Rebel Sisters - Inez Corbi - E-Book

Rebel Sisters E-Book

Inez Corbi

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Beschreibung

Cork, Irland. Die junge Sarah ist nicht glücklich mit ihrem Job in einem Souvenirgeschäft. Daher zögert sie nicht lang, als die Amerikanerin Helen ihr eine lukrative Stelle anbietet: Sarah soll der alten Dame helfen, deren irische Wurzeln zu erforschen. Vor Kurzem wurde in der texanischen Wüste ein Flugzeugwrack gefunden, und Helen vermutet, dass es sich bei dem Skelett des Piloten um ihren irischen Großvater handelt. Die Spur führt beide Frauen an die südirische Bantry Bay. In einem herrschaftlichen Anwesen stoßen sie auf die Geschichte der leidenschaftlichen Fliegerin Joanna, deren abenteuerliches Schicksal vor mehr als hundert Jahren begann und nicht nur mit Helens Leben verwoben ist ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

Epilog

Nachwort und Hintergründe

Dank

Über das Buch

Cork, Irland. Die junge Sarah ist nicht glücklich mit ihrem Job in einem Souvenirgeschäft. Daher zögert sie nicht lang, als die Amerikanerin Helen ihr eine lukrative Stelle anbietet: Sarah soll der alten Dame helfen, deren irische Wurzeln zu erforschen. Vor Kurzem wurde in der texanischen Wüste ein Flugzeugwrack gefunden, und Helen vermutet, dass es sich bei dem Skelett des Piloten um ihren irischen Großvater handelt. Die Spur führt beide Frauen an die südirische Bantry Bay. In einem herrschaftlichen Anwesen stoßen sie auf die Geschichte der leidenschaftlichen Fliegerin Joanna, deren abenteuerliches Schicksal vor mehr als hundert Jahren begann und nicht nur mit Helens Leben verwoben ist …

Über die Autorin

Schon früh stand für Inez Corbi fest, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik arbeitete sie jedoch erst einmal einige Jahre als Assistentin der Geschäftsführung bei einem Pflegedienst. Erfolge bei Kurzgeschichten-Wettbewerben motivierten sie schließlich, ihren ersten Roman Die irische Rebellin zu schreiben. Mittlerweile sind fünf Romane und ein Jugendbuch aus ihrer Feder erschienen. Inez Corbi lebt mit ihrer Familie bei Frankfurt.

INEZ CORBI

REBEL SISTERS

DIE PILOTIN

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2024 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, BonnUmschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleUmschlagmotive: © Arcangel: Joanna Czogala | © shutterstock: Andreas Muth-Hegener | Helen Hotson | vectortatueBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-5591-7

luebbe.delesejury.de

Prolog

Salt Basin Dunes, Texas, Juli

Mit sonorem Geräusch glitt die Kameradrohne über die weiße Fläche der Gipswüste mit ihren hohen Dünen. Die Wüste war einst ein großer See gewesen, der schon vor langer Zeit ausgetrocknet war und der jetzt nur noch aus Gipskristallen bestand, die der Wind zu spektakulären, bis zu sechzig Fuß hohen weißen Dünen aufgetürmt hatte.

Es war sehr heiß. Juan, der junge Mann, der die Drohne bediente, wischte sich mit einer Hand den Schweiß aus dem Gesicht. Er kannte die Gegend von früheren Besuchen und hatte vorsichtshalber seine Basecap und eine Wasserflasche mitgenommen. Sein Blick glitt über die endlose Landschaft aus glitzerndem Gips.

Das Surren der Rotoren erfüllte die Stille. Die Drohne war neu, ein Geschenk von Juans Eltern zum dreiundzwanzigsten Geburtstag. Wo er wohnte, konnte er das Gerät nicht fliegen lassen, also war er hierhergefahren, um es auszuprobieren.

Juan ließ die Drohne probeweise ein paar Kurven fliegen, dann wurde er mutiger und ließ sie in größere Höhe aufsteigen. Er genoss den Moment, als er die Kontrolle über das kleine Fluggerät spürte, das nun hoch über den Dünen schwebte.

Auf dem Display seines Controllers konnte er die Aufnahmen sehen, die die Drohne machte. Der Kontrast zwischen dem bewaldeten Hochland weiter hinten und der ausgedehnten Wüstenlandschaft mit ihren strahlend weißen Dünen hätte kaum größer sein können. Es war atemberaubend. Fast hatte Juan selbst das Gefühl zu fliegen. Er nahm einen tiefen Atemzug und lächelte, während er die majestätische Schönheit der Szenerie auf sich wirken ließ.

Wind kam auf und wirbelte weiße Schwaden hoch, die einer Schneewehe ähnelten. Auf dem Display verdunkelten sich die Drohnenaufnahmen.

Das war jetzt wohl schon seit Tagen so. Der Angestellte einer nahe gelegenen Tankstelle, bei der er sich heute Morgen etwas zu trinken geholt hatte, hatte erzählt, es habe in den vergangenen Tagen immer wieder ungewöhnlich starken Wind gegeben.

Juan ließ das Gerät höher steigen, über die Düne hinweg, aber auch das änderte nichts daran, dass die Sicht schlagartig schlechter geworden war. Feine, piksige Körner trommelten auf die Kamera und verhinderten eine klare Sicht. Er ärgerte sich. Wenn das sich nicht bald änderte, würde er einpacken und diesen Ort verlassen müssen. Er konnte schließlich nicht riskieren, dass die teure Drohne Schaden nahm.

Ein Glück: Der Wind ließ wieder nach. Juan ließ die Drohne in einem langsamen Sinkflug kreisen.

Die Düne hatte sich ein wenig verändert. Der Wind hatte sie an ihrem oberen Ende weiter abgeschliffen, eine neue Form geschaffen und etwas darunter freigelegt.

In den unbarmherzigen Strahlen der Sonne glänzte etwas in hellem Kupfer, das aus der Düne hervorragte.

Womöglich ein Stück Metall?

Juan veränderte die Flugbahn der Drohne und lenkte sie tiefer. Dann zoomte er mit der Kamera näher heran, um das unbekannte Teil besser untersuchen zu können.

Ja, es handelte sich wirklich um ein gebogenes Stück Metall, womöglich aus Messing oder Kupfer. Und es gehörte eindeutig nicht dorthin.

Die Verbindung zur Drohne brach ab. Mist! Juan versuchte es erneut, rüttelte am Controller, aber sie reagierte nicht.

Dann fiel die Drohne wie ein Stein zu Boden.

Juan fluchte laut und begann zu laufen, so schnell es der Untergrund erlaubte. Mit jedem Schritt versank er in dem lockeren Sand. Staubfein rutschte es unter seinen Sohlen, als er die steile Düne erklomm.

