfenster vom Schmutz der letzten Monate befreite. Den um ihren Hals baumelnden Ausweis hatte sie in ihre Hosentasche gesteckt.

Es war anstrengend, und trotz des leichten Windes kam Lexi bald ins Schwitzen. Gegen Mittag ließ Derek die Arbeit für eine kurze Mittagspause unterbrechen, die sie alle gemeinsam im Außenbereich der Cafeteria verbrachten. Lexi war noch satt von Millicents Frühstück, nahm sich aber aus Geselligkeit eine halbrunde Cornish Pasty mit Zwiebel-Käse-Füllung und war erstaunt, wie gut es ihr schmeckte. Die letzten Krümel teilte sie sich mit einem freundlichen Rotkehlchen, das kaum von ihrer Seite weichen wollte.

Danach ging es weiter mit dem Putzdienst. Orlando hob die Stimmung, indem er sich einen leeren Eimer auf die langen Dreadlocks setzte und ein paar Faxen machte. Alle lachten, auch Lexi. Trotz der ungewohnten körperlichen Arbeit begann sie, sich hier wohlzufühlen.

In den nächsten Stunden waren sie damit beschäftigt, die Fenster fertig zu putzen, den Boden des Gewächshauses zu fegen und danach gefühlte Hunderte von Blumentöpfen und Saatgutbehältern in eine Lösung mit Desinfektionsmittel zu tauchen und gründlich abzuspülen.

Als sie die letzten Blumentöpfe zum Trocknen aufgestellt hatte, richtete Lexi sich mit schmerzendem Rücken auf und warf den feuchten Schwamm zurück in den Eimer. Die Haut an ihren Händen war rissig und rau, und ihre Fingernägel waren weich – daran würde auch die beste Maniküre nichts mehr ändern. Aber sie war stolz auf das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit: Das Gewächshaus sah wieder aus wie neu.

Derek sah das genauso. »Gut gemacht. Jetzt hast du dir deinen Feierabend redlich verdient.«

»Entschuldigung«, sagte jemand. Vor ihnen saß ein älterer Mann in einem Rollstuhl. »Entschuldigen Sie. Können Sie mir sagen, wie ich zur Grey Lady komme?«

»Die Grey Lady?« Derek kratzte sich am Kopf. »Da sind Sie hier nicht ganz richtig.«

Er zog einen zerknitterten Plan des Gartens aus einer der vielen Taschen seiner Jacke und begann, ihm den Weg zu erklären.

»Was halten Sie davon«, mischte Lexi sich ein, »wenn ich Sie dorthin bringe? Ich wollte mich sowieso noch ein bisschen umschauen.«

Der Mann nickte erfreut. »Das wäre wirklich sehr nett.«

Lexi schob ihn den westlichen Waldweg entlang, an der Mud Maid vorbei und immer weiter, dann hatten sie ihr Ziel erreicht.

Die Grey Lady war eine durchscheinende, hohe Skulptur aus Drahtgeflecht, die nur schemenhaft vor dem kahlen Geäst der Bäume zu erkennen war. Ätherisch wie ein Geist. Ein Schild besagte, dass sie nach einer mysteriösen grauen Gestalt benannt war, die man angeblich früher gesehen hatte, als sie aus Heligan House verschwand. Eine Erklärung dafür habe sich bislang nicht gefunden.

Lexi verabschiedete sich von dem Mann, der erklärte, sich hier mit Bekannten treffen zu wollen, und ließ sich dann ein wenig treiben. Im Sikkim-Bereich tauchte sie unter den Ästen uralter Rhododendren hindurch, die zum Teil ziemlich niedrig über dem Weg wuchsen und an denen sich gerade die ersten rötlichen Knospen öffneten. Dann schlenderte sie noch einmal zu dem zauberhaften italienischen Garten mit kleinem Teich und südländisch anmutender Atmosphäre, den sie am liebsten gar nicht mehr verlassen hätte.

An diesem Abend freute sie sich auf die Aussicht auf ein üppiges Essen. Egal, wie viel Millicent reden würde.

