Die Gegenwart von Gestern - Maddy Eisen - E-Book

Die Gegenwart von Gestern E-Book

Maddy Eisen

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Beschreibung

Die Krankheit ihres Vaters veranlasst Leonie dazu, für mehrere Tage in ihre Heimat zurückzukehren. Dort muss sie sich den unverarbeiteten Gefühlen einer zerbrochenen Beziehung stellen. Während sie bei Gott nach Antworten auf ihre Fragen sucht, baut sie eine gute Beziehung zu einem kleinen Mädchen namens Lilli auf. Doch das Verhalten der Familie des Mädchens macht sie misstrauisch. Besonders, wenn es um die Mutter der kleinen Lilli geht, wirken Tante und Vater abweisend. Leonie beschliesst der Sache auf den Grund zu gehen und stösst auf dem städtischen Friedhof auf ein Grab, das Fragen aufwirft...

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Für alle Frauen, die negative Erfahrungen loslassen müssen, um Freiheit gewinnen zu können.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Prolog

Leonie sah an sich hinunter. Sie fühlte sich hässlich. Sie hatte keine Taille. Ihre Beine waren viel zu weiß und auch nicht wohlgeformt. Ihr Kleid fiel wie ein Sack an ihr hinunter. Leonie starrte auf die eingeladenen Gäste. Sie sahen alle feierlich und gut gekleidet aus. Was habe ich mir nur gedacht hierher zu kommen? Leonie wand sich zum Gehen. Doch dann lies sie eine innere Stimme stehen bleiben: Du musst hineingehen. Du musst es tun - um loszulassen. Diese zwei Sätze überzeugten Leonie und sie drehte sich wieder zu dem Kirchengebäude. Seltsamerweise waren die Hochzeitsgäste auf dem Kirchenvorplatz plötzlich verschwunden. Leonie zuckte verwundert mit den Schultern und ging eilig auf das prunkvolle Gebäude zu.

Die junge Frau wollte nicht weiter darüber nachdenken, was sie gerade tat. Sie hatte sich entschlossen hier zu sein, um endlich einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen. Sie wollte frei sein. Nachdem Leonie mit eiligen Schritten die Stufen erklommen hatte, verlangsamten sich ihre Schritte unmittelbar vor dem Kirchengebäude. Vorsichtig öffnete sie die riesige Holztür. Sie trat, mit der Absicht in die hintere Reihe zu schleichen, ein. Doch die Sonneneinstrahlung durch die Kirchenfenster lenkten ihren Blick Richtung Kirchenschiff und dann auf Ihn. Die Absicht, Ihm nie wieder in seine Augen zu schauen, war in diesem Augenblick vergessen. Er schaute sie nämlich direkt an. Und plötzlich schien es ihr, er wartete vor dem Altar auf sie. Unter seinem Blick fühlte sie sich wunderschön. Vergessen waren ihre krummen Beine und ihr Kleid schien an ihrem Körper zu schweben. Leonie schaute in seine tiefblauen Augen. Nun war alles wieder klar: Er liebte sie und sie liebte ihn. Plötzlich durchfuhr es sie wie ein Blitz: Er heiratet. Er heiratet - nicht mich.

„Every night and every day (Every day) I try to make you stay, but your…” Leonie fuhr ruckartig aus ihrem Bett hoch. Sie schaltete den Wecker aus und sortierte ihr seltsames Gefühl. Sie dachte daran, was sie eben noch in ihrem Traum erlebt hatte. Warum nur muss ich so seltsames über ihn träumen? Kann ich nicht einfach im hier und jetzt leben? Leonie fand keine Antwort darauf. So schaltete sie ihren Radiowecker wieder an und lauschte auf den Text von Savage Love von Jason Derulo. „Die einseitige Liebe ist so ungerecht“, murmelte Leonie vor sich hin. Sie streckte sich, gähnte herzhaft, um dann langsam aufzustehen.

Kapitel 1

„Ich habe keine Mutter.“ Leonie starrte in die wunderschönen großen dunklen Augen eines schwarzhaarigen Mädchens. Die Worte erschütterten Leonie zutiefst. Sie schluckte und wollte dann etwas wohlbedachtes sagen. Doch das Mädchen plapperte weiter: „Aber ich habe einen Papa und der tröstet mich immer, indem er mit mir durch das Zimmer tanzt. Und dann singt er „Hakuna Matata“. Und dann muss ich immer lachen und er auch und dann…“ Leonie atmete tief durch. Sie war beruhigt, dass sie in der Mädchenjungschar keine seelsorgerliche Einheit einschieben musste.

Leonie saß mit fünfzehn Mädchen in einem großen, lichtdurchfluteten Raum. Zum Leidwesen des Putzdienstes hatte der Raum sehr viele Fenster. Diese waren kontinuierlich durch Handabdrücke beschmiert. Die Wände des Kinderraums waren mit zahlreichen Bastelwerken versehen.

Für einen kurzen Moment beobachtete sie das plappernde Mädchen mit dem Namen Lilli.

Wahrscheinlich war ihre Mutter gegangen, als Lilli noch sehr klein war, sonst wäre dem Mädchen eher einen Verlustschmerz anzumerken. Ob Lillis Mutter gestorben war? Die Jungscharleiterin besann sich und hörte auf zu grübeln, denn sie musste das muntere Mädchen sachte abwürgen, damit sie mit dem eigentlichen Thema weitermachen konnte.

Leonie leitete ehrenamtlich die Mädchenjungschar. Sie liebte die gemeinsamen Stunden mit den Kindern. Sie ging dieser Tätigkeit schon zwei Jahre nach. Die Kinder hatte sie in ihr Herz geschlossen. Gerade hielt sie eine Andacht. Das Thema lautete: „Ich will euch trösten, wie eine Mutter euch tröstet.“ Das plappernde Mädchen war das erste Mal dabei. Hätte Leonie ihre Umstände gekannt, hätte sie wahrscheinlich ein anderes Thema gewählt. Leonie musterte das Mädchen nochmal. Lilli schaute gebannt zu ihr hinüber. Ihr Blick wirkte unbekümmert und neugierig. Deshalb entschloss sich Leonie ihre Andacht fortzuführen.

„…von daher: Lasst uns jetzt Gott dafür danken!“ Leonie beendete gerade ihren Input, als es kurz klopfte, bevor dann unvermittelt die Tür aufgerissen wurde. „Hallo Kids!“ „Haaalllo“, begrüßten die Mädchen begeistert die schlaksige Gestalt. Leonie versuchte sich ein Lachen zu verkneifen. Daniel war der Jugendreferent der Gemeinde und ziemlich angesagt bei den Kids. Daniel schien bisher aber nicht bemerkt zu haben, dass die Kinder total auf ihn abfuhren und das machte die Begegnungen wertvoll und für Leonie humorvoll.

„Und was habt ihr heute gelernt?... Ich höre nichts. Na dann überlegt nochmal kurz. Ich muss mal mit Leonie reden und wenn wir wieder reinkommen, dann bin ich gespannt auf eure Antwort.“ Daniel hatte eine Ausstrahlung, die einen dazu brachte das zu tun, was er wollte. Und so tuschelten auch jetzt eifrig die Kinder über das Gelernte und Leonie stand gehorsam auf. Gemeinsam ging sie mit Daniel vor die Tür.

„Na was gibt es denn so Wichtiges, dass du inmitten meiner Stunde hineinplatzt?“ Leonie verschränkte die Arme vor ihren Brustkorb. Daniel lachte kurz auf. „Hey, bleib locker! Du kannst ruhig deine Strenge aus dem Gesicht nehmen. Hast du eigentlich nach der Jungschar was vor?“ Leonie runzelte skeptisch die Stirn. Daniel grinste verlegen. „Meine Schwester ist mit dem Motorboot zu weit rausgefahren, dabei ist ihr das Benzin ausgegangen.“ Daniel seufzte kurz, bevor er fortfuhr: „Na du kennst Lisa... Das Problem ist, dass ihre Schicht gleich anfängt und Matts heute Abend einen wichtigen Termin hat.“ Leonies Stirn lag noch mehr in Falten: „Deine Geschwister bringen mich noch um den Verstand,“ gab sie gespielt dramatisierend von sich.