Er fand die Drohne, nahm sie auf und registrierte erleichtert, dass nichts kaputt war. Vermutlich war es nur eine Fehlfunktion.

Aus dem Sand, kurz unterhalb der Stelle, wo die Drohne gelegen hatte, ragte etwas heraus. Ein kurzes, dickes Messingrohr, in das etwas eingeprägt war. Juan konnte nur ein paar einzelne Buchstaben erkennen. P MP. Sollte das Pumpe heißen?

Da war noch mehr. Er trat einen Schritt zurück.

Weißer Sand wehte, es war heiß. Mit einer Hand wischte Juan die aufgewirbelten Gipskristalle fort und zog sich den Schirm seiner Cap tiefer ins Gesicht.

Das sah fast aus wie … Ja, wie ein Flügel. Der stoffbespannte Flügel eines Kleinflugzeugs, wie man sie früher geflogen hatte, von Sand und Wüstenluft konserviert. Juan hatte erst vor Kurzem einen Bericht über die Anfänge der Fliegerei gesehen.

Mit beiden Händen schaufelte er den weißen Sand beiseite, der immer wieder von oben nachrieselte. Dann erstarrte er: Aus den weißen Gipskristallen ragte der Teil eines Knochens.

1.

SARAH

Cork, Irland, Mitte März

»Sarah, ich muss mit Ihnen reden!«

Sarah seufzte. Ihre Schicht hatte gerade erst angefangen, der Laden war voll, aber ihre Chefin schien mit ihrem Anliegen nicht warten zu können. »Ich komme.«

»So geht das nicht«, sagte Karen, kaum dass sie die Tür zu dem winzigen Besprechungszimmer hinter Sarah und sich geschlossen hatte. Sogar hier hörte man die Musik aus den Verkaufsräumen, wenn auch nur gedämpft. »Ich darf von meinen Mitarbeitern ein Mindestmaß an Kooperation und Identifikation mit dem Unternehmen erwarten.«

»Ich verstehe nicht ganz.« Sarah sah sie fragend an. Manchmal drückte Karen sich unnötig kompliziert aus.

»Ich meine damit«, sagte ihre Vorgesetzte und stützte beide Hände auf den Tisch vor sich, »dass Sie sich nicht an die geltenden Kleidungsvorschriften halten.«

Geltende Kleidungsvorschriften? Sie war doch jetzt schon weitaus spießiger angezogen, als sie normalerweise herumlaufen würde – mit dezentem Make-up, Jeans und einem schlichten hellgrauen Pulli.

»Es ist kurz vor St Patrick’s Day. Da ist es unseren Kunden gegenüber angebracht, das Irische etwas mehr zu betonen. So, wie es alle Ihre Kollegen auch tun.«

Besagte Kollegen und Kolleginnen trugen grüne Hosenträger mit Kleeblättern, bunte Zylinder oder Strickmützen mit Wikingerhörnern – ein Aufzug alberner als der andere.

»Ich wüsste nicht«, entgegnete Sarah, »dass in meinem Vertrag steht, dass ich mich wie eine Idiotin anziehen muss.«

Karen sah sie hinter ihrem glitzernden grünen Brillengestell in Kleeblattform ein paar Sekunden lang schweigend an. »Sie halten mich also für eine Idiotin?«

»Nein. Natürlich nicht. Entschuldigung.«

»Sie sind nicht unersetzlich, Sarah. Ihnen ist hoffentlich klar, dass es viele andere Männer und Frauen gibt, die um Ihren Job betteln würden.«

Sarah nickte stumm.

»Um es Ihnen etwas leichter zu machen, habe ich Ihnen ein paar Sachen mitgebracht. Suchen Sie sich etwas davon aus.«

Sie wies auf einen kleinen Tisch neben sich, auf dem ein überdimensionierter Zylinder lag, daneben ein weiteres Brillengestell in Kleeblattform und ein Haarreif mit Fühlern, an deren Enden große Kleeblätter wippten. Sarah schluckte eine aufgebrachte Erwiderung hinunter und entschied sich schließlich mit Todesverachtung für den Haarreif, den sie sich ins dunkle Haar drückte.

Wenn sie nicht so dringend auf das Geld angewiesen wäre, hätte sie schon längst gekündigt. Aber irgendwann, da war sie sicher, würde sie Karen und ihren Laden auf den Mond schießen.

Sie atmete tief durch, dann strich sie sich über die Haare, richtete den Reif neu, setzte ein – so hoffte sie – professionelles Lächeln auf und betrat erneut den Verkaufsraum im Erdgeschoss, in dem es von Kunden wimmelte.

»Es ist nur ein Job«, sagte sie sich im Stillen. »Keine Ehe.«

Der Laden, über dem die Aufschrift Karen’s Irish Craft & Gift Shop prangte, lag in Corks bester Einkaufsgegend und erstreckte sich über zwei Etagen. Es waren nicht die Kunden, die Sarah nervten – die meisten von ihnen waren schließlich nett, aufgeschlossen und dankbar für ihre Hilfe. Es war vor allem die ständige Geräuschkulisse aus immer denselben irischen Liedern, von morgens bis abends in Dauerschleife. Wenn sie Glück hatte, wurde die CD gegen Mittag gewechselt, dann erschollen statt Danny Boy auch mal Molly Malone oder The Wild Rover. Sarah hätte jedes davon Silbe für Silbe mitsingen können.

Dennis, einer ihrer Kollegen, der einen riesigen grünen Hut trug, zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte lächelnd zurück. Wenigstens waren die Kollegen in Ordnung. Sie trat an ein Regal und begann, ein paar Pullover, die ein Kunde durchwühlt hatte, zusammenzulegen.

»Entschuldigen Sie«, hörte sie eine weibliche Stimme hinter sich. »Könnten Sie mir vielleicht helfen?«

Sie drehte sich um, ein verbindliches Lächeln im Gesicht. »Natürlich, gern.«

Vor ihr stand eine Frau in den Siebzigern, die eine mit keltischen Motiven verzierte Kochlöffelablage in der Hand hielt.

»Ich würde das hier gern kaufen. Können Sie mir sagen, ob und wie ich es nach Massachusetts bekomme?«

»Also in die USA?«

»Ja, genau. Sagte ich das nicht? Verzeihen Sie, Kindchen, ich bin manchmal so vergesslich.«

Die Kundin lächelte. Sie sprach mit einem gut verständlichen amerikanischen Akzent – nicht die breite, gedehnte Aussprache aus dem Süden, sondern eher von der Ostküste.

