Die geheimnisvolle Miss Serena - Carolyn Miller - E-Book

Die geheimnisvolle Miss Serena E-Book

Carolyn Miller

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Beschreibung

London 1817: Serena hat eine große Leidenschaft: die Kunst. Doch als ihr Kunstlehrer sie belästigt, ist sie außerstande, weiterhin zu malen. Sie verlässt London, um Zeit mit ihrer Schwester auf dem Land zu verbringen, wo sie Henry, den Erben des Grafen von Bevington, kennenlernt. Die beiden entwickeln schnell eine tiefe Verbindung zueinander. Doch beide tragen ein Geheimnis in sich, das ihnen im Weg steht ... Sollte es für sie dennoch eine Chance geben, ihre große Liebe zu verwirklichen?

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicherBücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7596-8 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6173-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2023SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title:Miss Serena’s Secret© 2018 by Carolyn MillerOriginally published in the USA by Kregel Publications, Grand Rapids, Michigan.Translated and printed by permission. All rights reserved.

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002, 2006, 2017SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.Im Epilog wurde verwendet:Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in derSCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Übersetzung: Susanne NaumannLektorat: Johanna Horle-HerdtfelderUmschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.comTitelbild: Shelley Richmond / Trevillion ImagesSatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Für meine Töchter Caitlin und AsherLasst die Flamme der Kreativität niemals in euch erlöschenund vergesst nicht,dass Gott etwas ganz Besonderes mit euch vorhat.Ich liebe euch!

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Stammbaum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Nachwort der Autorin

Dank

Leseempfehlungen

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Über die Autorin

CAROLYN MILLER lebt in New South Wales in Australien. Sie ist verheiratet, hat vier Kinder und liebt es, zu lesen und Bücher zu schreiben. Ihre Romane handeln von Vergebung, Liebe und anderen Herausforderungen. Carolyns Lieblingsautorin ist natürlich Jane Austen.

www.carolynmillerauthor.com

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Über das Buch

Liebe ist größer als Geheimnisse

London 1817. Die junge Miss Serena hat eine große Leidenschaft: die Kunst. Doch als ihr Kunstlehrer sie belästigt, ist sie außerstande, weiterhin zu malen. Sie verlässt London, um Zeit mit ihrer Schwester auf dem Land zu verbringen, wo sie Henry, den Erben des Grafen von Bevington, kennenlernt. Die beiden entwickeln schnell eine tiefe Verbindung zueinander. Aber ein Geheimnis steht ihnen im Weg … Sollte es für sie dennoch eine Chance geben, ihre große Liebe zu gewinnen?

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Stammbaum

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Kapitel 1

Bath, SomersetJuni 1817

Die warme Sommersonne tauchte die Szene vor ihren Augen in helles Licht. Auf dem goldgelben Eichentisch stand eine niedrige blaue Vase mit einem Strauß aus rosafarbenen Rosen und einigen grünen Farnwedeln. Die Anspannung, die Miss Serena Winthrop unaufhörlich begleitete, ließ beim Anblick des Buketts ein wenig nach – gerade so, als wäre es zu diesem Zweck zusammengestellt worden. Vielleicht würde sich diese Unterrichtsstunde ja nicht ganz so unbehaglich gestalten wie die letzte.

Serena stippte den Pinsel in den Porzellanbecher mit Wasser und tupfte ihn auf dem dicken Löschpergament ab. Dann lehnte sie sich zurück. Legte den Kopf schräg. Zog die Nase kraus. Nein. Das ganz spezielle Blau der Vase machte ihr noch immer Probleme. Ägyptischblau? Nein. Preußischblau? Definitiv nicht. Vielleicht eher …

Dann trat ein Lächeln auf ihre Lippen, sie strich mit dem Pinsel über den Pigmentblock und gab ein paar Tropfen Wasser auf die Mischpalette. Jetzt ergaben die ineinanderfließenden Farben genau den leicht glasigen blauen Schimmer der Vase. Sie beugte sich vor und trug das Ergebnis in sparsamen Bewegungen auf. So. Perfekt!

»Ah, Miss Serena.«

Sofort spannten sich ihre Schultern an.

»Ich glaube, Sie halten den Pinsel nicht ganz korrekt. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Oh, hallo, Miss Hatherleigh.« Die Stimme wurde ausdruckslos. »Sie sind ja auch da.«

Serena blickte flüchtig zu der ehrenwerten Caroline Hatherleigh hinüber, der Tochter des Vicomtes Aynsley. Ihr hübsches, wenn auch etwas langweiliges Gesicht hatte, während sie ihren Kunstlehrer mit offener Bewunderung anstarrte, auf geradezu wundersame Weise den Ausdruck eines Kalbs angenommen. Dabei schien sie überhaupt nicht zu bemerken, dass er ihr keinerlei Beachtung schenkte.

Stattdessen trat Mr Goode näher zu ihr. Serenas Magen verkrampfte sich. Der Kunstunterricht, ihr Lieblingsfach in Miss Haverstocks Bildungsinternat für junge Damen, war stets ihre Zuflucht vor den bösartigen Gerüchten in der Außenwelt gewesen. Wenn sie zeichnete und noch mehr, wenn sie malte, schien sie eine andere Welt zu betreten, einen Ort der Freiheit und der Möglichkeiten, der ihr zugleich die Kontrolle, die Selbstbestimmtheit ließ. Das kreative Tun entfachte etwas in ihr, etwas so zutiefst Erfüllendes, dass sie stundenlang malen konnte, ohne zu merken, dass sie eine Unterrichtsstunde in Etikette, eine Mahlzeit oder ein Treffen mit einer Freundin versäumt hatte.

Ursprünglich hatte es Serenas Begeisterung für das Malen eher beflügelt, dass man einen so gut aussehenden Kunstlehrer eingestellt hatte, zumal er sie stets in den höchsten Tönen gelobt und sich einmal sogar Miss Haverstock gegenüber zu der Behauptung verstiegen hatte, Serena sei ein angehendes Genie. Das hatte ihr durchaus gefallen und die Bitte der Schulleiterin, ein Aquarell anzufertigen, das einen Platz in der Eingangshalle der Schule erhalten sollte, hatte ihr nicht wenig geschmeichelt. Natürlich hatte sie den Wunsch der Direktorin nur zu gern erfüllt. Bald wurde ihre Freude jedoch etwas gedämpft angesichts des Neids ihrer Mitschülerinnen. Doch sie hatte sich bemüht, das zu verdrängen und sich auf die neue Herausforderung zu konzentrieren. Ein Porträt. Das Porträt des Kunstlehrers.

So war sie eines Tages damit beschäftigt, seine genaue Augenfarbe herauszufinden – ein Haselnussbraun, das einen Hauch von Ockergelb, gemischt mit Van-Dyck-Braun erforderte, und musste zu diesem Zweck immer wieder zu ihm aufblicken. Ihr war schon mehrmals aufgefallen, dass er ihr bereitwilliger half als den anderen Mädchen, deshalb hatte sie es immer vermieden, ihn länger anzusehen, um nicht unnötig seine Aufmerksamkeit zu auf sich zu ziehen. Doch er hatte ein durchaus interessantes Gesicht, mit einem Lächeln, von dem die anderen Mädchen sagten, es bereite ihnen Herzklopfen – deshalb hatte sie seine Züge genau studiert in dem Versuch, sein Wesen zu erfassen. Leider hatte sie dabei nicht bemerkt, was sie tatsächlich erfasst hatte. Nicht bis zu dem Tag, an dem ihr Blick zu lange andauerte.

Irgendwann während dieser offenbar zu langen Beobachtung hatte sein Gesichtsausdruck sich verändert. Aus dem etwas zu gutaussehenden Kunstlehrer war ein Mann geworden, dessen Augen und Lippen ein Interesse an ihr verrieten, das tiefer ging als das ihrer anderen Lehrer. Wobei ihre anderen Lehrer zugegebenermaßen alle weiblichen Geschlechts und mindestens hundert Jahre älter waren als sie. Doch sie hatte diesen Blick schon früher gesehen. Ihr wurde übel.

»Serena«, säuselte seine Stimme ihr jetzt ins Ohr, während seine Hand die ihre streichelte. Sie zog sie erschrocken zurück. »Aber, aber. Sie brauchen doch keine Angst vor mir zu haben. Ich will doch nur, dass Sie den Pinsel« – er kippte den Fehhaarpinsel, den sie in der Hand hielt, ganz leicht und streichelte dabei ihre Finger, sodass sie eine Gänsehaut bekam – »so halten.«

»Sir, ich …«

»Ja, ich weiß, es ist nicht ganz einfach, sich an eine neue Technik zu gewöhnen.« Er trat noch näher an sie heran. Sein Arm lag jetzt parallel zu ihrem, sodass sie durch den leichten Musselin ihres Kleides seinen warmen Körper spürte. »Aber Sie haben so viel Talent. Und Sie könnten noch besser sein, wenn Sie meiner Führung vertrauen.«

Eher würde sie einem Frettchen ein Vogeljunges anvertrauen. Sie wandte den Kopf ab, doch jetzt trat er hinter sie und sie sah nur noch den Ärmel seiner dunklen Jacke. Er dachte gar nicht daran, ihre Hand loszulassen. Sein Atem streifte ihr Ohr. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf.

Hätte sie doch nur ein Schultertuch, um ihren Ausschnitt zu verhüllen. Ihr Mieder hatte einen runden, keineswegs tiefen Ausschnitt, der aber dennoch für ihren Geschmack viel zu viel Haut enthüllte, insbesondere für den Mann, der über ihr stand, auf sie hinuntersah und dessen Atem erkennen ließ, dass der Anblick ihm gefiel.