Leonie arbeitete in einem kleinen Café. Vor circa zwei Jahren hatten Daniels Geschwister Lisa und Matts das Café aufgebaut. Leonie hatte zu dieser Zeit ihr zweites Studium abgebrochen und war von der Idee begeistert bei diesem Startup Projekt einzusteigen. Lisa und Matts waren Zwillinge. Mit ihren 25 Jahren waren sie zwei Jahre jünger als Leonie. Durch die finanzielle Unterstützung ihres Vaters hatten die Zwillinge ein wunderschönes, kleines Gebäude direkt am See kaufen und für ihre Zwecke umbauen können. Leonie war die rechte Hand der Inhaber und konnte dabei immer wieder ihre eigenen Ideen einbringen ohne die letztendliche Verantwortung zu übernehmen. Das schätzte sie sehr.

Die Zwillinge waren unterschiedlicher, wie sie nur sein konnten. Matts war verbissen und zielorientiert. Hinter der Theke wirkte er oft ernst, während er bei den Kunden aufgrund seiner charmanten und humorvollen Art beliebt war. Lisa war flippig, kreativ und lachte auch hinter den Kulissen viel. Sie wirkte immer entspannt, manchmal hingegen zu entspannt. Zwischen den Geschwistern kam es immer wieder zu kleinen Streitereien, weil sie mit ihren Charakteren aufeinanderprallten, aber insgesamt waren sie ein wunderbares Team.

„Also?“ fragte Daniel und fügte schnell hinzu: „Matts hat gesagt, du darfst dafür die nächste Woche immer die Besorgungen beim Bauernhof Edel machen“, lenkte er ein. Leonie lächelte. „Ja okay. Ich springe ein. Ich bin in 10 Minuten fertig. Ich werde wahrscheinlich in 20 Minuten, nachdem alle Kinder abgeholt worden sind, losradeln können.“

Daniel atmete erleichtert aus. „Danke dir! Ich danke dir. Im Namen der Familie Liebstock danke ich dir.“ Damit drückte er ihr einen flüchtigen Kuss auf ihre Haare. „Hey, lass das!“, entgegnete sie. Zwar war das Verhältnis zwischen Daniel und ihr geklärt, aber sie wollte die ihr auferlegten Grenzen wahren.

Daniel hob entschuldigend die Hände. „Sorry, ich bin nur erleichtert. Du kannst dir nicht vorstellen, was Clara und ich wieder mal alles hätten schlichten müssen.“ Clara war die ältere Schwester der Zwillinge und Leonies beste Freundin. Daniel, Clara, Matts und Lisa Liebstock lebten zwar nicht mehr in ihrem Elternhaus, dennoch trafen sie sich wöchentlich um ihre Geschwisterbeziehung zu pflegen. Leonie würde gerne bei solchen Treffen einmal Mäuschen spielen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie die vier unterschiedlichen Charaktere gemeinsam harmonierten. Auch wenn sie nach außen hin einen festen Zusammenhalt hatte, kriselte es zwischen ihnen immer wieder. Leonie grinste bei dem Gedanken, dass sie wenigstens einen Streitpunkt aus dem Weg geräumt hatte.

Daniel drehte sich um. „Stopp!“, rief Leonie ihm hinterher. „Die Kinder warten sehnsüchtig auf dich.“ Zielstrebig griff sie ihn am Arm und zog ihn in den Raum zu den Mädchen. Tatsächlich blickten die Kinder begeistert auf Daniel, als er den Raum erneut betrat. Daniel ließ sich eine Zusammenfassung der Jungscharstunde geben, lobte die Kinder und verließ sie dann eilig. Leonie versuchte daraufhin einen guten Abschluss der Stunde zu finden und hoffte, dass die Kids schnell abgeholt wurden, damit sie ins Café radeln konnte.

Leonie bemühte sich die Kinder wie gewohnt zu verabschieden und versuchte nicht allzu kurz angebunden gegenüber den Eltern zu sein. Inmitten des Getümmels blickte sie auf einen jungen Mann, der ihr unbekannt war. „Papa!“, schrie das kleine, lebendige Mädchen auf. „Lilli! Meine Prinzessin!“ Der junge Mann ging dem Mädchen entgegen. Das Kind lief auf ihren Vater zu. Als sie ihn erreicht hatte, nahm er sie auf den Arm und wirbelte sie einmal herum. Der Vater war sportlich gekleidet. Aber auch ohne Sportklamotten war es kaum zu erkennen, dass er durchtrainiert war. Zudem war er groß. Lilli wirkte wie eine Porzellanpuppe in den Armen ihres Vaters.

Leonie blickte schnell weg. Die Szene war rührend und sie wollte Vater und Tochter nicht anstarren. Doch dann besann sie sich: Sie hatte sich bisher immer jedem neuen Kind sowie deren Eltern vorgestellt. Also drehte sie sich zu den beiden um und ging auf sie zu.

„Hallo!“ Sie streckte dem jungen Mann die Hand hin. „Mein Name ist Leonie“, sagte sie.

„Ich weiß“, schmunzelte der junge Mann, ohne ihre Hand zu beachten. Leonie stockte. Sie ließ ihre Hand sinken und blickte kurz verlegen auf ihre Schuhe. Mit dieser ungewöhnlichen Reaktion inmitten einer Vorstellung konnte sie nicht umgehen.

„Schön. Freut mich, dass ihre Tochter heute dabei war“, sagte sie ein wenig gepresst, um die Situation halbwegs abzurunden. Als sie in seine funkelnden Augen sah, errötete sie. Leonie wand sich hastig zum Gehen.

„Jan“, rief der junge Mann hinter ihr her. „Mein Name ist Jan.“

Leonie drehte sich ihnen wieder zu. Jan lächelte ihr kurz zu, bevor er sich dann, mit seiner Tochter auf dem Arm, zum Gehen wandte. Leonie sah ihm verwirrt hinterher. Dieser Mann macht auf mich eher einen Eindruck wie ein sorgenloser Student, als ein verantwortungsvoller Vater. Hoffentlich gibt der auch gut auf seine Tochter acht. Ehe sie den Gedanken vertiefen konnte, sah sie auf die Uhr und beeilte sich die Kinder samt Eltern höflich aus dem Raum zu entlassen. Es waren schon 15 Minuten vergangen seit Daniel sie aufgesucht hatte.

***

„Du hast also endlich Jans Wohnort ausfindig machen können?“

„Ja Vater“, erklang die stolze Stimme von Philipp. Er hungerte nach Anerkennung und erhoffte sich nun wertschätzende Worte. Doch diese blieben aus. Stattdessen zischte am anderen Ende der Leitung die ältere rauchige Stimme: „Worauf wartest du dann noch? Mach ihn endlich ausfindig! Es wird Zeit, dass die Kleine ihre wahre Familie kennenlernt.“

Erschrocken von der Wucht der hasserfüllten Worte sank Philipp auf den schwarzen Ledersessel in seinem Wohnzimmer. Er ließ das Handy auf den Boden fallen. Sein Vater hatte aufgelegt. Nachdem der junge Mann sich gesammelt hatte, ließ ihn eine unbändige Wut aufstehen. Zielstrebig lief er zu seinem Laptop.

Auf dem Weg dorthin blieb er am Fenster stehen. Eine Fliege versuchte vergeblich in die Freiheit zu gelangen. Mit einem heftigen Schlag beendete Philipp die unermüdlichen Bemühungen. Zurück blieben die klebrigen Überreste des Insekts. Philipp wischte sich angewidert die Hand an seiner Hose ab. Seine Frau sollte nachher das Fenster putzen. Philipp fuhr seine Recherche fort.

***

Leonie schloss das Fahrrad hinter dem Café ab. Sie umrundete das Gebäude und öffnete die Eingangstür. Einen kurzen Moment blieb sie stehen, schloss die Augen und atmete den Geruch von frischgerösteten Kaffee ein. Sie roch tropische Früchte, Honig und Minze. Es hatte einige Zeit gedauert bis Leonie die unterschiedlichen Aromen wahrgenommen hatte. Nun betrachtete sie es als eine Wohltat beim Betreten des Cafés die unterschiedlichen Kaffeesorten wahrzunehmen.

„Leonie. So gut, dass du da bist.“ Matts war auf sie zugelaufen. Ehe Leonie die Augen öffnen konnte, hatte er sie schon die Arme genommen.