»Das ist kein Problem«, erklärte Sarah. »An der Kasse wird alles gut verpackt, und dann schicken wir es Ihnen, wohin immer Sie möchten.«

»Oh, das ist sehr gut. Sehr gut.« Die ältere Dame wies mit einem Kopfnicken auf Sarahs Haarreif. »Sieht lustig aus.«

Sarah zwang sich zu einem Lächeln. »Ist halt wegen St Patrick’s Day.«

»Oh, ja, natürlich. Wissen Sie, in Boston gibt es jedes Jahr am St Patrick’s Day eine große Parade.«

»Ich habe gehört, man würde den Fluss in leuchtendem Grün färben.«

»Ja, das ist richtig. Den Charles River. Mit einem umweltfreundlichen Farbstoff. Es sieht wirklich wundervoll aus, wenn sich das Grün allmählich im Wasser ausbreitet.« Sie schien etwas zu überlegen, dann gab sie sich einen Ruck. »Könnten Sie mir vielleicht noch mal weiterhelfen?«

»Aber gern.«

»Nun …« Sie unterbrach sich. »Wie heißen Sie?«

»Sarah.« Es war nicht ungewöhnlich, dass Kunden nach ihrem Namen fragten.

»Ich bin Helen. Nun, Sarah, ich habe mich gefragt, ob ich meinem Sohn auch etwas mitbringen sollte. Aber ich muss gestehen, ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ihm gefallen könnte.« Sie sah Sarah erwartungsvoll an.

»Wofür interessiert er sich denn?«, fragte Sarah höflich.

»Sehen Sie, das ist ja das Problem. Ich weiß es nicht.« Helen hob die Schultern. »Was würden Sie denn zum Beispiel Ihrem Vater schenken?«

Sarah konnte sich gerade noch zurückhalten, nicht das Gesicht zu verziehen. »Keine Ahnung. Wir sehen uns nicht so häufig.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Was halten Sie davon?«, fragte Sarah und wies auf ein Regal. »Das verkaufen wir viel.«

Sie zog ein Badehandtuch heraus und faltete es auf. Eine große Irland-Karte war darauf zu sehen.

»Für Männer werden auch immer gern Whiskey-Pralinen genommen. Oder ein gestrickter Aran-Pullover. Oder eine Schirmmütze. Oder ein paar Guinness-Gläser.«

»Halt, halt!« Helen lachte. »Das sind ja mehr Sachen, als ich mir merken kann.«

Sarah nahm sich die Zeit, mit ihrer Kundin durch den Laden zu gehen und sie eingehend zu beraten. Dabei erzählte sie Helen von den Hintergründen der verschiedenen Souvenirs, von der Geschichte des Aran-Strickens und den Traditionen des Guinness-Brauens. Helen hörte aufmerksam zu, während sie die Auswahl betrachtete. Zum Schluss entschied sie sich für einen dunkelgrünen Schal aus Merino-Wolle und ein paar alkoholhaltige Pralinen.

Bevor sie sich auf den Weg zur Kasse machten, blieb Helen stehen und sah Sarah an.

»Sie waren so hilfsbereit und hatten so viel Geduld mit mir – darf ich Sie nach Feierabend vielleicht auf einen Kaffee oder Tee einladen?«

Zuerst wollte Sarah reflexartig ablehnen. Allerdings: Es war nicht verboten, sich mit Kunden zu treffen. Helen machte einen wirklich netten Eindruck. Und sie war schon lange nicht mehr zu irgendetwas eingeladen worden.

»Ein Kaffee wäre schön«, sagte sie. »Ich habe heute Nachmittag um drei Uhr Feierabend.«

Das Café lag in einer Seitenstraße und gehörte zu Sarahs Lieblingsplätzen – ein gemütliches Vintage-Café mit Holzmöbeln, zentral am Ufer des River Lee gelegen. Leider hatte sie sich in letzter Zeit oft dieses Vergnügen versagen müssen, wenn sie bis zum Monatsende mit ihrem Geld auskommen wollte.

Um kurz nach drei hatte sie sich mit Helen dort verabredet. Das Wetter war wie oft im März kühl, aber wenigstens regnete es nicht.

Als sie das Café betrat, sah sie aus dem Hintergrund jemanden winken. Tatsächlich: Helen war schon da.

»Ich freue mich sehr, dass Sie mich nicht versetzt haben«, sagte sie.

»Warum hätte ich das tun sollen?« Sarah nahm auf dem Stuhl Helen gegenüber Platz.

»Nun ja, es hätte ja sein können, dass Sie es sich kurzfristig anders überlegt haben.« Helen schaute sich um. »Das ist ein wirklich nettes Café. Können Sie etwas empfehlen?«

»Außer Kaffee? Der Karotten-Nuss-Kuchen ist hier ziemlich lecker.« Sarah war hungrig; das Sandwich von heute Mittag war schon verdaut.

Helen nickte, und als kurz darauf eine Kellnerin vorbeikam, bestellte sie für sie beide Kaffee und Carrot Cake.

»Kennen Sie sich gut in Cork aus?«, fragte Helen, als die Kellnerin gegangen war.

»Eigentlich schon. Ich wohne schon mein ganzes Leben hier.«

»Erzählen Sie mir ein bisschen von sich, Sarah. Gefällt Ihnen der Job im Andenkenladen?«

»Er ist okay«, gab Sarah distanziert zurück. Sie würde sicher nicht den Fehler begehen und zugeben, wie sehr ihre Arbeit – und vor allem ihre Chefin – sie manchmal nervte.

»Dann würden Sie lieber in einem anderen Beruf arbeiten?«

Sarah hob die Schultern. »Ich habe letztes Jahr meine Ausbildung in Grafikdesign abgeschlossen. Aber leider gibt es zurzeit keine Stelle für mich.«

»Sie sind Grafikdesignerin? Was macht man da?«

Sarah überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete.

»Grafikdesign ist eine kreative Tätigkeit«, erklärte sie dann. »Man entwickelt visuelle Konzepte, entwirft Logos, gestaltet Layouts und trägt zur Entwicklung von Werbekampagnen bei. Das würde ich auch gerne machen. Aber wie ich sagte – momentan hatte ich noch kein Glück, was eine passende Stelle betrifft.«

Die Bedienung kam mit Kaffee und einem großen Stück Karottenkuchen mit einem cremigen Frischkäse-Überzug für jede, und für eine Weile widmeten sie sich schweigend der süßen Leckerei.

»Sie haben recht, dieser Kuchen ist fantastisch!« Helen legte die Gabel zur Seite. »Und Ihre Eltern? Leben die auch in Cork?« Sie sah Sarah an. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich zu neugierig bin. Das war schon immer ein schrecklicher Fehler von mir. Sie müssen nicht antworten, wenn Sie nicht wollen.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon gut. Mein Vater ist viel unterwegs. Meine Mutter lebt nicht mehr.«

Helen sah sie betroffen an. »Das tut mir schrecklich leid. Das muss schlimm für Sie sein.«

Bei den freundlichen Worten dieser ihr fast unbekannten Frau stiegen Sarah plötzlich Tränen in die Augen. Sie blinzelte.

