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Sie war noch ein Baby, als ihre Mutter Elise verschwand. Wohin und vor allem warum, weiß Rose nicht. Erst Jahre später, Rose ist selbst längst erwachsen, erfährt sie, dass Constance Holden, einst eine gefeierte Bestsellerautorin, die Letzte war, zu der die Mutter Kontakt hatte. Und mehr als das – Elise und Constance waren ein Liebespaar. Um endlich zu erfahren, was mit ihrer Mutter geschehen ist; macht sich Rose auf die Suche nach Constance …
Jessie Burtons fulminanter Roman erzählt von den Geheimnissen und Geschichten, die uns prägen, von Mutterschaft und Freundschaft und davon, sich selbst zu verlieren – und wiederzufinden.
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Seitenzahl: 584
Jessie Burton
Die Geheimnisse meiner Mutter
Roman
Aus dem Englischen von Peter Knecht
Insel
Für meine Freundinnen und Freunde
María Vargas (Ava Gardner): Das ist schwer zu glauben für jemanden, der in unserer Zeit lebt.
Harry Dawes (Humphrey Bogart): Wie kommen Sie darauf, dass wir in unserer Zeit leben?
Joseph Mankiewicz, Die barfüßige Gräfin, 1954
Man kann aus der fiktiven Welt in die Alltagswelt zurückkehren, aber etwas Fremdartiges bleibt nach dieser Rückkehr im Geist lebendig.
Pauli Pylkkö
An diesem Samstag, einem Nachmittag im Spätherbst in Hampstead Heath, hatte Elise eigentlich auf jemand anderen gewartet. Ihr Vermieter und Mitbewohner John hatte das arrangiert. Sie wusste nicht recht, warum sie sich darauf eingelassen hatte, hier einen wildfremden Mann zu treffen, aber sie folgte oft den Vorschlägen anderer Leute. Am Ende war der Typ nicht aufgetaucht, und als sie aus einer Lichtung in die letzten Sonnenstrahlen trat, sah Elise eine Frau da stehen, hinter ihr eine Reihe von Bäumen, zimtfarbene Blätter vor dem türkisblauen Himmel. Das Größenverhältnis zwischen den Bäumen und dem Körper der Frau war immens, aber durchaus korrekt. Sie wirkten wie ein kostbarer riesiger Kopfputz, so als wäre sie eine Gottheit oder eine Königin der Natur. Sie wandte sich über die Entfernung hinweg Elise zu und bedachte sie mit einem Lächeln, als wäre Elise ein Page ihres Hofstaats, ein Glückspilz, der bei seiner Herrin Gefallen gefunden hat.
Und wenn vielleicht doch ein Mann in den Park gekommen ist, um Elise zu treffen, verspätet, ein Mann mit Schal und Winterjacke, der durchs herbstliche Laub gehastet wäre? Elise sollte es nie erfahren. Sie erwiderte das Lächeln der Frau, die sich auf sie zu in Bewegung setzte – und der ursprüngliche Plan war gestorben. Elise wandte sich ab und ging los. Sie schaute einmal über die Schulter, und die Frau folgte ihr. Elise war es gewohnt, dass Leute ihr folgten. Mit zehn, als sie einmal eine Unterhaltung der Erwachsenen in der Küche belauschte, hatte sie die Freundin ihrer Mutter sagen hören: Die wird einmal eine große Herzensbrecherin!, und sie hatte das nie vergessen. Wenn man ein Kind ist, sagen die Leute einem, was man ist, wie man später sein wird, und oft bleibt einem das in Erinnerung. Sie war eine Schönheit geworden, man versicherte es ihr immer wieder. Sie sprach nie darüber oder machte ein Aufhebens darum, obwohl sie Angebote bekam, als Model zu arbeiten, und mit dreizehn, vierzehn auf der Straße angesprochen wurde und dergleichen. Sie ging nie darauf ein, aber es war nun einmal so. All den zudringlichen Blicken zum Trotz, die man ihr zuwarf, fühlte sie sich unsichtbar, bis Constance Holden sie in Hampstead Heath bei den zimtfarbenen Bäumen ansah.
Sie verließen den Park und näherten sich dem langen Gitterzaun, der einen Friedhof umschloss, und Elise fragte sich, was wohl passieren würde. Sie war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen. Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen, stand da wie der Ochs am Berg in dem Kinderspiel. Sie stellte sich vor, sie würde eine der Gitterstangen wie eine Speerwerferin bei Olympischen Spielen weit hinaus schleudern, die Spitze würde sich tief in ein Grab bohren und Knochen zerschmettern. Das würde dieser Frau zeigen, dass Elise stark war.
Sie drehte sich um, und die Frau war noch da, die Arme verschränkt, die Miene ein bisschen verlegen. Sie war ohne Zweifel älter als Elise, aber Elise war zwanzig, und die meisten Erwachsenen, mit denen sie zu tun hatte, waren älter als sie. Die Frau war wohl zwischen dreißig und vierzig. Elise musterte ihre Kleidung: ein Herrenhemd, ein langer Mantel, offen, sodass man die schmal geschnittenen schlichten Jeans sah, Budapester Halbschuhe. Offenbar ungeschminkt, eine kleine Silberkugel in jedem Ohrläppchen, eine zierliche Armbanduhr am schönen Handgelenk. Elise umfasste einen Gitterstab des Zauns und sprach die Frau an, denn sie fühlte sich sicher hier in der Öffentlichkeit. Die Frau konnte sie nicht belästigen oder sie mit einer Gitterstange aufspießen. Und außerdem war der Kurs, in dem Elise Modell sitzen sollte, ausgefallen, und sie hatte nichts zu tun.
»Eines Tages werde ich sterben. Und das war’s dann.« Elise streckte den Finger durchs Gitter. Sie machte keine Bemerkung dazu, dass die Frau ihr gefolgt war.
Die Frau schloss die überkreuzten Arme enger zusammen und lachte; sie wirkte selbstsicher, eine Füchsin, aufgerichtet auf den Hinterbeinen. Elise blickte über ihre linke Schulter hinüber zu den Grabsteinen, die wie Zahnstümpfe aus der Erde ragten. Es war die Ecke für arme Leute, abseits von den Gräbern aus geädertem Marmor, in denen tote Industriekapitäne lagen, Seite an Seite mit ihren Ehefrauen. Weiter hinten ragte der Ziegelkamin eines Krematoriums auf, der zum Glück gerade keinen Rauch ausstieß.
»Du wirst noch lange nicht sterben«, sagte die Frau, und ihre Stimme lief durch Elise wie Eisen.
Sie starrten einander an. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte Elise.
Sie fanden bald einen rund um die Uhr geöffneten schäbigen Imbiss, aber sie aßen nichts. Die Frau stellte sich als Connie vor. Elise sagte ihr, dass sie Elise Morceau hieß. Sie saßen einander gegenüber, tranken Tee und wärmten sich die Finger an dem billigen Porzellan der Becher. Die Frau sah Elise an, als wäre sie gar nicht wirklich. »Ich mache das normalerweise nicht«, sagte sie. »Und du?«
»Ist schon okay«, sagte Elise, und dann: »Was machst du normalerweise nicht?«
Connie blickte von ihrem Becher auf. »Das hier. Jemanden einfach so kennenlernen. Zusammen spazieren gehen.«
»Nein, eher nicht.« Elise schaute Connie an und konnte sehen, wie sie sich bemühte, eine Sehnsucht nach Antworten zu verbergen. »Ich mache das normalerweise auch nicht«, sagte sie, und Connie entspannte sich sichtlich.
Sie redeten ein bisschen darüber, wo sie wohnten – Connie nicht weit von hier, Elise in Brixton. »Wohnst du immer schon südlich der Themse?«, fragte Connie.
»Ja.«
»Bist du dort geboren?«
Elise sah sie an. »Ja.«
»Wie alt bist du?«
»Achtundzwanzig«, sagte Elise.
Connie runzelte die Stirn. »Das glaube ich dir nicht. Wie alt bist du?«
»Wie alt bist du?«
»Ich bin sechsunddreißig. Ich bin wirklich sechsunddreißig, und ich heiße wirklich Connie.«
»Ich bin zwanzig«, sagte Elise. »Und ich heiße Elise.«
»Arbeitest du in London?«
»Ich arbeite in einem Café in Pimlico. Es heißt Seedling. Und als Platzanweiserin im National Theatre. Und ich sitze Modell im RCA.«
»Eine bunte Mischung«, sagte Connie.
»Arbeitest du im Zentrum?«, fragte Elise, und Connies Körper straffte sich ein bisschen, als fühlte sie sich verspottet durch die sonderbare Frage.
»Ich arbeite zu Hause«, antwortete sie. »Ich bin Schriftstellerin.«
»Was schreibst du?«
»Geschichten.«
»Was für Geschichten?«
»Verdammt gute.« Connie lachte.
»Bist du sicher?«, fragte Elise.
»Manchmal.«
»Würde ich dich in einer Bibliothek finden?«
»Bestimmt. Und in Buchhandlungen.«
»Das ist ganz schön cool«, sagte Elise.