„Oh man, ich bin so froh. Ich habe ein wichtiges Treffen. Kannst du bis 19:30 Uhr bleiben? Ich wette Lisa wird es nicht schaffen, bis dahin da zu sein.“ Matts ließ sie los, drückte ihr seine Schürze in die Hand und lief Richtung Tür.

„Ähm ja klar kann ich das,“ rief Leonie ihm hinterher. Verdattert schaute sie in den kleinen Raum. Von den acht Tischen, waren fünf belegt. Die Gäste zweier Tische beobachteten sie gebannt. Leonie lächelte verlegen. Sie schritt eilig hinter den Tresen.

Leonie warf Matts Schürze in den dafür vorgesehenen Wäschebehälter. Dann öffnete sie den kleinen Lagerraum und griff nach ihrer Schürze. Jeder der Mitarbeitende hatte eine schwarze Schürze, die mit der weißen Aufschrift Café Liebstock sowie dem eigenen Namen.

Matts hatte wie üblich den Tresen sauber hinterlassen. Seine Schwester schaffte das kaum. Leonie blickte zu ihren Gästen. Niemand schien einen Wunsch zu haben. Die Außenterrasse mit weiteren 10 Tischen öffneten sie erst nächste Woche. So hatte Leonie erstmal nichts zu tun.

Leonie warf einen kurzen Blick auf das Pärchen, das in unmittelbarer Nähe des Tresens saß. Der junge Mann hatte sich über den Tisch gelehnt. Sie knetete mit ihren Fingern. „Bitte Lindsey. Weshalb sollen wir denn noch getrennt leben? Das macht keinen Sinn. Ich verstehe nicht, weshalb du zögerst“, hörte sie den jungen Mann bittend sagen.

Während Leonie den Blick von dem Pärchen abwand, liefen vor ihrem Geiste plötzlich verschiedene Szenen ihres früheren Lebens ab. Gegen ihren Willen blieb sie bei einer Begebenheit hängen, die sie intensiv wiedererlebte:

*

„Das macht keinen Sinn. Du wirst dir in diesem Zimmer den Tod holen. Leni, wir haben Winter. Ich will dich doch nicht im Krankenhaus besuchen.“

Leonie schluckte. Was sollte sie bloß auf diese Worte sagen? Sie wollte natürlich nichts lieber als in seiner WG wohnen, doch sie wusste, dass das nicht gut wäre, weil sie ihre Gefühle ihm gegenüber nicht länger unterdrücken konnte. Sie musste ihm das irgendwie erklären.

Sie sah ihm in die Augen. „Du weißt, dass ich aus Prinzip gegen gemischte WGs bin…“, versuchte Leonie kläglich.

„Leni, du bist manchmal echt verkrampft. Leon ist nicht da und wie lange kennen wir uns denn schon? … Wir sind mindestens über zehn Jahre befreundet. Du bist wie eine Schwester für mich. Und auch wenn ich deine Prinzipien verstehen möchte, kann ich es nicht verstehen, dass du dir den Tod holen willst…“

„Ich werde mir doch nicht den Tod holen. Es ist nur für drei Wochen.“

„Drei Wochen in einem unbeheizten Zimmer?“ Leonie schluckte. Er wäre nur überzeugt, wenn sie ihm die Wahrheit sagen würde. Und die Wahrheit war, dass sie vor einem Jahr begonnen hatte, sich in ihn zu verlieben. Das erschwerte für sie die Freundschaft immer mehr. Es machte alles komplizierter.

Leonie hatte sich in dem letzten Jahr bemüht, ihr Verliebtsein zu verstecken. Sie wollte ihre Freundschaft nicht gefährden. Er war ihr kostbarer als jeder anderer Mensch. Sie wollte ihn nicht verlieren und auf keinen Fall die Freundschaft mit ihm.

Leonie sah in seine tiefblauen Augen. Vielleicht sollte sie sich darauf einlassen. Das Zimmer in seiner WG schien der beste Unterschlupf für drei Wochen zu sein. Und vielleicht würde er sich während ihres Zusammenlebens in sie ver… Leonie versuchte den Gedanken beiseite zu schieben, bevor sie ihn zu Ende gedacht hatte.

„Ich überlege es mir. Okay?“, sagte sie unsicher.

Er lachte: „Das ist meine Leni!“ Er nahm sie kurz in den Arm. Sie roch sein Parfum und sehnte sich danach, etwas länger in seinem Arm zu bleiben, doch er beendete die Umarmung abrupt.

„Okay, ich gehe zu den anderen. Du meldest dich.“ Damit wand er sich ab und Leonie blieb alleine zurück. Und - Sie wusste nicht was sie tun sollte.

*

„Frollein“, eine schrille Stimme drang an Leonies Ohr und riss sie aus ihrem Flashback.

„Ich möchte gerne zahlen“, ertönte es lautstark durch den Raum.

Leonie blickte in die Richtung der Rufenden. Bei dem Anblick der Frau musste sie sich ein Auflachen verkneifen. Eine opulente Dame mit auffälligem rosa Hut saß auf einem Sessel in der Nähe des Eingangs. Ihr Gesichtsausdruck wirkte freundlich, wenn auch bestimmt. Ihr viel zu dick aufgetragener roter Lippenstift biss sich mit der bunt gemusterten Bluse. Bevor Leonie von der außergewöhnlichen Erscheinung der Frau gefangen genommen wurde, zwang sie sich zu einer Antwort. „Ich komme“, rief sie.

Leonie griff nach dem Geldbeutel und schaute auf den Zettel mit Matts Notizen. Die Frau hatte eine Schwarzwälder Kirschtorte und einen Wiener Kaffee konsumiert. Während Leonie den Betrag in die Kasse eingab, dachte sie an ihr Flashback. „Gott, weshalb muss mich die Vergangenheit heimholen? Erst dieser Traum, nun die Erinnerung an dieses Erlebnis. Ich habe dem doch allen schon so lange den Rücken gekehrt“, betete sie leise.

Leonie eilte zu der sichtlich wartenden Dame und nannte dieser den Betrag. Die schillernde Frau lachte beim Hören des Preises kurz auf: „Wat nix kost, dat is nix. Naja. Leever rich un jesund als ärm un krank.“ „Bitte?“, fragte Leonie verdattert. Die Dame legte den Kopf in den Nacken und lachte, sodass Leonie befürchtete der rosa Hut würde hinunterfallen. Seltsamerweise blieb der auf dem Kopf sitzen. Ob der angewachsen ist?

„Ich gebe Ihnen 20 Euro, denn ich fahre seit 20 Jahren an den Bodensee, um Urlaub zu machen“, meinte die Kölnerin in perfektem Hochdeutsch. „Vielen Dank“, murmelte Leonie. Während sich die Dame ächzend aus dem bequemen Sessel erhob, nahm Leonie den benutzten Teller und das Glas vom Tisch. Dabei stutzte sie. Die Dame hatte die Serviette in Streifen gerissen, um damit eine umrandete 20 auf den Tisch zu legen. Gott du hast so interessante Menschen geschaffen. Leonie schmunzelte und nahm sich vor, irgendwann ein Buch über die Arbeit im Café Liebstock zu schreiben.

Kapitel 2

„Ohha du bist so richtig still. Meine Geschwister haben dich wieder mal gestresst, oder?“

Leonie lachte bei den Worten ihrer Freundin. Clara Liebstock war für sie Goldwert. Ohne sie hätte Leonie wahrscheinlich den Einstieg in das Leben in Konstanz kaum geschafft. Gott hatte ihr eine richtig gute Freundschaft in einer schwierigen Zeit verschafft. Leonie seufzte: „Ach, ich bin nur müde. Ich habe jeden Tag extra Schichten im Café geschoben.“ Clara biss sich auf die Lippe. Leonie musste schmunzeln. Clara versuchte wahrscheinlich gerade eine Lösung zu finden.