3LEXI

Woods Lodge, Anfang März

Das Kabeljaufilet thronte auf einem grasgrünen Berg von Erbsenpüree, umgeben von aufgeschichteten Kartoffeln.

»Und hier«, verkündete Millicent, »haben wir meinen berühmten Shipwreck’s Pie – die Schiffbruch-Pastete.«

Lexi freute sich darauf. Obwohl sie schon einen ganzen Teller cremiger Lauchsuppe verputzt hatte, war sie noch immer hungrig. Nach dem Tag mit viel körperlicher Arbeit taten ihr alle Knochen weh. Fortan würde sie sich selbst versorgen, aber für diesen Abend hatte sie sich ein dreigängiges Menü bei Millicent erlaubt.

»Sind hier denn viele Schiffe auf Grund gelaufen?«, fragte sie, während sie ihrer Wirtin den Teller reichte.

»Oh, sehr viele.« Millicent häufte ihr Kartoffeln auf. »Natürlich nicht nur hier, an der gesamten Küste von Cornwall. Sie ist tückisch – viele Untiefen und Riffs, dazu die Stürme, das ist noch heute gefährlich. Diese Gegend war schon immer ein Eldorado für Schmuggler und Strandräuber. Früher gab es kaum Leuchttürme, da sind viele Schiffe gesunken. Manchmal wurde sogar durch falsch gesetzte Lichter nachgeholfen.«

»Sie meinen, jemand hat die Kapitäne bewusst in die Irre geleitet?«

Millicent nickte. »Ein falsch gesetztes Licht an Land, und das Schiff zerschellte an den Klippen. Wenig später wurde dann die Ladung angeschwemmt. Und manchmal auch ein Ertrunkener.«

»Das ist ja schrecklich!«

»Ja, das waren schlimme Zeiten.«

Lexi nahm ihren Teller in Empfang. »Und deswegen also Shipwreck’s Pie?«

»Erzähl ihr von dem Schiffbrüchigen«, sagte Edwin, der bislang geschwiegen hatte.

Millicent nickte und beugte sich ein wenig näher zu Lexi. »Wissen Sie, Vögelchen, es heißt, dass einst, vor mehr als zweihundert Jahren, ganz hier in der Nähe ein Schiffbrüchiger gefunden wurde. Und zwar lebend.« Sie deutete auf Lexis Teller. »Aber essen Sie, bevor es kalt wird.«

Es schmeckte herrlich. Lexi konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal mit so viel Appetit gegessen hatte.

Als sie an diesem Abend in ihr weiches Bett sank, war sie so müde, dass sie einschlief, kaum dass ihr Kopf das Kissen berührt hatte. Und von der Mud Maid in Heligan und den Überresten eines Schiffs am Strand träumte.

Als Lexi am nächsten Morgen die Augen aufschlug, konnte sie kaum fassen, dass sie durchgeschlafen hatte. Wann war das das letzte Mal vorgekommen? Sicherlich vor Wochen, wenn nicht gar Monaten. Eigentlich konnte sie es genau benennen: seit dem 13. Oktober vorigen Jahres. Bevor dieser ganze Mist über sie hereingebrochen war. Als sich noch nicht abgezeichnet hatte, zu was für einer Katastrophe ihr Leben werden würde.

Es war kurz vor sieben, als sie ihren Laptop herausholte und auf den kleinen Tisch stellte. Eine Joggingrunde sparte sie sich. Zum einen war es schon zu spät, zum anderen taten ihr Stellen an ihrem Körper weh, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Erstaunlich, wo man überall Muskeln hatte.

Außerdem musste sie sich endlich melden.

Auf den Malediven war es fünf Stunden später, das hieß, dort wäre es jetzt schon fast zwölf Uhr. Mittagszeit also.