Sie versuchte erneut, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er hielt sie nur um so fester.

»Bitte lassen Sie mich los«, sagte sie schließlich, leise, sodass nur er es hören konnte, nicht aber Caroline. Die Aynsley-Mädchen waren nicht gerade bekannt für ihre Diskretion und nach dem Skandal um ihre Schwester Anfang des Jahres war der Gedanke, den Spekulationen um die Familie Winthrop neue Nahrung zu geben, ein Horror für Serena.

»Das würde ich ja … wenn ich könnte.« Er lachte leise, offenbar fand er Gefallen an diesem Spiel. »Es tut mir leid, aber anscheinend hat die blonde Diana mir den letzten Rest Verstand geraubt.«

»Diana?«

»Verzeihung. Serena.«

Wieder empfand sie die vertraute Unsicherheit, die mit ihren Gefühlen spielte wie das Meer mit einem Segelboot. Manchmal wirkten seine Worte völlig unschuldig, manchmal überhaupt nicht. Doch abgesehen davon, dass er ihre Hand schon viel zu lange hielt – jetzt zwang er sie mit der seinen zu den langen, fließenden Bewegungen, die der Aquarellstil erforderte –, hatte er nichts eindeutig Unschickliches getan.

»Mr Goode?«, rief Caroline. »Könnten Sie vielleicht kurz zu mir kommen und einen Blick auf mein Bild werfen? Ich fürchte, die Form der Vase ist mir nicht ganz gelungen.«

»Natürlich. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Doch bei diesen Worten legte sich seine andere Hand um Serenas Hüfte und berührte ihre Taille. Sie erstarrte. »Sir …«

»Schhhh. Alles wird gut, Sie werden sehen. Vertrauen Sie mir.«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich, sich seinem Griff zu entziehen. »Ich rede mit Miss Haverstock. Sie wird …«

»Nichts tun«, beendete er ihren Satz mit seidiger Stimme. »So wie letztes Mal. Erinnern Sie sich?«

Eisige Kälte schnürte ihr die Luft ab, bittere Galle stieg ihr in den Mund. Eine frühere Beschwerde bei der Schuldirektorin über Mr Goodes unverhohlene Aufmerksamkeit war auf Ohren getroffen, die offenbar ebenso betäubt waren wie die der anderen jungen Damen. Hilflos, da ihre Mitschülerinnen nicht sehen konnten, was er tat, versuchte sie, nicht zusammenzuzucken, als er ihre Taille umfasste.

»Sie möchten doch eine bessere Künstlerin werden, oder?«

Sie schluckte. »J-ja.«

»Dann lassen Sie mich Ihnen helfen.«

»Ich möchte Ihre Hilfe aber nicht«, murmelte sie.

Er lachte wieder. »Nun, wir bekommen nicht immer, was wir wollen.«

»Mr Goode?« Carolines Stimme klang gereizt. »Sind Sie jetzt fertig bei Serena?«

»Keineswegs«, sagte er leise, nur für sie hörbar, doch dann ließ er sie los und ging zur anderen Seite des Raums.

Serena stieß einen zittrigen Seufzer aus. Dann blickte sie wieder auf das Stillleben vor ihr. Zwang ihre sich überschlagenden Gedanken, sich zu konzentrieren, zu beschränken, auf den Lichtwirbel zu fixieren, der den runden Fuß der Vase vergoldete. Allmählich beruhigte sich ihr jagender Puls zu einer Art ruhigem Galopp, während sie wie automatisch weitermalte und sich bemühte, das Gefühl des Besudeltseins zu überwinden.

Tauche den Pinsel ins Wasser. Tupfe ihn auf den Farbblock. Trage die Farbe auf das Papier auf. Säubere den Pinsel. Wiederhole den Vorgang.

Das Bild war fast fertig, als sie sich erneut seiner Anwesenheit bewusst wurde. Ihr Nacken kribbelte, die feinen Härchen stellten sich auf, als sei sich jede Faser ihres Wesens seines prüfenden Blickes bewusst.

»Ich werde Sie vermissen, wenn Sie die Schule verlassen«, sagte er, diesmal lauter.

Sie sah sich um. Caroline war gegangen. Ihr Herz begann zu rasen.

»Ich hoffe sehr, dass Ihre liebe Frau Mutter dem Privatunterricht zustimmen wird.«

Serena versuchte, ihn zu ignorieren und sich auf die Leinwand zu konzentrieren, doch ihre diesbezüglichen Versuche in den letzten Monaten hatten gerade zu der jetzigen Situation geführt. Wenn sie ihm doch nur nicht in die Augen gesehen hätte! Mr Goode mochte der bestaussehende Mann sein, den die Schule je eingestellt hatte, doch es war etwas Schmieriges, Schmutziges an ihm. Wenn die anderen Mädchen ihn doch nur durchschauen würden, dann würden sie Serena bestimmt nicht um seine Aufmerksamkeit beneiden!

Er erinnerte in keinster Weise an die aufrechte Haltung und das lautere Wesen des frischgebackenen Ehemanns ihrer Schwester. Jonathan Carlew Winthrop war durch und durch anständig und gütig, seine Großzügigkeit ebenso so groß wie sein Reichtum. Es spielte keine Rolle, dass er, was den Adelstitel betraf, unter ihr stand oder dass manche Menschen über seine Verbindungen zum Handel die Nase rümpften – dieser Mann verkörperte alles, was sie eines Tages in ihrem eigenen Mann zu finden hoffte. Mr Goode aber war das Gegenteil all dessen.

»Miss Serena? Sie sind sehr still. Vielleicht möchten Sie Ihr Bild lieber später vollenden?«

»Ich möchte es jetzt vollenden.«

»Wirklich? Sie würden jetzt nicht lieber etwas ganz anderes tun?« Ein Finger glitt über ihre Wange.

Sie erstarrte, wie eine Maus vor einer Katze. Was konnte sie tun? Wenn sie sich erneut an Miss Haverstock wandte, würde diese ihr nicht glauben. Aber wenn sie es nicht tat – wie weit würde er dann gehen? Wenn sie es ihrer Mutter sagte, würde diese behaupten, sie bilde sich alles nur ein. Papa war tot. Catherine und ihr neuer Schwager befanden sich noch auf ausgedehnter Hochzeitsreise auf dem Kontinent. An wen sollte sie sich wenden? Wer würde sie beschützen?

Sie hatte niemanden. Absolut niemanden.

Eine Träne lief ihr über die Wange, während der Finger tiefer glitt, unter ihr Kinn, an ihrem Hals hinunter. Ihr Herz klopfte panisch. Ein stiller Schrei explodierte in ihrem Innern: Gott, hilf mir!

Grosvenor Square, London

Ein Kaleidoskop aus Lärm und Farben erfüllte den Ballsaal, Spiegel und Diamanten funkelten, unter glockenhellem Lachen summten die Gespräche.

Der Vicomte Henry Carmichael strich seine Krawatte glatt und trat zu der brünetten jungen Dame, die mit ihrer Mutter, einer Respekt einflößenden Gestalt mit dichten dunklen Brauen und herabgezogenen Mundwinkeln, an einer Säule stand. »Guten Abend, meine bezaubernden Damen.«

»Ah, Lord Carmichael. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Die ältere Frau streckte ihm huldvoll die Hand entgegen zu einem in die Luft gehauchten Handkuss.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Madam.« Henry hatte ihren Namen vergessen. Egal. Er staunte immer wieder, wie leicht sich Konversation machen ließ, ohne Namen zu gebrauchen. »Darf ich fragen, ob Ihre Schwester vielleicht tanzen möchte?«

»Meine Schwester?« Die Jüngere kicherte. Die gerunzelte Stirn ihrer Mutter glättete sich. »Sie meinen wohl die liebe Eliza.«

»Vermutlich ja«, sagte er lächelnd.

»Sie garstiger Mensch.«

Er neigte lächelnd den Kopf und wandte sich an die Brünette. »Sagen Sie, Miss Eliza, möchten Sie tanzen oder bleiben Sie lieber hier neben der Säule stehen und überstrahlen sie mit Ihrer Schönheit?«

Erneutes Kichern. »Ich würde gerne tanzen, Sir.«

»Soll ich versuchen, einen Partner für Sie zu finden?«

»Oh, aber …«

»Kommen Sie.« Er streckte die Hand aus. Ihr enttäuschtes Gesicht hellte sich wieder auf. »Leider sehe ich niemanden, der würdig wäre, mit Ihnen zu tanzen.«

»Bis auf Sie selbst?«, soufflierte sie.

»Oh, ich eigentlich auch nicht.« Er führte sie auf das Parkett, wo die anderen Paare sich bereits formierten.

»Aber Sie sind immerhin ein Vicomte.«

Bei der unschuldigen Äußerung stieß ihm der Champagner, den er vorhin getrunken hatte, sauer auf. Er zwang sich zu einem gleichmütigen Gesichtsausdruck, während er die vorgeschriebenen Tanzschritte vollführte. Sie war nicht die erste junge Dame und würde auch nicht die letzte sein, der es vor allem auf seinen Titel und die Grafenwürde ankam, die auf ihn wartete. So war es schon sein ganzes Leben. Nur zu gut kannte er die Schmeicheleien und die Liebedienerei von Menschen, die er für seine Freunde gehalten hatte, wenn diese ihn für ihre eigenen Zwecke einzuspannen versuchten. Doch so gern er half, so sehr verabscheute er es, manipuliert zu werden, und geradezu verhasst waren ihm Freundschaften, die ihm aus nur allzu durchsichtigen Gründen aufgedrängt wurden.