„Egal vergiss es. Ich habe nun vier Tage frei. Danach bin ich erholt und auf Arbeitsentzug.“

Clara schwieg eine Weile, dann fragte sie: „Hat Lisa mal wieder zu oft die Zeit vertrödelt?“

Leonie beugte sich zu ihr: „Du kannst manchmal sehr gut eins und eins zusammenzählen.“ Clara knurrte: „Deshalb bin ich ja auch Lehrerin geworden.“

„Detektivin wäre wohl besser gewesen.“ Nun lachte Clara laut auf. „Du bist unmöglich.“

Leonie wurde erneut still. Der eigentliche Grund waren die plötzlichen Erinnerungen an ihre Jugend in letzter Zeit. Das unkontrollierte Wiedererleben beängstigte sie. Es war interessant, dass Clara so viele Zusammenhänge erkennen konnte, doch über ihre Vergangenheit kaum etwas wusste. Am Anfang ihrer Freundschaft war Leonie erstaunt, wie sie ihr Geheimnis so gut vor ihr verheimlichen konnte. Sie war froh darüber. Deshalb hatte sie damals hier die Möglichkeit gehabt, ein neues Leben anzufangen. Doch jetzt wünschte sich Leonie, sie könnte mit Clara über Ihn sprechen. Sie wollte über denjenigen sprechen, der einmal die wichtigste Person für sie gewesen war.

„Okay, jetzt reichts mir mit deinem nachdenklichen Gesicht. Komm, wir gehen in die Stadt. Ins Kino oder so. Wenn du nicht redest, dann will ich was mit dir gemeinsam erleben.“

„Wollen wir nicht lieber an irgendeinen anderen Ort fahren? Mal wieder einen neuen Ort entdecken?“

Nach kurzen Überlegungen setzten sich Leonie und Clara in Leonies kleinen Fiat 500 und fuhren Richtung Kochel. Leonie liebte es in den Bergen zu sein und Clara hatte durch Leonie das Wandern ebenfalls zu schätzen gelernt. Sie hätten nicht so weit fahren müssen, um in die Berge zu gehen. Doch Leonie liebte es neue Gegenden zu erkunden und so entschieden sie sich für die vierstündige Autofahrt.

Während der Fahrt sah Leonie zu ihrer Freundin. Sie genoss es mit Clara Spontanaktionen durchzuführen. Es war Mitte Mai. Die Sonne schien. Die Uhr zeigte 10:00 an. Sie hatten sich überlegt auf den Heimgarten zu gehen und in Kochel zu übernachten. Mit niemanden außer Clara hätte sie so eine Aktion machen können, ohne dass sich das Gegenüber gestresst gefühlt hätte. Aber Clara war - wie sie - unternehmenslustig.

Die Fahrt über schwiegen sie größtenteils. Es war ein angenehmes Schweigen. Leonie liebte das Autofahren. Sie empfand dabei ein Gefühl von Freiheit und etwas Meditativem. Leonie dachte über ihr jetziges Leben nach. Ihre Eltern waren nicht stolz darauf, dass sie „nur“ in einem Café arbeitete. Vergeblich hatten sie versucht ihr einen - in ihren Augen - angesehenen Beruf attraktiv zu machen. Leonie hatte tatsächlich auf Raten ihrer Eltern eineinhalb Semester BWL studiert. Sie hatte sich in der Zeit nach Anerkennung gesehnt, sodass sie dem Wunsch ihrer Eltern nachgekommen war. Doch das Studium war für sie grausam gewesen. So hatte sie es abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt war sie nicht bereit ihren gelernten Beruf als Sozialarbeiterin nachgehen. Die Anfrage im Café mitzuarbeiten, war ihre Rettung gewesen.

Mit der Arbeit im Café führte sie ein unbeschwertes Leben. Sie genoss die Gemeinschaft mit den Geschwistern Liebstock. Sie war dankbar, dass Gott ihr diese Möglichkeit geschenkt hatte.

„An was denkst du?“

Mit dieser Frage unterbrach Clara Leonies Gedankengang. Sie fuhren gerade am Staffelsee kurz vor Kochel vorbei. Leonie sah kurz zu ihrer Nachbarin und lächelte Clara an. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck seufzte sie: „Ich bin froh, Gott zu kennen und zu wissen, dass er führt.“

„Ah. Stimmt. Kommt der Satz von dir oder ist das ein Zitat?“, fragte Clara.

Leonie lachte. „Das ist kein Zitat. Das ist mein eigener Gedanke.“

Nachdem sie in dem gemütlichen Hotel Sonnenspitz eingecheckt hatten, fuhren sie mit dem Bus weiter zum Walchensee. Mit jeder Kurve, die sie zurücklegten, wuchs Leonies Freude auf das Wandern. Es kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie endlich aussteigen konnten. Leonie atmete tief die frische Bergluft ein und schaute auf das türkise Blau des Walchensees. Die schmerzhaften Erinnerungen an ihre Vergangenheit gelangten in den Hintergrund.

„Danke Clara! Danke, dass wir das hier machen“, murmelte sie. Clara war gerade dabei mit ihrem Handy ein paar Bilder zu machen. Sie sah kurz von ihrem Handy weg und gab ihrer Freundin einen freundschaftlichen Klaps.

Nachdem Clara den wunderschönen, klaren Gebirgssee aus verschiedenen Perspektiven fotografiert und Leonie sich von der Kulisse losreisen konnte, begannen die zwei Freundinnen über einen Parkplatz zum Aufstieg zu laufen.

Es dauerte nicht lange bis die beiden jungen Frauen vor Anstrengung nach Luft schnappten. „Meine Güte. Gibt es auch mal einen Abschnitt, der nicht bergauf geht?“, keuchte Clara.

Leonie, die voran ging, blieb stehen. „Sieht gerade nicht so aus.“ Clara schnaubte und setzte einen Fuß nach vorne.

„Nächstes Mal gehen wir wieder in einen Escape Room“, schnaufte sie.

„In Ordnung“, lachte Leonie.

Clara und sie liebten es Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Sie ergänzten sich dabei sehr gut. Clara hatte ein wachsames Auge. Sie entdeckte schnell die Zusammenhänge einzelner Funde. Leonie hingegen konzentrierte sich immer auf eine Sache und probierte viel aus, um der Lösung auf die Spur zu kommen. In Zusammenarbeit waren sie ein unschlagbares Team. Sie hatten es sich zum Hobby gemacht, Escape Rooms in der Gegend abzuklappern und Bestzeiten zu erreichen. Am Anfang hatte das Leonie schmerzhaft an einen vergangenen Freund erinnert, aber nach einer geraumen Zeit verband sie ihn immer weniger mit ungelösten Fällen.

Eine Weile später meinte Leonie: „Schau mal. Da vorne ist eine Lichtung. Ich wette wir werden von dort einen gigantischen Ausblick auf den Walchensee haben und können das ausnutzen, um ein wenig zu verschnaufen.“ Clara nickte nur. Leonie eilte die letzten Schritte vor. Sie setzte sich auf einen Baumstamm und beobachtete ihre Freundin. Mitleidig sah sie auf Clara, die wie eine Dampflock schnaubte. Bei dem Vergleich musste Leonie unwillkürlich lachen. Clara war so außer Atem, dass sie davon nichts mitbekam. Keuchend ließ sie sich neben Leonie nieder.

„Auf was habe ich mich da nur eingelassen?“

Leonie legte einen Arm um ihre Freundin: „Auf das hier“, sagte sie und zeigte auf den wunderschönen See.

„Er ist wirklich atemberaubend“, murmelte Clara.

Eine Weile schwiegen sie. Irgendwann sagte Clara: „So nun haben wir aber wirklich genug geschwiegen. Das ist ja heute nicht normal. Erzähl mir mal was.“

„Es liegt im Stillesein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche.“

„Hä?“

„Das ist von Dietrich Bonhoeffer.“

„Aha und was ist von dir?“

„Naja, ich stimme mit Dietrich überein“, schmunzelte Leonie. Dann wurde sie wieder ernst: „Danke Clara, dass du mit mir hier hinaufgegangen bist…“

„Ähm wir sind ja leider noch nicht oben“, unterbrach Clara sie entrüstend.

„Stimmt. Aber schon diese erste Strecke und die Umgebung, machen meine Seele unendlich leicht.“ Mit einem Seitenblick fuhr sie fort. „Mich holen gerade Ereignisse aus der Vergangenheit ein.“

Clara nickte gebannt. „Willst du darüber sprechen?“

Leonie war über Claras ruhige Art überrascht. Clara konnte bei Neuigkeiten sonst sehr emotional werden. „Ja.“

Während Leonie das sagte, wurde sie von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt. „Aber erst, wenn wir oben sind. Sonst kommen wir hier nicht vor Anbruch der Dunkelheit runter.“

Clara lachte: „Vernünftig wie immer. Also gut… Berg ich bezwinge dich!“ Die letzten Worte schrie sie laut aus.