»Ist schon gut«, sagte sie nochmals. »Das alles ist lange her. Meine Mutter starb, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich kaum mehr an sie erinnern.«

»Und Ihr Vater?«

»Der ist meistens irgendwo im Ausland.«

Helen sah sie fragend an.

»Er ist Forscher«, erklärte Sarah. »Klimatologe. Momentan ist er auf einer Forschungsstation in der Antarktis.«

»Das hört sich ausgesprochen spannend an.«

»Ist es auch.«

Für ihn. Für seine Tochter weniger. Sarah wünschte, er würde sich auch einmal so sehr für seinen Nachwuchs begeistern wie für seine Forschungen. Aber das sagte sie natürlich nicht.

»Und sonst? Haben Sie keine anderen Verwandten? Großeltern, Onkel, Tanten?«

»Nein, niemanden. Meine Eltern waren beziehungsweise sind Einzelkinder. Meine Mutter war Waise, und die Eltern meines Vaters sind auch schon sehr lange tot. Ich habe sie nie kennengelernt.«

Helen schwieg eine Weile. »Das ist wirklich sehr bedauerlich«, sagte sie dann leise.

»Und dann«, fuhr Sarah fort, bevor sie sich zurückhalten konnte, »habe ich mich vor Kurzem auch noch von meinem Freund getrennt. Sie sehen also«, sagte sie in bitterer Ironie, »es könnte gerade kaum besser laufen.«

Sie wunderte sich über sich selbst, dass sie Helen so viel von sich erzählte. Aber es tat einfach gut, jemanden zum Zuhören zu haben. Und dennoch: Irgendetwas war an Helen anders als heute Vormittag.

Sarah beäugte ihre Tischnachbarin unauffällig. Diese blickte sie offen an.

»Wie heißt es bei Ihnen?« Helen lächelte. »Einen Penny für Ihre Gedanken.«

»Ich wundere mich nur …«, begann Sarah, dann stoppte sie. Sie konnte ja kaum sagen, dass Helen heute Vormittag einen sehr viel älteren und reichlich unbeholfenen Eindruck gemacht hatte. »Sie wirken irgendwie – ganz anders als vorhin im Laden«, sagte sie schließlich.

»Ich weiß. Und Sie müssen verzeihen, Sarah. Manchmal gebe ich mich ein bisschen hilfloser, als ich bin. Aber nur so konnte ich sehen, was für eine nette und hilfsbereite Person Sie sind. Und ich bin auf der Suche nach einer solchen Person.«

Sarah ließ ihre Gabel sinken. »Warum?«, fragte sie misstrauisch.

»Wissen Sie, eigentlich wollte ich diese Reise mit einer Freundin machen. Aber die hat im letzten Moment kalte Füße bekommen, sodass ich ohne sie hierhergekommen bin. Aber ich reise nicht gern allein. Ich würde mich über jemanden freuen, der mir einen Tag lang ein bisschen die Stadt zeigt. Natürlich gegen eine angemessene Bezahlung.«

»Sie suchen also eine Reiseführerin?«

»Ja, so in etwa.«

»Und wie stellen Sie sich das vor?«

Helen hob die Schultern. »Das liegt ganz bei Ihnen. Vielleicht können Sie mir ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen oder mit mir in ein interessantes Museum gehen. Ich bin da ganz offen.«

Sie nannte einen Betrag, der Sarah angemessen vorkam – nicht zu hoch, aber nachdenkenswert.

»Also gut«, stimmte sie schließlich zu. »Wie wäre es gleich mit morgen? Da habe ich meinen freien Tag.«

»Das wäre absolut wunderbar.«

Sarah schloss die Wohnungstür im vierten Stock des Hauses auf. Niemand da. Sie teilte sich diese Wohnung mit drei anderen Leuten, von denen jeder sein eigenes Zimmer hatte, Bad und Küche aber für alle gemeinsam waren. Eine Zweck-WG, in die sie nach dem Ende ihres Studiums gezogen war. Das Einzige, das für diese Wohnsituation sprach, war der Preis. Der Preis und die Lage. Nur so war es ihr überhaupt möglich, in Cork nahe der Innenstadt zu leben.

Gerade waren sie alle fort – arbeiten, feiern oder Freunde treffen. Auch wenn Sarah kein Problem mit dem Alleinsein hatte – wer wüsste das besser als sie, haha –, vermisste sie in diesem Moment ihre Mitbewohner. Oder einfach eine nette Person, mit der sie reden konnte. Bis vor Kurzem hatte sie noch gehofft, demnächst mit Elias zusammenzuziehen. Aber Elias hatte sich als Nullnummer erwiesen. Was sollte sie mit einem Mann anfangen, der es mit fünfundzwanzig noch nicht für nötig befand, einer geregelten Arbeit nachzugehen und am liebsten den ganzen Tag lang vor der Spielekonsole saß?

Sie ließ ihre Sachen in ihrem Zimmer aufs Bett fallen, das unter einem schlecht schließenden Fenster stand, und zückte ihr Handy. An einem Tag wie diesem musste sie einfach mit jemandem reden.

Bereits beim zweiten Klingeln nahm Naomi ab. Das hübsche, dunkle Gesicht ihrer besten Freundin erschien auf dem Display.

»Sarah, Schatz«, flötete sie ins Telefon. »Alles klar bei dir?«

»Geht so«, gab Sarah zu. »Was machst du gerade?«

»Backen«, sagte Naomi. »Aber das kann warten. Schieß los, was hast du auf dem Herzen?«

»Ich hatte heute eine seltsame Begegnung.«

»Seltsam gut oder seltsam schlecht?«

»Ich glaube, gut trifft es eher.« Sarah erzählte von Helen, dem anschließenden Treffen im Café und Helens Angebot, Sarah für einen Tag als Reiseführerin zu engagieren.

»Ist doch super«, sagte Naomi. »Die alte Tante weiß offenbar nicht, wohin mit ihrem Geld. Du willst doch nicht etwa absagen?«

»Nein, will ich nicht. Und sie ist auch keine alte Tante, sondern sogar ziemlich fit.«

»Wo liegt dann das Problem?«

»Ach, ich weiß nicht. Es ist …«

»Ach, Süße«, sagte Naomi in plötzlich verändertem Tonfall. »Ich weiß, das ist gerade alles nicht leicht für dich. Soll ich rüberkommen und versuchen, dich ein bisschen aufzumuntern? Leonard kommt erst in einer Stunde nach Hause.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Das ist sehr lieb von dir, aber nein. Es ist nur … Ich werde das Gefühl nicht los, dass da noch mehr ist. Dass sie mir irgendwas verschweigt.«

2.

