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Eine Bibliothek als Waffe gegen die Diktatur Daraya beherbergt einen außergewöhnlichen Ort: eine unterirdische Bibliothek mit über 15 000 Büchern ‒ die meisten vom herrschenden Regime verboten, von Menschen aus dem Schutt zerstörter Häuser geborgen. »Massenunterrichtswaffen« nennt Delphine Minoui diesen Schatz und erzählt in ihrem Buch von jungen Syrern, die ihr Leben riskieren, um Bücher zu retten. Die Bibliothek wird zu einem Ort der Gemeinschaft, an dem Menschen lesen, lernen, diskutieren – und für kurze Zeit der brutalen Realität des Krieges entkommen können. Alles begann mit einem Foto, das die französisch-iranische Journalistin Delphine Minoui zufällig auf Facebook entdeckte: zwei junge syrische Männer, umgeben von Regalen voller Bücher inmitten von Zerstörung. Darunter war die Rede von einer geheimen Bibliothek im Untergrund Darayas, einem Vorort von Damaskus, der von den Regierungstruppen permanent bombardiert und dem Erdboden nahezu gleichgemacht wurde. Minoui gelang es, mit den Gründern der Bibliothek Kontakt aufzunehmen und sie über zwei Jahre bei allen Wendepunkten und Tiefschlägen des Krieges zu begleiten. Wir begegnen Einzelschicksalen, die durch Bücher verbunden werden und sich so gegen Verzweiflung und Resignation stemmen. Eine Geschichte von der Macht des Lesens und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
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Seitenzahl: 190
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Delphine Minoui
Über die Macht der Bücherin Zeiten des Krieges
Aus dem Französischenvon Nathalie Lemmens
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.
Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
Die Zitate im Innenteil des Buches haben wir verwendet mit freundlicher Genehmigung von:
Mahmud Darwisch, Belagerungszustand. Gedichte, übersetzt von Stephan Milich © 2005 Verlag Hans Schiler
Der Abdruck des Gedichts »Der Schläfer im Tal« von Arthur Rimbaud auf S. 179 folgt der deutschen Übertragung von Stefan George aus dem Jahr 1905.
Copyright © 2017 by Delphine Minoui
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Les passeurs de livres de Daraya. Une bibliothèque secrète en Syrie bei Éditions du Seuil, 25 Boulevard Romain Rolland, 75014 Paris
1. Auflage 2018
© 2018 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Redaktion: Jonas Wegerer
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Palatino, Georgia, Dirty Headline
Karte: © Peter Palm, Berlin
Umschlaggestaltung: © BÜRO JORGE SCHMIDT, München
UmschlagiIllustration: © Katie Edwards/Getty Images
ISBN: 978-3-7109-0042-6
eISBN: 978-3-7109-5059-9
Für die Aufständischen von Daraya
»Kein Gefängnis der Welt vermag die freie Rede einzusperren. Keine Blockade ist so unüberwindlich, dass sie den freien Fluss der Informationen abriegelt.«
Aus der Rede des syrischen Dissidenten Mazen Darwisch beim World Press Photo Award, gehalten am 23. April 2016 nach seiner Freilassung aus den syrischen Kerkern.
Prolog
Die geheime Bibliothek von Daraya
Dank
Istanbul, 15. Oktober 2015
Es ist ein ungewöhnliches Bild. Eine rätselhafte Aufnahme aus der syrischen Hölle, ohne jede Spur von Blut oder Kugeln. Zwei Männer im Profil, umgeben von Wänden aus Büchern. Der eine beugt sich über einen in der Mitte aufgeschlagenen Band. Der andere blickt suchend in ein Regal. Sie sind jung, um die zwanzig, der erste trägt eine Trainingsjacke, der zweite eine Baseballkappe. Das künstliche Licht, das in dem fensterlosen Raum auf ihre Gesichter fällt, verstärkt noch den befremdlichen Eindruck der Szene. Wie ein vorsichtiges Atemholen in den Zwischenräumen des Krieges.