Sie atmete tief durch und klappte den Laptop auf. Für einen Augenblick befürchtete sie, kein WLAN zu haben, aber dann baute sich doch eine Verbindung auf. Sie aktivierte ihren neuen Skype-Account und saß dann eine Weile da, unschlüssig, ob sie es wirklich wagen konnte. Dann wählte sie die Verbindung und wartete.

Schon nach dem zweiten Klingeln hob jemand ab.

»Tauchschule Andrews.«

Ein Knacken, dann erschien das leicht verzögerte Bild einer Frau mittleren Alters mit hellbraunen Haaren auf dem Bildschirm.

»Hi, Mum«, sagte Lexi. »Ich bin’s.«

»Emilia!« Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich fast. »Endlich! Mit diesen Haaren hätte ich dich fast nicht erkannt. Wo steckst du nur? Wie geht es dir?«

»Gut«, sagte Lexi, ohne auf die erste Frage einzugehen. »Es geht mir gut.«

»Steven, es ist Emilia!«, rief ihre Mutter.

Kurz darauf erschien das bärtige, braun gebrannte Gesicht ihres Vaters neben dem ihrer Mutter auf dem Bildschirm. Lexi traten Tränen in die Augen. Es tat so gut, die beiden zu sehen. Sie blinzelte hastig. Ihre Eltern mussten nicht mitbekommen, wie schlecht es ihr ging.

»Emilia, Liebes, wo steckst du? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. An deinem Handy ist kein Anschluss, unter deinem Skype-Account meldest du dich nicht, und auf deiner Arbeit sagen sie, du wärst dort nicht mehr tätig.«

»Ich weiß«, sagte Lexi. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich mich für ein paar Tage nicht melden kann. Und ich habe jetzt ein neues Handy.« Sie zögerte kurz, dann gab sie die Nummer durch. »Aber … Mum, Dad.« Sie holte tief Luft. »Bitte, ihr dürft niemandem diese Nummer geben. Wirklich niemandem! Vor allem nicht Rob, egal, was er euch erzählt. Könnt ihr mir das versprechen?«

»Natürlich, Liebes, das ist doch selbstverständlich. Wir wissen doch Bescheid.«

Nicht ganz, dachte Lexi. Sie hatte vermeiden wollen, dass ihre Eltern sich Sorgen machten, deshalb hatte sie ihnen nur das Allernotwendigste erzählt. Dass sie sich von Rob getrennt habe und nicht wolle, dass er erfuhr, wo sie war. Nichts von den wirklich schlimmen Dingen.

»Geht es dir auch wirklich gut? Und wo bist du überhaupt?«

»Immer noch in England«, sagte Lexi. »Ich muss jetzt Schluss machen. Aber ich melde mich wieder. Bye, ich hab euch lieb.«

»Wir dich auch, Kleines, wir dich auch!«

Ein paar Luftküsschen in die Kameras, dann endete die Verbindung mit dem typischen schmatzenden Geräusch.

Unten in der Küche begann Millicent in der Küche mit Tellern und Töpfen zu klappern.

An diesem Tag fuhr Lexi nach Millicents üppigem Frühstück mit dem Bus nach Heligan, was erstaunlich gut klappte. Dort führte ihr erster Weg in den Shop, in dem sie ein Buch über die verschiedenen Teile Heligans mit seinen Pflanzen erstand, denn nach ihrer gestrigen kleinen Tour wollte sie unbedingt mehr über die Flora und Fauna des Gartens wissen.

Kaum hatte sie sich danach mit ihren anderen beiden Freiwilligen-Kollegen bei Derek eingefunden – was nicht ganz einfach war, da sie ihn erst suchen mussten, er steckte irgendwo zwischen den Brombeerhecken–, wurden sie auch schon für ihre verschiedenen Aufgaben eingeteilt. Jessica wollte gern weiterhin im Gewächshaus arbeiten, und Kevin würde Derek helfen. Lexi rechnete damit, wieder bei irgendeiner Putzaktion eingeteilt zu werden, aber Derek hatte andere Pläne mit ihr.

»Du hast früher PR gemacht, hast du gesagt?«

Sie nickte.