Connie starrte in ihren Teebecher. »Ja, vermutlich.« Sie blickte auf. »Darf ich dich zum Essen einladen?«
Am nächsten Freitag, einen Tag vor dem gemeinsamen Essen, ging Elise in die Bibliothek in Brixton und suchte den Buchstaben H in der Abteilung Romane. Da stand das Buch: Herz aus Wachs, erschienen im Jahr zuvor. Elise nahm es aus dem Regal, wobei ihr auffiel, dass schon eine Menge Leute es in der Hand gehalten haben mussten. Auf der Rückseite stand fett gedruckt: »Das Buch, über das alle sprechen.«
Als John am Abend von der Arbeit nach Hause kam, erzählte sie ihm, dass sie Constance Holden, die Autorin von Herz aus Wachs, kennengelernt hatte. Die genauen Umstände ihrer Begegnung frisierte sie ein bisschen, weil sie nicht wirken wollte wie eine, die sich in Parks auflesen lässt. Sie gab sich lieber als jemand, der Leute bei edlen Soireen kennenlernte, wo Schriftstellerinnen hingingen. John zeigte sich nur mäßig beeindruckt, da Constance Holden keine Romane über Raubüberfälle schrieb, Bücher mit geprägter Schrift auf dem Umschlag und der unvermeidlichen Silhouette eines Mannes, der aus einem brennenden Gebäude flüchtet. Er hatte auch in der Schule nichts von ihr gelesen. Er hatte noch nie von ihr gehört.
Am Abend las Elise den Roman. Er war heftig, schroff, leidenschaftlich und voller Sätze, die sie gerne unterstrichen hätte. Sie stellte fest, dass beim Lesen ihre Loyalität von der Frau auf den Mann überging. Arme Beatrice, diese gescheiterte Spinnerin, verheiratet mit einem Mann, der sie zum Narren hielt. Aber wie verführerisch, wie überzeugend Frederick sein konnte. Beatrice liebte einen Mann, der gefährlich für sie war. Gleichwohl liebte sie ihn, sie liebte ihn, liebte ihn. Würde sie heil davonkommen? Was würde aus ihrer Tochter Gaby werden? Das Buch war fesselnd, packend, brutal, eine Art Anti-Liebesgeschichte und dennoch voller Herz.
Elise dachte in dieser Nacht über die Liebe nach, das Buch mit dem schon etwas rissigen Rücken unter der Einbandfolie aufgeschlagen auf ihrer Brust. Liebe. Wie fühlte sie sich wohl an? Elise glaubte, sie habe sich ihr Leben lang vorsichtig um den Rand eines Vulkankraters herumbewegt, dessen Tiefe sie nicht ermessen konnte, der aber voll mit etwas Gewaltigem war, das sich ihr noch nie gezeigt hatte. Da unten im Dunkeln waren viele glückliche Seelen, aber auch viele Leichen.
Das Abendessen, ihr erstes Date, fand in einem Restaurant namens Mariposa in der Dean Street in Soho statt. Connie hatte es ausgesucht: schummrige Nischen, Messinglampen und mit rotem Samt bezogene Polster, dessen Farbton man fühlte, wenn man ihn auch nicht wirklich sehen konnte. Elise ging die Treppe hinab in einen Raum, der sich unter ihr auftat, voller Bewegung, Rauch, summenden Geräuschen. Frauen mit breitem Lidstrich in schicken Samtkleidern schmiegten sich an müde Jünglinge aus der City und Männer mit langem Haar unter schicken Hüten. Jeans, Leder, Nikotin, Geld – Elise konnte es auf der Zunge schmecken.
Connie war schon da und hatte eine Flasche Wein bestellt. Sie stand auf und trat aus dem Schatten, um ihren Gast zu begrüßen. Elise war überrascht davon, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte. Sie sah umwerfend aus: ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid, eine Goldkette, das rote Haar in perfekter Nonchalance zerzaust. Elise fühlte Neid in sich aufwallen: Sie wäre auch gern sechsunddreißig, besäße ein Haus, hätte Bücher wie Herz aus Wachs veröffentlicht, ginge in Lokale wie dieses in Soho, wo solche Leute aßen.
»Hallo«, sagte Connie.
»Hallo«, sagte Elise. Sie schaute an sich hinunter: schwarze Jeans, weißes T-Shirt. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich besser angezogen.«
»Du siehst wunderbar aus.« Connie streckte die Hand aus und berührte leicht Elises Schulter. Sie lächelten einander an.
»Ich komme direkt vom Café«, sagte Elise und nahm in der Nische Platz.
»Vom Seedling.«
»Ja.« Es freute Elise, dass Connie sich an den Namen erinnerte.
Connie schenkte Elise ungefragt ein Glas Wein ein. »Und wenn du im Theater arbeitest, bist du dann auch bei den Vorstellungen dabei?«
»Ja, immer.«
»Langweilst du dich manchmal?«
»Die ganze Zeit.« Connie lachte. Der Kellner erschien, ein junger Mann mit schlanker Taille und dunklem Augen-Make-up. Elise bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Connie entschied sich für pot-au-feu mit Gemüse. Elise überflog kurz die Speisekarte und wählte dann das Steak. »Prost.« Connie hob ihr Glas. »Auf das Kellnern, das Platzanweisen und das Modellsitzen.« Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Gibt es noch andere Sachen, die du gern ausprobieren würdest?«
»Andere Sachen?«
»Andere Jobs, andere Länder.«
»Ich weiß nicht«, sagte Elise.
»Was meinen deine Eltern?«
»Ich weiß nicht.« Elise starrte, als wollte sie Connie herausfordern, weiterzufragen, aber diese tat es nicht. »Ich habe Ideen für Stücke«, sagte Elise.
»Stücke?«
»Ja, ich würde gern ein Theaterstück schreiben.«
»Dann solltest du das tun.«
Elise war nicht sicher, ob es wirklich stimmte, dass sie ein Stück schreiben wollte, aber sie dachte, es klinge eindrucksvoll. Was stimmte, war, dass sie immer im Dunkeln eines der drei Säle des National Theatre saß und zusah, wie die Bühnenbilder wechselten, die Augen nach oben, von wo die Kulissen herunterkamen und leere Räume in viktorianische Wohnzimmer verwandelten, in postapokalyptische Schauplätze griechischer Tragödien, in ländliche englische Idyllen, in Japan, Manhattan, Indien. Manchmal versuchte sie, eine Szene zu schreiben, aber der Sinn verlor sich, am Ende war die Aufgabe zu groß für sie, und sie gab sich mit bloßen Plänen zufrieden. Sie konnte die Welt nicht zu Papier bringen. Die Wirbel in ihrem Inneren, ihre Bewegung, ihr abstraktes Wesen ergaben einen perfekten Sinn. Sie dachte, eines Tages würde er nach außen dringen. Aber, dachte sie, es war noch nicht so weit. »Es gefällt mir, Modell zu sitzen«, sagte sie.
»Warum?«, fragte Connie.
Wenn Elise sich auszog und vor diese Kunststudentinnen und -studenten trat, war ihr ganzer Körper gefordert, alles war willig und bereit, sich anzupassen, ihre Lippen, Hände, Brüste, ihr Hals, die Innenseiten ihrer Beine. Sie saß stundenlang still, lauschte dem leisen Kratzen der Stifte auf dickem Papier und wanderte durch die Kammern ihres Geistes. Sie war so gut darin, still zu sitzen, dass sie immer wieder engagiert wurde. Und manchmal, wenn alle gegangen waren, wartete sie eine Weile auf der Toilette und schlich sich dann wieder ins Atelier zu den Staffeleien mit den Zeichnungen, die an diesem Tag entstanden waren. Sie war auf der Jagd nach sich selbst, obwohl sie diejenige war, die als Vorlage gedient hatte. Sie streifte durch den Papierwald ihrer eigenen Glieder, ihres Gesichts, ihres Geschlechts, ihrer Kniescheiben, um die Person zu finden, die sie so festgehalten hatte, wie sie wirklich war. Niemand hatte es je geschafft, der Schatz war immer noch unentdeckt.
Sie erzählte Connie nichts von alledem. »Weil es so friedvoll ist.«
»Aber du verharrst immer in ein und derselben Pose?«
»Ja.«
»Stundenlang?« Elise zuckte die Achseln, und Connie grinste. »Es gefällt dir, angeschaut zu werden«, sagte Connie.
»Ist das etwas Schlechtes?«
»Nein. Es ist nur ungewöhnlich, dass jemand es zugibt.« Connie lächelte. »Willst du nicht herkommen?«
Elise war einen Moment lang verwirrt. »Wohin?«
»Hierher«, sagte Connie und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz direkt neben sich. Elise gehorchte, und dann spürte sie Connies kühle Finger auf beiden Seiten ihres Gesichts. Sie drückten fest auf die Haut, als wollten sie Elise ummodeln. »Ich könnte dieses Gesicht rahmen«, sagte Connie.
Von dem Wein hatte Elise das Gefühl, dass sie die Kontrolle verlor. »Das wird dich etwas kosten«, sagte sie. Sie schloss die Augen und fragte sich, ob die andere wohl verstand, dass es ein Scherz war.
Connie fasste Elises Gesicht zart mit den Händen ein. Sie beugte sich vor. Ihr Atem war angenehm und heiß. Elise konnte die Rundung ihres zierlichen Mundes sehen, ihre aufmerksamen Augen im Kerzenlicht. »Wie viel?«, fragte Connie.