Die Aufnahme berührt mich. Ich habe sie zufällig auf der Facebook-Seite von »Humans of Syria«, einem Kollektiv junger syrischer Fotografen, entdeckt. In der Bildunterschrift ist die Rede von einer geheimen Bibliothek im Herzen von Daraya. Ich wiederhole die Worte laut: eine geheime Bibliothek in Da-ra-ya. Die drei Silben prallen aufeinander. Daraya, die Aufständische. Daraya, die Belagerte. Daraya, die Ausgehungerte. So viel habe ich schon über diesen rebellischen Vorort von Damaskus gelesen – und geschrieben –, eine der Wiegen der friedlichen Revolution des Jahres 2011, die seit 2012 von den Truppen Baschar al-Assads eingekesselt und bombardiert wird. Die Vorstellung, dass diese jungen Leute in den Kellern der eingeschlossenen Stadt vor sich hin schmökern, während über ihren Köpfen die Bomben fallen, weckt meine Neugier.
Welche Geschichte verbirgt sich hinter diesem Foto? Wie sieht seine Rückseite aus? Gibt es eine Gegenperspektive? Das Bild lässt mir keine Ruhe, wie ein Magnet zieht es mich in dieses unzugängliche Syrien, in dem das Reisen mittlerweile zu gefährlich geworden ist. Mithilfe von Mails, Skype- und WhatsApp-Nachrichten gelingt es mir schließlich, Ahmad Mudjahid ausfindig zu machen, der das Foto aufgenommen hat. Ahmad ist einer der Gründer dieser unterirdischen Agora. Entlang der Maschen einer unzuverlässigen Internetverbindung, seinem einzigen Zugang zur Außenwelt, erzählt er mir von der verwüsteten Stadt, von den zerstörten Häusern, den Bränden und dem Staub und von den Tausenden von Büchern, die sie inmitten des Chaos aus den Trümmern gerettet und in diesem allen Einwohnern der Stadt zugänglichen Papierrefugium zusammengetragen haben. Stundenlang schildert er mir detailliert dieses Projekt zur Rettung ihres kulturellen Erbes, das aus der Asche einer rebellischen Stadt geboren wurde. Anschließend spricht er von den pausenlosen Bombardements. Von den immer leerer werdenden Mägen. Von den aus Blättern gekochten Suppen, mit denen die Bewohner den Hunger zu bannen versuchen. Und von all dem ungezügelten Lesen als Nahrung für ihren Geist. Die Bibliothek ist ihre verborgene Festung, die sie vor den Bomben schützt. Und die Bücher sind ihre Massenbildungswaffen.
Es ist eine faszinierende Geschichte. Aus ihr klingt jene Hymne an den Frieden, die Baschar al-Assad, der Rais von Damaskus, so beharrlich zu ersticken sucht. Jene untergründige Melodie, die die Dschihadisten des Islamischen Staats auslöschen wollen. Jene dritte Stimme, die die Lautsprecher der friedlichen Demonstrationen am Beginn des Aufstands gegen das Regime in die Welt getragen haben und die der heutige Konflikt für immer zum Schweigen zu bringen droht. Es ist das Tagebuch ihrer Revolution, das mir zuflüstert, es niederzuschreiben.
Aber ein solches Vorhaben ist riskant. Wie soll man von etwas erzählen, was man nicht sieht, nicht selbst erlebt? Wie kann ich mich vor Desinformationen schützen, die Assad beileibe nicht als Einziger verbreitet? Welches politische Projekt verfolgen diese jungen Männer jenseits der Bücher, die sie lesen? Sind sie tatsächlich islamistische Kämpfer, wie uns das Regime einreden möchte? Oder lediglich Aktivisten, die sich diesem nicht unterwerfen wollen? Ich rechne aus, wie viele Kilometer mich von Daraya trennen: Es sind fünfzehnhundert. Ich erwäge unzählige Möglichkeiten, von Istanbul aus dorthin zu gelangen. Doch vergeblich. Seit meiner letzten Reise nach Damaskus im Jahr 2010, als ich noch in Beirut lebte, habe ich kein Pressevisum für die syrische Hauptstadt mehr ergattern können. Und selbst wenn ich es nach Damaskus schaffte, wie sollte ich in den belagerten Vorort südwestlich der Stadt kommen? Jetzt, im Herbst 2015, sind selbst die Vereinten Nationen mit ihrem Versuch gescheitert, Hilfsgüter dorthin zu liefern. Gibt es einen Tunnel, einen Schleichweg, einen geheimen Pfad? Am anderen Ende der Internetverbindung bestätigt mir Ahmad, dass alle Zugänge abgeriegelt sind. Die einzige Lücke bildet der benachbarte Vorort Muadamiya, über den sich die Mutigsten noch in die Stadt wagen. Aber auch dieser Weg ist nur nachts passierbar, und stets droht Gefahr durch Scharfschützen und Granatbeschuss.