»Sehr gut. Da wird nämlich jemand gebraucht. Stell dich deswegen bitte bei Theo vor. Bei den Dienstgebäuden in der Nähe des Kassenhäuschens.«

Auf dem Weg dorthin traf sie auf Orlando.

»Da ist ja einer unserer patenten Neuzugänge«, sagte er. »Na, noch nicht genug vom Arbeiten?«

»Nein, aber heute darf ich mich mit einer anderen Aufgabe beschäftigen. Irgendwas mit PR.«

»Wo hast du eigentlich in London gearbeitet?«

»In einem großen Architekturbüro«, sagte sie widerstrebend.

»Und da warst du für die PR zuständig?«

»Ja. Öffentlichkeitsarbeit. Pressemitteilungen, Social Media – solcher Kram eben.«

Er zog die dunklen Brauen hoch. »Ich bin beeindruckt. Und da kommst du hierher zum Arbeiten?«

Sie musste aufpassen, dass sie nicht zu viel redete. Orlando schaffte es sonst noch, ihr mehr zu entlocken, als gut für sie war.

»Keine Lust mehr auf Großstadt«, erwiderte sie schulterzuckend, und damit gab er sich zufrieden.

Vor dem Dienstgebäude stand eine schwarze Frau und rauchte. Sie war mittleren Alters, trug eine längere Jacke mit bunten Applikationen, und ihre Haare waren zu einer beeindruckenden Zöpfchenfrisur geflochten.

»Hi«, sagte Lexi, plötzlich schüchtern. »Ich soll mich hier bei einem Theo melden. Wissen Sie, wo er ist?«

Die Frau ließ ihre Zigarette sinken. »Sie steht vor dir«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Theodora Williams, aber alle Welt nennt mich Theo.«

Oh, Theo war eine Frau …

»Hi. Ich dachte …«

»Denkt jeder, der den Namen hört. Du bist neu hier?«

Lexi nickte. »Heute ist mein zweiter Tag. Lexi Davies. Derek schickt mich.«

»Wunderbar.« Theo nahm einen tiefen letzten Zug, dann drückte sie die Zigarette aus und warf sie in den Mülleimer. »Dann willkommen im Team, Lexi.«

Der Blindenratgeber müsse aktualisiert werden, erklärte Theo ihr kurz darauf im Dienstgebäude. Die Kollegin, die eigentlich Vollzeit für die Public Relations und die Veranstaltungsorganisation zuständig war, hatte sich krankgemeldet.

»Und Eliza, die ihr dabei geholfen hat, kann die Arbeit allein nicht stemmen, sie ist nur zwei Tage die Woche hier.«

Eliza war fünfundzwanzig, bildhübsch und hatte offenbar ein Faible für die Mode der Nachkriegszeit. Zumindest trug sie an diesem Tag einen weit ausgestellten roten Rock und eine weiße Bluse. Lexi musste zugeben, dass es ihr stand. Kombiniert mit einem roten Lippenstift und dem ordentlich zurückgebundenen dunklen Pferdeschwanz hätte sie als die jüngere Schwester von Audrey Hepburn durchgehen können. Eliza studierte Modedesign in Falmouth und arbeitete als Aushilfe in Heligan, um sich ihr Studium zu finanzieren.

Mit wachsendem Interesse widmete sich Lexi der Broschüre für die sehbehinderten Besucher, die ausführlich die Plätze in Heligan auflistete, die man mit anderen Sinnen als mit den Augen wahrnehmen konnte. Und ganz nebenbei erfuhr sie noch weitere erstaunliche Dinge über die Gärten. Manche Pflanzen hier waren über zweihundert Jahre alt, in den Kellerräumen des Melonengartens wurden jetzt Pilze gezüchtet, und die Beete des Gemüsegartens wurden im Spätherbst mit frischen Algen gedüngt. Der italienische Garten, der sie am Vortag so fasziniert hatte, war voller botanischer Wunder – unter anderem wuchs dort eine der ersten Kiwipflanzen, die nach England gebracht worden war und die während der Zeit der Vernachlässigung ihre wuchernden Ranken weit über die Mauer und darüber hinaus ausgebreitet hatte. Wirklich bemerkenswert.

