Die geheimnisvolle Welt der Meere - Robert Hofrichter - E-Book
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Die geheimnisvolle Welt der Meere E-Book

Robert Hofrichter

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Beschreibung

Ein Buch so aufregend wie ein Tauchgang in die Tiefsee

Die Tiefen unserer Ozeane verbergen eine faszinierende Wunderwelt, die bis heute weniger Menschen mit eigenen Augen gesehen haben als die Oberfläche des Mondes. In diesem Buch erzählt der Zoologe und Naturschützer Robert Hofrichter die spannendsten Geschichten aus dem schillernden Kosmos, der die Erde umgibt: Wir lesen von ungewöhnlichen Lebensentwürfen und sonderbaren Sex-Praktiken in einem verbeulten Ozean, lernen freundliche Haie und übelgelaunte Delfine kennen, erfahren mehr über Monsterwellen, furchteinflößende Kreaturen der Tiefe und die Quellen allen Lebens. Das Buch ist zuvor unter dem Titel »Im Bann des Ozeans. Expeditionen in die Wunderwelt der Tiefe« als Hardcover im Gütersloher Verlagshaus erschienen und enthält zahlreiche farbige Abbildungen.

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Seitenzahl: 300

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Dr. Robert Hofrichter, geboren 1957, ist Zoologe, Biologe, Naturschützer, Journalist und Naturfotograf. Seit mehr als 30 Jahren ist er als Dozent an, auf und in den Meeren dieser Welt unterwegs. Robert Hofrichter ist Präsident der Meeresschutzorganisation MareMundi.

Außerdem von Robert Hofrichter bei Penguin lieferbar:

Das geheimnisvolle Leben der Pilze. Die faszinierenden Wunder einer verborgenen Welt

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Robert Hofrichter

Die geheimnisvolle Welt der Meere

Eine Reise ins Reich der Tiefe

Dieses Buch ist 2018 unter dem Titel »Im Bann des Ozeans. Expeditionen in die Wunderwelt der Tiefe« als Hardcover im Gütersloher Verlagshaus erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2018 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg Covermotiv: © Grafner / GettyImages

ISBN 978-3-641-25628-9V002

www.penguin-verlag.de

Das Meer überlebt uns,

das Meer überlebt unsere Kinder und deren Kinder,

und in all seine Tiefen

sind wir noch immer nicht vorgedrungen,

wo die Welt so düster ist wie das All.

Wo vielleicht nicht nur Krill,

sondern doch noch der Leviathan wohnt

oder der Riesenkrake,

und all das jagt einem diesen Schauer

über den Rücken.

David Hugendick: Wasser kommt, Wasser geht.

© David Hugendick für ZEIT ONLINE (www.zeit.de) vom 19.07.2015, http://www.zeit.de/reisen/2015-07/meer-reise-faszination-essay-abwesenheitsnotizen

Für meine Freunde und Mitstreiter von der Meeresschutzorganisation MareMundi, die versuchen, die größten Probleme der Gegenwart (= der Ozeane) der Öffentlichkeit leicht verständlich zugänglich zu machen, die Ursachen dieser negativen Entwicklungen aufzuzeigen und Wege zu finden, durch die wir den ökologischen Niedergang des Planeten zumindest verlangsamen können.

INHALT

Vorwort

AUS POSEIDONS LESEBUCH

Unerschöpflich sind die Geschichten der Meere

ALS DIE OZEANE GEBOREN WURDEN

Vom ewigen Auf und Ab des Meeresspiegels und dem Puzzlespiel der Tektonik

VERBEULTE OZEANE, ERDKARTOFFEL UND WELLENBERGE

Himmlische Kräfte und irdische Massen zerren am Blauen Planeten

UNGEHEUER GIBT ES NICHT, MONSTER SCHON

Riesenwellen lassen Kapitäne beten

WARUM DAS MEER BLAU IST UND ES DENNOCH KEIN »BLAUES MEER« GIBT

Physik und Plankton bekennen Farbe

DIE MEERE UND DER URKNALL DER EVOLUTION

Was geschah bei der kambrischen Explosion?