»Fünfzig Pfund pro Kuss.«
Connie lachte. »Ich sagte rahmen, nicht küssen.«
Ihre Hände sanken herab, und Elise fühlte sich ertappt. Sie nahm Connies Hände, die in ihrem Schoß lagen, und führte sie wieder an ihr Gesicht. »Ich habe dein Buch gelesen«, sagte sie. »Ich habe Herz aus Wachs gelesen.«
»Oh?«
»Du bist sehr gut.« Sie hielt Connies Hände fest, und Connie lachte.
Als Elise erwachte, stellte sie fest, dass sie in einem fremden Bett lag. Sie hob die Bettdecke: Sie trug noch ihre Unterhose und ihr T-Shirt, aber keine Hose. Wann hatte sie sie ausgezogen? Sie lag auf dem Fußboden wie der mit Kreide gezeichnete Umriss eines Mordopfers. Ihre Stiefel lagen, die Sohlen einander zugekehrt, auf den Seiten, offenbar nachlässig abgestreift, doch sie konnte sich nicht daran erinnern. Wo war sie? Es war schummrig, aber sie konnte eine grün gestreifte Tapete ausmachen, einen kleinen Kleiderschrank, einen Papierkorb, alles sehr ordentlich. Eine große flauschige Schildpattkatze mit weißem Brustlatz und weißen Pfoten saß mitten im Zimmer und beobachtete sie.
»Ich hoffe, Ripley stört dich nicht«, sagte eine Stimme an der Tür.
Elise drehte sich um. »Ripley?«, fragte sie.
»Der Kater. Bleib liegen, ganz ruhig.« Connie kam näher mit einem Glas Wasser und zwei Aspirin, die sie auf das Nachttischchen neben Elises Kopf legte.
»Danke«, murmelte Elise.
Connie zog die Vorhänge auf. Elise stöhnte, als das schwache Novemberlicht ihr in die Augen fiel. »Entschuldigung«, sagte Connie, aber sie ließ die Vorhänge offen.
»Was ist passiert?« Elises Stimme klang heiser. Connie antwortete nicht sofort. Sie blickte hinaus in den Garten. »Connie?«
»Was ist wann passiert?«
»Letzte Nacht.«
»Weißt du es nicht mehr?«
»Ja. Nein.«
Connie setzte sich unten aufs Bett und sah Elise an. »Wir waren essen. Wir haben zu viel getrunken, sind hierhergekommen, und du bist auf dem Sofa eingeschlafen.«
»Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen?«
»Ja. Und ich habe dich dann hier raufgetragen.«
»Du hast mich getragen?«
Sie sahen einander an. Connie lächelte.
»Tut mir leid«, sagte Elise. »Ich hätte nach Hause gehen sollen.«
Connie streckte die Hand aus und fühlte Elises Stirn. »Das hätte ich nie zugelassen. Nicht in deinem Zustand. Hast du halbwegs gut geschlafen?«
»Wie spät ist es?«
Connie schaute auf ihre Uhr. »Zwanzig nach elf.«
Elise schloss die Augen. Es war elf Uhr zwanzig, und sie lag hier im Bett. Irgendetwas stimmte nicht. »Oh, Scheiße! Ich muss heute arbeiten.«
»Unsinn. Am Sonntag muss doch niemand arbeiten.«
»Ich schon. Im Café.«
»Was ist, wenn ich dir die fünfzig Pfund zahle?«
»Was für fünfzig Pfund?«
»Ach, du warst betrunken. Vergiss es.«
Elise hatte ein ungutes Gefühl.
»Lass das Café sausen«, sagte Connie.
Du hast leicht reden, dachte Elise. »Ich muss hin«, sagte sie. Sie richtete sich auf, mühsam wie eine gebrechliche alte Frau.
»Elise, Liebe, leg dich hin.«
»Connie –«
»Du bist nicht in der Verfassung, irgendetwas zu tun. Leg dich einfach hin.«
Elise gehorchte. Sie fühlte sich, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich werde dich hypnotisieren, nicht arbeiten zu gehen«, sagte Connie.
Elise presste ganz fest die Augenlider zusammen. »Ist das ein Witz?«
»Ja. Ich habe es im Hypnotisieren nie zu einem Diplom gebracht.«
Elise wollte eigentlich Widerstand leisten, aber sie lachte nur. Connie sah sie freundlich an. »Soll ich dir ein Sandwich mit gebratenem Speck machen?«, fragte sie.
»Ja. Bitte«, flüsterte Elise.
Sie sah zu, wie Connie verschwand, und hörte sie dann am Telefon sprechen. Wenig später zog der Geruch von Speck aus dem Erdgeschoss herauf, durch den Gang, unter der Tür durch in Elises Nase. Sie schloss die Augen und wünschte sich einen neuen Körper. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad.
Connie kam wieder mit dem Sandwich und zwei Bechern Tee auf einem Tablett. »Hier«, sagte sie, »ich habe mein Bestes gegeben.«
Elise hatte es geschafft, sich aufzusetzen. »Danke«, sagte sie. »Wie lang braucht man von hier nach Pimlico?«
»Mach dir darum keinen Kopf«, sagte Connie. »Ich habe dort angerufen.«
»Du hast was?«
»In diesem Seedling – was für ein Name! Ich hab gesagt, ich bin deine Mitbewohnerin und du hast einen Virus.«
»Das haben sie dir geglaubt?«
»Natürlich.«
»War Gabe am Apparat?«
»Es war ein Mann. Ich weiß nicht, wie er hieß, aber er wünscht dir gute Besserung. Ich sagte, es würde ein paar Tage dauern und der Doktor meinte, du musst dich schonen.«
Elise starrte auf ihr Sandwich. Es war ein seltsames Gefühl, jemanden zu haben, der ihr Leben in die Hand nahm. »Prima. Danke.«
Connie nippte an ihrem Tee. Elise sah, dass auf dem Becher I ♥Birdworld stand. »Hätte ich das besser nicht tun sollen?«, fragte Connie. »Manchmal bin ich vielleicht etwas übergriffig –«
»Nein, schon okay. Es wäre mir praktisch unmöglich gewesen, zu arbeiten. Ich – ich hätte nur nie erwartet, dass du dort anrufst.«
»Dann hab ich dir also einen Gefallen getan.«
Elise fragte sich, ob sie den Job wohl noch hatte. Und ob es sie überhaupt interessierte. Sie streckte die Hand nach Connies Becher aus und streifte dabei ihre Finger. »Warst du wirklich in Birdworld?«, fragte sie.
»Mit einer Freundin und ihrem Sohn. Eigentlich nur dem Jungen zuliebe, aber am Ende hat es mir wirklich Spaß gemacht. Flamingos, Pinguine, Meisen. Alle möglichen Vögel.«
»Ich versuche, mir dich in Birdworld vorzustellen.«
»Es war genau das Richtige für mich.«
»Du bist viel zu elegant dafür.«
»Niemand ist eleganter als ein Flamingo, Elise.«
Sie lachten. Es war ein Flirt, das war Elise klar, ein verkaterter Flirt, aufgedreht und voll innerer Unruhe. Welcher Schritt kam als Nächstes, was war zu tun? War in der Nacht etwas passiert? Es fühlte sich nicht so an. »Möchtest du ein Bad nehmen?«, fragte Connie, als hätte sie es erraten.
»Gerne.« Die Antwort kam so prompt, dass beide lachen mussten. »Ich fühle mich einfach schrecklich«, sagte sie. »Es tut mir wirklich leid.«
»Ach was, du siehst prima aus.«
»Du lügst. Meine Haut!«
»Du bist schön. Kein Grund zur Sorge. Ich lass dir Wasser ein.«
Connie ließ Elise allein mit dem Sandwich. Johns Wohnung hatte kein Bad, und die Haustür von Connies Wohnung schien so weit weg. Das fettige Brot war reinstes Manna und gab Elise wieder das Gefühl, etwas Fleisch auf den Knochen zu haben, aber sie wusste, dass der Tag sich in einer Weise entwickelte, die außerhalb ihrer Kontrolle lag.
Plötzlich dachte sie: Connie wird mich gefangenhalten. Die Paranoia ihres verkaterten Zustands förderte ihren heimlichen Wunsch, von aller Selbstverantwortung losgesprochen zu werden, ein kleines Mädchen in der Obhut dieser tüchtigen, klugen Person zu sein, die sich von dummen Misslichkeiten wie einem Brummschädel nicht davon abhalten ließ, sich für jemand anderen auszugeben und Elise krankzumelden, dafür zu sorgen, dass sie es an einem kalten Novembertag angenehm warm hatte, ihr ein Bad einlaufen zu lassen, ihr ein frisches, sauberes Bett zu geben.
Als das Bad bereit war, stieg Elise in die Wanne: Sie hätte weinen können, so köstlich rein fühlte sich das heiße Wasser an.
»Ich gehe in den Park, meinen Kopf durchlüften«, rief Connie.
Elise fand es erstaunlich, dass Connie so vertrauensselig war, sie in ihrem Haus allein zu lassen. Ich könnte eine Diebin sein, dachte sie. Ich könnte mich hier eingeschlichen haben, um mir ein paar Klunker und ihre Handtasche unter den Nagel zu reißen. Aber andererseits – schau mich doch an: Ich bringe ja nicht mal einen zusammenhängenden Satz zustande.