SARAH

Cork, Mitte März

Es wurde dann wirklich ein netter Tag, und das hing nicht nur mit dem Geld zusammen, das Helen ihr schon zu Beginn gezahlt hatte. Sarah nahm ihre Heimatstadt erstmals mit den Augen einer Touristin wahr und nicht mit denen einer Einheimischen.

Sie waren in den überdachten Markthallen des English Market gewesen, einem Paradies für Feinschmecker, wo Helen begeistert die vielfältigen Auslagen betrachtet und vieles probiert hatte. Da das Wetter mitspielte, hatten sie sich danach den hölzernen, inzwischen stark verwitterten Anlegeplatz im Hafen von Cobh angesehen, von dem vor mehr als hundert Jahren die Titanic nach ihrer Abfahrt von Southampton einst kurz Zwischenstation gemacht hatte. Sarah zeigte Helen auch die Statue der jungen Annie Moore, der ersten Immigrantin, die 1892 Ellis Island vor New York betrat. Anschließend besuchten sie das Cobh Heritage Centre, wo es um die Geschichte der irischen Auswanderung ging.

Jetzt saßen sie im angeschlossenen Tea Room vor den Resten ihres kleinen Mahls und beobachteten die Leute, die vorbeiflanierten.

»Wenn man sich vorstellt«, sagte Helen, »wie schwer das damals für die Menschen gewesen sein muss, alles zurückzulassen und in ein fremdes Land auszuwandern, ohne zu wissen, was einen erwartet …«

Sarah nickte. »Ja, vor allem nach der großen Hungersnot Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, aber auch noch später. Man mag es sich gar nicht ausmalen, was für schwierige Entscheidungen das gewesen sein mochten.« Sie musterte die ältere Frau prüfend. An irgendjemanden erinnerte Helen sie, aber sie kam nicht darauf, an wen.

»Es gibt viele Amerikaner, die nach Irland kommen, um ihre Wurzeln zu erforschen. Sind Sie vielleicht auch irischer Herkunft?«

Helen verzog das Gesicht zu einem kleinen Lächeln. »Sie sind sehr klug, Sarah. Und ja, ich gebe zu, das ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin. Ein Teil meiner Familie hat irische Wurzeln.«

»Und die wollen Sie gern zurückverfolgen?«

Helen bejahte.

»Wie heißen Sie mit Nachnamen?«

Helen lächelte. »Miller«, sagte sie.

Sarah lachte. »Das ist nun wirklich kein seltener Name. Und auch kein irischer. Ich nehme an, das ist der Name Ihres Mannes?«

Helen nickte. »Mein Mann ist im vorigen Jahr gestorben«, sagte sie, den Blick irgendwo ins Nichts gerichtet.

»Tut mir sehr leid«, murmelte Sarah.

»Er war kein einfacher Mensch«, erzählte Helen weiter. »Er konnte manchmal recht streitsüchtig und nachtragend sein. Und Reisen machte ihm überhaupt keinen Spaß. Also habe ich nach seinem Tod beschlossen, einiges nachzuholen.«

»Und deswegen wollen Sie also Ihre Familiengeschichte erforschen?«

»Ja, aber nicht nur deswegen. Es gab noch einen anderen Grund.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog einen Umschlag heraus. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Vielleicht haben Sie davon gehört: Letzten Sommer wurde in einer texanischen Wüste ein abgestürztes Flugzeug gefunden.« Sie sah Sarah fragend an.

In Sarah tauchte eine verschwommene Erinnerung auf. »War es nicht sogar ein sehr altes Flugzeug?«

»Ganz genau. Dieses Flugzeug«, fuhr Helen fort, »lag schon sehr lange unter den Gipsdünen des Salt Basin. Mehr als hundert Jahre, wie man schließlich herausfand. Hier, ich habe den Artikel dabei.«

Sie öffnete den Umschlag, fischte einen zusammengefalteten Zeitungsausschnitt heraus und reichte ihn Sarah.

Hundert Jahre altes Flugzeug in Salt Basin Dunes von Texas gefunden – Rätsel um Piloten, lautete die Überschrift.

Mit Datum vom August des Vorjahres wurde darüber berichtet, dass ein junger Student dort bei einem Drohnenflug eine Art frühe Benzinpumpe entdeckt habe. Die bald daraufhin eingeleitete Aktion zur Bergung habe zur allgemeinen Freude das gut erhaltene Wrack eines Doppeldeckerflugzeugs aus den Anfängen der Motorfliegerei freigelegt. Offenbar war das Flugzeug über einem menschenleeren Teil der Wüste abgestürzt und für viele Jahrzehnte unter einer Düne begraben gewesen.

Außerdem habe man ein paar menschliche Knochen gefunden, die vermutlich dem Piloten gehörten.

»Das ist alles hochinteressant und auch ein bisschen gruselig«, gestand Sarah, »aber ich verstehe noch nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«

»Warten Sie, es geht noch weiter«, sagte Helen. »Mein Vater – Gott hab ihn selig – wurde als Kleinkind adoptiert. Von einer wohlhabenden Familie aus der Nähe von Boston, die ihn wie ihr eigenes Kind aufzog. Ich weiß leider nicht viel von der wahren Herkunft meines Vaters. Es hieß immer nur, dass er als kleiner Junge in einem Waisenhaus abgegeben worden sei. Und dass sein echter Nachname früher Sheridan lautete und er irischer Herkunft war. Eine Zeitung hat einen Bericht darüber gebracht. So bin ich überhaupt erst darauf gekommen.«

Helen öffnete erneut den Umschlag und förderte ein paar Papierbilder zutage. »Bei dem Wrack des Flugzeugs wurden auch einige Papiere gefunden, leider größtenteils zerfallen und daher unleserlich. Aber darunter war auch eine fast unversehrte Fluglizenz. Sie lag in einem ledernen Mäppchen, daher hatte die Zeit ihr kaum etwas anhaben können. Hier, die Zeitung war so freundlich, mir ein paar Abzüge davon zukommen zu lassen.«

Helen reichte ihr ein Foto – einen Ausdruck von einem Zeitungsartikel.

Die Fluglizenz war registriert auf den Namen Aidan Sheridan, geboren in Glengarriff, Grafschaft Cork, ausgestellt im Oktober 1911. Die Seite mit dem dazugehörigen Passbild zeigte einen jungen Mann mit ordentlich gestutztem Schnurrbart.

»Und Sie glauben, dass das womöglich Ihr Vorfahre war?«, fragte Sarah.

Helen nickte.

»Ich will Sie ja nicht enttäuschen, aber es gibt Tausende Iren mit Nachnamen Sheridan«, wandte Sarah ein.