STILLSTAND IST RÜCKSCHRITT

Ohne Transport geht in den Ozeanen gar nichts

VÄTER ALS MÜTTER, EIN LEBEN IM WEIBCHEN UND ANDERE KURIOSITÄTEN

Sex und Familie in den Weiten des Ozeans

VON WEGEN NUR FRESSEN UND GEFRESSEN WERDEN ...

Freundschaften und Kooperationen im Meer

DIE GRÖSSTEN BAUMEISTER DER ERDGESCHICHTE

Eine Tauchreise in die Wunderwelt der Korallenriffe

HEIMTÜCKISCHE CAMOUFLAGE ODER AUFFALLEN DURCH BLAULICHT?

Blauringoktopus, Steinfisch und andere tödliche Gesellen

MEGALODON UND ANDERE UNGEHEUER DER TIEFE

Neptuns furchteinflößendste Kreaturen

VON VERKLÄRTEN FRIEDENSSTIFTERN UND ENTTHRONTEN KÖNIGEN DER MEERE

Mord und Totschlag kommen in den besten Delfin- und Haifamilien vor

DAS UNBEKANNTE UNIVERSUM DER TIEFSEE

Auf dem Mond waren schon mehr Besucher ...

MÖNCHSROBBE, NAPFSCHNECKE ODER DELFIN GEFÄLLIG?

Frutti di Mare vom Neandertaler bis in die Gegenwart

AUSBLICK: OZEANE OHNE MENSCHEN ODER MENSCHEN OHNE OZEANE?

... doch das Meer kann uns nicht egal sein!

Danksagung

Bildteil

VORWORT

Regelmäßig fragt man mich, warum ein Mitteleuropäer, der 60 Kilometer von Wien entfernt das Licht der Welt erblickt hat, ausgerechnet Meeresbiologe geworden ist. Nun: Erstens ist meine Heimat, was viele nicht wissen, schon seit langem ein Hotspot der Meereskunde und zweitens bin ich bereits in der frühen Kindheit dem Bann des Ozeans verfallen.

Österreich-Ungarn war gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine bedeutende europäische Macht, die nahezu die gesamte östliche Adria kontrollierte. Für die frühen Ozeanographen und Meeresbiologen des gesamten deutschsprachigen Raums war das ein Glücksfall. Inspiriert von Reiseberichten der Romantiker wollte jeder, der es sich nur irgendwie einrichten konnte, ans Mittelmeer, das für Liebhaber des Meeres zu so etwas wie einem Elysium, der »Insel der Seligen« aus der griechischen Mythologie, wurde. Wien war die Metropole, in der gesammelt wurde, was Naturentdecker und -forscher auf ihren Reisen fanden. Hier wurde 1865 das Naturwissenschaftliche Hofmuseum eröffnet, aus dem mit 30 Millionen Sammlungsobjekten heute eines der bedeutendsten Naturmuseen der Welt hervorgegangen ist.

Direktor dieses Museums war von 1889 bis 1919 Franz Steindachner, einer der berühmtesten Ichthyologen und Zoologen seiner Zeit. Er machte Wien zu einem frühen Zentrum erster ozeanografischer Forschung und ehrfürchtig durfte ich noch einige von ihm persönlich konservierten Fische studieren. Zeitgleich schossen an der Adria und in anderen Regionen des Mittelmeeres meeresbiologische Stationen aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen, wobei viel Forschungsmaterial auch auf den Fischmärkten dieser Zeit eingesammelt werden konnte.

So wurde eine Tradition grundgelegt, die in Österreich von Generation zu Generation weitergegeben wurde, und die Begeisterung des Anfangs ist bis heute nicht erloschen.

Einer jener Meeresforscher, die mich – auch in der persönlichen Begegnung – stark geprägt haben, kam dann auch aus Wien: Hans Hass. Kaum jemand, vielleicht mit Ausnahme von Jacques Cousteau, entfaltete eine solche Breitenwirkung, motivierte Zehntausende junge Neptunjünger dazu, mit abenteuerlichen Geräten und halbwegs wasserdichten Kameras in die Fluten zu steigen, um von den Wundern der Unterwasserwelt zu berichten.