Er wirbelte Miss Eliza ans Ende der Reihe und seine Gedanken tanzten im Takt der Musik. Vielleicht genoss er ja deshalb die Gesellschaft Jon Carlews – nein, dachte er grinsend, des neuen Lord Winthrops – so sehr. Seit sie sich in Oxford kennengelernt hatten, hatten ihn die auf feste Prinzipien gegründete Ehrlichkeit und Lauterkeit des anderen ebenso angesprochen wie seine Weigerung, den sozialen Aufstieg so blindwütig anzustreben, wie es unter Henrys Freunden verbreitet war. Jons Hintergrund als Geschäftsmann wurde zusehends unwichtiger, je deutlicher er sich als einer der wenigen Menschen erwies, denen Henry vertrauen konnte. Und das hieß, dass der frisch verheiratete Baron einer der wenigen Freunde war, die Henrys tiefstes Geheimnis kannten.

»Lord Carmichael?«

Beinahe wäre er gestolpert. Leicht verlegen wurde er sich bewusst, dass die Musik schwieg und seine Partnerin ihn verunsichert ansah. »Sollen wir Ihre liebe mater suchen?«

Er begleitete sie zurück zu ihrer Mutter – und zur Säule – und machte sich dann auf den Weg ins Kartenspielzimmer. Er hatte sich gut aufgeführt, hatte getan, was von ihm erwartet wurde und ein Mauerblümchen zum Tanz aufgefordert – jetzt konnte er tun, was er selbst wollte. Doch da berührte ihn eine Hand am Arm. »Mein lieber Junge.«

»Lady Harkness!« Er verbeugte sich vor der rothaarigen Frau in grüner Toilette mit blitzenden Smaragden. »Der Abend hat sich zum Guten gewandt.«

»Haben Sie vielleicht von Jon gehört?«

»Leider nicht. Deshalb vermute ich, dass er das Leben mit seiner frischgebackenen Gemahlin genießt.«

Sie lachte. »Das soll er auch. Die beiden haben lange genug gewartet, finden Sie nicht?«

Er nickte. Der Gedanke an Jon versetzte ihm einen kleinen neidvollen Stich. Er hatte selbst um Miss Catherine Winthrop werben wollen, doch dann hatte er erkannt, dass ihr Herz schon lange seinem besten Freund gehörte. Eine andere wie sie zu finden, eine Frau, deren Geduld und Anmut sie eines Mannes wie Jon würdig machte, war wohl jedoch leider ein Ding der Unmöglichkeit.

»Haben Sie Hawkesbury gesehen? Er ist hier irgendwo und seine hübsche Frau ebenfalls. Ich mag sie sehr. Sie ist so herrlich erfrischend.« Die grünen Augen tanzten durch den Raum. »Vor allem bei den vielen Langweilerinnen, denen man hier begegnet.«

»Ein Vorwurf, den man Ihnen nicht machen kann, Madam.« Er verbeugte sich erneut. »Falls Ihr Sohn sich bei mir meldet, richte ich ihm Ihre besten Wünsche aus.«

»Und wenn Jon sich bei mir meldet, sage ich ihm, dass Sie uns sehr gern wieder einmal auf Winthrop besuchen würden.«

Er lachte. »Sie kennen mich gut. Guten Abend, Madam.«

Mit einer letzten, eleganten Verbeugung entzog er sich der Mutter seines besten Freundes und strebte energisch zum Kartenzimmer. Endlich spielen …

»Lord Carmichael?«

Er wandte sich um, doch seine Ungeduld verflüchtigte sich, als er die kupferblonde Dame erkannte, die vor ihm stand. »Lady Hawkesbury.« Er machte einen tiefen Diener. »Welch ungeheures Vergnügen!«

Sie lächelte, amüsiert über seine Theatralik. Ihre Reaktion verwandelte sein galantes Lächeln in ein ernst gemeintes, breites Grinsen. »Haben Sie vielleicht meinen Mann gesehen? Gerade eben war er noch da. Er wollte mir etwas zu trinken holen, aber ich glaube, einer der Abgeordneten, die eine bedeutend weniger liberalere Weltsicht haben als er, hat ihm aufgelauert.«

»Soll ich einen Suchtrupp organisieren?«

»Wenn Sie so nett wären.« Sie fächelte sich Luft zu.

»Erst einmal werde ich Ihnen ein Glas Wasser bringen. Kommen Sie mit.« Er führte sie zu einem freien Platz. »Ich bin gleich wieder da.«

»Ich warte hier auf Sie.« Ihr liebliches, freimütiges Lächeln ließ ihr Gesicht aufstrahlen. »Vielen Dank.«

Er schob sich durch die Menge, fand einen Diener und ließ sich ein großes Glas Wasser mit Eis geben. Auf dem Rückweg zur Gräfin kam ihm plötzlich in den Sinn, dass sie wie die neue Lady Winthrop war – eine Frau mit Charakter und Leidenschaft. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass viele der Pläne, die Hawkesbury für die ärmeren Schichten der Gesellschaft hegte, von seiner Frau, der Tochter eines Geistlichen, ausgingen. Er schien sehr beeindruckt von dem Grafen zu sein und hatte Henry gedrängt, diese Verbindung zu vertiefen. »Ich glaube, der Mann wird eines Tages ein hohes Amt bekleiden.«

Nach kurzer Suche fand er den Grafen, wie seine Frau vermutet hatte, im Blauen Salon, umringt von einem Dutzend Männern, die ihm Fragen stellten und auf ihn einredeten. Henry blieb etwas außerhalb des Kreises stehen und wartete auf eine Pause, die ihm erlaubte, sich bemerkbar zu machen. Seine Ungeduld meldete sich wieder. Warum musste er hier den Boten spielen, wo er doch längst Gewinne am Kartentisch machen könnte?

»Carmichael! Wie geht es Ihnen? Kommen Sie und sagen uns« – der Graf winkte ihn näher – »was Sie von den Getreidezollgesetzen halten. Meinen Sie nicht, sie sind eine große Ungerechtigkeit der arbeitenden Klasse gegenüber?«

Henry betrachtete die Männer, die Hawkesbury umstanden. Einige von ihnen kannte er. Sie wiederum kannten alle seinen Vater und wussten, dass dieser, obwohl er ein wohltätiger, großzügiger Mann war, sich dennoch allem widersetzen würde, das sein persönliches Einkommen beschnitt. »Ich bin noch zu keiner Entscheidung gekommen«, wich er aus.

»Ah.« Hawkesbury schien enttäuscht zu sein. »Ich hoffe, das ändert sich noch im Laufe der Zeit?«

»Das meiste ändert sich mit der Zeit.«

»Richtig.«

»Falls ich Ihre politischen Grübeleien kurz unterbrechen dürfte – Ihre Frau sucht Sie, Mylord.«

»In dem Fall muss ich mich verabschieden, Gentlemen.« Hawkesbury neigte den Kopf. »Bis zum nächsten Mal.« Im Hinausgehen klopfte er Henry auf die Schulter. »Danke, Carmichael. Ist mit Lavinia alles in Ordnung?«

»Natürlich.«

»Gut.« Hawkesbury sah Henry an. »Erzählen Sie mir – wo sehen Sie sich selbst in der Zukunft?«

Leise, ganz kurz, regte sich eine Erinnerung an lange zurückliegende Wünsche und legte sich wieder wie der Duft von Regen im Wind. »Ich hoffe, eines Tages zu heiraten und unseren Besitz zu leiten, wie mein Vater und mein Großvater es getan haben.«

»Das sind löbliche Ambitionen. Aber an jenem fernen Tag, an dem Sie den Titel erben – sehen Sie sich da als Teilnehmer an den parlamentarischen Debatten oder möchten Sie das anderen überlassen?«

»Ich … darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

Die Augen des Grafen glitzerten. »Das hatte ich vor ein paar Jahren auch noch nicht. Aber dann hat sich mein Leben drastisch verändert und ich fand mich in einer Situation wieder, in der ich kaum noch den Wunsch zu leben hatte, und noch viel weniger wusste ich, was ich tun sollte. Darf ich Sie ermutigen, an die Zukunft zu denken? Es ist nie zu früh, Entscheidungen zu treffen, die Ihnen dabei helfen, der Mann zu werden, zu dem Sie bestimmt sind.«

Die Worte nagten an der Zufriedenheit, mit der Henry sich in seinem Leben eingerichtet hatte. Er zwang sich, etwas Belangloses zu murmeln. Er wollte nicht an die Zukunft denken. Das Leben sollte gelebt, sollte genossen werden. Es war viel zu früh, jetzt schon an irgendeine Lebensaufgabe zu denken.

Wieder traten die Lichter und der Lärm für einen Augenblick in den Hintergrund. Er dachte an seine früheren Träume. Vielleicht war es nicht nur Glück gewesen, dass Jon und Lord Hawkesbury Frauen mit einem solchen Charme und solcher Integrität erobert hatten. Beide hatten sich als Männer erwiesen, die dieser Frauen würdig waren.

Er verbeugte sich vor dem Grafen und der Gräfin und endlich gelang es ihm, sich in das Kartenzimmer zu flüchten, wo er schon bald in eine Partie Whist vertieft war, die sich rasch zu einem riskanten Glücksspiel entwickelte. Doch es fiel Henry nicht leicht, sein gewohntes sorgloses Auftreten beizubehalten, während die Worte des Grafen in ihm nachhallten und sich ein Riss der Unzufriedenheit, des Unbehagens in ihm auftat.