»Das weiß ich natürlich. Aber in dem Mäppchen mit der Fluglizenz war ein weiteres Foto. Hier, ich habe mir auch davon einen Abzug machen lassen.«

Sie reichte Sarah die Kopie einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie. Ein junger Mann, der Ähnlichkeit nach derselbe wie auf dem Foto der Fluglizenz, wenn auch ohne Schnurrbart, war darauf zu erkennen, und daneben ein kleines Kind in Matrosenkleidung. Es hielt einen Teddybären im Arm.

»Mein Vater ist vor mehr als zwanzig Jahren verstorben«, sagte Helen. »In seinem Nachlass fand sich unter anderem das hier.« Sie zog ein weiteres Bild aus dem Umschlag und reichte es Sarah. Es zeigte einen zerfledderten alten Teddybären zwischen einigen Büchern. »Der kleine Kerl sitzt seitdem in meinem Bücherregal.«

»Sie glauben, das ist der gleiche Bär?« Sarah kniff die Augen zusammen und verglich die beiden Bilder.

»Nicht nur der gleiche, sondern derselbe. Es ist ein selbst genähter, aus dunkelblauem Baumwollstoff. Sehen Sie die Form von Augen und Nase?«

Es stimmte, was Helen sagte. Das Gesicht des Bären war aus hellgrauem Garn aufgestickt worden und zeigte ein leicht melancholisches Lächeln.

»Und Sie glauben …«

»Ich glaube«, sagte Helen, »mein Vater war dieses Kind. Und der Pilot mein Großvater.« Sie reichte Sarah noch einen Abzug. »Hier, es gibt noch ein Bild.«

Das Foto zeigte mehrere junge Männer und Frauen mit Tennisschlägern, darunter auch – vermutlich – Aidan Sheridan. Im Hintergrund war ein niedriger runder Turm zu sehen.

»Ich würde sehr gern meine irischen Wurzeln erforschen und Licht in diese Sache bringen. Was meinen Sie, Sarah: Könnten Sie sich vorstellen, mir dabei zu helfen? Natürlich wieder gegen Bezahlung.«

»Ich?« Sarah lachte auf. »Aber – ich bin keine gelernte Rechercheurin. Ich bin ja nicht einmal besonders gut im Rätselraten. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen eine große Hilfe wäre.«

»Aber natürlich wären Sie das! Sie haben mir bislang schon sehr geholfen, und ich würde mich wirklich sehr darüber freuen.«

Sarah zögerte. Dieses Angebot war fast zu gut, um wahr zu sein.

»Wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen Haken. Sie helfen mir bei der Suche nach meinen Vorfahren, und ich bezahle Sie dafür.«

»Aber warum ich? Warum fragen Sie nicht jemanden vom Fach, der das sicherlich besser könnte als ich?«

»Weil ich denke, dass Sie die Richtige sind.« Helen sah sie mit einem irgendwie zärtlichen Blick an. »Seit Ihre Mutter bei diesem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen ist, haben Sie es sicher nicht leicht gehabt.«

Sarah schob ihren Teller zurück, schlagartig ernüchtert. »Woher wissen Sie das? Ich habe Ihnen nie erzählt, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben ist.« Sie erhob sich. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

»Setz dich, Sarah. Ich werde dir alles erklären.« Helen griff nach ihrer Hand. »Ich bin nicht zufällig hier. Ich habe nach dir suchen lassen.«

»Nach mir? Warum?«

»Weil …«, Helen sah ihr in die Augen, »weil ich deine Großmutter bin. Die Mutter deines Vaters.«

»Wie bitte?« Sarah schüttelte heftig den Kopf. »Wer immer Sie sind, das sind Sie nicht. Meine Großeltern leben alle nicht mehr. Das hat mir mein Vater gesagt.«

»Nun«, meinte Helen sanft. »Dann hat er gelogen.«

3.

SARAH

Cork, Mitte März

Sarah griff nach ihrem Handy. Wog es in der Hand und legte es wieder weg.

Sie war zu Hause. Mittlerweile hatte Helen mehrmals angerufen und Textnachrichten auf ihr Handy geschickt, die sie alle nicht beantwortet hatte.

Inzwischen bereute Sarah, dass sie das Gespräch mit ihr so überstürzt abgebrochen hatte und ohne ein Wort gegangen war. Aber bevor sie sich auch nur ansatzweise weiter damit befassen konnte, musste sie eine wichtige Sache klären.

Sie nahm das Handy erneut und scrollte durch die Namenssuche.

Andrew O’Malley. Ihr Vater.

Einen weiteren langen Moment zögerte sie, dann drückte sie auf das Wählen-Symbol. Und wartete.

Das Klingeln lief ins Leere. Sie legte auf und versuchte es noch einmal, aber wieder dasselbe: nichts. Vermutlich war er wieder einmal Robben beobachten und hörte das Klingeln nicht. Oder er nahm gerade eine Probe aus den eisigen Gewässern. Oder er musste irgendeine schrecklich wichtige Messung vornehmen.

Andrew O’Malley war Klimaforscher und Biologe und befand sich für die nächsten Monate auf der Rothera-Station, einer Forschungsstation auf den Adelaide-Inseln, die als Versorgungsbasis für die britischen Antarktisstationen diente.

Davor war er auf den Hebriden gewesen. Und davor irgendwo in Tansania, bei einem Klimaschutzprojekt.

Sarah kannte es nicht anders. Er war nicht da gewesen, als sie die Schule beendet hatte. Oder bei ihrer Führerscheinprüfung. Oder als sie ihren Studienabschluss gemacht hatte. Eigentlich bei jeder wichtigen Prüfung in ihrem Leben. Sarah hatte ihre Schulzeit größtenteils in Internaten verbracht. In den wenigen Wochen zwischen zwei Forschungsaufträgen, in denen sie Ferien hatte und ihr Vater zu Hause war, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Das waren die seltenen Momente gewesen, wo ihre Welt in Ordnung gewesen war. Bis ihr Vater wieder fortmusste und Sarah zurück ins Internat.

Kurz überlegte sie, ob sie ihm eine Mail schreiben sollte, und verwarf diesen Gedanken gleich wieder. Sie wollte persönlich mit ihm sprechen.

Dann klingelte ihr Telefon. Ihr Vater.

Sie hob ab. »Hi, Dad. Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«

»Sarah!«, meldete sich die leicht verzerrt klingende Stimme ihres Vaters. Wider Erwarten war sie froh, ihn zu hören. »Ich war draußen. Der antarktische Sommer ist bald vorbei, und es muss noch so viel getan werden, bevor der Winter kommt. Ist etwas passiert?«

»Allerdings«, gab Sarah mit neu aufflammender Wut zurück. Sie hielten sich beide nicht mit längerem Vorgeplänkel auf. Die telefonische Verbindung in die Antarktis war alles andere als stabil. Bei der relativ geringen Bandbreite über die Satellitenverbindung, die für sämtlichen Datenverkehr in der Station reichen musste, brachen Telefongespräche oft schnell zusammen.