Mit der Broschüre in der Hand gingen sie und Eliza ein paar Stationen ab, die noch nachzuprüfen waren, ergänzten hier und da einen Punkt und machten sich Notizen. Für Sehbehinderte waren nur die nördlichen Gärten zugänglich. Die weiter entfernten Teile wie der Dschungel oder das Lost Valley waren dafür nicht geeignet, genauso wenig wie für Rollstuhlfahrer.

Danach mussten sie das Ganze aktualisieren. Zurück im Dienstgebäude wies Eliza Lexi in das Computerprogramm ein, das die momentan kranke Kollegin und sie bislang genutzt hatten. Alles kein Problem, damit kam sie klar.

Am frühen Nachmittag war Lexi fertig und beschloss, die knapp zwei Meilen zum kleinen Fischerort Mevagissey, der sich an Heligan anschloss, zu laufen. Kurz darauf stand sie auf dem Küstenweg oberhalb einer kleinen, versteckt gelegenen Bucht, sah hinab aufs Meer und atmete tief die salzige Luft ein. Der Wind wehte stärker als erwartet, aber das störte sie nicht.

Das unter ihr musste die Bucht ganz in der Nähe von Mevagissey sein, von der Millicent am Abend zuvor gesprochen hatte; die, an der man angeblich vor mehr als zweihundert Jahren einen Schiffbrüchigen gefunden hatte.

Damals hatte es hier sicher auch kaum anders ausgesehen. Schroffe Klippen, an denen sich die Wellen brachen, ragten zu beiden Seiten der Bucht auf. Welle um Welle prallte auf die Felsen, schäumte auf, zog sich wieder zurück. Es war atemberaubend.

Der Weg hinunter war etwas rutschig, aber schon bald stand sie auf nassem Kieselstrand, ließ sich den Wind um die Nase wehen und sah hinaus auf den Ozean mit seinem wechselnden Farbenspiel.

Wie kalt es wohl war? Sie trat näher, als die nächste Welle am kiesigen Strand auslief, ging in die Hocke und steckte die Finger ins Wasser. Oh ja, es war kalt. Viel zu kalt, um auch nur mit den Füßen hineinzutauchen.

Die nächste Welle brandete an, länger als die vorige, viel länger, und Lexi konnte nicht schnell genug zurückweichen. Ihre Schuhe wurden nass.

Schöner Mist! Sie fluchte leise.

Der Wind wurde stärker, am Himmel, der eben noch fast klar gewesen war, brauten sich dunkle Wolken zusammen. Nicht lange, und es würde wieder regnen.

Höchste Zeit, sich auf den Rückweg zu machen.

4DAMARIS

Küste von Cornwall bei Mevagissey, Februar 1781

Der Sturm war vorüber, die Luft roch wie frisch gewaschen. Es war so windstill und ruhig, als hätte es die vergangene Nacht mit dem heftigen Gewitter nie gegeben.

Damaris Tremayne stand mit ihrer kleinen Schwester auf dem Küstenweg über dem Meer. Es war gerade erst hell geworden, die Sonne stand noch tief über dem Horizont. Der Weg wand sich durch die grünen Wiesen und verschwand im dämmrigen Dunst des frühen Morgens. Dieser Weg, der sich fast an der gesamten Küste Cornwalls entlangzog, war von der Küstenwache angelegt worden, um den unzähligen Schmugglerbanden beizukommen, die hier ihr Unwesen trieben. Aber jetzt, an diesem kühlen Februarmorgen, war niemand von der Küstenwache zu sehen. Und auch kein Schmuggler. Nur der Himmel und das Meer.