Sie sehen, meine Heimat war nie weit vom Meer entfernt und ein Mekka der Meeresforschung obendrein.

Dazu kommt, dass mich persönlich der Ozean einfach gefangen nahm, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Nach ersten »Gehversuchen« 1964 im Schwarzen Meer verbrachte ich 1967 zwei Wochen bei Rovinj an der istrischen Küste. Von diesem Augenblick an war ich wohl mehr unter Wasser als an Land anzutreffen. Mir schien es, als hätte ich das Paradies gefunden. Umso stärker berührte mich, wie sich das Mittelmeer in den folgenden Jahren veränderte und mein Wunsch, das Meer zum Thema meines Lebens zu machen, wuchs. Diese Entscheidungen der Jugend habe ich nie bereut.

Heute empfinde ich es als eine wunderbare Aufgabe, mit mehr oder weniger wissenshungrigen Schülern die Küsten und die Unterwasserwelt zu erkunden. Doch zweifellos leben wir in einer anderen Ära als meine frühen Kollegen in der »guten alten Zeit« und ich selbst vor 50 Jahren. Auch heute kann man noch Neues entdecken, doch wesentlicher ist es jetzt zu bewahren, was vom Meer und Küsten noch zu bewahren ist.

Entscheidend ist: Das Feuer der Begeisterung für das Meer brennt nach wie vor. Darum möchte ich Sie in diesem Buch mitnehmen in die endlosen Weiten der Ozeane und in die geheimnisvolle Welt unter Wasser. Nichts auf dieser Erde wäre ohne das Meer denk- und vorstellbar, nichts würde in den globalen Abläufen funktionieren. Ohne das Meer gäbe es nur einen Bruchteil der Vielfalt des Lebens, wenn es denn das Leben überhaupt gäbe. So hoffe ich, Sie in diesem Buch mit meiner Begeisterung anzustecken und Sie zu Verbündeten zu machen, wenn es um den Schutz des Meeres und seines Wassers geht, dem alles Leben entstammt.

Ihr Robert Hofrichter

Salzburg im Dezember 2017

AUS POSEIDONS LESEBUCH

Unerschöpflich sind die Geschichten der Meere

Es gibt keine richtige Art,

die Natur zu sehen.

Es gibt hundert.

Kurt Tucholsky

Das Meer ist eine unerschöpfliche Quelle von Geschichten! Eine spannender als die andere! Wo also beginnen? Lassen Sie uns die Geburt des Ozeans unter die Lupe nehmen wie auch das ewige Auf und Ab des Meeresspiegels, die Puzzlespiele der Tektonik und die Beulen, die der Ozean hat. Stellen Sie sich mit mir den Drei Schwestern, den Kaventsmännern und anderen Monsterwellen, die selbst alten Fahrensleuten Schauer des Schreckens über den Rücken jagen. Hören Sie, dass Wasser nicht blau ist, und wenden Sie sich mit mir der Entstehung und Entfaltung des Lebens zu, wie es im Meer begonnen hat. Begegnen Sie der Vielfalt der marinen Arten und der endlosen Palette von Geschlechtermodellen und Spielereien der Fortpflanzung, die im nassen Element erfunden wurden und wenig mit dem »Papa-Mama-Kind-Modell« zu tun haben. Lassen Sie sich von Freundschaft, Kooperation und Symbiose der Lebewesen in der See begeistern und erfahren Sie, dass wir diesen Phänomenen das größte Bauwerk der Welt verdanken. Und rechnen Sie mit Nervenkitzel, wenn ich Ihnen die giftigen Kreaturen der Meere vorstelle und Sie mitnehme in die Frühzeit der Erdgeschichte, um Neptuns furchteinflößendste Kreaturen kennenzulernen, die Schrecken der Meere aus den letzten 400 Millionen Jahren.