»Ich habe gerade eine Frau getroffen, eine ältere Amerikanerin. Sie nennt sich Helen Miller und behauptet, deine Mutter zu sein.« Sie machte eine kurze Pause. »Aber das kann ja gar nicht sein, denn meine Großeltern sind ja schon vor meiner Geburt gestorben, hast du immer gesagt. Nicht wahr?«

Es knisterte und knackte in der Leitung.

»Dad, bist du noch da?«

»Ja. Ja, bin ich.« Er räusperte sich. »Nun, möglicherweise habe ich dir über meine Eltern nicht ganz die Wahrheit gesagt …«

»Nicht ganz die Wahrheit? Du hast mich angelogen!«

»Hör mal, Sarah, wenn ich wieder zurück bin, dann sprechen wir über alles. Aber jetzt muss ich zurück an die Arbeit.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Sarah starrte das Bild ihres Vaters auf dem Display an, das ihn in dickem Anorak und Kapuze vor einer verschneiten Landschaft zeigte. Dann warf sie das Telefon aufs Bett.

Am liebsten hätte sie es an die Wand geworfen.

Sarah war noch immer wütend. Was bildete ihr Vater sich ein, sie über so etwas Wichtiges anzulügen? Was bildete sich Helen ein? Was bildeten sie sich alle ein?

Und dennoch: Ein Teil von ihr beschäftigte sich fast ohne ihr Zutun mit den Fragen, die Helen aufgeworfen hatte. Dem Rätsel um den vor vielen Jahren abgestürzten Piloten, bei dem es sich womöglich um Helens Großvater gehandelt haben könnte.

Aber sie hatte viel zu wenige Informationen, um damit irgendetwas Sinnvolles herausfinden zu können. Sie hatte ja nicht einmal ein Foto von irgendeiner der Unterlagen gemacht, die Helen ihr gezeigt hatte.

Sie erinnerte sich an den Namen – Aidan Sheridan – und das Datum der Fluglizenz. Oktober 1911. Und an ein Bild mit mehreren Menschen, das einen niedrigen Turm im Hintergrund zeigte. Der Geburtsort fiel ihr nicht mehr ein. Zu dumm, dass sie keine Fotos von den Bildern gemacht hatte.

Was konnte man mit diesen Informationen schon anfangen? Das Ganze war schließlich über hundert Jahre her.

Aidan Sheridan. Grafschaft Cork.

Mit diesen spärlichen Informationen würde man kaum irgendetwas herauskriegen können.

Das Bild von dem niedrigen Turm kam ihr erneut in den Sinn. Davon gab es einige in Irland. Hießen diese Dinger nicht Martello-Türme? Und stand so ein Turm nicht auch auf dieser kleinen Insel in der Bantry Bay?

Falls ja, würde das die Suche erheblich eingrenzen.

Wie von selbst griff sie wieder nach ihrem Handy und ging ins Internet.

Sie hatte richtiggelegen: Ein reicher Engländer hatte die kleine Insel namens Garinish Island 1910 gekauft und in den Folgejahren zu einem kleinen Gartenparadies umgestaltet, das noch heute viele Besucher anzog. Und ja, es gab dort einen Martello-Turm, der aus der Zeit der Napoleonischen Kriege stammte. Die Insel war von Glengarriff aus mit dem Boot erreichbar.

Glengarriff. War das nicht der Geburtsort des Piloten, der in der Fluglizenz gestanden hatte?

Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: der Zensus. Natürlich! Erst vor Kurzem hatte sie darüber gelesen, dass es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mehrere Volkszählungen in Irland gegeben hatte, in der möglichst detaillierte Angaben zur Bevölkerung gemacht worden waren. Vielleicht konnte sie mehr darüber herausfinden?

Sie klappte ihr Laptop auf – solche Sachen gingen damit besser als auf dem Handy – und startete eine weitere schnelle Internet-Recherche.

Ja, sie hatte recht gehabt. Es hatte damals zwei Volkszählungen gegeben: 1901 und 1911, und man konnte sogar online darin suchen.

Die Angaben für 1901 waren spärlich und wirkten unvollständig; Sheridans gab es nur sehr wenige. Das war also vermutlich nichts. Sie wählte 1911 aus und gab auch hier die wenigen Daten ein, die sie hatte.

Nachname: Sheridan. Grafschaft: Cork.

Den Vornamen ließ sie vorerst aus, das konnte sie später noch eingrenzen.

Eine Liste mit 76 Einträgen erschien. Sarah wählte noch Geschlecht: männlich aus, und die Einträge schrumpften auf nur noch 33.

Sie überflog die Liste, und dann entdeckte sie es: Aidan Sheridan. Wohnort:Glengarriff.

Halleluja!

Bei demselben Wohnort war ein weiterer Name angegeben: Graham Sheridan.

Sarah klickte ein Häkchen an, das weitere Informationen versprach. Es erschienen Angaben zu Alter, Beruf, Religion und ob man lesen und schreiben konnte.

Aidan Sheridan war zum Zeitpunkt der Zensuserhebung zwanzig Jahre alt gewesen und als Student eingetragen; Graham Sheridan wurde mit fünfzig Jahren und als Familienoberhaupt und Doktor der Medizin angegeben.

Da sie an derselben Adresse wohnten, handelte es sich bei diesen beiden Sheridans vermutlich um Vater und Sohn. Das war ja hochinteressant! Ob man noch mehr herausfinden konnte? Sarah klickte den Namen des Vaters an, und sofort erschienen sämtliche Bewohner des betreffenden Hauses in Glengarriff.

War es möglich, dass sie Helens Vorfahren gefunden hatte?

Sie zögerte, dann griff sie nach ihrem Telefon und suchte nach der erst kürzlich gespeicherten Nummer von Helen. Ihrer Großmutter.

Auch wenn Sarah eigentlich immer noch sauer war.

»Sein Vater war Arzt, und sie lebten in Glengarriff«, sagte sie ohne jegliche Vorrede, als Helen sich gemeldet hatte.

»Wie bitte? Sarah, wovon sprichst du?«

»Von Aidan Sheridan. Dem Mann, von dem du glaubst, dass er dein Großvater war. Ich habe ein bisschen weiter geforscht. Im Zensus von 1911. Den kann man online einsehen. Es gab einen Doktor Sheridan, der in Glengarriff lebte. Im Zensus werden acht Personen als im Haushalt lebend aufgeführt«, las Sarah die neuen Informationen vor. »Doktor Sheridan, seine Frau und vier Kinder: drei Töchter und einen Sohn. Der Sohn hieß Aidan. Dazu noch zwei Angestellte.« Sie lehnte sich zufrieden zurück. »Ich glaube, ich habe deine Vorfahren gefunden.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment Schweigen.