Sie stellte sich Connie als Hexe vor, die in den Wald ging, um noch mehr Gretels mit Pfefferkuchen und Süßigkeiten anzulocken und mit nach Hause zu schleppen. Aber nach einer Stunde war Connie wieder da mit roten Wangen, die Sonntagszeitung unter dem Arm, und sagte: »Wenn es eine Sorte Menschen gibt, die ich gerne massakriert sehen möchte, dann die, die ihre Hunde überallhin scheißen und die Haufen liegen lässt.«
Connie hatte etwas Sprudelndes an diesem Tag – sie war sanfter, offener als in dem Restaurant in Soho und sehr freundlich zu Elise. Sie saß mit ihr auf dem Sofa im Wohnzimmer, und als es langsam dunkel wurde, blieb Elise da. Sie sahen sich eine Episode von We, the Accused auf BBC2 an, weil Connie den 1935 erschienenen Roman mochte und sehen wollte, was sie daraus gemacht hatten. Elise lag, ihren Kopf in Connies Schoß, da und schlief schließlich ein, während Connies Finger ihre Schläfen mit einer Zärtlichkeit streichelten, die sie in ihrem erwachsenen Leben bislang nicht gekannt hatte.
Ich war vierzehn, als ich meine Mutter umbrachte. Bis dahin hatte ich sie immer in den Kulissen versteckt gehalten, wo sie interessantere Dinge trieb als alle anderen Mütter und nur darauf wartete, auf mein Stichwort hin in mein Leben zu treten. Aber sie war nie bereit, sie kam niemals hervor. Als ich zehn, elf war, erzählte ich den anderen Kindern in meiner Klasse, dass sie mit einem russischen Zirkus auf Reisen war und in einem Zelt aus Yakfellen wohnte. Ich schrieb mir selbst in verfälschter Handschrift Karten mit Ansichten von Gebirgslandschaften und nahm sie mit in die Schule. »Seht ihr? Sie ist dort. Hab ich doch gesagt!«
»Da sind ja keine Briefmarken drauf«, sagte ein Mitschüler namens Hamilton Tanner. Ich hasste ihn.
»Da war ein Umschlag drum«, sagte ich. »Den hat mein Papa weggeworfen.«
Ich war immer darauf vorbereitet, die nächste Schicht dessen, was ich mir zusammendichtete, freizulegen und mich noch tiefer einzugraben. Von Kindheit an spielte ich jede nur erdenkliche Phantasie durch, aber meine Mutter war eine Geschichte, die sämtliche Antworten schuldig blieb. Meinem Vater zufolge verschwand sie, als ich ein Jahr alt war, doch ich begann ihre Abwesenheit erst so richtig schmerzhaft zu spüren, als ich in die Schule kam. Es war die Zeit, wo alle anderen Mütter sich am Tor versammelten, miteinander schwatzten, die Arme verschränkt, und sich hin und her wiegten, während ihre Kinder an den Säumen ihrer Anoraks zupften. Bei Geburtstagspartys sorgten dieselben Mütter für angenehme Nachmittage mit Spielen, Spaß und gutem Essen, wobei sie immer darauf achteten, dass ich besonders viel Aufmerksamkeit bekam, was mich bei den anderen Kindern höchst unbeliebt machte. Es war nett, so bemuttert zu werden, aber ich fragte mich die ganze Zeit: Was macht sie? Warum macht sie es nicht mit mir? Wo ist sie gerade?
Ich liebte Geschichten von Babys, die aus Pflanzen zur Welt kamen oder sich von Tieren in Menschen verwandelten. Ich zerbrach mir den Kopf über griechische Mythen – wie konnte ein Kind aus einem Lichtstrahl oder Blitz oder von einem Schwan geboren werden? Ich fühlte mich diesen Babys verwandt, diesen andersartigen Menschen, eine gewagte Verwandtschaft, sollte ich hinzufügen, denn in Wahrheit war ich einfach ein ganz normales menschliches Wesen. Ovid würde nie über mich schreiben. Ich war keine Göttin. Aber woher war ich gekommen, aus wessen Körper? Wessen Herz hatte für meinen Vater geschlagen?
Ich fand keine Antworten und fing an, meine Mutter, die ich nie gesehen hatte, zu benutzen, um mich zu einem mehr geheimnisvollen und ungewöhnlichen als bemitleidenswerten Wesen zu machen. Ich versuchte es auf die wirr dramatische Art, auf die romantische, mit wilden Hypothesen. Ich scheute keine Mühe. Ich erinnere mich an die Geschichte von der russischen Akrobatin, an eine von der Kriminellen auf der Flucht (sie hatte ein unschätzbar wertvolles Diamantenhalsband gestohlen, aber nicht mit Absicht) und an die, in der sie Kapitänin auf einem Handelsschiff war, das die Gewässer um die Bahamas befuhr. Aber Kinder sind argwöhnisch, sie lieben Ordnung und Normalität. Meine Klassenkameraden fanden mich unheimlich, leichtfertig. Was für ein Geschöpf war ich, dass meine Mutter sich nicht einmal in meiner Nähe blicken ließ – wenn es auch für sie als Diamantendiebin nicht ganz einfach gewesen wäre? Als wir in der Schule alte Mythen und Märchen lasen, sagte Hamilton Tanner, der mich ebenso verabscheute wie ich ihn, zu mir: »Deine Mama hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Er hat sie in ein wildes Tier verwandelt.«
Ich wusste über sie nur das, was mein Papa mir erzählt hatte: dass sie Elise Morceau hieß und dass sie mich bekam, als sie noch jung war und er und sie in New York lebten. Und dass sie uns vor vierunddreißig Jahren, noch vor meinem ersten Geburtstag, verließ. Es gab keine Fotos, auf denen wir zusammen zu sehen waren; mein Vater hatte keine. Nichts, was von ihr Zeugnis gab, sei es auf Papier, sei es in Gestalt von Dingen, die sie besessen und zurückgelassen hätte. Meines Wissens hatte mein Vater es nie geschafft, nach ihrer Flucht ihre Spur aufzunehmen – entweder hatte er nicht die Absicht, ihr nachzujagen, oder sie hatte es ihm verboten, er sagte es mir nicht. Ich wartete immer auf geeignete Momente, ihm Fragen nach ihr zu stellen – sie ergaben sich nur selten –, und manchmal gab er dann doch spärliche Informationen preis. Sie hatte kurze Beine. (Kurze Beine! Sagt das etwas über eine Persönlichkeit aus oder über die Fähigkeit eines Menschen, sich schnell aus dem Staub zu machen?) Sie hatte dieselbe Haarfarbe wie du. (Das gefiel mir.) Sie war schwierig. Sie war positiv. Einmal, als er zu viel getrunken hatte: Es hätte nicht funktioniert. Sie war launisch.
Papa behauptete immer, er erinnere sich nicht mehr so genau oder es sei zu lange her – und es sind doch in der Zeit so viele andere Dinge passiert, Rosie, und es geht dir doch gut, oder nicht? So erfuhr ich nie, wie er Elise kennengelernt hatte und warum er und nicht sie das Sorgerecht für mich erhalten hatte. Ich wusste, dass der Aufenthalt in New York relativ kurz gewesen war, weil er mit mir vor meinem ersten Geburtstag nach England zurückgegangen war. Er wollte mich beschützen, vermutete ich, und machte es sich zur Aufgabe, mir Vater und Mutter zugleich zu sein. Ich sollte, sagte er mir, an mich und mein Leben denken und nicht an das, was vorher gewesen war. Er war immer liebevoll, er wollte mich schonen. Aber für mein Gefühl hat sein Schweigen mehr Schaden angerichtet als irgendetwas sonst.
Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen, sagte meine Oma Cherry, seine Mutter, bevor sie starb. Ich dachte immer, es ist schwerer, nicht darüber zu sprechen, aber offenbar bestand in diesem Punkt Einvernehmen zwischen ihnen, und ich wurde in die Gründe dafür nicht eingeweiht. Oma Cherry war, was Elise betrifft, genauso verschlossen wie mein Vater, als würde sie einen Fluch entfesseln, wenn sie über sie redete.
Als ich meine Oma fragte, ob sie Elise je begegnet war, sagte sie nein. »Sie war eine durchtriebene Person«, sagte sie, was ich unfair fand: Wie kann man so etwas über jemanden sagen, dem man nie begegnet ist? Aber wie hätte meine Oma Elise für etwas anderes als eine durchtriebene Person halten können, eine Frau, die diesen Verschwinde-Trick beherrschte, in eine Kiste zu steigen und sich zersägen zu lassen?