Befürchten müssen Sie bei all dem natürlich, dass Sie manches liebgewonnene Klischee und einige Vorurteile werden aufgeben müssen: Delfine sind nicht in dem (vermenschlichten) Sinn gut wie Haie böse sein sollen. Von den etwa 530 heute lebenden Haiarten werden nur eine Handvoll dem Menschen potenziell gefährlich und durch einen Haibiss zu sterben, gehört zu den unwahrscheinlichsten Todesursachen auf diesem Planeten. Eher werden Sie von einem Hund zerfleischt oder von einer Kuh niedergetrampelt.

Nahebringen möchte ich Ihnen auch die faszinierende Geschichte der Beziehung unserer eigenen Art zum Ozean. Wir werden erfahren, dass unsere Vorfahren ausgesprochene Gourmets waren mit Vorliebe für Frutti di Mare. Und bei den Neandertalern stand auch schon mal ein Delfin- oder Mönchsrobbensteak auf dem Speiseplan.

Und wir werden sehen, dass wir das Meer brauchen, dieses uns aber nicht. Als menschliche Spezies sind wir dem Ozean völlig egal. Es hat in der Erdgeschichte schon zahlreiche Spezies kommen und gehen sehen, und auch wenn wir ihm gerade sehr zusetzen, werden wir eher uns selbst als das Meer vernichten.

Die Vielfalt des Lebens entstammt dem Meer

Biologen heben die Bedeutung des Wassers für das Wunder des Lebens hervor: Nach der Formung der Erde vor rund 4,6 Milliarden Jahren bot die Oberfläche des neuen Himmelskörpers noch ein höllisches Spektakel. Von einem »friedlichen« Blauen Planeten konnte damals noch keine Rede sein. Ein ständiges Bombardement von Meteoriten und die große Hitze ließen eventuell vorhandenes Wasser sofort verdampfen. Doch heute gehen immer mehr Wissenschaftler davon aus, dass eben diese Geschosse aus dem All auch gefrorenes Wasser mit auf die Erde brachten, einen Teil des Materials, das die künftigen Weltmeere bildete. Erdgeschichtlich gesehen relativ »bald« muss sich der Urozean des Archaikums geformt haben, denn in seinen Tiefen entstand allmählich etwas Neues, eine neue Entität, die wir »Leben« nennen. Nach heutigem Wissen sind die ersten fossilen Zeugen dieser geheimnisvollen Daseinsform der Materie fadenförmige Zellen, die man vermutlich den Cyanobakterien (im Volksmund »Blaualgen«) zuordnen muss. Man fand sie in Kieselgesteinen Westaustraliens.

Wie allmählich und zugleich rasend schnell die Entwicklung des Lebens sich vollzog und wie spät wir Menschen darin vorkommen, zeigt sich, wenn wir die bisher vergangenen Äonen, die Erdzeitalter, seit der Formung der Erde auf einen einzigen Tag zusammenschrumpfen lassen, der um Mitternacht beginnt. Die ersten einfachen Lebensformen erscheinen bereits morgens um viertel vor sechs. Erst gegen halb zehn abends folgen die Fische und eine Sekunde vor Mitternacht der Mensch. Der Anfang dieser Entwicklung liegt im Ozean und bei allen Diskussionen und Unsicherheiten erscheint es heute am wahrscheinlichsten, dass sich das Leben in seinen Tiefen rund um die Hot Vents, um heiße Quellen in der Tiefsee formte. Und dort gelang diesem ersten Leben etwas, das alles andere erst möglich machte: Vor etwa 2,5 Milliarden Jahren begannen die Cyanobakterien des Urozeans damit, Oxygen als Abfallprodukt in die damals noch sauerstofflose Atmosphäre freizusetzen. Aus dem lebensfeindlichen Gasgemisch der Atmosphäre wurde die Luft, die das Leben atmet. Und noch heute ist es das Phytoplankton der Ozeane, das der Welt die Luft zum Atmen gibt. Winzige, oft einzellige Organismen, sogenannte Mikroalgen aus verschiedenen Verwandtschaftsgruppen, die zu Myriaden im Meer mit der Strömung treiben und Fotosynthese betreiben. Nebenbei produzieren sie jährlich einen Teil der 105 bis 115 Milliarden Tonnen Biomasse im Ozean – die Grundlage sämtlicher mariner Nahrungsnetze. Die sprichwörtliche grüne Lunge unseres Planeten ist eigentlich eine blaue!