»Helen, bist du noch da?«

»Das ist … Sarah, du bist fantastisch!«

»Danke«, murmelte Sarah, etwas irritiert von Helens Begeisterung.

»Und – Sarah?«

»Ja?«

»Es sind auch deine Vorfahren.«

4.

JOANNA

Irland, Bahnhof von Bantry, Juni 1910

Joanna warf einen ungeduldigen Blick auf die große Uhr, die am Bahnhof hing. Der Zug aus Cork musste jeden Moment eintreffen.

Eine frische Brise strich durch ihre Haare, und dicke Wolken zogen am Himmel auf, als könnte jederzeit ein Regenschauer niedergehen. Sie hatte den bärbeißigen Kutscher eines Mietfuhrwerks gebeten, sich bereitzuhalten und ihr beim Tragen zu helfen. Sein Blick auf ihren Mechanikeroverall hatte zwar Bände gesprochen – vermutlich hatte er noch nie eine Frau in Hosen gesehen –, aber ihr Versprechen auf einen guten Lohn hatte ihn überzeugt. Der Anzug aus festem Baumwollstoff war eigentlich für Männer gemacht und etwas zu groß, aber Joanna hatte Ärmel und Hosenbeine ein wenig aufgekrempelt und einen Gürtel in der Taille festzogen.

Wo blieb der Zug nur? Sie konnte es kaum erwarten – Aidan hatte schließlich telegrafiert, dass er alles bekommen habe.

Endlich konnte sie den Zug herannahen sehen, schnaufend und rauchend, und sie atmete erleichtert auf.

Bantry war Endstation der Cork, Bandon & South Coast Linie; etliche Leute stiegen aus. Joanna reckte sich und stieß einen leisen Freudenschrei aus, als sie ihren Bruder in der Menge erblickte.

»Aidan, hier!« Sie winkte und beeilte sich, zu ihm zu kommen. »Wo ist er?«

»Im Gepäckwagen.«

Ihr ein Jahr jüngerer Bruder fuhr sich durch die braunen, leicht zerzausten Locken. »Was bin ich froh, wieder hier zu sein. Das war eine ziemlich weite Reise nach Manchester und wieder zurück.«

»Dafür werde ich auf ewig in deiner Schuld stehen.«

»Das hoffe ich doch, Jojo.« Er grinste.

Aidan war der Einzige, der sie so nennen durfte. Jojo war sein Kosename für sie, als sie beide noch sehr jung gewesen waren, und er hatte sich gehalten, selbst jetzt, da Joanna demnächst zwanzig Jahre alt werden würde.

Zwei große, zugenagelte Holzkisten wurden entladen und auf Joannas Bitte auf das bereitstehende Fuhrwerk gepackt. Am liebsten hätte sie sofort einen Blick in das Innere der Kisten geworfen, aber das musste warten, bis sie im Schuppen waren.

»Und wie kommen wir selbst nach Hause? Etwa auch mit dem Fuhrwerk?«, fragte Aidan. »Dann hat das Pferd aber schwer zu ziehen.«

Joanna deutete auf den schwarzen Renault am Ende des Bahnsteigs.

Aidan hob erstaunt die dunklen Brauen. »Vater hat dir sein Auto überlassen?«

Sie nickte. »Nur ungern, aber ich musste ja irgendwie hierherkommen. Ich habe ihm versprochen, gut darauf aufzupassen und ganz vorsichtig zu fahren.«

»Steig ein«, sagte Aidan, sobald sie das Automobil erreicht hatten. »Ich kurbele.«

»Das musst du nicht. Zu Hause habe ich das auch allein hingekriegt.«

»Das kann ich mir denken. Aber zu zweit ist es einfacher.«

Da hatte er allerdings recht.

Sie setzte sich hinter das Lenkrad, dann begann Aidan zu kurbeln. Der Motor sprang an, Joanna legte den Gang ein und löste die Handbremse.

Autofahren war nicht schwer, fand sie. Gas, Bremse, Kuppeln, Schalten, Lenken – mehr brauchte es nicht.

Mit Aidan als Beifahrer fuhr sie gemächlich vor dem Karren mit den beiden Kisten her, die gewundene Straße an der Bantry Bay entlang. Normalerweise liebte sie die Aussicht auf die weite Bucht mit ihrer herrlichen Küste, aber heute hatte sie keinen Blick dafür. Wenigstens lief sie mit dem langsamen Fuhrwerk hinter sich nicht Gefahr, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von zwanzig Meilen pro Stunde zu überschreiten. Dennoch war sie nervös. Nicht auszudenken, wenn sie mit der wertvollen Fracht einen Unfall hätten.

Der Schuppen, den sie ansteuerten, lag nahe am Wasser und gehörte eigentlich Onkel Elliot, aber der hatte keine Verwendung dafür und daher erlaubt, dass Joanna ihn nutzte. Sie schloss ihn auf und öffnete die beiden hölzernen Türen weit. Helles Sonnenlicht fiel in den einfachen Raum, als Aidan und der Fahrer je eine Kiste hineintrugen. Die Wände des Schuppens waren mit Plänen, Zeichnungen und Notizen bedeckt. In der Mitte des Raums stand eine halb fertige Konstruktion aus Holz, Metall und Stoff: die Sparrow.

»Was soll das werden?«, fragte der Kutscher, als sie die Kisten abgeladen hatten.

»Ich baue ein Flugzeug«, verkündete Joanna stolz.

Er hob in sichtbarem Zweifel beide Brauen. »Tatsächlich?«

»Warten Sie es ab, bald werde ich damit fliegen.«

Sie entlohnte den Mann, der in sein Fuhrwerk stieg und das Pferd antrieb, dann konnte sie endlich die Kisten öffnen.

In der ersten fand sich der luftgekühlte leichte Zweitaktmotor, den sie bei A. V. Roe & Co. in Manchester in Auftrag gegeben hatte. Hundert Pfund hatte sie dafür bezahlt. Und dann hatte sich die Auslieferung immer wieder verzögert, bis Aidan angeboten hatte, nach Manchester zu fahren und die Sachen selbst abzuholen.

In der zweiten, ein wenig größeren Kiste war der Propeller. Alles sah komplett aus, ganz so, wie sie es bestellt hatte.

»Danke, Aidan«, sagte sie glücklich. »Ich schulde dir was.«

»Immer wieder gern, Schwesterherz. Brauchst du mich dafür?« Aidan deutete auf die Kisten. »Ansonsten würde ich mich nämlich auf den Weg nach Hause machen.«

»Tu das. Und nimm Vaters Auto.«

Kaum war auch ihr Bruder fort, nahm Joanna den