Unter ihnen lag eine Bucht, ein wenig versteckt hinter einer Landzunge. Sie war nur knapp fünfzig Schritte breit – zu schmal, um hier zu ankern. Die Fischerboote legten von Mevagissey aus ab, und die größeren Schiffe segelten bis nach Plymouth. Damaris liebte es hier. Es war so schön friedlich, und manchmal konnte sie sich einbilden, ganz allein auf der Welt zu sein.

Wenn nicht gerade die kleine Schwester bei ihr war.

Damaris schob Allies rollenden Stuhl ein paar Yards weiter nach vorn bis kurz vor einen größeren Stein, damit ihre Schwester hinunter in die Bucht sehen konnte. Allie stützte die Hände auf die Armlehnen und stemmte sich hoch. Als Kleinkind hatte eine Krankheit ihre Beine geschwächt; inzwischen war sie fast sieben Jahre alt und konnte immer noch nicht laufen.

»Pass auf«, sagte Damaris. »Du fällst noch raus!«

Der Blick, mit dem ihre kleine Schwester sie bedachte, war voller kindlicher Missbilligung. »Ich falle nicht raus. Und Cousin Henry sagt, ich soll an die frische Luft und mich bewegen.«

»Cousin Henry ist auch nicht derjenige, der sich darum kümmern muss, dass du dir nichts tust.«

Henry Hawkins Tremayne war Gutsherr von Heligan House und der einzige Verwandte, der ihnen nach dem Tod der Eltern geblieben war. Sein Zuhause war jetzt auch ihres. Daran mussten sie sich noch immer gewöhnen.

Allie ließ sich wieder zurücksinken, dann deutete sie hinunter in die Bucht. »Was ist das?«

Damaris sah ebenfalls hinunter. Die Bucht erstrahlte im Glanz des frühen Morgens, und dort unten lag, halb im Wasser neben einem großen Haufen Seetang, eine schwere Kiste, von den Wellen hin und her geschaukelt.

»Die ist wohl angespült worden. Vermutlich hat ein Schiff in diesem schrecklichen Unwetter einen Teil seiner Ladung verloren«, sagte Damaris.

»Was da wohl drin ist? Maris, kannst du nachsehen?«, bat Allie. »Vielleicht ist es ja ein Schatz.«

Damaris brauchte nicht lange überredet zu werden – sie war ja selbst neugierig. Mit ihren sechzehn Jahren war sie zwar schon fast erwachsen, aber das hieß ja nicht, dass sie nicht immer noch den Drang nach Abenteuern verspürte.

»Nur, wenn du mir versprichst, dich nicht von der Stelle zu rühren.«

Allie nickte gleich mehrmals.

»Du wartest hier«, schärfte Damaris ihrer Schwester ein. »Genau hier, wo ich dich sehen kann.«

»Ja doch!«

Mit raschen Schritten ging Damaris über den schmalen Pfad nach unten, hinunter zum Strand der kleinen Bucht. Unter ihren Schuhen knirschten Sand und winzige Steinchen.

Die Kiste dümpelte in den auslaufenden Wellen. Als Damaris näher kam, sah sie, dass eine Seite offen war und Wasser darin mit hohlem Klang schwappte. Was immer darin gewesen war, jetzt war nichts mehr davon vorhanden.

»Was siehst du?«, rief Allie von oben. »Einen Schatz?«

»Nein, gar nichts. Sie ist leer«, rief Damaris zurück.

Der Wind frischte auf. Es war kalt, und Damaris zog mit beiden Händen ihren Umhang fester um sich. Langsam ging sie um die Kiste herum, neben der sich ein Haufen sandiger, brauner Seetang neben einem großen Stück Treibholz türmte. Und fuhr erschrocken zurück. Ein entsetztes Keuchen entfuhr ihr.

»Was ist los?«, rief Allie von oben. »Hast du doch was gefunden?«

Damaris’ Herz pochte laut, so sehr hatte sie sich erschreckt, und sie presste die Hände an die Brust.

»Maris, sag doch was! Hast du was gefunden?«

Damaris trat einen vorsichtigen Schritt näher. Das war kein Treibholz.