Ein Versuch, die Artenvielfalt zu fassen: die Volkszählung im Ozean

Was mit Einzellern in der Tiefsee begann, gestaltete sich zu einer unübersehbaren Vielfalt des Lebens. Deutlich wird das an einer – auf den ersten Blick – wenig attraktiven, aber umso bedeutenderen Tiergruppe: Die Fadenwürmer oder Nematoden sehen wirklich nicht spektakulär aus. Aber sie halten, was ihr Name verspricht: Sie ähneln einem winzigen, dünnen Faden. Erst im Mikroskop werden einige anatomische Details sichtbar, dennoch bleibt es selbst für die besten Experten der Welt ein Geduldsspiel, einen solchen Wurm zu bestimmen. Allein aus dem Mittelmeer sind mehr als 700 Arten beschrieben, weltweit sind es an die 30.000. Und das sind nur die validen Arten, wie Zoologen sagen, also diejenigen, die bei Biologen als solche akzeptiert sind. Nun kommen aber Schätzungen ins Spiel, denn lange nicht jeder Nematode wurde auch schon wissenschaftlich erfasst: Einige meinen, dass es mindestens eine Million Spezies Fadenwürmer geben müsste, andere schätzen ihre Artenzahl auf zehn Millionen, während vereinzelt sogar 100 Millionen genannt werden!

Diese letzte Zahl ist wohl weit übertrieben, verdeutlicht aber das Dilemma bei den Bemühungen, die Artenvielfalt zu quantifizieren. Die Meeresbiologen störte die Ungewissheit, und sie beschlossen, im Rahmen des sogenannten Census of marine life eine »Volkszählung der Ozeane« durchzuführen. All die Fadenwürmer zu zählen – wahrlich keine leichte Aufgabe für die mehr als 2.700 Experten aus über 80 Ländern. Derzeit liegt die tatsächlich ermittelte Artenzahl in den Ozeanen (die Mikroorganismen nicht mit eingerechnet) bei etwa einer viertel Million. Das hört sich erst einmal nach nicht besonders viel an, vergleicht man diese Zahl mit den vielen Millionen biologischen Spezies, von denen man hört, wenn es um das Leben an Land geht. Doch kommen diese Zahlen durch die Insekten, insbesondere die Käfer zustande. Von ihnen gibt es in den Regenwäldern eine schier unüberschaubare Zahl, die man nur schätzen kann. Erst wenn man diese Insekten von der Bilanz abzieht, bekommen wir eine solide Vorstellung von den Relationen der Artenvielfalt auf unserem Planeten. Und dann wird auch deutlich, dass die Artenzahlen im Meer enorm sind. Mindestens 750.000 weitere Spezies halten die Wissenschaftler in den Weltmeeren für realistisch, und manche Schätzungen gehen von mehr als der doppelten Anzahl aus. Und darin sind die Mikroorganismen noch nicht berücksichtigt, von denen es auch an die eine Million Arten geben könnte.

Biodiversitäts-Wettbewerb: Korallenriff versus Regenwald

Betrachtet man nun nicht die Artenvielfalt des Meeres, sondern die Zahl der im Meer lebenden großen Tiergruppen, der Tierstämme, wird noch einmal die beeindruckende Biodiversität der Ozeane deutlich, die Vielfalt der in ihnen beheimateten Lebensformen. Sie entsprechen den großen Entwicklungslinien der Evolution. Da gibt es die Schwämme, Nesseltiere, Gliederfüßer, die Weichtiere, Stachelhäuter und die Wirbeltiere sowie all die anderen. Derzeit unterscheiden Zoologen etwa 30 (Tier)Stämme und die allermeisten von ihnen sind entweder ausschließlich oder überwiegend marin.