Muss ich diese Geschichte also wegen eines gewaltsam errichteten Eisernen Vorhangs begraben? Mich damit zufriedengeben, hilflose Zeugin einer beispiellosen Barbarei zu sein, die live auf unseren Fernsehapparaten übertragen wird?
Wer den Blick auf eine Stadt richtet, die er nur am Computerbildschirm sieht, riskiert, die Wahrheit zu verfälschen. Die Augen zu schließen jedoch hieße, sie zum Schweigen zu verdammen. Baschar al-Assad wollte Daraya aus dem Fokus der Öffentlichkeit drängen, es zu einer bloßen Randnotiz machen. Ich möchte der Stadt ihre Sprache zurückgeben. Mehr Bilder zeigen als nur diese erste Aufnahme. Und wenn das bedeutet, dass ich mich damit begnügen muss, die Umrisse einer verbotenen Stadt zu skizzieren, bin ich bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen. Wenn sich alle Türen schließen, sind dann nicht Worte das Einzige, was bleibt, um davon zu berichten?
Schreiben bedeutet, einzelne Schnipsel Wahrheit zusammenzufügen, um so das Absurde hörbar zu machen.
Ein paar Tage später kontaktiere ich Ahmad erneut, um ihm von meiner Absicht zu erzählen. Gespannt warte ich auf seine Antwort.
Am anderen Ende der Skype-Verbindung bleibt es lange still.
Ich wiederhole mein Ansinnen: »Ich möchte ein Buch über die Bibliothek von Daraya schreiben.«
Plötzlich erfüllt ein metallisches Rauschen die Leitung. In dieser sich endlos wiederholenden Nacht voller Angst und Gefahren muss ihm mein Vorhaben lächerlich erscheinen. Doch kaum ist das stählerne Gewitter verklungen, höre ich wieder seine Stimme: »Ahlan wa sahlan! (Sei willkommen!)«
Dieser enthusiastisch geäußerte Satz entlockt mir vor meinem Bildschirm ein Lächeln. Ahmad wird mein Führer sein. Und ich sein aufmerksames Ohr.
Und ich gebe ihm ein Versprechen: Dass dieses Buch, ihr Buch, eines Tages in den Regalen der Bibliothek stehen wird.
Es wird das lebendige Gedächtnis von Daraya sein.
Zunächst ist Ahmad nur eine ferne Stimme. Ein schwaches Lied der Hoffnung, das in tiefster Dunkelheit entspringt. Als ich am 15. Oktober 2015 über Skype zum ersten Mal Kontakt zu ihm aufnehme, hat er Daraya seit fast drei Jahren nicht mehr verlassen. Sieben Kilometer von Damaskus entfernt, gleicht die eingekesselte, ausgehungerte Stadt einem Sarkophag. Ahmad ist einer der letzten zwölftausend Überlebenden. Anfangs fällt es mir schwer, seine schüchternen, hektisch gemurmelten Worte zu entschlüsseln. Immer wieder werden sie von den allgegenwärtigen Explosionen unterbrochen. Zwischen zwei Detonationen klammere ich mich an sein Gesicht. Es erscheint auf meinem Bildschirm, verschwindet wieder, den Launen einer Internetverbindung unterworfen, die dank kleiner, zu Beginn der Revolution zusammengesuchter Parabolantennen notdürftig zustande kommt.
Sein Bild wird in die Länge gezogen, verzerrt sich wie ein Porträt von Picasso: runde Wangen, die sich schräg unter seiner schwarz gefassten Brille neigen, bevor sie in tausendundeinen Pixel zerspringen und sich in einem dichten schwarzen Vorhang auflösen. Als sich die Pixel erneut zusammenfügen, lese ich die Worte von seinen Lippen ab. Und knabbere auf meinem Bleistift herum, während ich angestrengt die Ohren spitze.
Er stellt sich vor: Ahmad, dreiundzwanzig Jahre alt, als eines von acht Geschwistern in Daraya geboren. Vor der Revolution studierte er Bauingenieurwesen an der Universität von Damaskus. Vor der Revolution liebte er Fußball, Kino und die Pflanzen in der Baumschule seiner Familie. Vor der Revolution hatte er davon geträumt, Journalist zu werden. Doch sein Vater, der wegen eines belanglosen, einem Freund zugeflüsterten Kommentars zwölf Monate im Gefängnis gesessen hatte, hatte ihm diesen Wunsch rasch wieder ausgeredet. »Beleidigung der Staatsgewalt«, hatte das Gericht damals geurteilt. Das war 2003. Ahmad war elf Jahre alt. Eine dunkle Erinnerung, begraben auf dem Grund seines Herzens.