Also brachte ich sie schließlich selbst um. Die phantastischen Abenteuergeschichten, die ich von ihr erzählte, wurden mir ebenso peinlich wie meinen Mitschülern. Mit vierzehn brauchte ich keine Hamilton Tanners mehr, die mir sagten, was mit meiner Mutter passiert war. Sie hatte sich nicht beim Sturz von einem russischen Trapez den Hals gebrochen, sie schmachtete nicht in einem Gefängnis für Smaragddiebe dahin und hatte auch nicht ihr Schiff vor den Bahamas auf eine Klippe gesetzt. Sie war kein Ungeheuer. Sie war einfach … tot. Und mein Vater war damit ganz einverstanden, ja, er schien sogar der Meinung zu sein, es sei besser, so zu tun, als hätte es sie nie gegeben, als wäre sie nur ein Märchen, das man hinter sich lässt, wenn man erwachsen wird. Nach diesem Muster hatte er sich verhalten, als ich noch ganz klein war, und als ich größer wurde, war es, als wüsste er einfach nicht, wie der Bann zu brechen war. Da er die Muttersprache nie gelernt hatte, konnte er sie mir nicht beibringen. Es war eindeutig besser, wenn sie tot war.
Aber als junge Frau lernte ich Leute kennen, die wirkliche Eltern hatten – Menschen, mit denen sie ihr Leben lang gelebt hatten – und deren Eltern wirklich gestorben waren. Ich musste miterleben, wie sie völlig vernichtet waren, es nicht fassen konnten, wie sie litten, als könnte der Schmerz niemals aufhören. Ich nahm an der Bestattung der Mutter einer Freundin teil und sah zu, wie der Sarg hinter einem Vorhang verschwand, und das Gesicht meiner Freundin war vor Gram bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Der Verlust meiner Mutter war sehr wohl schmerzhaft für mich, aber es war eine andere Art von Schmerz. Meine Trauer war ein verschlossener Kasten, ein Haus, zu dem ich keinen Schlüssel hatte, ein Ort auf einer Karte, den ich nicht benennen konnte. Eines Tages würde mir vielleicht alles offenbart werden, und die schreckliche Erkenntnis würde mit überwältigender Macht über mich hereinbrechen, aber ich sprach nie mit jemandem über diese Furcht. Ich hatte keine Mutter und hatte nie eine gehabt: Wie hätte ich etwas vermissen können, das ich nie wirklich verloren hatte?
Ich spreche nie über die Sehnsucht. Über die Fragen, die mich bewegen. Ich sage: Man kann nicht vermissen, was man nie hatte!
Es gab Zeiten, in denen ich nicht an sie dachte. Es gab andere Phasen meines Lebens, in denen ich ihre Abwesenheit intensiv empfand. Sobald ich Internet hatte, nutzte ich seine Schleppnetze, um nach ihr zu fischen – aber ich konnte nie eine Elise Morceau finden in den langen Nächten, in denen ich, allein mit einer Flasche Wein, all die Kaninchenbaue des Internets und die Seiten mit Familienstammbäumen absuchte. Ich gelangte zu der Vermutung, dass Morceau nicht ihr wirklicher Familienname war. Das französische Wort morceau bedeutet Bissen oder Stückchen, und ich glaubte, dass irgendein Scherz von ihr dahintersteckte. Es war alles vergebliche Liebesmüh, es kam nie etwas bei diesen Recherchen heraus.
Ich glaube nicht, dass sie meinem Vater alle Teile ihres Puzzles gegeben hat – welche Geliebte, welcher Liebhaber tut das schon? Aber sie hat vielleicht sogar noch weniger preisgegeben. Einen geborgten Namen aus einer Liste von Figuren. Sie gab meinem Vater nur ganz kleine Bröckchen, er reichte sie an mich weiter, und es sah so aus, als könnte ich überhaupt nichts damit anfangen.
Mein Freund Joe und ich verbrachten die letzte Woche des Sommers 2017 bei meinem Vater in Frankreich. Papa hatte kurz zuvor eine Prostatakrebserkrankung überstanden und seine Sterblichkeit geschmeckt. Er und seine Frau Claire waren in die Bretagne gezogen, wo Claire herstammte, in ein Häuschen, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Zu der Zeit hielten wir Kontakt durch WhatsApp, sahen einander aber nur sporadisch, weswegen und auch wegen seiner Genesung dieser Besuch bei ihm ein besonderes Gewicht bekam. Joe fand, dass ich und mein Vater an »emotionaler Verstopfung« litten – allerdings kam Joe selbst aus einer Familie, angesichts deren man leicht das Gefühl haben konnte, man befinde sich in einer Amateuraufführung von Die Katze auf dem heißen Blechdach.
Mein Vater liebte das Meer. Er war immer gern in der Nähe von Wasser gewesen, und am Ende genügte ihm die Themse einfach nicht mehr. Joe und ich hatten den größten Teil unserer Ersparnisse in Joes neues Unternehmen gesteckt, einen Burrito-Imbiss – für den er den Namen Joerritos vorgesehen hatte –, darum sagten wir Joes Vorbehalten zum Trotz zu, als Papa und Claire uns anboten, bei ihnen Urlaub zu machen, im Gästezimmer ihres Häuschens. Kurzfristig betrachtet war es ein Fehler, aber auf lange Sicht nicht. Wir waren auf engem Raum zusammengepfercht und starrten durch die Fenster auf bleiernen Himmel. Das Meer war dunkel mit grauen Bändern, ich sehnte mich nach Sonne und goldenem Strand. Und von Anfang an war Papa in sonderbarer Stimmung, wechselnd zwischen gesprächig und bedrückt. Es machte mich ganz krank, wenn ich daran dachte, dass der Krebs vielleicht zurückgekehrt war. »Geht es ihm gut?«, fragte ich Claire am ersten Morgen, als er mit Joe zum Markt gegangen war, um Brot zu kaufen.
Claire – sie wirkte klein in der dunklen bretonischen Küche – schob ihre Zweistärkenbrille hoch und rieb sich die Augen. »Mit Matt ist alles in Ordnung – wenn du den Krebs meinst. Aber ich glaube, er macht sich Sorgen um dich«, sagte sie.
»Um mich? Wieso?«
»Das musst du ihn selbst fragen.« Claire seufzte. »Ich glaube, er ist ein bisschen depressiv.« Sie schloss die Augen. »Das passiert alten Männern manchmal.«
»Und wir sind extra den ganzen Weg hierhergekommen!« So wie ich es sagte, klang es, als wären wir sechs Monate mit einer Kamelkarawane in eine entlegene Wüstenregion gereist und nicht eine relativ kurze Strecke mit dem Auto und der Fähre.
»Ich weiß«, antwortete Claire gelassen. »Rede einfach mit ihm, Rose. Er wird sich sicher freuen, wenn du es versuchst.«
Papa hat Glück gehabt mit Claire. Was sie betrifft, so weiß ich nicht, ob sie sich besonders glücklich schätzt, aber ich bin jedenfalls froh, dass es sie gibt. Sie haben einander mit Mitte fünfzig bei einem Sommerfest kennengelernt und geheiratet, als ich sechsundzwanzig war. Natürlich finde ich es, wenn ich an den Familiennamen meiner Mutter denke, bemerkenswert, dass Papa bei einer Französin gelandet ist, aber das behalte ich für mich. Claire ist alles andere als eine böse Stiefmutter. Sie versteht Papa, und sie liebt ihn offensichtlich, aber immer nach Maßgabe ihrer Bedingungen. Ich glaube, das kommt daher, dass sie schon einmal verheiratet war. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt und, so nehme ich an, beim zweiten Mal einen anderen Typ Mann gewählt. Sie weiß sich gegen ihn zu behaupten, in ihrer gelassenen Art, immer mit Blick auf ihre gemeinsame Zukunft, und vertritt ihren Standpunkt ebenso eindeutig wie liebenswürdig. Ich bewundere sie dafür. Papa braucht das. Mir ist klar geworden, dass er es braucht, genau zu wissen, wo er steht.
Ich habe mich oft gefragt, was von seiner Vergangenheit er Claire erzählt hat, darüber, was für ein Mann er war, bevor er mein Vater wurde. Sie hat nie versucht, von mir etwas darüber zu erfahren. In ihrem Gästezimmer steht auf der Kommode ein gerahmtes Bild von Papa und mir. Ich muss etwa zwei gewesen sein damals, meine Haare sind mit einer bunten Schleife zu einem kleinen Knoten gebunden. Den einen Fuß etwas schief gestellt, stehe ich Hand in Hand mit ihm in einer Umgebung, die aussieht wie ein Streichelzoo. Er war damals muskulös. Sein Haar ist dunkel, er steht breitbeinig da. Natürlich habe ich überlegt, wer das Bild wohl gemacht hat. Sicher habe ich gefragt, solange ich es noch nicht besser wusste. Niemand hat es gemacht. Wir haben uns selbst geknipst.
»Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte ich Papa an diesem Nachmittag.
Er nickte, wie es seine Art war, und warf einen Blick durchs Fenster zum Wasser hinaus. »Am Strand?«, fragte er, als ob wir auch irgendwoandershin hätten gehen können.
Wir gingen hinab zu dem Kiesstrand unterhalb des Hauses, vorbei an toten Krabben, bückten uns gelegentlich nach einer Scheidenmuschel oder einer ausgebleichten Austernschale, Überbleibseln von Meerestieren, die an Land nicht überleben konnten. Über uns kreisten kreischende Möwen. Ich dachte: Claire hat sich getäuscht. Jetzt wird er mir eröffnen, dass der Krebs wieder da ist, endgültig.