»Hier … liegt jemand.«

Auf dem Strand, neben der Kiste, halb verborgen von dem Seetang, lag ein toter Mensch.

Wie schrecklich!

»Wer denn?« Allies Stimme.

»Ein Toter«, rief Damaris nach oben.

War auch er über Bord gegangen, genau wie die Kiste? Oder war gar ein Schiff auf Grund gelaufen in dieser schrecklichen Sturmnacht? Damaris schluckte. Sie hatte schon Tote gesehen – zuletzt ihren eigenen Vater, als man ihn nach dem Unglück in der Mine bei ihnen aufgebahrt hatte, bleich und starr und leblos.

Dieser Tote lag halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, einen Arm unter sich, während die Wellen an ihm leckten. Er war komplett bekleidet, also hatte ihn der Tod nicht im Schlaf überrascht.

Sie musste es tun. Sie musste ihn berühren, auch wenn ihr davor grauste, einen Toten anzufassen. Aber sie musste ganz sichergehen.

Vorsichtig, sehr vorsichtig, ging sie in die Hocke und legte ihre Hand auf seinen linken Handrücken, der unter dem dunklen Jackenärmel hervorschaute. Er war eiskalt. Wie jemand, der seit Stunden im kalten Wasser des Atlantiks getrieben hatte. Kein Leben war mehr in ihm.

Sie senkte den Kopf und sprach ein kurzes Gebet. Als sie wieder aufblickte, hatte sie den Eindruck, als hätten sich die Finger seiner Hand gekrümmt. Ganz schwach nur, fast nicht wahrnehmbar.

Sicher hatte sie sich das nur eingebildet. Und doch …

Sie schüttelte ihn sanft.

Er rührte sich nicht.

»Maris, was machst du denn da?«

Sie antwortete nicht. Jetzt setzte sie etwas mehr Kraft ein, fasste ihn an der Seite und einer Schulter und zog, bis es ihr schließlich gelang, ihn auf den Rücken zu drehen.

Seetang hatte sich in seinen nassen Haaren verfangen, er sah fast aus wie ein Wesen aus dem Meer. Was sie von seinem Gesicht sehen konnte, war leichenblass und wie Wachs. Ein zersplittertes Holzstück hatte sich in seine linke Schulter gebohrt, der dunkle Stoff seiner Jacke war blutgetränkt. Aber da – konnte es sein? Konnte es wirklich sein, dass sich sein Brustkorb gerade ganz schwach gehoben hatte? Dass er atmete?

An seinem Hals, oberhalb des Kragens, wo sich die Halsbinde gelöst hatte, sah sie ein kleines Stückchen freie Haut. Mit zitternden Händen legte sie zwei Finger dorthin, so, wie der Arzt es damals bei ihrem Vater gemacht hatte.

Ein paar atemlose Sekunden lang war da nichts. Nur eiskalte Haut.

Aber dann: ein leises, kaum wahrnehmbares Klopfen unter ihren Fingerspitzen.

Sie sprang auf, am ganzen Körper bebend.

»Allie! Er lebt!«

Er lebte. Aber vielleicht nicht mehr lange.

Und er war so furchtbar kalt.

»Sir, hören Sie mich?«

Damaris rüttelte ihn, erst sanft, dann etwas stärker, aber er bewegte sich nicht. Sie fasste ihn am Arm und zog. Aber es half nichts, er war zu schwer.

»Sir, bitte, wachen Sie auf!«

»Maris! Was machen wir denn jetzt?«, drang Allies Stimme über den Wind und das Rauschen der Wellen zu ihr herunter.

»Ich habe keine Ahnung«, rief Damaris verzweifelt zurück. »Ich kann ihn nicht aufwecken.«

Wenigstens musste sie nicht befürchten, dass die Wellen ihn wieder mit sich nahmen – die Flut hatte ihn hier an Land gespuckt, und jetzt zog sich das Meer nach und nach zurück. Wie eine Katze, die ihren Fang vor ihrem Besitzer abgelegt hatte und jetzt auf Lob wartete.