Wie großartig diese Vielfalt ist, werden alle bestätigen, die schon einmal in den Hotspots der Weltmeere im australasiatischen Raum (etwa rund um Neuguinea) schnorcheln oder tauchen waren und vielleicht auch schon einmal einen Regenwald besucht haben: Ein Regenwald ist eine grüne Hölle, in der man oft tagelang nur wenige größere Tiere erblickt. Ein Teil der Vielfalt versteckt sich hier mehr als 40 Meter hoch in den Baumkronen – über 1.000 Käferarten etwa auf einer einzigen Baumart. Den Gesang der Vögel hört man zwar in der Morgen- und Abenddämmerung, doch bekommt man sie selten zu Gesicht. Die Biodiversität des Dschungels ist großartig, aber verborgen, die des Korallenriffs jedoch liegt offen vor Augen. Auf jedem Quadratmeter finden wir ein Sammelsurium an Farben und Formen, wie man es sich bunter und fantasievoller nicht ausmalen könnte. Selbst ein Tauchgang auf bloß einem Quadratmeter wäre nie langweilig. Die Schönheit und Vielfalt dieser Riffe ist unbeschreiblich. Die Rifffische hätte ein surrealistischer Künstler wie Salvator Dalí nicht fantasievoller entwerfen können. Suchen Sie im Internet nach einem Bild des Picasso-Drückerfisches, und Sie werden mir zustimmen! Und jede der anderen 2.500 Fischarten in diesen Riffen, die höchste Vielfalt weltweit, ist nicht minder besonders. Im Korallenriff muss man die Biodiversität nicht suchen. Sie sticht ins Auge wie nirgendwo sonst auf der Erde.

Die Diversität der Sexualität

Diese Biodiversität muss sich erhalten und vermehren, und so ist auch die Sexualität unter Wasser voller Überraschungen und von faszinierender Vielfalt. Mit menschlich-idealisierten Vorstellungen von intakten Familien und festgelegten Geschlechterrollen kommt man in den endlosen und größtenteils stockfinsteren Weiten des Ozeans nicht weit. Da braucht es eine viel buntere Palette an Strategien, um einen Partner oder eine Partnerin oder was auch immer zu finden.

Interessant ist dabei der sogenannte Sexualdimorphismus: Die beiden Geschlechter einer Art können völlig unterschiedliche Größe und Gestalt haben. Nehmen wir den Löcherkraken (Tremoctopus violaceus) als Beispiel, einen Kopffüßer, der in größeren Tiefen lebt und auch im Mittelmeer vorkommt. Der Sexualdimorphismus erreicht bei ihm ungeahnte Dimensionen: Weibchen werden 40.000-mal schwerer als ihre männlichen Partner, die gerade so winzig sind wie die Pupille des Weibchens. Damit zählt dieser Oktopus in dieser Hinsicht zu den Rekordhaltern im Tierreich. Man muss schon Mut haben, um als drei Zentimeter langes und bloß ein viertel Gramm wiegendes Männlein einem zwei Meter langen und zehn Kilogramm schweren Weibchen entgegenzutreten.

Und auch andere Oktopusse – sie haben bekanntlich acht Arme – haben ziemlich verblüffende Sexualpraktiken entwickelt. Einer dieser Arme ist bei den Männchen speziell angepasst und wird zum Begattungsorgan; er dient der Übertragung der Samenpakete in die Mantelhöhle des Weibchens. Zoologen nennen diesen Arm Hectocotylus. Doch einige Kopffüßer treiben es mit ihm wirklich auf sehr besondere Weise: Bei ihnen löst sich die Spitze des samengefüllten Begattungsarms vom männlichen Tier und schwimmt selbständig zum Weibchen, um die Eier zu befruchten. Hier ist sozusagen eine »autonome Befruchtungseinheit« am Werk. Das Männchen – nun ohne seinen Hectocotylus – hat damit seine Aufgabe erfüllt und stirbt bald.