Er blickte hinaus auf den unendlichen Atlantik. Ich sah sein Profil, die mageren Kanten seines Gesichts, die große Nase, die Wangenknochen, scharf wie der Schulp eines Tintenfischs, die struppigen grauen Haare. Er war vierundsechzig und ich vierunddreißig. Es hatte immer nur uns beide gegeben. Ich wusste, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, dass ich in einem Café arbeitete, auch wenn es ein nettes Lokal war. Es hieß Clean Bean und war immer gut besucht. Wie oft hatte ich ihn schon den Ausdruck »hochintelligent« gebrauchen hören, wenn er über mich redete. Sicher, ich war vermutlich nicht unintelligent und hätte mehr daraus machen sollen, auch wenn ich nicht hätte sagen können, was »mehr« genau bedeutete. Sogar Kelly, meine beste Freundin, hatte mittlerweile angefangen, in dieselbe Kerbe zu hauen. Sie gab mir zu verstehen, dass ich viel zu gut für das Clean Bean war. Du kannst alles werden, Rosie! Du bist so was von schlau. Du musst nur an dich glauben. Bitte.
Papa konnte offenbar nicht verstehen, wie die Dinge gelaufen waren, obwohl er die ganze Zeit alles aus nächster Nähe hatte beobachten können. Ich hatte es aufgegeben, mich zu verteidigen, aber ich verteidigte weiter Joe. Wir würden Joerritos zu einem Erfolg machen. Wir redeten nicht mit Papa über das Projekt. Es war zu brisant.
»Rosie«, sagte er, »ich könnte – weißt du, ich könnte dir Geld geben. Nicht viel, aber ein bisschen was. Gibt es nichts, was du gerne machen würdest? Eine Sprache lernen? Einen Beruf?«
»Papa.«
Er hob die Hände. »Entschuldige. Entschuldige.« Er schwieg eine Weile, bevor er fortfuhr. »Und du hast ja schon ein Diplom.«
»Ja, habe ich.« Wir hatten diese Diskussion im Lauf von zehn Jahren immer wieder geführt. Zehn Jahre können schnell vorbeigehen, wenn man nicht hinschaut. Nach einem Studienabschluss in Englisch hatte ich als junge Frau bei ganz anständigen, interessanten Unternehmen gearbeitet, aber ich hatte mich nie bemüht, weiterzukommen. Ich war im Wesentlichen damit beschäftigt, anderer Leute Pläne umzusetzen und auszuführen und ihre Karrieren voranzubringen. Als Joe vor zwei Jahren das Burrito-Projekt in Angriff genommen hatte, entschloss ich mich, meinen Job zu kündigen und gemeinsam mit ihm ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Ich dachte mir: Schließlich kann ich gut kochen. Und mir graute bei der Vorstellung, den Rest meines Arbeitslebens eine bloße Befehlsempfängerin zu bleiben.
»Bist du glücklich?«, fragte Papa unvermittelt.
Ich sah ihn alarmiert an. Nein, wollte ich eigentlich sagen. Und als ich das Wort im Geist hörte, spürte ich, dass das nicht die Antwort war, die eine Frau meines Alters und bei guter Gesundheit geben sollte. Im Puls meines Blutes, im Hinunterstürzen eines Glases Wasser, im Blick eines Fremden konnte ich Glück sehen. Ich habe durchaus Momente des Glücks erfahren – aber mir ist, als könnte ich das Glück anderer Leute weit stärker empfinden als mein eigenes. Ich hätte nicht sagen können, was mich glücklich macht, aber ich war es müde, ständig zu versuchen, mich zu verbessern. Unter den vielen beschissenen Versionen meiner selbst die beste zu finden. Joe wälzte sich morgens einfach aus dem Bett und war Joe, aber ich konnte meinem mangelhaften Ich und den potentiellen Ichs in mir nicht entkommen. Das Internet sagte mir täglich, dass es viele Wege zum Glück gebe: gute Yogaleggins, Duftkerzen, Pflanzen, die man Sukkulenten nennt. Aber das Internet sandte noch eine zweite Botschaft, einen unterbewussten Pfeil, der gleichwohl ins Fleisch dringt: Mit fünfunddreißig sollte man sein Leben auf die Reihe gebracht haben.
Ich fühlte einen leichten Schwächeanfall. »Ich bin im Moment ein bisschen gestresst, glaube ich.«
»Ich habe mich auf dem Markt mit Joe unterhalten«, fuhr Papa fort. »Er sagte, ihr beide denkt daran, eine Familie zu gründen.«
Ich sah ihn ungläubig an. »Das hat Joe gesagt?«
»Nur so nebenbei. Nur auf längere Sicht.«
»Aha.«
»Was, finde ich, ein ganz normaler Gedanke ist für eine Frau in deinem Alter.«
»Jepp«, sagte ich kurz angebunden.
»Du könntest dadurch zu dir selbst finden «, sagte er.
»Was?«
»Du könntest dadurch –«
»Ich hab es schon gehört.«
Mein Vater wirkte gequält. »So hab ich es nicht gemeint, Rosie. Ich sage doch nur, ein Baby wäre keine schlechte Sache.«
»Kommt darauf an, wer die Mutter ist.«
»Bei Kelly hat es funktioniert, oder nicht?«, sagte er. Ich kenne Kelly seit meinem ersten Tag in der weiterführenden Schule, und Papa kennt sie auch, denn wir waren von Anfang an unzertrennlich; ich ging bei ihr und sie bei uns ein und aus. Jetzt hatte sie eine vierjährige Tochter, Mol, und war jetzt, wie sie mir kürzlich – hörbar etwas schockiert – mitgeteilt hatte, zum zweiten Mal schwanger. Sie war nicht die Einzige – fast alle meine Freundinnen von der Schule oder der Uni, mit denen ich noch Kontakt hatte, bekamen Kinder, heirateten, kauften Häuser. Ich schwieg.
Papa räusperte sich. »Als ich dachte, ich würde – du weißt schon – sterben, wünschte ich mir nur noch eines: die Gewissheit, dass du ein gutes Leben haben wirst, wenn ich nicht mehr bin.«
»Aber du bist nicht gestorben. Ich kann also beruhigt weiter ein beschissenes Leben haben.«
»Nein, Rosie, im Ernst: Ich weiß, du hattest es nicht immer leicht. Was ich sagen möchte, ist – dass du eine großartige Mutter wärst.«
Einen Moment lang konnte ich nicht sprechen. »Papa«, sagte ich heiser, »nicht!«
Er verstummte, und wir schwiegen eine Weile. Ich drehte einen Kiesel in der Hand. »Wie kannst du sagen, ich würde dadurch zu mir selbst finden?«, fragte ich. »Was habe ich denn die letzten drei Jahrzehnte gemacht?«
»So hab ich es nicht gemeint.«
»Irgendwie schon. Auch wenn du es nicht zugibst.«
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe es total verbockt, oder?«
Es war später Nachmittag, und über dem Meer kam Wind auf, der kleine Wellen mit weißen Schaumkronen entstehen ließ. Ich dachte an London, daran, was dort war und was fehlte. »Nein, Papa«, sagte ich, »schon in Ordnung.«
Am letzten Tag, etwa eine Stunde bevor Joe und ich nach London zurückfahren wollten, saßen Papa und ich am Küchentisch und warteten darauf, dass der Kaffee fertig wurde. Joe schlief noch, und Claire war joggen gegangen. Ich hatte schlecht geschlafen, mich von schweren Gedanken bedrückt unruhig im Bett gewälzt. Das machte die frische Luft, sagte ich mir. Die Leute sagen immer, sie schlafen besser, wenn sie aus der Stadt rauskommen, aber ich fand die reine Luft und das ständige Rauschen des Wassers fast verstörend, weil ich meine Denkgewohnheiten nicht so verbergen konnte wie im abstumpfenden Chaos der Londoner Abgase und zuckenden Lichter. Mein wahres Ich blieb in London unter der Decke, verborgen im Gewimmel von Millionen. Hier am Meer fühlte ich mich nackt.
Papas Gesicht war blass und angespannt. Er presste die Lippen zusammen, als bemühte er sich, möglichst nicht zu atmen. Er griff unter die Bank, auf der er saß, zog zwei Bücher hervor und legte sie auf den verschrammten Tisch, den Claire vor Jahren auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Die Bücher lagen zwischen uns, zwei ganz unspektakulär aussehende Paperbacks.
»Hast du die gelesen?«, fragte er. »Im Studium vielleicht?«
»Was?«
Er schob sie mir hin, und ich nahm sie zögernd in die Hand. Das eine hieß Herz aus Wachs, das andere Grünes Kaninchen. Die Umschläge waren etwas altmodisch, aber originell, einfache Schriften, kombiniert mit raffinierten Bildern. Das Umschlagbild von Herz aus Wachs war ein altertümlicher Holzschnitt: ein großes Herz mit zwölf Unterteilungen wie ein Tierkreis, aber statt der üblichen Zeichen – Steinbock, Krebs, Stier etc. – waren Symbole zu sehen, die scheinbar für traditionelle weibliche Beschäftigungen standen: ein Kochtopf, Nadel und Faden, ein Wollknäuel, eine gepresste Blume, alles ganz in schwarz gehalten wie eine elisabethanische Graphik. Das Cover von Grünes Kaninchen wirkte lebhafter: der meisterhaft in einer einzigen grünen Linie schwungvoll gezeichnete Umriss eines Kaninchens – beim zweiten Blick allerdings stellte man fest, dass es genauso gut auch die Silhouette einer Frau sein konnte. Die Autorin beider Bücher war eine Constance Holden.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe mich vor allem für viktorianische Literatur interessiert.«
»Sie ist wirklich gut. War gut.«
»Ist sie tot?«
»Ich weiß es nicht. Du hast sie wirklich nie gelesen?«
»Nein, Papa«, sagte ich leicht gereizt. »Worauf willst du hinaus?«
»Du solltest sie lesen. Sie waren sehr erfolgreich damals, als sie herauskamen.«
Im Stillen fragte ich mich, ob das erste Anzeichen von Senilität waren. Willkürliche Themensprünge im Gespräch, unvermitteltes Hervorkramen von Dingen aus der Vergangenheit, Schöpfen aus dem Brunnen des eigenen Lebens, um festzustellen, dass niemand auch nur einen Blick in den Eimer werfen will.