Was für ein Mann wollte er sein? Er wollte ehrlich sein, wie Carlew. Aufrichtig und seiner selbst sicher, wie Hawkesbury. Ein Mann, dem man vertrauen konnte, von dem man mehr erwarten durfte als hübsch gedrechselte Komplimente. Doch sogleich meldete sich die Mutlosigkeit.

Wie sollte er jemals ein solcher Mann werden?

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Kapitel 2

BathJuli

Miss Haverstocks exklusives Bildungsinternat für junge Damen genoss einen hervorragenden Ruf als Institut für die Erziehung junger Damen von Familie und Vermögen. Diese exklusiven jungen Damen erwarben dort sämtliche erforderlichen gesellschaftlichen Fertigkeiten – ihr Französisch und ihr Italienisch waren ebenso geschliffen wie ihre Manieren, ihr Charakter und ihr Auftreten strahlte jene Sanftmut aus, die die Gesellschaft als passend für eine junge Dame erachtete, die im Begriff stand, auf dem Heiratsmarkt zu debütieren.

Die äußerst strengen Anforderungen des Internats waren in wünschenswertester Weise darauf ausgerichtet, die Töchter des niederen und mittleren Adels zu idealen Gefährtinnen und Gehilfinnen der Söhne ebendieser gesellschaftlichen Schicht zu erziehen. Eine »Auserwählte« (wie die Mädchen sich selbst bezeichneten) trug daher für die Mütter ebenjener Söhne ein Gütesiegel, vergleichbar mit einem Preisschild, dass sie zwanzigtausend wert sei. »Oh, eine aus Haverstock!«, hieß es dann. »Damit ist sie natürlich ein Diamant reinsten Wassers« – womit die Betreffende dem gesellschaftlichen Ansehen ihrer Familie besonderen Glanz verlieh. Haverstock besucht zu haben, war eine solche Auszeichnung, dass die Warteliste des Internats Dutzende von Familien umfasste, die sich allesamt sehnlichst wünschten, dass ihr noch ungeschliffener »Diamant« in diese Schule aufgenommen und dadurch eine noch begehrenswertere Heiratskandidatin würde.

Nur, dachte Serena, während sie Miss Haverstocks Abschlussrede lauschte, dass sie selbst schon vor den unsittlichen Aufmerksamkeiten eines Mr Widerling kaum chancenreich auf diesem Markt, geschweige denn attraktiv für eine Heirat gewesen wäre.

Sie blickte zu ihrer Schwester hinüber, die Hand in Hand mit Jon dasaß, als seien die beiden noch immer auf Hochzeitsreise, ungeachtet der missbilligenden Blicke ihrer Mutter und der anderen Matronen. Catherine hatte Glück. Sie hatte jemanden gefunden, der sie aus der Atmosphäre ewiger Unzufriedenheit, die Mama umgab, herausgeholt hatte, auch wenn das Witwencottage keine Meile von Winthrop Manor entfernt war. Nicht dass Serena gern verheiratet gewesen wäre. Sie wollte keinen Mann – ihre Hände verkrampften sich –, nie, niemals, denn bis auf Jon waren alle Männer Schurken und verfolgten üble Absichten …

»Liebste«, flüsterte Catherine, »vergiss ihn.« Sie nahm Serenas Hand und drückte sie tröstend.

Serena zwang sich, sich zu entspannen, normal zu atmen. Es war das letzte Mal, dass sie an einer solchen Veranstaltung teilnehmen musste. Gleich war es vorüber und sie konnte das alles ein für alle Mal hinter sich lassen.

Catherines unerwarteter Besuch neulich, bei dem Serena sich geweigert hatte, überhaupt noch über ihre Malerei zu sprechen, hatte ihre Schwester mit so tiefer Sorge erfüllt, dass sie Serena sehr schnell den Grund für ihr seltsames Verhalten entlockt hatte. Und dann war ihr Entsetzen über die schlimme Lage ihrer Schwester so groß gewesen, dass sie – zu Serenas größter Verlegenheit – Jon davon erzählt hatte. Doch ihr Schwager mit der tiefen Stimme hatte ihre Scham schnell in neuen Respekt verwandelt: Er hatte Mr Goodes sofortige Entlassung bewirkt und Miss Haverstock in totale Zerknirschung gestürzt. Serena war nur an der Schule geblieben, weil sie mit ihren Freundinnen zusammen an den beiden letzten Unterrichtswochen teilnehmen wollte – und weil es Jon gelungen war, das Ganze so gut wie unbemerkt von der Öffentlichkeit über die Bühne zu bringen. In beidem war er so erfolgreich gewesen, dass die Seminaristinnen schon am nächsten Montag, als sie zum Unterricht kamen, erfahren hatten, dass an die Stelle des Kunstunterrichts mit sofortiger Wirkung der Unterricht in deutscher Sprache treten würde. Es waren zwar ein paar Spekulationen laut geworden und manche der Seminaristinnen hatten sich auch gefragt, warum die Direktorin Serena seither nicht mehr offen ins Gesicht zu sehen schien, doch niemand hatte Serena direkt darauf angesprochen. Dennoch war es ihr eine Erleichterung, dass ihre Zeit an dieser Schule bald endgültig vorüber war.

Aber sie würde niemals mehr einen Pinsel in die Hand nehmen.

Ein hohles, kaltes Gefühl stieg in ihr auf. Sie setzte eine gleichgültige Miene auf, ließ die Reden über sich ergehen und absolvierte ohne innere Beteiligung die Rituale des Nachmittagstees: Essen, Trinken, gegenseitige Vorstellungen, Konversation – die Hauptelemente des Unterrichts an Haverstocks Seminar und von größter Bedeutung, um höfliche Heucheleien aufrechtzuerhalten. Sie tat so, als interessiere sie sich für Carolines Debüt in London im nächsten Jahr, ein Ereignis, das die Gesellschaft für unverzichtbar für die Töchter der Aristokratie hielt, an das Serena aber nichtsdestotrotz nur mit Ekel denken konnte.

»Serena, wollen wir gehen?«

»Ja, Mama«, antwortete sie erleichtert und verabschiedete sich mit einem höflichen Knicks von Lady Aynsley und ihren Töchtern.

Keine Stunde später befanden sie sich in der Winthrop'schen Kutsche auf dem Heimweg. Jons ausgezeichnete Pferde verliehen diesem weitverbreiteten Transportmittel Stil und Schnelligkeit. Neben ihr döste Mama, auf dem Sitz gegenüber schlief Catherine, Jon studierte geschäftliche Unterlagen.

Plötzlich lächelte er sie über die Papiere, die er in der Hand hielt, an. »Ist alles zu deiner Bequemlichkeit?«

»Danke, ja.«

»Möchtest du irgendetwas?« Er deutete auf den Korb, der auf dem Boden stand. »Etwas zu essen? Ein Kissen?«

»Ich habe schon gegessen und die Kutsche ist sehr gut gefedert.«

»Ich muss mich für meine Ungeselligkeit entschuldigen, aber diese Berichte …«

»Du bist Geschäftsmann, das weiß ich doch. Mir geht es gut, ich kann mich mit mir selbst beschäftigen.« Sie zwang sich, trotz dieser Lüge zu lächeln, und war erleichtert, als er sie nur nachdenklich ansah und dann nickte.

Doch ihr ging es nicht gut, absolut nicht. Sie blickte aus dem Fenster, die Landschaft verschwamm vor ihren Augen. Was sollte sie jetzt tun? Was konnte sie tun? Ihre Ausbildung war beendet. Womit sollte sie ihre Tage ausfüllen? Catherine schien immer zufrieden gewesen zu sein, in Ruhe zu Hause zu leben, glücklich mit einer Näharbeit und gelegentlichen Ausritten. Doch Serena verabscheute all das. Die einzige Begabung, die sie besaß, war ihr für immer genommen. Sie empfand diesen Verlust wie einen weiteren Todesfall in der Familie, nur dass die Trauer über Papas Tod im letzten Jahr für die anderen nachvollziehbar gewesen war. Hingegen schien niemandem bewusst zu sein, wie es für sie war, nicht mehr schöpferisch tätig sein zu können – oder schlimmer noch, sogar den Wunsch danach verloren zu haben. Sie fühlte sich innerlich völlig taub, halbtot. Die Träume, an die sie geglaubt hatte, hatten sich als Trugbilder entpuppt, jetzt, da sie gezwungen war, im kalten Tageslicht zu leben.

Sie hatte nichts mehr. Nichts, worauf sie sich freute. Nichts, wonach sie sich sehnte. Kein Mann wünschte sie sich zur Braut. Sie hatte kein eigenes Geld, konnte sich lediglich mit einiger Sicherheit darauf verlassen, dass Jon so großzügig sein würde, ihr eine Mitgift auszusetzen. Aber wenn tatsächlich irgendein Mann so töricht sein sollte, sie zu seiner Auserwählten zu machen, würde er seinen Irrtum nur allzu rasch einsehen. Sie schauderte. Die einzige Alternative war, eine alte Jungfer zu werden und sich um ihre Mutter zu kümmern …

Serena sah Mama an, die leise neben ihr schnarchte. Der unzufriedene Zug, sonst das hervorstechendste Merkmal ihres Gesichts, hatte sich im Schlaf etwas entspannt. Plötzlich empfand sie einen Stich des Mitleids. Arme Mama. Das letzte Jahr war nicht leicht für sie gewesen, nach Papas plötzlichem Tod und den Veränderungen, die er mit sich brachte. Natürlich hatte ihre Mutter die Dinge mit ihrer unverhüllten Opposition gegen Jonathan und seine Familie nicht einfacher für sie alle gemacht, doch inzwischen schien auch sie mit der Verbindung mehr als einverstanden zu sein.