Der abgetrennte und selbständig agierende Hectocotylus ist unter Meeresbiologen eine Legende. Bereits dem Vater der Biologie, Aristoteles, ist dieser Sachverhalt aufgefallen, doch seine Beobachtung ist im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. An die 2.000 Jahre später hat der große Naturwissenschaftler Georges Cuvier diesen kleinen »Wurm« für einen Parasiten am Weibchen gehalten und ihn Hectocotylus getauft. Es hat noch eine Weile gedauert, bis man dem tatsächlichen Hintergrund dieses skurrilen Vorgangs auf die Spur gekommen ist.

Zwergmännchen, deren Lebenszweck auf ein Minimum reduziert ist, kommen bei Meerestieren öfters vor. So etwa beim Igelwurm Bonellia viridis. Auch ihn finden wir im Mittelmeer. Während die dunkelgrünen Weibchen 30 Zentimeter Rumpflänge erreichen, bleiben die Männchen bloß zwei Millimeter lang. Sie sehen völlig anders als ihre Frauen aus, weswegen man sie lange Zeit für parasitische Plattwürmer hielt. Ein eigenständiges Leben gibt es für die Bonellia-Männer nicht. Sie existierendie ganze Zeit überim Uterus der Weibchen.

Die sexuell noch undifferenzierten Larven von Bonellia treiben im Plankton, und wenn sie länger auf kein Weibchen treffen, werden sie selbst zu Weibchen. Hingegen kann ein von Weibchen produziertes Pheromon sie bei näherer Begegnung dazu veranlassen, zu Zwergmännchen zu werden. Das äußerst komplizierte und schwer zu durchschauende Geschehen wird immer noch intensiv studiert, scheint aber effizient: Bis zu 85 Männchen fand man bereits in einem einzigen Weibchen. Da bekommt der Begriff Polyandrie (Vielmännerei) eine ganz neue Bedeutung.

Doch betreibt der Igelwurm unter Meerestieren noch lange nicht die extremste Art der Reproduktion. Bei mehreren Gruppen kommt die »traumatische Insemination« vor. Die Bezeichnung macht schon klar, dass es hier nicht um den Austausch von Zärtlichkeiten geht. Bei der traumatischen Insemination führen die Männchen ihren Penis nicht in eine Körperöffnung des Weibchens ein, obwohl eine solche vorhanden sein kann, sondern durchbohren die Haut der »Partnerin«, um den Samen einzubringen.

So machen es z.B. die wunderschönen, bunten Strudelwürmer, die zudem auch noch zwittrig sind. Manche Arten kennen ein »Penisfechten«, bei dem die Partner (die jeweils beide Geschlechter haben) zunächst einen heftigen Kampf austragen, wobei dieser dadurch besonders heldenhaft wird, dass beide gleich zwei Penisse haben. Der »Sieger« führt die traumatische Insemination durch und wird damit sozusagen zum Männchen, der befruchtete Strudelwurm hingegen übernimmt die langwierige Rolle der künftigen Mutter, welche die Eier in ihrem Körper heranreifen lässt. Der »Macho« und Sieger des Fechtduells aber bleibt frei »wie ein Fisch im Wasser« und kann sich einem weiteren zwittrigen Artgenossen zuwenden. Ähnliches ist auch bei marinen Nacktschnecken und zahlreichen weiteren Wirbellosen zu finden.

Und überhaupt: Um sich die hoffnungslos erscheinende Suche nach dem Geschlechtspartner in den Weiten der Ozeane (die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen) zu ersparen, setzen viele Arten auf Zwittertum oder Hermaphrodismus. Denn getrenntgeschlechtliche Männchen und Weibchen (oder eben zwittrige Artgenossen) einzelner Arten müssen erst einmal überhaupt aufeinandertreffen. Viele küstennah lebende Fische können entweder nacheinander vom Männchen zum Weibchen ihr Geschlecht wechseln oder umgekehrt, oder aber gleich simultane Zwitter sein. Dann besitzen sie beide Geschlechter gleichzeitig.