»Die Umschläge sind schön«, sagte ich und blätterte in Grünes Kaninchen. Die Blätter waren an den Rändern leicht vergilbt, die Schrift klein und altmodisch. »Aber warum interessierst du dich dafür?«
Er antwortete nicht. »Oder willst du die Bücher bloß loswerden? Du hast sie nicht gelesen, oder?«
»Deine Mutter –« Er brach ab. Er holte tief Luft.
Ich war jetzt hellwach, meine Finger klammerten sich fest um das Buch. »Was? Was ist mit meiner Mutter?«
Die Luft zwischen uns war zum Schneiden dick. Papa deutete auf den Namen, der auf dem Buchdeckel stand. »Deine Mutter kannte Constance Holden«, sagte er.
»Ich verstehe nicht, Papa.«
Er schaute mich nicht an, sondern blickte durchs Fenster aufs Meer. »Ich hätte es dir schon vor Jahren sagen sollen.«
Ich spürte, wie mein Herz pochte. »Was? Was hättest du mir schon vor Jahren sagen sollen?«
Er sah mich an. »Bevor ich deine Mutter kennenlernte«, sagte er, die Finger krampfhaft zu einer Faust geballt, »waren sie und Constance – zusammen.«
Ich starrte ihn an. »Meine Mutter?« Ich legte die flache Hand auf Herz aus Wachs. »Sie war mit dieser Frau zusammen?«
»Ja.«
»Meine Mutter war lesbisch?«
»Ich weiß es nicht, Rosie. Vielleicht. Eine Zeitlang waren sie unzertrennlich. Ich meine – du bist ja unser gemeinsames Kind, und darum … ich kenne mich da nicht so genau aus.«
»Sie war bisexuell?«
»Ja, wahrscheinlich nennt man das so.« Mein Papa wirkte, als wollte er sich zu einer Kugel zusammenrollen und immer so bleiben.
Ich atmete tief durch und hielt das Buch fest wie einen Talisman. »Wow.«
»Ich brauche frische Luft«, sagte er. »Trinken wir den Kaffee draußen.«
So saßen wir dann wieder Seite an Seite auf dem Kies. Ich hatte das Buch nicht losgelassen, es lag auf meinem Schoß. Die Flut schwappte vor uns über den Strand, eine Krabbe, die Scheren aufgereckt, lief mit maschinenartigen Bewegungen am Saum des Wassers entlang. Ich sah zum eintönig verschleierten Himmel hinauf. Mein Herz pochte, aber ich wollte unbedingt mehr erfahren. »Warum erzählst du mir das alles erst jetzt?«, fragte ich. Mein Vater antwortete nicht, starrte nur hinaus zu der dünnen grauen Linie des Horizonts. »Papa? Du bist doch nicht … krank, oder?«
»Nein, nein, mir geht es gut. Es ist nur – ich weiß nicht. Es geht mir immer im Kopf herum. Du. Deine Mutter.«
Er machte ein Geräusch, als bekümmerte ihn die Formkrise von Arsenal, aber ich wusste, in den seltenen Momenten, in denen er derart mitteilsam war, musste man ihm Zeit lassen. »Es war dieses Gespräch mit Joe«, sagte er. »Weißt du, ich dachte einfach, es ist nicht richtig, dass du überhaupt nichts über sie weißt, wo du doch jetzt daran denkst, selber Mutter zu werden.«
Ohne Vorwarnung schossen mir Tränen in die Augen. Manchmal überfiel mich der Gedanke, wie sehr er sich bemüht hatte, wie schlecht gerüstet er gewesen war und wie er doch alles für mich getan hatte. Wie viel ich ihm bedeutete, wie tief verbunden mit ihm ich mich manchmal fühlte. Ich wischte mir stumm die Augen.
»Du hast mich immer wieder gefragt, Rosie. Du warst zornig auf mich.«
»Ich weiß. Ich –«
»Und das mit Recht. Und ich sagte dir nie viel, denn die Wahrheit ist – ich weiß einfach nicht, was aus ihr geworden ist.«
Ich sah ihm in die Augen. »Ist das wirklich wahr, Papa?«
Er schluckte, seine Hand krampfte sich um die kleine Blechtasse. »Ja. Sie ist spurlos verschwunden. Das ist die Wahrheit.«
»Sie hat sich ganz plötzlich in Luft aufgelöst?«
Er warf mir einen strengen Blick zu. »An einem Tag war sie da, Rose, und am nächsten Tag weg. Ich habe nach ihr gesucht. Nicht meinetwegen, sondern deinetwegen. Meinst du denn, ich konnte verstehen, was passiert war?«
»Du konntest es eher verstehen als ich.«
Er seufzte. »Deine Mutter, sie – wir waren da nicht mehr zusammen. Sie ging und nahm dich mit. Und Connie – Constance – war dort.«
»In New York?«
»Ja.« Er seufzte. »Aber deine Mutter wohnte bei einer Freundin namens Yolanda.«
»Yolanda? Und was war mit dieser Constance?«
Papa fuchtelte ungeduldig. »Das kommt schon noch, hör einfach zu. Deine Mutter und Yolanda arbeiteten beide in einem Lokal in Manhattan. Yolanda wusste genauso wenig wie ich, was passiert war. Nachdem deine Mutter verschwunden war, rief Yolanda mich an, und ich kam und holte dich ab. Ich hatte endgültig genug.«
Ich hatte von alldem bis dahin nichts gewusst, ich musste das erst einmal verdauen. Eine Zeitlang starrte ich aufs Meer hinaus. »Wie gründlich hast du nach ihr gesucht?«, fragte ich leise.
Er sah mich zornig an. »Monatelang. Ich bin sogar von der Polizei zum Verhör einbestellt worden.« Er schwieg eine Weile. »Aber deine Mutter wollte nicht gefunden werden. Sie war einfach weg.« Er starrte wieder aufs Wasser. »Was ich sagen will, Rose, ist: Wenn du wissen willst, was mit ihr passiert ist – wenn es das ist, was du wirklich willst –, dann hilft es dir nicht weiter, mit mir zu reden. Ich kann dir keine Auskunft geben. Die einzige Person, die möglicherweise etwas weiß, ist Connie.«
»Wieso nennst du sie Connie? Wie gut hast du sie gekannt?«
»Gut genug«, sagte er grimmig. »Aber wir waren nicht die besten Freunde.«
»Wieso nicht?«
Mittlerweile wirkte mein Vater, als wünschte er, das Meer möge ihn verschlingen. »Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Wir alle machen Fehler. Es war – eine sehr schwierige Zeit. Ich wollte immer nur dein Bestes, Rose.«
»Wenn dir wirklich etwas an mir gelegen hätte, dann hättest du mir das schon vor Jahren erzählt.« Ich spürte wieder Tränen aufsteigen und sprang auf. Das Buch fiel auf den Kies. Ich versetzte ihm einen Tritt, Papa stürzte ihm nach, um es zu retten. »Du hättest mich nicht blöde Lügengeschichten über sie erfinden lassen«, sagte ich. »Wie konntest du mir das vorenthalten? So etwas muss ich doch wissen!«
Papa rappelte sich auf und versuchte seine Arme um mich zu legen, aber ich stieß ihn weg und taumelte vorwärts bis ans Wasser. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte einfach, es würde niemandem nutzen. Es war so ein Fiasko! Wir waren wieder in England, deine Mutter war Gott weiß wo. Ich wollte nur, dass die Dinge endlich wieder ins Lot kommen.«
Schüchtern ging er ein paar Schritte auf mich zu, und ich wich nicht zurück. »Wenn du trotzdem noch etwas über deine Mutter erfahren willst –«, sagte er sanft.