Und dann kam die Revolution. Als Syrien im März 2011 erwacht, ist Ahmad neunzehn, das rebellische Alter. Der immer noch traumatisierte Vater verbietet ihm, hinunter auf die Straße zu gehen. Ahmad verpasst die erste Demonstration in Daraya, doch zur zweiten schleicht er sich heimlich hinaus. Inmitten der Menge singt er aus voller Kehle: »Das Volk und Syrien sind eins.« In der Brust des angehenden Revolutionärs zerreißt etwas wie ein Blatt Papier. Er spürt den ersten Schauer der Freiheit.
Wochen und Monate folgen aufeinander. Die Demonstrationen ebenfalls. Drohend klingt die Stimme Baschar al-Assads aus dem Radio: »Wir werden siegen. Wir werden nicht weichen. Wir werden die Proteste niederschlagen.« Die Soldaten des Regimes schießen in die Menge. Die ersten Kugeln pfeifen. Doch Ahmad und seine Freunde singen nur umso lauter: »Freiheit! Freiheit!«, während andere Aufständische zu den Waffen greifen, um sich zu schützen. Da der Rais von Damaskus sie nicht alle ins Gefängnis werfen kann, riegelt er die Stadt kurzerhand ab. Es ist der 8. November 2012. Wie so viele andere packt auch Ahmads Familie ihre Sachen und flieht in eine benachbarte Stadt. Seine Eltern flehen ihn an, sie zu begleiten, doch Ahmad weigert sich: Es ist seine Revolution, die seiner Generation. Während die Bomben fallen, greift er zur Kamera und verwirklicht endlich seinen Kindheitstraum: von der Wahrheit zu berichten. Er schließt sich dem Pressezentrum des neuen Lokalrats der Stadt an. Tagsüber streift er durch die verwüsteten Straßen von Daraya, filmt die eingestürzten Gebäude, die überfüllten Krankenhäuser, die Beerdigungen der Opfer, jede noch so kleine Spur dieses unsichtbaren, für ausländische Medien unzugänglichen Krieges. Abends lädt er seine Filme im Internet hoch.
So vergeht, gelähmt durch die Gewalt, ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen. Bis ihn seine Freunde Ende 2013 eines Tages zu Hilfe rufen. Unter den Trümmern eines völlig zerstörten Hauses haben sie Bücher entdeckt, die sie unbedingt ausgraben wollen.
»Bücher?«, wiederholt er erstaunt.
Mitten im Krieg erscheint ihm diese Vorstellung absurd. Wozu Bücher retten, wenn sie es nicht schaffen, Leben zu retten? Er hat nie viel gelesen. Für ihn sind Bücher Ausdruck von Lüge und Propaganda. Für ihn sind Bücher gleichbedeutend mit jenem Porträt von Assad und seinem Giraffenhals, das ihn in seinen Schulheften verhöhnte. Zögernd folgt er ihnen in das teilweise eingestürzte Gemäuer. Die Tür wurde von einer Explosion weggerissen. Das unbewohnbar gewordene Haus gehört dem Direktor einer Schule, der bei seiner Flucht aus der Stadt alles zurückgelassen hat. Vorsichtig tastet Ahmad sich ins Wohnzimmer vor. Ein einzelner Lichtstrahl erhellt den Raum. Das Parkett ist mit Büchern übersät, die zwischen den Schutthaufen verstreut liegen. Langsam geht er in die Hocke und nimmt aufs Geratewohl eines davon in die Hand. Seine Fingernägel quietschen auf dem mit schwarzem Staub bedeckten Umschlag, es klingt wie ein Musikinstrument. Der Titel des Buches ist auf Englisch, es geht um Selbsterkenntnis, sicher ein Fachbuch der Psychologie. Ahmad schlägt die erste Seite auf, entziffert die wenigen bekannten Wörter dieser fremden Sprache, die er kaum spricht. Aber im Grunde ist das Thema auch egal. Er zittert. In ihm gerät alles ins Wanken. Er hat das verstörende Gefühl, die Tür zum Wissen aufzustoßen. Für einen Moment der Routine des Krieges zu entfliehen. Einen kleinen Teil der Archive seines Landes zu retten, und sei er noch so winzig. Durch die Seiten zu schleichen wie bei einer Flucht ins Unbekannte.