Serena dachte an ihre Schwester, die im Schlaf lächelte. Catherine hatte ihr Glück, hatte einen guten Mann wie Jon verdient. Auch in diesem Moment dachte er an sie und legte ihr eine leichte Decke um die Schultern, damit sie nicht fror. Er war so fürsorglich, ein so zärtlicher Gatte …

Ganz anders als Papa.

Bei dem Gedanken wurde ihr plötzlich leicht übel. Sie versuchte, die undankbaren Empfindungen fortzuschieben, doch es gelang ihr nicht. Nach dem ersten Schock und dem Kummer über den Tod ihres Vaters waren allmählich seine zahlreichen Laster und Übeltaten ans Licht gekommen und hatten zu nicht enden wollenden Gerüchten in Bath geführt. Seine Spielsucht hatte ihr Einkommen stark dezimiert und sie selbst ihrer gesamten Mitgift beraubt. Mama und Catherine waren gezwungen gewesen, mehrere Monate in größter Armut zu leben. Serena hatte alles revidieren müssen, was sie über ihren Vater, zu dem sie aufgeblickt, ja den sie angebetet hatte, wusste. Wie hatte er so egoistisch sein können, wie hatte er vorgeben können, dass sie ihm wichtig waren, wo sein Handeln doch ihre ganze Welt zerstört hatte? Wie hatten sie sich nur so in ihm täuschen können?

Welchem Mann – außer Jon – konnte man überhaupt vertrauen? Sie alle waren Lügner, Betrüger, Schufte – und Schlimmeres.

Sie ballte die Fäuste. Nein. Von allem, was sie in den letzten Jahren gelernt hatte, zählten nur zwei Dinge.

Sie würde alles tun, um männliche Aufmerksamkeit zu meiden.

Und wenn durch ein Wunder ein Gentleman dennoch bereit sein sollte, über ihre Vergangenheit hinwegzusehen und um sie zu werben, würde sie versuchen, ihre Abscheu vor jeglicher körperlichen Nähe zu überwinden, aber …

Sie würde sich nie, niemals mit jemandem einlassen, der spielte.

White’s Gentlemen’s Club, LondonEine Woche später

Zufrieden mit den Gewinnen dieses Nachmittags, wollte Henry sich gerade genüsslich seinem Teller mit gedünstetem Lachs widmen, als Jonathan Carlew den Speisesaal betrat. Lord Winthrop, korrigierte er sich, während er Jon zuwinkte. Doch er kannte ihn zu lange unter ersterem Namen und sein Freund würde immer Carlew für ihn bleiben – nur gut, dass dieser Verständnis dafür zu haben schien.

Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten setzte Jon sich zu ihm und bestellte sich ebenfalls etwas zu essen. Dann beobachtete er Henry lächelnd.

»Ich nehme an, du warst wieder in der Old Bond Street?«

Henry berührte die schon halb verblasste Prellung auf seiner Wange. »Jackson war bei dieser Gelegenheit nicht gerade ein Gentleman.«

»Ich habe diesen Hang zum Boxring noch nie verstanden.«

»Und ich habe nie verstanden, warum du das nicht verstehst. Es ist eine exzellente Form der Leibesertüchtigung.«

»Sagt der Mann mit den olympischen Ambitionen!«

»In der Tat, Ambitionen. Ich war immer der Meinung, dass es nicht schadet, auf sich zu achten, sei es durch sportliche Betätigung für die Gesunderhaltung des Körpers oder für das äußere Erscheinungsbild durch entsprechende Eleganz.«

»Hm.« Jon wurde die Suppe serviert, er nickte. »Neuer Rock?«

»Gefällt er dir?« Henry berührte den Kragen. »Natürlich tut er das. Ein wahres Meisterstück von Weston. Ich kann ein gutes Wort für dich einlegen.«

»Danke, nein. Ich bin zufrieden mit meiner Kleidung.«

»Ganz der nüchterne Geschäftsmann. Die Sitzung heute war erfolgreich?«

»Kann man so sagen«, antwortete Jon. »Einige der Vorstandsmitglieder erwägen, in den Tabakhandel einzusteigen, doch ich kann mich nicht so recht dafür erwärmen.«

Henry nickte und spießte ein Stück Fisch auf. Der köstlich-cremige Lachs schmolz förmlich im Mund. »Und wie befindet sich die entzückende Catherine?«

»Entzückend. Und wunderschön. Und sehr glücklich, meine Frau zu sein«, fügte Jon mit einem selbstzufriedenen Schmunzeln hinzu.

»Das will ich mir lieber nicht vorstellen.«

»Sehr gut, das sollst du auch nicht. Apropos – du deutest doch schon lange an, dass du uns gern einmal in Winthrop besuchen würdest …«

»Was für eine unfreundliche Formulierung. Außerdem deute ich nicht an, ich pflege direkt zu fragen.«

»Eine Eigenschaft, die ich stets an dir bewundert habe.«

»Das solltest du auch«, murmelte Henry und spießte ein weiteres Stückchen samtigen Fisch auf.

»Catherine sagte, sie würde sich sehr freuen, wenn du kommst. Zeitpunkt und Länge deines Aufenthaltes liegen ganz bei dir.«

»Ich wusste, dass sie eine vernünftige Frau ist.«

»Vernünftig und zartfühlend. Sie hat ein Herz für Streuner.«

»Ich bin wohl kaum ein Streuner. Ich genieße nur einfach die Gesellschaft anderer mehr als meine eigene.«

»Und warum das?« Die blaugrauen Augen, plötzlich ernst geworden, musterten ihn nachdenklich. Henry lächelte, doch die Worte nagten an ihm.

Wenn er ehrlich war, ließ ihm Zeit, die er allein verbrachte, viel zu viel Raum für Selbstvorwürfe. Der reuige Blick auf die Erwartungen anderer und seine eigenen Erwartungen (denen er nicht einmal ansatzweise gerecht wurde) vergällten ihm jegliches Vergnügen an einem allein unternommenen Spaziergang oder Ausritt. Es war sehr viel einfacher, seinen Ruf als amüsanter Müßiggänger oder talentierter Sportler zu pflegen, als für das Streben nach Höherem nicht ganz ernst genommen zu werden. Wie oft waren solche Versuche, Dinge durchzusetzen, die ihm wahrhaft am Herzen lagen, schon auf Zurückweisung gestoßen!

»Du bist uns immer willkommen, Carmichael.«

Die Worte, leise gesprochen, trafen ihn ins Herz, offenbarten sie doch etwas von der unerschütterlichen Zuverlässigkeit, die Carlew ihm gegenüber stets bewiesen hatte. Er räusperte sich. Trank einen Schluck Wein.

»Bist du sicher, dass Catherine nichts dagegen hat?« Er hob das Glas. »Ich weiß, dass deine Frau eine bemerkenswert großzügige Frau ist – was sie auch sein muss, schon allein, um mit dir Schritt zu halten. Aber so ein überraschender Besuch ist vielleicht doch nicht so ganz nach ihrem Geschmack.«

Carlew grinste. »Catherine ist bemerkenswert großzügig und noch bemerkenswerter finde ich, dass deine Gesellschaft ihr angenehm zu sein scheint.«

»Ich weiß überhaupt nicht, warum du das so seltsam findest. Ich bin ganz extrem sympathisch und geistreich und ganz bestimmt bin ich für die meisten Frauen ein interessanterer Gesellschafter als so ein Langweiler wie du, alter Junge.«

»Du weißt schon, dass ich nur einen Tag älter bin als du?«

»Ich bemühe mich, es nicht zu vergessen.«

»Hm.« Jon bedachte ihn mit dem ernsten blauen Blick, unter dem Henry stets unbehaglich zumute wurde. »Vorweg musst du aber etwas wissen.«

»Hast du deine bezaubernde Gemahlin etwa von den Vorzügen von Currys und anderen Köstlichkeiten des Subkontinents überzeugt? Nein? Oder planst du womöglich eine weitere Überseereise, etwa nach Sydney, und wünschst meine Unterstützung bei diesem Vorhaben?«

Carlew ignorierte den Einwurf und fuhr in verhaltenem Ton fort: »Meine Schwiegermutter und meine Schwägerin sind häufig zu Besuch – und wenn du dich an die Hochzeit erinnerst …«

O ja, er erinnerte sich. Die kühle Blonde, deren ruhige Haltung ihrem Namen entsprach, deren scharfe Zunge ihn jedoch Lügen strafte. Er verzog den Mund. Miss Serena Winthrop hatte kein Hehl daraus gemacht, dass sie ihn und seinesgleichen nicht mochte, und ihre Kommentare beim Hochzeitsfrühstück waren sogar noch pointierter ausgefallen als bei ihren beiden vorhergehenden Begegnungen. Was hatte sie noch gesagt? Etwas in der Richtung, dass er ein Blender sei?

Er schob die unangenehme Erinnerung beiseite. »Ah, ja. Die blonde Miss Winthrop. Sie kann es bestimmt kaum erwarten, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.«

»Genau darum geht’s. Es wäre mir lieb, wenn du nicht, wie üblich, deinen Charme spielen lässt.«

»Du lieber Himmel! Ich werde mich doch nicht an einem Schulmädchen vergreifen!«

Auf Carlews Gesicht war ein seltsamer Ausdruck getreten. »Sie hat die Schule abgeschlossen, aber sie ist ein wenig …«

»Bissig? Da gebe ich dir recht. Eine beklagenswerte Eigenschaft bei einem so jungen Mädchen, aber …«

»Das ist es nicht.«

»Was dann? Ist sie etwa ein Blaustrumpf geworden? Ein wenig zu viel Bildung?«

»So könnte man sagen«, murmelte Carlew.