Gemeinsam standen sie auf und wenig später waren beide wieder am Schwitzen und Schnaufen. Der Weg war schmal und ging kontinuierlich bergauf. Clara und Leonie kamen kaum zum Reden und für Leonie war das die beste Therapie. Sie spürte, wie sich ihr Puls legte. Sie konzentrierte sich allein darauf, die Höhenmeter bis zum Gipfel zurückzulegen. Immer wieder konnten sie auf den See blicken. Sie genossen die Aussicht. Die letzte Wegstrecke war felsig. Bei dem Anblick stöhnte Clara entrüstet auf. In eben diesen Augenblick kam ein älterer Mann den Weg hinuntergelaufen.

„Ihr habt es bald geschafft Mädels. Oben gibt es eine wunderbare Erbsensuppe.“ Er lächelte, verlangsamte seinen Schritt und ging auf die Wegseite, um den jungen Frauen Vortritt zu lassen, nach oben hinaufgehen zu können.

„Danke, sie schickt mir der Himmel“, seufzte Clara melodramatisch und schob sich an dem Mann vorbei. Leonie hatte noch mehr Elan und eilte an dem Mann vorbei, damit dieser seinen eiligen Schritt fortsetzen konnte. Als sie ihm dankte und an ihm vorbei ging, blickte sie sich bewundernd um. Sie würde im Alter sehr gerne noch so fit sein - wie er.

„Läufst du gerade schneller, weil du Lust auf Erbsensuppe hast?“ fragte Leonie.

Clara lachte keuchend auf. „Ich verabscheue Erbsensuppe, aber ich gebe alles dafür, wenn ich nur bald da bin!“

„Und magst du mir ein paar Einblicke in deine Vergangenheit geben?“

Clara und Leonie hatten es geschafft. Sie saßen auf der Terrasse der Hütte. „Erst, wenn du dein Handy weglegst.“ Clara hatte unzählige Fotos gemacht.

„Keine Angst. Ich werde dich ganz gewiss nicht aufnehmen.“

„Du vielleicht nicht, aber dein Handy macht so einige

Sachen, von denen du nichts weißt.“

„Ohje, hat der Anflug von Verschwörungstheorie etwas mit deiner Vergangenheit zu tun?“

„Nicht direkt.“

Clara legte ihr Handy beiseite und schaute ihrer Freundin aufmerksam ins Gesicht. Leonie nahm einen Schluck von ihrem Radler und knetete nervös ihre linke Hand. Sie realisierte immer mehr, dass sie über ihre Vergangenheit reden musste. Leonie wusste, dass sie es verdrängt hatte. Aufgrund dessen hatte sie diese Flashbacks, die in der letzten Zeit zunahmen. Ihre Vergangenheit wurde immer wieder präsent. Sie musste das aufarbeiten. Sie hatte geglaubt es vergessen zu haben, aber sie hatte nur verdrängt und das war in dem Sinne schlimmer, weil unkontrollierte Erinnerungen hochkamen, die mit Schmerzen verbunden waren. Das plötzliche eindrückliche Wiedererleben machte sie hilflos.

„Wie du weißt, bin ich in Norddeutschland aufgewachsen“, begann Leonie.

„Als ich zehn Jahre alt war, hat mein Vater eine Stelle in Hessen angenommen und wir zogen um. Die ersten Monate in meiner neuen Heimat waren schrecklich. Ich habe es vermisst, das Meer von meinem Zimmer aus zu hören. Meine Freunde und mein Pflegepferd haben mir wahnsinnig gefehlt. In der neuen Schule habe ich immer wieder von meiner alten Heimat geschwärmt. Das hat mich nicht besonders beliebt gemacht. Ich hatte keine Freunde und drohte zu vereinsamen, bis …“ Leonie schluckte. Die folgende Erinnerung war ihr so deutlich vor Augen. Es war eine sehr schöne Erinnerung. Ein Erlebnis, welches ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte.

*

„Du bist verrückt und wirst nie eine von uns sein!“ Die Worte ihres Mitschülers trafen Leonie härter als erwartet. Sie wollte mit Leon nichts zu tun haben, aber aus seinem Mund zu hören, dass er ebenfalls so empfand, war grausam. Leon sah sie an und in seinem Blick erkannte sie Verachtung. Leonie drehte sich um und ging. Sie lief vom Schulhof. Sie rannte, bis sie das Dorf hinter sich gelassen hatte. Sie lief und lief und weinte. Sie hasste diesen Ort. Im Norden wäre sie jetzt ans Meer gelaufen, denn Wind und Wellen hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Aber sie war nicht im Norden. Sie sehnte sich nach ihren Freundinnen. Aber diese waren kilometerweit entfernt.

Nachdem sie einige Zeit ziellos durch die Gegend gelaufen war, erkannte sie durch ihren Tränenschleier in ein paar Meter Entfernung eine Pferdekoppel. Leonie wischte sich ihre Tränen vom Gesicht und ging mit beschwingendem Schritt auf die Koppel zu. Auf der Weide stand eine Stute. Sie graste.

„Hey du!“

Der Schimmel hob den Kopf.

„Hey! Ja du! Magst du mal zu mir kommen? Ich kann dir nur Löwenzahn geben, aber ich würde mich riesig freuen, kämst du zu mir und ich könnte dir mein Leid klagen.“

Tatsächlich spitzte die Stute ihre Ohren und trabte auf sie zu. Auf Leonies tränenverschmierten Gesicht machte sich ein triumphierendes Lächeln breit. Leonie streckte ihre Hand aus. Die Stute schnupperte und Leonie berührte ihre Nüstern. Die Stute kam noch näher und Leonie konnte ihren Hals streicheln. „Danke du bist die Beste. Ich hasse diesen Ort, weißt du?“, fuhr Leonie fort, während sie weiter den Hals des Schimmels streichelte.

„Die in der Schule sind arrogant und so grässlich. Du fühlst dich wahrscheinlich wohl, aber ich … weißt du, ich hatte sogar ein Pflegepferd, aber das musste ich in meiner Heimat lassen. Es war ja nur ein Pflegepferd. Mein Vater verdient hier mehr Geld und deswegen sind wir hierhergezogen, doch ich finde Geld ist doch so unwichtig. Wir hatten eine richtig gute Heimat…“

„Du musst wohl etwas Besonderes sein.“

Leonie fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand ein Junge in ihrem Alter und lächelte sie an. Sein Lächeln war warmherzig und ansteckend.

„Sie lässt sich nicht von vielen streicheln“, meinte er. Leonie schaute kurz zur Stute, dann wieder zu dem Jungen.

„Ich liebe Pferde“, erklärte sie.

„Das merkt sie.“ Der Junge schaute ihr direkt in die Augen. Leonie wurde etwas nervös.

„Möchtest du auf ihr reiten?“, fragte er.

„Gehört sie dir denn?“

„Nein … aber einer befreundeten Familie aus der Gemeinde. Und ich glaube wir dürfen das. Ich kümmere mich manchmal um sie…“

„Ich weiß nicht…“

„Ich kann dir mit Räuberleiter helfen aufzusitzen…“ Leonie überlegte. „Ich kenne aber den Besitzer nicht und will mich nicht unbeliebt machen“, entgegnete sie schließlich mit zittriger Stimme. Sie wollte nicht noch weitere Ablehnung erleben. Der Junge blickte sie kurz verärgert an, dann zuckte er die Schultern und sagte: „Ich verstehe. Wenn du willst kannst du am Sonntag mit in den Gottesdienst kommen und dann können wir mit dem Besitzer sprechen. Vielleicht kannst du dann sogar regelmäßig auf ihr reiten.“ „Gehst du etwa in den Gottesdienst? Ist das nicht langweilig?“, fragte Leonie verblüfft. Sie hatte bisher kein Kind in ihrem Alter kennengelernt, das freiwillig in den Gottesdienst ging.

„Ne. Ich bin ja im Kindergottesdienst und das ist richtig cool…“ Leonie schaute ihn ungläubig an.