Langsam steht Ahmad wieder auf, das Buch an seine Brust gedrückt. Diesmal durchläuft der Schauer seinen ganzen Körper.
»Der gleiche Schauer der Freiheit wie bei meiner ersten Demonstration«, flüstert er auf dem Bildschirm.
Ahmads Stimme bricht ab. Sein Gesicht ist wieder ein Mosaik aus einzelnen Pixeln. Eine Explosion hat die Internetverbindung unterbrochen. Ich starre auf meinen Bildschirm, erahne ein Seufzen. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hat, nimmt er seine Erzählung wieder auf und berichtet mir, was für Bücher sie an jenem Tag noch unter den Trümmern gefunden haben: arabische und fremdsprachige Literatur, Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften. Ein Meer von Wissen in ihren Händen.
»Aber wir mussten uns beeilen«, fährt er fort. »Draußen hörten wir wieder das Geräusch der Flugzeuge. Hastig haben wir die Bücher ausgegraben und die Ladefläche eines Pick-ups bis zum Rand damit gefüllt.«
In den darauffolgenden Tagen wird die Sammelaktion in den Ruinen fortgesetzt. In verlassenen Häusern, verwüsteten Büros, völlig zerstörten Moscheen. Ahmad findet schnell Gefallen daran. Bei jeder weiteren Bücherjagd durchströmt ihn aufs Neue die grenzenlose Freude darüber, zurückgelassene Seiten aufzustöbern und die unter den Schuttbergen begrabenen Worte zu neuem Leben zu erwecken. Sie suchen mit bloßen Händen, manchmal auch mithilfe von Schaufeln. Insgesamt sind es etwa vierzig Freiwillige – Aktivisten, Studenten, Rebellen –, die nur darauf warten, dass das Geräusch der Flugzeuge verstummt, um erneut loszuziehen und unter den Trümmern zu graben. Innerhalb einer Woche retten sie sechstausend Bücher. Was für eine Leistung! Einen Monat später umfasst ihre Ausbeute schon fünfzehntausend Bände. Kleine, große, angeschlagene, mit Eselsohren versehene, unleserliche, sehr seltene, sehr gefragte. Nun brauchen sie einen Ort, um sie unterzubringen. Sie zu schützen. Diesen winzigen Krümel des syrischen Erbes zu bewahren, ehe er in Rauch aufgeht. Sie setzen sich zusammen und beraten, und so entsteht die Idee zu einer öffentlichen Bibliothek. Unter Assad hat Daraya nie eine Bibliothek besessen. Es wäre ihre erste. »Das Symbol einer Stadt, die sich nicht in die Knie zwingen lässt, in der man etwas Neues aufbaut, während um uns herum alles zusammenbricht«, erklärt Ahmad. Er verstummt nachdenklich, ehe er jenen Satz sagt, den ich niemals vergessen werde: »Unsere Revolution wurde begründet, um zu erschaffen, nicht, um zu zerstören.«
Aus Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen würde dieses Papiermuseum unter allergrößter Geheimhaltung eingerichtet werden. Es sollte weder einen Namen noch ein Hinweisschild bekommen. Ein unterirdischer Raum, geschützt vor Radarerfassung und Granaten, in dem kleine und große Leser zusammenkommen. Lektüre als Zufluchtsort. Ein offenes Fenster zur Welt, während alle Türen versperrt sind.
Nach fieberhafter Suche entdecken die Freunde schließlich die Kellerräume eines von seinen Bewohnern verlassenen Gebäudes. Es liegt dicht bei der Frontlinie, die Heckenschützen sind nicht fern, aber es ist größtenteils von Raketenbeschuss verschont geblieben. Hastig werden hölzerne Regale gezimmert. Die Wände gestrichen. Zwei, drei Sofas zusammengetragen. Draußen stapeln sie einige Sandsäcke vor die Fenster, ein Generator sorgt für Strom. Tagelang sind die Bücherschmuggler damit beschäftigt, die unzähligen papiernen Relikte zu entstauben, zu kleben, zu sortieren, zu erfassen und einzuräumen. Bis die Bände, nach Themen gruppiert und alphabetisch geordnet, erneut in makellosen Reihen in den zum Bersten vollen Regalen stehen.