»Was?« Henry wurde ernst, als er sah, wie sich das Gesicht seines Freundes verdunkelte. »Was ist denn?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht noch einmal versagen – Julia …«

»Du willst nicht, dass sie in Julias Fußstapfen tritt?«

»Nein.«

Seine Stimme klang angespannt, voller Schmerz und Frustration. Henry nickte stumm und konzentrierte sich auf den Teller, der vor ihm stand, um Jon Gelegenheit zu geben, seine Fassung wiederzugewinnen. Er konnte verstehen, dass sein Freund tief bekümmert war über das Verschwinden seiner Schwester, doch das war sicherlich nichts im Vergleich zu dem Gefühl des persönlichen Versagens, mit dem sein Freund seither leben musste, Tag für Tag. Henry hatte sich schon oft gefragt, wie seine Familie wohl damit fertiggeworden wäre, wenn Melanie durchgebrannt wäre. Dass Carlew angesichts dieses weiteren Skandals in seiner Familie so viel Würde bewahrt hatte, grenzte wahrlich an ein Wunder. Aber vielleicht war genau das ja sein Geheimnis. Im Gegensatz zu Henry lebte Carlew, als glaubte er tatsächlich, dass jederzeit ein Wunder geschehen konnte.

»Willst du den ganzen Tag deinen Lachs studieren?«

Henry blickte auf, sah den Spott in den Augen seines Freundes und suchte nach einer passenden Antwort. »Ich bin zu dem Schluss …«

»Deines Mittagessens gekommen?«

»Dass dieser Lachs ein schweres Leben hatte.«

»Und einen noch schwereren Tod. Verstümmelst du deinen Fisch immer so oder war das nur meinetwegen?«

»Ich wusste nicht, dass du so empfindlich bist gegenüber meiner Fähigkeit, Fisch zu zerlegen.«

»Oder gegenüber dem Mangel an derselben.«

»Deine Frau täte gut daran, dir beizubringen, über Derartiges hinwegzusehen, statt zu tun, was auch immer sie tut.«

Carlew lächelte wissend. »Ich genieße eigentlich, was sie tut …«

»Genug! Reicht es nicht, dass ich gezwungen sein werde, auch die beiden Turteltäubchen zu ertragen, ohne ständig neidisch zu sein?«

»Du könntest ebenfalls heiraten.«

»Das sagt mein Vater mir fast täglich. Deshalb freue ich mich ja so darauf, dich zu besuchen – damit ich mir das nicht mehr anhören muss! Ehefesseln? Für mich?«

»Eines Tages wirst du einer jungen Frau verfallen und ich werde mich an deinem Elend weiden.«

Henry schüttelte den Kopf. »Du vergisst, dass ich meiner Familie zuliebe heiraten muss. Ich darf nicht meinem Herzen folgen.«

»Liebe, wirkliche Liebe, ist keine romantische Laune. Sie ist eine Entscheidung …«

»Wie überaus verlockend.«

»Eine Entscheidung, die ich voller Freude jeden Tag aufs Neue treffe, weil ich Catherine liebe und weil ich ihre Gefühle und Bedürfnisse über meine eigenen stelle.«

»Sehr löblich, alter Junge, aber das ist nicht allen gegeben. Wie auch immer, eins kann ich dir versprechen.«

»Ja?«

»Du brauchst dir keine Sorgen über die blonde Serena und meine Absichten zu machen.«

»Versprochen?«

»Ich werde mich ihr gegenüber wie ein Bruder verhalten, du hast mein Wort.«

Und er beschloss, die leise Ironie in den blaugrauen Augen zu ignorieren. Hegte Carlew etwa Zweifel an seinem Wort?

Nun, diesmal würde er es halten!

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Kapitel 3

Winthrop ManorAugust

»Mama, ich möchte nächstes Jahr nicht nach London.«

»Aber natürlich gehen wir nach London, meine Liebe«, sagte Mama und warf den anderen Anwesenden im Zimmer einen entschuldigenden Blick zu.

Serena biss sich auf die Zunge, sie wusste genau, was die Gäste jetzt dachten.

Catherine wollte beschwichtigen: »Mir liegt selbst nicht viel daran. London ist immer so schmutzig.«

»Zugegeben«, sagte Lavinia, die Gräfin Hawkesbury. »Ich habe diesen kleinen Flecken hier in Gloucestershire London immer vorgezogen.«

»Aber liebe Gräfin, Sie stimmen mir doch sicherlich zu, dass ein Mädchen, das in der Welt etwas darstellen will, eine gewisse Zeit in der Hauptstadt verbringen muss.« Mamas lächelnde Selbstbeherrschung schien etwas in Wanken zu geraten. »Wenn man an Festlichkeiten teilnehmen und Konzerte besuchen kann und Essenseinladungen erhält, heißt das doch, dass man die Chance hat, mit den Spitzen der Gesellschaft zu verkehren.«

»Das hängt wohl davon ab, was man darstellen will«, entgegnete die Gräfin und nippte an ihrem Tee. Dabei lächelten ihre grauen Augen Serena an.

Serena erwiderte ihr Lächeln. Lavinia Hawkesbury mochte zwar seit fast vier Jahren mit einem Adligen verheiratet sein, doch sie war so unbestechlich wie immer.

»Serena!«

Die scharfe Stimme ihrer Mutter durchschnitt die Luft. »Ja, Mama?«

»Das ist eine ernste Angelegenheit. Ich will nicht, dass du dein Leben hier am Ende der Welt verplemperst. Wie willst du hier je einen Mann finden?«

»Ich persönlich habe meinen Mann gefunden, als ich mich hier versteckt habe«, sagte Lavinia und nippte erneut an ihrem Tee.

»Ich auch«, meinte Catherine.

»Aber das erste Mal bist du Jon in London begegnet«, triumphierte Mama.

Catherine zuckte die Achseln und tauschte einen Blick mit Mamas anderem Gast.

Lady Harkness, Jons flammenhaarige, extravagante Mutter, war während des gesamten Wortwechsels ungewöhnlich still gewesen. Jetzt ruhten ihre grünen Augen nachdenklich auf Serena. »Darf ich fragen, warum du nicht nach London gehen möchtest?«

»Clarinda, es spielt keine Rolle, was Serena wünscht …«

»Verzeihung, aber ich glaube, das tut es wohl.«

»Aber alle unsere Freunde werden dort sein«, sagte Mama und wandte sich wieder an Serena. »Caroline wird dort sein. Ihr könnt zusammen einkaufen gehen, Konzerte besuchen, tanzen, nette Herren kennenlernen, den schönsten Klatsch in Erfahrung bringen …«

»Nein!«

Ihre Mutter fuhr förmlich zurück bei diesem Ausfall.

»Die Frage ist, ob Klatsch jemals schön ist«, warf Lavinia ein.

Hinter den französischen Türen lockte der Garten. Serena stellte ihre Tasse auf das Tischchen neben sich und stand auf. »Bitte entschuldigt mich.«

Beim Hinausgehen erhaschte sie noch einen Blick auf Catherines besorgtes Gesicht, dann betrat sie den Weg, der in den rückwärtigen Garten führte. Ein paar Minuten später saß sie in dem geheimen Hain, in den sie sich als Kind immer zurückgezogen hatte.

Sie schloss die Augen und lauschte dem Gesang der Vögel, dem Tschilpen der Spatzen und den lauten, lang gezogenen Rufen einer Drossel. Der würzige, saubere Duft der Kiefern wehte zu ihr herüber, sie atmete ihn tief ein, ganz langsam. Dann öffnete sie die Augen wieder. Von hier oben, hoch auf dem Hügel gesehen, ruhte das weitläufige Herrenhaus still zwischen den Bäumen, die vor Generationen gepflanzt worden waren. An sonnigen Tagen wie heute erhaschte man hin und wieder sogar einen Blick auf den silber glänzenden Severn, der sich von Gloucester her seinen Weg durch die Wiesen bahnte. Es war eine Landschaft, die sie viele, viele Male einzufangen versucht hatte, mit dem Bleistift, dem Kohlestift, mit Öl.

Ihre Anspannung löste sich ein wenig.

Gott sei Dank für den Trost eines Gartens, für die Schönheit und den Frieden, die er schenkte.

Gott sei Dank, dass Catherine Jon geheiratet hatte und dass er bei ihren häufigen Besuchen so liebenswürdig war. Sie würde es nicht ertragen, mit Mama im Witwenhaus zu leben, ohne wenigstens hin und wieder hierher flüchten zu können. So groß die Verbesserungen auch waren, die Jon hatte vornehmen lassen, sie konnten den Mangel an Platz und an Aussicht nicht ersetzen. Serena fühlte sich eingesperrt. Gefangen.

Wenn sie doch nur für immer in Winthrop bleiben könnte.

Plötzlich raschelten die Äste und Zweige, es hörte sich an, als würden sie beiseitegeschoben. »Ich dachte mir, dass du hier bist«, sagte ihre Schwester und trat heran, um sich auf den zweiten schmiedeeisernen Stuhl zu setzen.

»Mama …«, Serena zuckte hilflos mit den Achseln.

»Ich weiß.«

Einen Moment lang saßen sie beide still da. Das wortlose Verstehen, das zwischen ihnen herrschte, war eine Erleichterung.