„Komm am Sonntag mal mit und dann wirst du es sehen“, zwinkerte der Junge.

„Okay!“, sagte Leonie schnell. Der Junge vor ihr schien richtig nett zu sein. Die Aussicht in Kontakt mit einem Pferdebesitzer zu kommen, glich einem Lottogewinn.

„Wo wohnst du denn?“, fragte der Junge. Als Leonie ihre Adresse nannte, sagte er: „Kenne ich. Ich hole dich am Sonntag mit meinen Freunden ab. Wir sind um 9:30 bei dir. Und jetzt lasse ich dich mit Pamela allein, dann kannst du noch ein wenig mit ihr reden. Aber weißt du was? Gott hört dir besser zu als ein Pferd.“

Der Junge zwinkerte ihr nochmal zu und ging dann. Leonie sah ihm nach und das erste Mal seit langem war ihr wieder warm ums Herz. Sie unterhielt sich noch ein wenig mit der Stute Pamela. Innerlich wuchs ihre Vorfreude auf den kommenden Sonntag. Sie war gespannt auf den Jungen, sowie seinen Freunden und sogar ein wenig auf den Gottesdienst.

*

„Das klingt sehr hoffnungsvoll und schön“, kommentierte Clara die Story, während Leonie einen großen Schluck aus ihrem Glas nahm. „Das war es auch…“, sagte Leonie mit einem Blick auf die Uhr. „Ich habe Gott kennengelernt und bekam drei beste Kumpel. Wir nannten uns „Das Dreamteam“, weil wir der Überzeugung waren, es gäbe nur im Traum solch eine coole Clique.“ Leonie lachte, bevor sie fortfuhr: „Wir waren sehr von uns überzeugt. Mir machte es nichts, dass ich das einzige Mädchen war. Die Mädchen in meinem Umfeld sehnten sich nach einem Freund, aber ich tat das nicht. Erst Jahre später bemerkte ich, dass einer von den dreien…“

Leonie schluckte. Tränen stiegen in ihr auf. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie liefen ihr unkontrolliert übers Gesicht.

„Einer von ihnen war mir mehr als alles. Ich habe das recht spät begriffen. Doch er war und ist mir ein Geschenk des Himmels gewesen, ein Seelenverwandter, jemand, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte…“

Leonie brach ab. Zitternd griff sie nach ihrem Rucksack. „Clara wir müssen weiter. Sonst schaffen wir es nicht vor Anbruch der Dunkelheit nach unten.“ Ohne auf die Reaktion ihrer Freundin zu warten, griff sie nach ihrem Rucksack.

Die beiden Frauen wanderten über den Grat. Leonie bekam mit, dass Clara einige Fotos machte und lächelte immer brav in die Kamera, wenn Clara sie dazu aufforderte. In ihren Gedanken aber war sie weit weg. Sie war froh über das Feingefühl ihrer Freundin: Clara stellte keine weiteren Fragen. Leonie wäre auch nicht bereit gewesen, über mehr zu sprechen. Allein diese kurze Ausführung hatte sie mehr an Kraft gekostet, als sie geahnt hätte. Schmerz, Gebrochenheit, Frust, Trauer, Wut, Verlust des Selbstbewusstseins – alle diese Gefühle traten auf und legten sich auf ihr Gemüt, so dass sie sich schier erdrückt fühlte.

All ihre Kraft war darauf konzentriert mit diesen Emotionen fertig zu werden. In einer Welt, in der Schnelllebigkeit an der Tagesordnung war und Beziehungen gewechselt wurden wie Unterhosen, kam Leonie sich mit ihren Gefühlen allein vor. Konnte in dieser Welt jemand verstehen, dass sie einer Freundschaft so viel Bedeutung zumaß, dass diese auch nach fünf Jahren Funkstille heftige Emotionen in ihr hervorriefen? Tatsache war, dass sie noch nie eine Person so geliebt hatte wie Ihn. Leonie beschleunigte ihren Schritt. Sie wollte weder weiter über ihre Vergangenheit sprechen, noch darüber nachdenken. Sie wollte vergessen. Sie hatte zurzeit ein gutes Leben. Auf das wollte sie schauen. Leonie redete sich ein, sie müsse sich mehr auf die Gegenwart und Zukunft konzentrieren, um ihre Flashbacks zu vermeiden. Sie wollte nicht, dass die Vergangenheit ihre Gegenwart bestimmte. Mit einem kurzen Blick über ihre Schulter auf Clara beschloss sie in Zukunft, ihrer Freundin keine weiteren Informationen über die Vergangenheit preiszugeben. Clara würde nicht nachbohren und so konnte sie alles so belassen wie es war.

***

Er drückte sich dicht an einen Baum. Er wollte unbemerkt bleiben. Innerlich triumphierte er. Philipp hatte Jahre gebraucht, um Jan ausfindig zu machen. Nun hatte er ihn endlich gefunden.

„Du kannst uns nicht entfliehen“, raunte er. Dabei starrte er auf den großen Mann und auf das kleine Mädchen an seiner Seite. Sein Blick wanderte von dem großen muskulösen Mann zu dem Mädchen. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen besitzergreifend: „Sie ist groß geworden und …. hübsch“, grinste er.

Für den Moment war ihm egal, dass Jan mit seinem Wagen verschwand. Philipp feierte seinen Erfolg. Er wusste, dass die Freikirche vor ihm seine Anlaufstelle war. Das nächste Mal würde er von hier aus Jan weiterverfolgen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Jan durfte auf keinen Fall Verdacht schöpfen, dass er ihn gefunden hatte.

Philipp nahm eine Zigarette aus seiner Hemdtasche, schob sie in den Mund und griff nach seinem Feuerzeug. Genüsslich zog er daran. Der Gemeindepastor war froh, dass seine Schäfchen weit weg waren. Niemand würde jemals erfahren, dass er süchtig war.

Philipp hatte jedoch nicht begriffen, dass es nicht nur die Zigaretten waren, von denen er abhängig war.

Kapitel 3

Clara schlich ins Badezimmer. Leonie schlief - wenn auch unruhig. Am Anfang hatte Clara noch gezählt wie häufig sich Leonie umdrehte, doch dann war ihr das aufgrund der Häufigkeit zu mühsam gewesen.

Nach ihrem schweigsamen Abstieg hatten sie am Abend über belanglose Dinge geredet. Wie es bei ihnen üblich war, hatten sie Kontakt mit anderen jungen Menschen gehabt. So aßen und redeten sie am See mit ihnen. Leonies Erzählung über die Vergangenheit geriet dadurch immer mehr in Vergessenheit. Besonders unterhaltsam waren zwei junge Frauen gewesen. Die Freundinnen waren Krankenschwestern. Während die kleinere Frau von den Alkoholeskapaden der Schweizer Privatpatienten erzählte, warf die rothaarige Frau immer wieder Berichte von dementen Patienten in den Raum. Leonie und Clara hatten sich zunächst an die dargestellten Krankenhausszenen gewöhnen müssen. Sie kannten das Krankenhausleben nur aus Filmen und da war es sehr romantisch dargestellt. Zudem mussten Leonie und Clara sich an den Sarkasmus der Beiden gewöhnen. Wahrscheinlich war das ihre Art, Grenzsituationen gut zu verarbeiten. Nach einiger Zeit konnten Leonie und Clara nicht anders, als bei den Storys mitzulachen.

Vor dem Schlafengehen lachten sie immer noch viel. Erst als ihre Freundin wieder unruhig schlief, musste Clara an die Erzählung Leonies auf dem Heimgarten denken. Clara wurde bewusst, dass Leonie ein größeres Päckchen mit sich herumschleppte. Sie hatte immer gedacht, dass die manchmal auftauchende Ernsthaftigkeit ihrer Freundin etwas mit ihren Eltern zu tun hatte. Leonie hatte kein besonders gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Das Ehepaar Walter hatte nie das Studium ihrer Tochter in Sozialer Arbeit akzeptiert, geschweige denn, die ausübende Tätigkeit in dem Café.

Leonies Erzählung nach, steckte hinter der Ernsthaftigkeit jedoch ein Mann. Clara hatte sich bisher gewundert, dass Leonie wenig über Männer sprach. Doch sie hatte einfach angenommen, dass ihre Freundin die Gabe der Ehelosigkeit hatte. Leonie hatte mit ihrem Single Dasein zufrieden gewirkt.