»Das will ich, ja, allerdings.«
»Ich weiß. Constance Holden war dort, unmittelbar bevor deine Mutter verschwand. Sie war die Letzte, die sie gesehen hat.« Das Gesicht meines Vaters war ganz bleich. »Alles, was ich weiß, ist, dass Connie in Yolandas Wohnung zu Elise kam und dass niemand von uns deine Mutter jemals wiedergesehen hat. Ich weiß nicht, wo Connie ist, Rose. Alles, was ich aus jener Zeit noch habe, sind diese blöden Bücher.«
»Ich möchte sie haben.«
»Klar. Darum habe ich sie aus dem Karton herausgekramt. Aber eins noch, Rosie: Du musst damit rechnen, dass Connie nicht mit dir sprechen will.«
»Warum nicht?«
Papa seufzte wieder und kniff wie immer, wenn er bekümmert war, seinen Nasenrücken. »Es war keine glückliche Zeit. Wenn du sie wirklich ausfindig machen kannst, musst du behutsam vorgehen.«
»Warum?«
Er sah elend aus. »Deine Mutter war – leicht zu beeinflussen. Du bist stark.«
»Ich bin nicht stark.«
»Du bist stärker, als du glaubst.« Er wandte sich ab zum Wasser. »Manchmal sagen und tun wir Dinge, ohne auch nur einen Moment lang zu überlegen, was für Folgen sie haben können.«
»Ich kann nur einfach nicht fassen, dass du nie etwas von alledem erwähnt hast.«
»Ich habe es in Erwägung gezogen, glaub mir. Aber was hättest du schon tun können? Ich hätte dir etwas aufgeladen zu einer Zeit, als du noch zu jung warst, um etwas zu unternehmen oder die Sache aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen.«
»Papa, ich bin vierunddreißig.«
»Es wäre nicht fair gewesen. Es wäre eine zu große Belastung gewesen.«
»Glaubst du denn, es ist so, wie es war all die Jahre lang, keine Belastung gewesen?«
»Vielleicht war es auch jetzt noch unfair, es dir zu sagen. Nicht mal ich selber kenne alle Facetten, Rosie, und ich war dabei. Aber ich habe dir gesagt, was ich weiß. Connie hatte viel Charme, und deine Mutter war ihr geradezu hörig.« Er drückte mir das Buch in die Hand, wandte sich ab und ging zum Haus, nachdem er die übrigen Restchen Kaffee aus den Blechtassen geschüttet hatte.
»Was zum Teufel soll ich tun, Papa?«, sagte ich.
Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Wenn du Antworten willst, musst du Constance Holden finden. Ich weiß nicht mehr als das, was ich dir gesagt habe.«
Sechsundzwanzig der Hauptwerke von Frida Kahlo waren aus Mexiko über den Atlantik gebracht worden, um in der Whitechapel Gallery ausgestellt zu werden; man hatte zur Bedingung gemacht, dass sie entweder alle oder gar keines auf die Reise geschickt würden. Connie und Elise gingen durch die Räume und blickten auf die kleinen, lebhaft farbigen Bilder. Blättergewirr, Babys, Blut und Schönheit, ein Gebetbuch von einer neuen Art, die Seiten zerrissen und an die Wand gehängt. Buchmalerei einer Frau, die mit geschlossenem Mund stumme Gebete schreit, eine Poesie, die in der Kirche nicht gelehrt wurde. Und immer dieser Blick: abgehobene, wissende Selbstbeobachtung, die doch das Gegenüber mit einschließt.
Elektrisiert von diesen Gemälden, betrachtete Elise Connies schönen Hals, die herabhängenden Strähnen, die sich ihrem nachlässigen Versuch, ihr Haar zu zähmen, widersetzten. Ihr fuchsrotes Haar, die Sommersprossen auf dem Schlüsselbein, die im Ausschnitt ihres Hemds sichtbar wurden. Ihre Finger, die dieses Schlüsselbein berührten, dann auf dieses oder jenes Gemälde zeigten, ständig in Bewegung, so schlank und weiß wie die einer Jungfrau auf einem mittelalterlichen Wandteppich. Ihr Parfüm, das nach Zitrus und Holzkohle duftete. Ihr kleines Kinn, das sich zu einem herzförmigen Gesicht mit grau-grünen Augen und zierlichen Brauen wie Taubenflügel hin öffnete. Sie war so hellhäutig rot und englisch, verglichen mit dem mexikanischen Rätselwesen, vor dem sie stand: Frida und Constance hätten Geschöpfe von zwei unterschiedlichen Planeten sein können, und doch flößten sie Elise ähnliche Gefühle ein. Zweieinhalb Jahre waren sie jetzt zusammen, und Elise spürte, dass sie Connie mittlerweile so sehr liebte, dass sie nicht mehr lang in dieser Welt bleiben könnte, wenn Connie vor ihr stürbe. Ihr Körper würde sich aufgeben bei dem Gedanken, dass der von Con bei den Göttern war.
Elise hatte das nie zuvor erlebt: Geist und Fleisch waren eins. Ihr Vater wusste noch nicht, dass sie eine Frau liebte; er sollte es nie erfahren. Sie war mit sechzehn aus seinem Haus ausgezogen, da war ihre Mutter schon lange tot. Jetzt hatte Elise das schönste Kapitel im Buch ihres Lebens aufgeschlagen – vielleicht das einzige schöne Kapitel, das ihr je vergönnt sein würde.
Connie hatte Elise sechs Monate nach jenem verkaterten Morgen in Hampstead vorgeschlagen, bei ihr einzuziehen, und Elise hatte mit nicht mehr als zwei Reisetaschen in Johns Wohnung auf dem Fußboden gesessen und hatte mit aufgeregtem Herzklopfen auf das Motorgeräusch des kleinen Citroën gewartet. Es ist richtig, sagte sie sich, als sie die Treppe hinunterging, die Taschen zu beiden Seiten so schwer wie die Eimer eines Milchmädchens. Sie hatte eine Monatsmiete in einem Umschlag auf dem Küchentisch hinterlassen, Geld, das ihr Connie gegeben hatte. Es fühlt sich richtig an.
Die Fahrt von Brixton nach Hampstead dauerte lang. Elise bewunderte Connie dafür, wie gekonnt sie schaltete und ohne zu zögern einfach durchfuhr, wenn eine Ampel auf Gelb sprang. »Diese Stadt ist großartig«, sagte sie. »Kannst du dir vorstellen, wie es im Krieg war, als die Stadt andauernd bombardiert wurde? Oder beim Großen Brand von London?«
»Da sind alle diese großkotzigen Banker heutzutage dann doch noch das kleinere Übel.« Connie lachte, nahm die Hand vom Steuer und legte sie auf die von Elise. Sie hatte trockene, kräftige Finger. Und sie war so eine sichere Fahrerin! Wenn sie an Kreuzungen warten mussten, hielten sie einander an den Händen, bis die Ampel grün wurde und Connie ihre Hand losließ, um weiterzusausen, die Euston Road entlang, vorbei an St Pancras und den Frauen, die am York Way an der Straße standen, dann weiter nach Norden, nach Hampstead.
Nachdem sie sich die Ausstellung angesehen hatten, standen Elise und Connie vor dem Gebäude und sahen dem Verkehr auf der Straße zu. Schweigend gingen sie zur Whitechapel Station, ohne einander an den Händen zu halten. »Sie hat wirklich den ganzen Gamut durchgemacht«, sagte Connie nach einer Weile, als spräche sie von einer Freundin. Es war April und windig, Connies rote Haare flogen nach allen Richtungen.
»Gamut?«, fragte Elise. Sie hatte keine Ahnung, was der Gamut war. Das Wort klang vage jiddisch. Sie war immer noch aufgewühlt von der Intimität der Bilder. Sie wünschte sich, sie könnte wie Kahlo sein, jedes kaputte Detail ihres Wesens kennen und akzeptieren. Sie sah Connie an. Sie hätte sie gern berührt, aber man wusste nie, wer gerade zuschaute. Bald würde sich ihr gemeinsames Leben ändern. Herz aus Wachs sollte in Hollywood unter dem Titel Herzland verfilmt werden. Sie würden nach Los Angeles reisen, um bei den Dreharbeiten dabei zu sein. Elise überkam plötzlich der Drang, sich hinzuknien und das Pflaster vom East End unter ihren Händen zu spüren. Das hier war ihre Stadt, oder nicht?
»Na ja, weißt du«, sagte Connie, »erst hatte sie als Kind diese Krankheit. Dann der Unfall, die Operationen. Sie hat sich so sehr Kinder gewünscht. Die Fehlgeburten. Diese Ehe.«
Elise zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Sie ist nur siebenundvierzig geworden«, sagte Connie. »Es ist tragisch, wenn man so jung sterben muss.«
»Nicht immer«, erwiderte Elise. »Und siebenundvierzig ist ja nicht jung.«
Etwas irritiert redete Connie weiter: »Ich kann gar nicht so genau sagen, warum ich sie so bedauere.«
»Ich für meinen Teil bedauere Frida Kahlo nicht«, sagte Elise. »Ich glaube nicht, dass sie dein Mitleid gewollt hätte. Sie war eine zornige Frau – schau dir doch nur diese Bilder an. Sie war entschlossen, den Leuten zu zeigen, was sie zeigen wollte.«
Connie lachte. Elise hasste es, wenn ihre Freundin so reagierte: Es war, als schüttete sie Wasser über eine brennende Kerze. Sie konnte nichts für ihre starken Gefühle. Kunst war nicht Wahrheit, sie war eine Lüge, die die Wahrheit zum Ausdruck bringen sollte. Das sagte der Zeichenlehrer an der RCA immer, wo sie Modell saß. Und die Wahrheit war nicht dasselbe wie eine Tatsache. Es kam dabei auf den Blickwinkel an, auf den Standpunkt und darauf, welche Ansicht man brauchte. Kunst war immer auf der Jagd nach etwas, woran man sich festhalten konnte.