Vor der Eröffnung blieb nur noch eines zu tun: Jedes Buch wurde sorgfältig nummeriert und auf der ersten Seite mit dem Namen seines Besitzers versehen.
»Wir sind keine Diebe und erst recht keine Plünderer. Diese Bücher gehören Einwohnern von Daraya. Manche von ihnen sind tot. Andere sind fortgegangen, und wieder andere wurden verhaftet. Wir wollen, dass jeder nach dem Krieg sein Eigentum wieder zurückholen kann«, betont Ahmad.
Bei diesen Worten ließ ich meinen Bleistift sinken. Beeindruckt von seinem Bürgersinn. Stumm angesichts eines solchen Respekts vor dem Mitmenschen. Vor ihren Mitmenschen. Tag und Nacht sind diese jungen Männer von Tod umgeben. Die meisten von ihnen haben alles verloren: ihr Zuhause, ihre Freunde, ihre Eltern. Inmitten des Chaos klammern sie sich an Bücher, wie man sich an das Leben klammern mag. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Getragen von ihrem Hunger nach Bildung, sind sie die stillen Urheber eines im Entstehen begriffenen demokratischen Ideals, das der Tyrannei des Regimes die Stirn bietet. Und sich gleichzeitig gegen die Brutalität der Kämpfer im Zeichen der schwarzen Flagge stemmt, die die antiken Schätze von Palmyra vernichteten und 2015 im Irak die Bibliothek von Mossul niederbrannten. Söldner des Friedens im Angesicht räuberischer Zerstörung.
Wieder unterbricht eine Explosion unser Gespräch. Ungerührt nimmt Ahmad seinen Bericht wieder auf. Er erzählt mir, dass am Tag der Eröffnung nur eine bescheidene Feier veranstaltet wurde. Es gab weder Obstsaft noch Girlanden. Nur ein paar Freunde, die sich zu diesem Anlass versammelt hatten. Und vor allem, ja, vor allem wieder dieses Kribbeln in der Brust wie beim allerersten Schlachtruf. Sehr schnell entwickelt sich die Bibliothek zu einem der wichtigsten Anlaufpunkte der eingeschlossenen Stadt. Täglich außer freitags, dem arbeitsfreien Tag, ist sie von neun bis siebzehn Uhr geöffnet und wird durchschnittlich von etwa fünfundzwanzig Nutzern pro Tag besucht. Hauptsächlich Männern. In Daraya sieht man kaum Frauen und Kinder, erklärt Ahmad. Aus Angst vor den Fassbomben, die vom Himmel regnen, verlassen sie nur selten das Haus. Meistens begnügen sie sich damit, zu Hause die Bücher zu lesen, die ihnen ihre Väter und Männer mitbringen.
»Letzten Monat wurden etwa sechshundert Bomben über der Stadt abgeworfen«, sagt er.
Sein Freund Abu el-Ezz, einer der Leiter der Bibliothek, bekam dies am eigenen Leib zu spüren. Im September 2015 war er gerade auf dem Weg zum Bücherkeller, als ihm eine aus einem Hubschrauber abgeworfene Fassbombe den Weg abschnitt. Diese mit TNT und kleinen Metallteilen gefüllten Behälter richten besonders großen Schaden an, weil sie nur über eine geringe Zielgenauigkeit verfügen. Abu el-Ezz wurde von Schrapnellsplittern am Hals getroffen, die sein Nervensystem verletzten. Seitdem leidet er unter krampfartigen stechenden Schmerzen bis tief hinunter in sein Kreuz und liegt in einer provisorischen Klinik, wo er sich nicht rühren darf. In Daraya ist ein Leben genauso anfällig wie ein Blatt Papier.
Erneutes Grollen. Das Geräusch der Explosionen. Als Ahmad wieder weiterspricht, erklärt er mir, dass er unsere Unterhaltung beenden muss. Wir wissen es noch nicht, aber wir werden noch viele solcher Gespräche führen. Und sehr viel längere. In diesem zerrissenen Syrien, in dem direkte Beziehungen durch virtuelle Kontakte abgelöst wurden, ist es völlig normal, ganze Abende im Internet zu verbringen und mit anderen zu reden. Ich jedoch kann es kaum erwarten, endlich diesen ungewöhnlichen Ort vor mir zu sehen. Die Farben der Wände. Die Gesichter der Leser. Und die Titel all dieser aus dem Chaos geretteten Bücher.