„Ja“, erklang eine verschlafene Stimme. Clara hatte die Nummer ihres Freundes Markus gewählt. „Markus … habe ich dich geweckt?“ Am anderen Ende der Leitung gähnte eine verschlafene Stimme. „Kein Problem. Ich denke ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen. Habt ihr ne gute Zeit?“

„Ja ich denke schon…“ Clara räusperte sich.

„Aber?“, fragte Markus nun etwas wacher.

„Leonie ist heute etwas verändert. Aber vielleicht sollte ich mir da nicht so viele Gedanken machen…“

„Wie ist sie denn anders?“

„Sie wirkt teilweise so betrübt und nachdenklich, aber wahrscheinlich sollte ich als gute Freundin nicht weiter darüber reden… Erzähl lieber wie dein Tag heute so war.“

„Och Clara, ich hatte einen guten Tag und habe gerade richtig gut geschlafen.“

„Ich verstehe. Sorry, ich habe mich gerade nach deiner Nähe gesehnt. Schlaf noch gut. Wir sehen uns morgen.

Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

Clara schlich vom Badezimmer wieder ins Bett.

„Treue kann man nicht verlangen. Treue ist ein Geschenk.“ Bei diesen Worten von Leonie zuckte Clara kurz zusammen. Sie sah hinüber, doch ihre Freundin schien zu schlafen. Clara musste schmunzeln. Der Ausspruch Leonies war ein Zitat gewesen und Clara wunderte sich darüber, dass ihre Freundin selbst im Schlaf in Zitaten sprach.

***

„Leonie, bist du das?“ Leonie hatte kaum ihre Jacke an die Garderobe gehängt, als die Stimme ihrer Mitbewohnerin ertönte.

„Ähm ja, wer sollte es denn sonst sein?“, lachte sie.

„Super“, rief Janine ohne auf die Bemerkung Leonies einzugehen.

„War die Zeit mit Clara gut?“ Leonie bemerkte, dass dies eine Höflichkeitsfrage war und nicht von Interesse herrührte.

„Ja das war sie. Clara ist einfach so cool, dass sie spontan zwei Tage ihrer Schulferien für mich opfert und wir einen Kurztrip machen können. Das Wetter und die Berge waren einfach genial.“

Janine nickte kurz, dann lenkte sie auf ihr Anliegen: „Hm. Du! Könntest du mir Model stehen? Ich mache dir auch einen Kaffee und besorge dir was vom weltbesten Käsekuchen.“ Janine sah Leonie bittend an.

„Och ich bin so müde und gerade gar nicht fotogen“, lenkte Leonie ein.

„Ich will dir nur eine Frisur machen. Ich habe Haarschmuck aus der Schweiz erhalten. Die möchten, dass ich Werbung für sie mache und du hast so wunderschönes Haar.“

„Okay. Das ist okay. Nur Haare, das ist entspannend.“

„Danke, du bist die Beste!“, quickte Janine vor Freude. Janine war Makeup Artist und Leonie wurde immer wieder für die Werbung von Instagram von ihr geschminkt beziehungsweise gestylt. Des Öfteren empfand Leonie es entspannend, einfach nur dazusitzen und passiv zu sein.

„Aber ich setze mich nicht, bevor ich Käsekuchen bekomme“, meinte Leonie gespielt streng.

„In Ordnung, ich eile.“

Janine lief in ihr Zimmer, holte ihren Gelbeutel und verließ die Wohnung. In der Nähe der WG war ein kleines Café mit sehr leckeren Süßwaren. Selbst Leonie musste eingestehen, dass die Angebote dort, die des Café Liebstocks übertrafen. Janine und sie holten sich häufig ihren Kuchen ab und genossen ihn in ihrer Wohnung.

„Es kommt nachher übrigens Besuch“, sagte Janine während sie einen Haufen Gel in Leonies blondes Haar strich.

„Aha?“ Leonie zog gespannt die Augenbrauen nach oben.

„Nein, kein Date. Es ist eine Frau aus unserer Gemeinde. Sie ist neu hier und ich dachte ich lade sie mal zum Abendessen ein.“

„Das ist sehr, sehr aufmerksam von dir“, witzelte Leonie.

„Ich dachte, du bist vielleicht mit dabei?“

„Ich? Weshalb denn?“

„Weil ihre Nichte begeistert von deiner Jungschar war.“

„Wer ist denn ihre Nichte?“

„Puh ihren Namen habe ich vergessen, aber sie ist auch neu in der Gemeinde.“ Sofort fiel Leonie das kleine Mädchen mit den wunderschönen dunklen Augen ein.

„Lilli!“

„Kann sein.“

„Und woher weißt du, dass sie begeistert von meiner Jungschar erzählt hat?“

„Naja Melinda hat es mir erzählt.“

„Okay ich bin dabei.“

„Aha, bemerke ich da einen Sinneswandel aufgrund eines Mädchens?“, fragte Janine.

„Manchmal wünschte ich, du wärst ein männlicher Kollege. Die fragen nicht so viel nach.“

„Na dankeschön“, schmollte Janine und zog etwas fester an Leonies Haaren. „Aua!“, schrie Leonie auf.

„Das hast du verdient.“ „Sorry, du bist die beste Mitbewohnerin der Welt.“ „Und?“ „Was und?“ „Weshalb muss ich dich plötzlich nicht mehr ermutigen, dass du mitisst?“

„Ich interessiere mich schon ein bisschen für das Umfeld von der kleinen Lilli. Mehr kann ich nicht sagen.“

„Aha!“ Janine wusste, dass sie nicht mehr von Leonie erfahren würde.

***

Leonie betrachtete die junge rothaarige Frau. Diese war wohl etwas älter als Janine und sie. Sie wirkte in Leonies Augen intelligent und sehr vornehm. Leonie platzte vor Neugier. Sie hätte am liebsten Fragen über Lillis Mutter gestellt, aber das wäre sehr unhöflich gewesen. So versuchte Leonie sich auf die Frau vor ihr und nicht auf deren Beziehungen zu konzentrieren.

„Über ihre Mutter sprechen wir nicht.“

Leonie zuckte erschrocken zusammen. Das Gespräch war für sie bis dato furchtbar langweilig gewesen: Es ging um Styling und Make Up. Das waren alles Themen, die sie nicht interessierten, aber Leonie hatte sich entschieden, höflich zuzuhören. Sie hatte stets gehofft, mehr über Lillis Familie zu erfahren. Irgendwann hatte sie beschlossen - entgegen aller Höflichkeit - ihre Frage zu stellen, um ihre Neugier zu befriedigen. Die Antwort war jedoch anders als erwartet und kaum aufschlussreich. Leonie musterte das Gesicht von Melinda. Da lag Strenge und Entschlossenheit sowie Verschwiegenheit drin. Melindas Gesichtszug war hart. Leonie meinte zudem Schmerz in den Gesichtszügen zu entdecken. Leonie versuchte sich dennoch, etwas heranzutasten.

„Das bedeutet, ich darf mit Lilli nicht über ihre Mutter sprechen?“, bohrte Leonie nach.

„Man kann dir nicht verbieten, Fragen zu stellen. Du solltest dich nur darauf einstellen, dass Lilli keine Antworten gibt.“

Leonie konnte den bissigen Ton, der nicht zu ihrem bisherigen Eindruck von der rothaarigen Melinda passte, kaum überhören. Sie versuchte besänftigend zu nicken, innerlich war sie allerdings fest davon überzeugt, der Situation auf den Grund zu gehen.

Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren: Vermutlich hatte Lillis Mutter die Familie verlassen. Bei einem Tod hätte Melinda bestimmt kein Problem damit gehabt, über sie zu sprechen. War Melinda nun die Schwester von Lillis Mutter oder war sie Jans Schwester? War sie ein Anhängsel von Jan und Lilli? Hatte sie sich entschieden mit den beiden hierherzuziehen?

„Und du arbeitest im Café Liebstock? Ich meine, das hätte mir Janine erzählt. Ich war einmal dort gewesen. Es ist wirklich süß eingerichtet.“ Melindas Gesichtszüge waren inzwischen weicher geworden. Leonie verblüffte der Stimmungswechsel. Eben noch hatte sie sich von Melinda angegriffen gefühlt und nun wirkte sie wie eine gutmütige Freundin.