In der Ferne sang noch immer der Vogel. Serenas Gemütszustand besserte sich. Teilte er seiner Gefährtin mit, wo er war? Markierte er sein Territorium? Oder empfand er einfach die gleiche Freude wie sie am Ausruhen von dem Sturm, der zuvor geherrscht hatte? »Solltest du nicht bei deinen Gästen sein?«

»Nein«, sagte Catherine freundlich. »Sie gehören alle zur Familie, bis auf Lavinia, und ich glaube nicht, dass sie mich braucht, oder?«

Serena lächelte, sie konnte sich die Szene gut vorstellen. Die beiden Matronen rangelten um die Gastgeberehre, während die höhergestellte junge Mutter ihre Ambitionen ignorierte.

»Liebste, sag mir, was dich so verletzt hat.«

»Mama kann so …« Sie schluckte und kämpfte gegen die Verbitterung an.

»Ich weiß.«

»Ich wünschte, sie könnte mich verstehen.«

»Mama will dich glücklich sehen.«

»Vielleicht.« Serena hätte das gern geglaubt, doch ein zynischer Zug, der ihr eigen war, rief ihr die vielen Male in Erinnerung, bei denen Mamas Entscheidungen allein auf ihren eigenen Vorteil abgezielt hatten. War es ungebührlich, so von seinen Eltern zu denken?

»Warum hast du solche Angst vor London?«

Eine Myriade von Antworten fiel ihr ein: Fremde, Menschenmengen, Männer.

»Ich …« Sie konnte es nicht aussprechen. Bittere Galle stieg ihr im Hals hoch und hinderte sie am Reden.

»Durch den Vorfall?«, soufflierte Catherine freundlich.

»Ja. Seit damals habe ich … weiß ich, dass es so vieles gibt, das mich verletzen kann, Dinge, dich ich nicht gewusst habe.«

Ihre Schwester nahm ihre Hand.

»Ich will nicht nach London gehen. Ich möchte hierbleiben, wo ich …«

»Wo du sicher bist.«

»Ja!« Sie blinzelte die Tränen fort. »Dort ist so viel Unbekanntes.«

»Es geht nicht immer alles nach unseren Wünschen.«

»Aber ich fühle mich nicht in der Lage, an einen Ort zu gehen, wo ich gezwungen bin, mit Männern zu tanzen, die ich nicht kenne, und mich von ihnen ansehen zu lassen wie« – sie schluckte – »wie er es getan hat.«

»Nicht alle Männer tun das, Liebste. Jon behandelt dich wie eine Schwester und der Graf ist ebenfalls immer sehr freundlich und nichts als freundlich dir gegenüber, oder nicht?«

»Ja.«

»Gibt es sonst noch jemandem, dessen Aufmerksamkeiten dich misstrauisch machen?«

Ein Gesicht blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Ein gut aussehender, lachender Mann, dessen Manieren so ungemein gewandt waren. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie das Bild abschütteln.

»Meine Liebe, ich will nicht, dass du diese Angst für immer mit dir herumschleppst.«

»Ich auch nicht.«

»Aber wenn du allen neuen Erfahrungen aus dem Weg gehst, verstärkt das deine Ängste doch nur.«

»Vielleicht, aber …«

»Ich weiß, dass Mama sehr anstrengend sein kann, aber meiner Ansicht nach ist sie wirklich überzeugt, dass eine Saison in London zu deinem Besten ist. Überleg doch nur, du könntest in die Ausstellung in der Royal Art Akademie gehen!« Serenas Herz klopfte. Dieser Gedanke war tatsächlich verlockend. »Und ein solcher Besuch wäre eine Ablenkung von der Erinnerung an weniger … angenehme Dinge.«

Ihr gelang ein geisterhaftes Lächeln. »Weiß Jon deinen Sinn für Untertreibung eigentlich zu würdigen?«

Catherine musste lächeln. »Er würdigt viele Dinge, aber ich weiß nicht, ob das dazugehört.«

»Ich glaube, ich brauche einfach noch etwas Zeit, bevor ich an einer Saison teilnehme und gezwungen bin, an … eine Heirat zu denken.«

»Das ist sehr verständlich.« Ihre Schwester nickte nachdenklich. »Es gibt auch keinen Grund, warum es schon die nächste Saison sein muss.«

»Nicht wahr?« Sie schöpfte Hoffnung. Wenn Catherine – und natürlich Jon – bereit waren, ihr Debüt noch ein wenig hinauszuschieben …

»Es würde allerdings bedeuten, dass du einen guten Teil des Jahres sehr ruhig und abgeschieden leben würdest.«

Ihr Hochgefühl sank ein bisschen. »Du meinst im Cottage.«

Catherine runzelte die Stirn. »Vielleicht könnte man Mama überreden, Tante Drusilla einen längeren Besuch abzustatten.«

»Oder die Tanten in Avebury zu besuchen.«

»Dann könntest du zu uns ziehen.« Ihre Schwester strahlte sie an. »Das wäre wundervoll, zumal Jon so häufig in Geschäften unterwegs ist.«

»Und ich wäre euch nicht im Weg, wenn er zu Hause ist?«

»Das Haus ist groß genug, dass du dich zurückziehen könntest, wenn es angezeigt wäre.« Serena errötete, als ihre Schwester lachte. »Liebes, eines Tages wirst du einen Mann kennenlernen, mit dem du alles teilen willst. Lass nicht zu, dass deine Angst zu einer Mauer wird, die alle Hoffnung draußen hält. Und jetzt« – sie stand auf – »rede ich mit Jon, sobald er sein Gespräch mit Lord Hawkesbury beendet hat.«

»Vielen Dank, Catherine.«

»Danke mir noch nicht. Wir müssen erst noch Mama von den Vorteilen unseres Plans überzeugen.«

»Natürlich.« Bitte, Gott, lass Mama einverstanden sein!

Catherine legte den Kopf schräg und sah sie mit ernstem Gesicht an. »Würdest du dich sicher fühlen, wenn du mit uns gemeinsam reist? Wir werden manchmal von Jons Freunden und Geschäftspartnern eingeladen und das kann einen leicht einschüchtern. Aber wenn du bei uns wärst, könnte es eine Gelegenheit sein, ein paar von den Leuten kennenzulernen, denen du dann in der nächsten Saison vorgestellt wirst. Dann wäre das alles nicht mehr so überwältigend für dich.«

»Vielleicht.«

»Gut.« Ihre Schwester wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Apropos … ich hätte dir sagen sollen, dass wir heute Abend noch einen anderen Gast erwarten.«

»Wen?«

Eine Vorahnung ließ sie schaudern. Lieber Gott, bitte lass es nicht …

»Lord Carmichael.«

Die schwer erkämpfte Beruhigung schwand, so wie die Sonne hinter einer Wolke verschwindet.

»Ah, Lord Carmichael. Welch ein Vergnügen.«

»Lady Harkness, das Vergnügen ist wie immer ganz auf meiner Seite.« Henry verneigte sich und streifte ihre Fingerknöchel leicht mit den Lippen. Dann richtete er sich auf und wandte sich der nächsten Dame zu. »Und meine liebe Gräfin. Ihre Anwesenheit ist mir eine große Freude.«

»Es freut mich, dass Sie so denken«, sagte Lady Hawkesbury mit einem Augenzwinkern. »Es wäre mir arg, wenn meine Anwesenheit Ihnen unangenehm wäre.«

»Dazu könnte es niemals kommen.«

»Oh, Sie wären überrascht«, murmelte sie.

»Der wäre ein echter Schwachkopf, der solche Anmut, solche Schönheit nicht zu würdigen wüsste.«

»Nun, sind Sie fertig damit, meiner Frau zu schmeicheln, Carmichael?​«

»Ja, das bin ich.« Henry lächelte und verbeugte sich vor dem Grafen, dann sah er noch einmal die Gräfin an. »Für den Moment jedenfalls.«

»Freut mich zu hören«, antwortete sie lachend.

Henry ging zum nächsten Gast und setzte sich halb amüsiert, halb respektvoll, neben die Dame auf das Sofa. »Und Lady Winthrop. Guten Abend.«

Sie neigte den Kopf. »Lord Carmichael. Ich hoffe, es wurde alles für Ihre Bequemlichkeit getan.«

»Ihre Tochter hat Ihnen, was das betrifft, alle Ehre gemacht, Mylady, und eine wahre Armee von Dienern aufgeboten, alle meine Bedürfnisse zu erfüllen.«

Er wandte sich an die junge Dame, die ein Stückchen entfernt ebenfalls auf dem Sofa saß. Ihr Ausdruck war so kühl wie immer. Er setzte gerade zum Sprechen an, da …

»Brauchen Sie tatsächlich eine Armee, die Ihnen unter die Arme greift, Sir?«

Er blinzelte. »Ich bitte um Verzeih…«

»Serena!«, zischte ihre Mutter.

Die junge blonde Frau hob das Kinn. »Sind alle Vicomtes so verzärtelt wie Sie?«

Sein Gastgeber lachte. Henry löste den Blick von der unkonventionellen jungen Dame und sah Carlew an. Dieser sagte: »Ganz und gar nicht, Serena, aber Carmichael hier ist ein Sonderfall.«

»Ja, ich bin etwas Besonderes«, stimmte Carmichael demütig zu. Die Anwesenden kicherten.

Alle, bis auf die kühle Blonde mit den Augen in der Farbe des sturmgrauen Meeres.