Ahmad hat mir ein Video geschickt, per WhatsApp, neben Skype und Facebook das bevorzugte Kommunikationsmittel der Syrer. Der kurze Film dauert zwei Minuten, ohne Kommentar oder Untertitel. Ich verschlinge diese neuen Bilder, die auf meinem Smartphone an mir vorüberziehen. Da sind sie ja, die jungen Männer aus Daraya. Da sind sie, in ihren Sweatshirts und Turnschuhen. Da sind sie, wie sie mit Bücherstapeln in den Armen im Zickzack durch die Trümmer laufen.
Im Hintergrund ein Bild des Jammers. Gebäude, von denen nur noch die Außenmauern stehen. Abgerissenes Blech. Halb eingestürzte Wände. Von Unkraut zurückeroberte Betonhügel. Und dieses Lächeln auf ihren Gesichtern, jedes Mal, wenn sie neue papierne Schätze ausgraben. Ein kleiner Sieg über die Zerstörung. Da sind sie schon wieder, jetzt stapeln sie die Bücher hinten in einen Lieferwagen. Und dann wechselt das Bild übergangslos ins Innere der Bibliothek. Die Kamera streicht über die nagelneuen Regale, liebkost die Kilometer gebundener Worte, die darin versammelt sind. In der Mitte des Raums sitzen ein paar Besucher an einem Tisch und lesen. Das Gesicht über dicke Bände gebeugt. Ein Notizheft griffbereit. Daraya wie ein offenes Buch.
Ich bin so fasziniert von den Bildern, dass ich die Musik, mit der sie unterlegt sind, beim ersten Mal gar nicht bemerke. Ich starte das Video neu, um auf jedes Detail zu achten. Und da höre ich plötzlich eine sanfte, wehmütige Melodie. Ein vertrautes Tempo. Ich spitze die Ohren, zögere. Eine Minute vergeht. Was ist das für ein geheimnisvolles Lied, das mir so bekannt vorkommt? Plötzlich erkenne ich Yann Tiersens Titelmusik aus Die fabelhafte Welt der Amélie. Der französische Kultfilm meiner Jugend, den wir alle wieder und wieder gesehen haben. In einer Nachricht gesteht mir Ahmad, dass er ein großer Fan von Audrey Tautou ist und den Film Dutzende Male angeschaut hat. In der ewigen Dunkelheit Darayas ist er so etwas wie sein Mantra.
So fern, einander so nah. Und zwischen uns der Krieg.
Istanbul, 20. Oktober 2015. Auf dem Computerbildschirm blinkt das Skype-Logo, es klingelt. Dann erscheint Ahmad. Er hat eine »gute Nachricht« für mich: Abu el-Ezz, der Leiter der Bibliothek von Daraya, ist bei ihm. Es geht ihm wieder besser. Nach wochenlanger Rekonvaleszenz hat er heute zum ersten Mal das Krankenhausbett verlassen. Unser virtuelles Treffen findet im Medienzentrum des Lokalrats statt, des offiziellen Verwaltungsgremiums der Opposition, nicht weit vom Bücherkeller entfernt. Dort ist die Internetverbindung stabiler. Das Stromaggregat weniger störanfällig. Aus Sicherheitsgründen möchte Abu el-Ezz nicht, dass sein Gesicht zu sehen ist. Ich lasse mich von seinen Worten leiten.
»Die Bücher sind unser Weg, die verlorene Zeit aufzuholen und die Unwissenheit für immer zu vertreiben«, erklärt er mit halblauter Stimme.
Auch Abu el-Ezz ist dreiundzwanzig. Genau wie Ahmad hat er sein Ingenieurstudium unterbrochen. Genau wie Ahmad war auch er früher kein großer Leser. Die Bücher, die uns an der Universität vorgegeben wurden, waren die reinsten Karikaturen, sagt er. So viel vergeudetes Papier, um die Erinnerung an Hafis al-Assad zu ehren, der 2000 gestorben war. So viele Zeilen, um dem Ego seines Sohns Baschar zu schmeicheln. Und im Gegenzug all die weißen Seiten, die bewusst unterdrückte Erinnerung an die Abwesenden: politische Gefangene, gefolterte Dissidenten, spurlos verschwundene Oppositionelle. All diese ungeschriebenen Geschichten, die verstümmelten Träume, die lebendig begrabenen Pamphlete, die unter dem Druck der Propaganda- und Tötungsmaschinerie verstummten Stimmen.