„Ja genau, dort arbeite ich. Danke, wir haben uns sehr viele Gedanken über die Einrichtung gemacht“, antworte Leonie knapp. Sie fühlte sich nicht bereit, mit einer Frau ins Plaudern zu kommen, die nicht bereit war - über sich und ihre Familie zu sprechen. Doch Melinda ließ sich nicht beirren: „Das ist wahrscheinlich keine einfache Aufgabe. Ich stelle es mir jedenfalls nicht einfach vor, den ganzen Tag auf den Beinen zu stehen.“ Leonie spürte den Ärger in sich aufsteigen. Was wollte diese Frau sagen? Hält sie wie meine Eltern, die Arbeit im Café nicht für ehrenwert?

„Lilli war jedenfalls richtig begeistert von dir“, wechselte Melinda das Thema.

Leonie fuhr überrascht hoch. Sie lächelte: „Echt?“

„Ja, sie mochte die Art, wie du mit Begeisterung von Gott erzählt hast. Sie hat uns die Ohren ab gequasselt: Du habest erzählt, wie wundervoll Gott ist und, dass er dich tröstet, wie eine Mutter es tut…“

Leonie konnte den Hustenreiz nicht unterdrücken. Sie hatte sich bei den Worten „tröstet, wie eine Mutter“ verschluckt. Janine klopfte ihr auf den Rücken. Leonie entschuldigte sich hilflos und eilte aus der Küche. Sie lief ein paar Zimmer weiter ins Bad. Dort schloss sie sich ein und hustete, bis sie wieder normal atmen konnte.

Während sie ihr Spiegelbild betrachtete und langsam ein und ausatmete, dachte sie über Melinda nach. Sie verstand diese Frau nicht. Weshalb sprach sie nicht über Lillis Mutter? Weshalb schien Lilli kein Problem damit zu haben, dass sie keine Mutter hatte? Und weshalb verhärteten sich Melindas Gesichtszüge bei diesem Thema? Das passte für sie nicht zusammen. Im Kopf ging Leonie, auf der Suche nach einer möglichen Erklärung, einige Geschichten aus ihren Krimis und Thrillern durch. Ihr wollte aber keine erdenkliche Lösung einfallen.

Leonie runzelte die Stirn und zog sie dann schnell wieder glatt. Seit sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte, entdeckte sie immer mehr sich anbahnende Falten auf ihrem Gesicht. Vielleicht lag das an ihrer Vergangenheit, vielleicht aber auch an einem möglichen Alterungsprozess. Leonie drehte den Wasserhahn kurz auf, spritzte sich Wasser ins Gesicht und lachte sich selbst kurz an. „So gefalle ich mir schon besser“, meinte sie zufrieden. Sie wand sich von ihrem Spiegelbild ab, um Janine und Melinda wieder Gesellschaft zu leisten.

***

„War ein genialer Abend, oder?“, meinte Janine während sie den Tisch abräumte.

„Hm“, grunzte Leonie, während sie sich bemühte die Auflaufform zu säubern.

„Ich finde Melinda richtig klasse.“

Leonie erwiderte nichts. Sie wollte darauf nicht antworten. Melinda war ihr nicht sympathisch und sie empfand sie als zwiespältig. Ihrer Meinung nach hatte diese Melinda zwei Seiten. Melinda konnte freundlich und zugewandt sein, aber dann auch kühl und bestimmt. Leonie traute ihr nicht. Sie hatte ihr gegenüber ein komisches Bauchgefühl, aber das wollte sie Janine nicht auf die Nase binden.

„Wobei ich kurz dachte, ihr würdet euch gleich in den Haaren liegen“, unterbrach Janine Leonies Gedankengänge.

Leonie lies frustriert den Spülschwamm in die Auflaufform fallen: „Janine, ihr habt die ganze Zeit über Styling und Makeup gesprochen. Da kann ich leider nicht ganz so drüber reden. Als es mal für mich interessant wurde, hat Melinda total abgeblockt. Ist ja kein Wunder, dass ich da nicht ganz so begeistert von ihr bin - wie du -“, entgegnete Leonie scharf.

Janine hielt erschrocken in ihrer Bewegung inne. Leonie wurde bewusst, dass sie zu hart reagiert hatte und meinte sanft: „Hast du noch Lust einen gemeinsamen Film anzuschauen?“ Janine lächelte und nickte.

Kapitel 4

Am Sonntagmorgen betraten Leonie und Janine das Gebäude der Freikirche. Es dauerte keine drei Sekunden, da waren die Mitbewohnerinnen in unterschiedlichen Gesprächen vertieft. Es kam selten vor, dass Janine und Leonie bis zum Beginn des Gottesdienstes zusammenblieben. Jeder von ihnen hatte eigene Freunde und Bekannte, mit denen sie gerne im Gespräch waren. Leonie genoss das. Sie mochte die Unabhängigkeit voneinander. Sie verbrachten gute Zeiten zusammen, aber jeder von ihnen hatte einen eigenen Freundeskreis. Das war für Leonie Freiheit und Geborgenheit zugleich.

Die Jungscharleiterin unterhielt sich gerade mit der älteren Frau Wilmers, als die ersten Musikklänge der Worship Band ertönten. Leonie setzte sich auf den nächstbesten Platz. Für sie war es egal, wo sie saß. Sie nutzte die zufällige Sitzauswahl, um nach dem Gottesdienst mit Menschen außerhalb ihres engen Bekanntenkreises in Kontakt zu kommen.

Während das erste Lied ertönte, fiel Leonie ein, dass ihr Handy nicht auf stumm geschalten war. Ihr war es einmal passiert, dass während der Predigt ihr Handy lautstark geklingelt hatte. Sie war damals rot angelaufen und hatte verzweifelt in ihrer Handtasche versucht, ihr Handy zu fassen und es auszuschalten. Solch eine peinliche Situation wollte sie auf alle Fälle vermeiden und so kramte sie hastig in ihrer Handtasche, um ihr Handy stumm zu schalten.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Erschrocken fuhr Leonie herum, dabei bewegte sie ihren Arm so unkontrolliert, dass ihr Ellenbogen in etwas weiches stieß – nämlich in den Bauch ihres Sitznachbars. Dieser krümmte sich lautlos vor Schmerz.

„Entschuldigung. Ich hatte mich so erschrocken“, wisperte Leonie.

„Das habe ich bemerkt“, keuchte ihr Sitznachbar.

Die Stimme kam Leonie bekannt vor und als der gekrümmte Körper sich wieder aufrichtete, erkannte Leonie Jan, den Vater von Lilli. Leonies Gesicht wurde knallrot. Auch das noch. Der Mann mit Kind, aber ohne Frau. Der Mann, dessen Schwester oder Schwägerin nicht über die Mutter seines Kindes sprechen möchte. Ich sollte mich echt mal konzentrieren und darauf achten, neben wen ich mich setze.

„Sie können wieder atmen. Ich habe es verkraftet“, spottete Lillis Vater.

Leonie merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie atmete laut aus.

„Ich hätte mir denken können, dass ich neben Ihnen nicht sicher war, so unruhig wie sie in ihrer Tasche gekramt haben“, grinste er.

„Haben Sie mich deshalb gefragt, ob Sie mir helfen könnten?“, fragte Leonie mit scharfem Unterton in ihrer Stimme. Jan nickte. „Dann sind Sie selbst schuld“, gab Leonie bissig von sich.

Die Musik verstummte. Der Moderator betrat die Bühne und begrüßte die Gemeinde. Währenddessen stiegen in Leonie Schuldgefühle hoch. Ihre letzte Bemerkung war nicht angemessen gewesen, auch wenn Jan sie provoziert hatte.

„Es tut mir leid“, flüsterte Leonie und schielte zu ihrem Nachbar.

„Schon gut“, lächelte dieser, ohne seinen Blick von der Bühne zu wenden.

Wenn er nur nicht so überheblich wirken würde. Bei seinem Verhalten ist es kein Wunder, dass meine schlechtesten Seiten zum Vorschein kommen. Aber ich bin die Jungscharleiterin seiner Tochter. Ich sollte mit ihm irgendwie auskommen.