Das Dinner an diesem Abend war köstlich, das Budget des Gastgebers großzügig, die Künste des Kochs überragend. Helle Suppe als Vorspeise, gefolgt von einer Rehkeule, Hummer, Gänsebraten, Wachtelbrust, Schnittbohnen, Erbsen, Spargel und einer Auswahl an Gebäck. Das Kerzenlicht flackerte, die Gespräche plätscherten dahin, begleitet vom Klirren des Silberbestecks auf Porzellan. Es war ein Mahl, bei dem sich Freunde zusammengefunden hatten – bis auf das schweigsame Mädchen ihm gegenüber.

Henry schluckte einen weiteren Bissen Hummer herunter – höchst delikat, wirklich – und betrachtete dabei die gleichmütige Miss Winthrop. Er hatte noch Jons Warnung im Ohr, keinen frivolen Flirt mit ihr zu beginnen. Ehrlich gesagt, hatte er auch nicht die geringste Lust dazu. Sie würde ihm ja doch nur wieder eine Abfuhr erteilen. Was er sich aber wirklich wünschte, war, sie zum Lächeln zu bringen.

Seine Nachbarin, die Gräfin von Hawkesbury, bat leise um ein Stück Wachtelbrust. Henry reichte es ihr von der nächststehenden Platte.

»Danke, Sir.«

»Gern geschehen. Lady Hawkesbury, ich habe gehört, Sie leben schon geraume Zeit hier.«

»Da haben Sie richtig gehört«, antwortete sie. »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, abgesehen von der Zeit, in der wir uns regelmäßig in Hawkesbury House und in unserem Stadthaus aufhalten.«

»Sie ziehen diese Orte nicht der Gegend hier vor?«

»Hawkesbury House ist ein wenig zu weitläufig für Nicholas, mich und unser Baby, aber wir verbringen immer wieder einige Zeit dort« – sie senkte die Stimme – »damit wir seine Existenz nicht vergessen und um seine Mutter an die unsrige zu erinnern«.

Er schmunzelte. »Ah ja. Es kann schwer sein für eine Generation, Platz für die nächste zu machen. Meine Großmutter hat die Übernahme des Titels durch meine Eltern nur überlebt, weil sie darauf bestanden hat, das Witwenhaus so umzubauen, bis es eine Kopie von Welmsley Hall war. Natürlich bietet es nicht dessen Aussicht, aber ich glaube, daran hat sie sich gewöhnt.«

»Das klingt aber sehr willensstark.«

»Sie ist die netteste alte Dame, die man sich vorstellen kann«, sagte Jon von seinem Platz am Ende des Tisches. »Ich erinnere mich noch gut, wie freundlich sie mir gegenüber war, wenn ich Henry in unseren Oxford-Tagen besucht habe.«

»Du solltest uns wieder einmal besuchen, Jon«, sagte Henry und trank einen Schluck Wein. »Und bring bitte deine schöne Frau mit.«

»Das klingt nach einem ausgezeichneten Plan.«

»Vor allem jetzt, da die Saison vorüber ist.« Er sah auf. Ein Schatten hatte sich über das gleichmütige Gesicht gelegt. Mit einer Stimme, die hoffentlich frei von jeglicher Neckerei klang, sagte er: »Miss Winthrop, freuen Sie sich auf Ihr Debüt im nächsten Jahr?«

Ihre Augen begegneten kurz den seinen, dann wandte sie den Blick auch schon wieder ab. Ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich, als ihre Mutter trällerte: »Natürlich freut sie sich, Lord Carmichael. Wir können nur hoffen, dass die Queen bei guter Gesundheit bleibt und die Vorstellung bei Hofe nicht wie dieses Jahr verschoben werden muss. Serena freut sich so sehr darauf.«

Er nahm ein Flackern in den blauen Augen wahr und ein leichtes Kräuseln der Oberlippe. Irgendwie konnte er nicht so recht glauben, was Serenas Mutter gesagt hatte. »London wird Ihnen bestimmt gefallen«, sagte er höflich.

Die Gräfin neben ihm räusperte sich. »Wir haben vorhin bereits darüber gesprochen, nicht wahr, Serena? Lord Carmichael, ich fürchte, Miss Winthrop und ich sind übereingekommen, dass wir die Freuden des Landlebens jederzeit dem Lärm und dem Gestank der Stadt vorziehen.«

Er blickte zwischen den beiden hin und her und nahm dabei eine seltsame Spannung am Tisch wahr, offenbar ausgelöst durch Lady Hawkesburys Worte. »Dann werden Sie mein Fleckchen Erde sicherlich genießen. Wir haben nicht so hübsche Hügel wie die Cotswolds, aber unsere Peaks und Täler zählen zu den schönsten in ganz England.« Plötzlich empfand er Sehnsucht nach seiner Heimat. »Viele Künstler kommen nach Derbyshire um seiner großen landschaftlichen Schönheit willen.«

»In Ihrer Beschreibung klingt es wunderschön, Mylord.« Die Gräfin beugte sich vor. »Sag, Serena, wie steht es um deine Malerei?« Sie sah ihn an. »Serena hat nämlich eine ganz wunderbare Begabung, wissen Sie? Zeichnen, Malen – ganz gleich, sie erfasst einen Gegenstand in ein paar Minuten und hält ihn absolut wirklichkeitsgetreu fest.«

Er nickte und sah zu der jungen Künstlerin hinüber. Der schmerzliche Ausdruck in ihren Augen ging ihm ans Herz. Als Lady Hawkesbury rasch das Thema wechselte, drehte er sich zu Jon um und sah, wie dieser die Brauen runzelte und leicht den Kopf schüttelte. Sein Herz zog sich noch ein wenig mehr zusammen.

Ganz offenbar war Miss Serena nicht so ruhig, wie ihre Haltung ihn glauben machen wollte.

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Kapitel 4

Die Wände schienen sie mehr und mehr einzuengen. Frisch gestrichen, allzu üppig dekoriert mit Mamas Rokokokrimskrams, und mit einem Feuer, das im Kamin knisterte, war das Wohnzimmer im Witwenhaus mit Sicherheit sehr viel hübscher als früher, doch es ließ sich keinesfalls mit den riesigen Räumen von Winthrop Manor vergleichen. Von außen mochten die Gaubenfenster ganz hübsch aussehen, aber sie boten keinen Ausblick und das wenige Licht, das hätte hereindringen können, war die meiste Zeit durch Vorhänge gedämpft – und mit Sicherheit nicht ausreichend zum Zeichnen.

Die Trauer zerriss ihr das Herz. Sie schüttelte den Kopf in dem Versuch, den Schmerz loszuwerden.

»Was heißt das?«, fragte Mama, die auf dem Sofa gegenüber saß. »Bist du nicht meiner Ansicht?«

Wovon hatte Mama gesprochen? »Ich … äh …«

»Ich weiß wirklich nicht, warum wir so viel Geld für Haverstock ausgegeben haben, wenn man mit dir nicht einmal das einfachste Gespräch führen kann!«

Serena kniff ein wenig die Augen zusammen und behielt die Worte, die sie hätte sagen können, für sich.

»Nun sieh mich nicht so an! Du weißt, dass mich immer ein Schauer überläuft, wenn du mich so ansiehst. Was hast du nur? Du hast nicht ein einziges Mal einen Pinsel in die Hand genommen, seit du hier bist. Wozu haben wir den ganzen Privatunterricht ermöglicht?«

Übelkeit meldete sich, gemischt mit Schuldgefühlen. Mama wusste es nicht. Catherine und Jon waren der Ansicht gewesen, dass es so besser sei, da Mama durch die Skandale des letzten Jahres ohnehin sehr angeschlagen war. Sie wollten ihre Sorgen nicht vergrößern und sie mit Serenas Kummer womöglich noch mehr aufregen. Es war am besten, Serenas Schande wurde vertuscht, zumindest für die erste Zeit – eine Ansicht, der sie von ganzem Herzen beipflichtete. Sie wollte nie mehr an jene Tage denken.

»Ich weiß wirklich nicht, was in dich gefahren ist. Wenn du wüsstest, was wir durchmachen mussten, während du die beste Zeit deines Lebens hattest.«

Serena unterdrückte einen Seufzer, als ihre Mutter sich in weiteren Klagen über den Wahnsinn der Gerüchteküche erging, insbesondere über die Neigung zu Tratsch gewisser Personen aus der Nachbarschaft – das war das Codewort für Lady Milton, deren zweifelhafte Freundschaft mit Mama dieses Jahr endgültig zerbrochen war. Serena wusste nur zu gut, was Mama und Catherine erduldet hatten – Mama hatte oft genug davon gesprochen. Ihre Schwester hingegen ging viel zu sehr in ihrem gegenwärtigen Glück auf, um allzu oft an die Vergangenheit denken zu wollen.

Ihr Herz klopfte heftig. Vielleicht stimmten die Worte aus der morgendlichen Bibellesung und die Mahnung des Apostels Paulus, die Vergangenheit zu vergessen und an die Zukunft zu denken, konnte der Seele Heilung bringen. Jedenfalls schien es bei Catherine so gewesen zu sein.

»Mama, was hat Catherine denn immer gemacht, als sie noch hier gelebt hat?«

Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Soll das heißen, dass du dich langweilst?«

Ja. »Nein.« Nicht ganz. »Ich finde einfach nicht sehr viel, womit ich mich beschäftigen könnte …«

»Das wäre anders, wenn du dein Malzeug hervorholen würdest!«

»Danach steht mir im Moment nicht so der Sinn«, formulierte sie vorsichtig. »Und du weißt, dass meine Nähkünste bestenfalls bescheiden sind.«

»Eine Tatsache, die nur die Übung bessern würde.«

Serena hob das traurige Ergebnis ihrer Stickerei hoch.