Das alles sind aber nur erste Einblicke in das ausgefallene Thema der Sexualität in den Weiten des Ozeans. Es bietet noch viele weitere verrückt klingende Geschichten, die wir in einem eigenen und – versprochen – langen Kapitel hören werden. Jetzt wollen wir ein weiteres Thema aufgreifen, das ebenfalls sehr moralgesättigt ist.

Gute böse Delfine

Manche Menschen haben ziemlich ausgefallene Ideen. So auch Adam Walker, ein mehr als nur durchtrainierter Schwimmer aus England, der die 26 Kilometer der unruhigen Gewässer der Cookstraße zwischen den beiden Hauptinseln Neuseelands durchschwimmen wollte. Es ging ihm nicht um einen Rekord um des Rekords willen. Vielmehr wollte Walker durch seinen gefährlichen Schwimmmarathon Geld für die gemeinnützige »Whale and Dolphin Conservation Society« und damit für den Wal- und Delfinschutz sammeln. Die Cookstraße war nicht seine erste gewagte Schwimmtour: Walker hatte schon den Ärmelkanal, die Straße von Gibraltar, den Molokaikanal (Hawai), den Catalinakanal (Kalifornien), den Tsugarukanal (Japan zwischen Honshu und Hokkaido) wie auch den North Channel (zwischen Schottland und Nordirland) durchquert.

Bald merkte der ambitionierte Schwimmer, dass ihn ein zwar nicht allzu großer, aber doch Weißer Hai begleitete. Das ist eine für einen Schwimmer durchaus beunruhigende Begleitung. Doch zeigte sich fast ebenso schnell wie der Hai eine Gruppe von zehn Delfinen und nahm den Schwimmer kurzerhand in ihre Obhut. Die Meeressäuger blieben an seiner Seite, bis der Hai davonschwamm. Wenn das nicht märchenhaft ist: Einer stellt für den Wal- und Delfinschutz Rekorde auf und wird dabei von Delfinen beschützt.

Und natürlich passt die Geschichte zu dem Bild, das wir von »Flipper« haben. Delfine erscheinen uns fast schon übernatürlich nett und wie Botschafter einer besseren Welt: hochintelligent, neugierig, lern- und anpassungsfähig, mit einem guten Gedächtnis ausgestattet, extrem sozial. Sie vermögen es, Konsequenzen von Handlungen vorauszusehen und können ihr Handeln darum planen. Außerdem können sie sich im Spiegel erkennen, eine außergewöhnliche Fähigkeit, die nur wenige Tiere haben. Viele Verhaltensforscher meinen: Wer das kann, kann auch Mitgefühl und Hilfsbereitschaft entwickeln. Und tatsächlich zeigen Delfinmütter Trauer, wenn ihr Baby stirbt. Sie wollen es nicht verlassen und schubsen es immer wieder an die Wasseroberfläche, damit es atmen kann. Das Faktum des Todes können Delfine wohl genauso wenig fassen – oder sich damit abfinden – wie wir selbst. Diese Tiere sind Persönlichkeiten, die psychische Schmerzen empfinden und Traumata erleiden können. Dürfen wir sie dann in Betonbecken einsperren, damit Konzerne damit Profite machen? »Ich denke, dass sie mich beschützt und mich nach Hause begleitet haben!!!«, schrieb der wagemutige Schwimmer über seine Erfahrung mit den faszinierenden Delfinen.

Doch wir sollten dennoch nicht vergessen, dass es sich bei den Meeressäugern um Wildtiere des Ozeans handelt, die keine menschlichen Moralvorstellungen haben. Delfine sind so stark, dass sie einen Menschen mühelos umbringen könnten, wenn sie es wollten. Bei ihren Feinden, den Haien, machen sie das immer wieder, und nicht für alle Menschen war die Begegnung mit Delfinen so angenehm wie für Adam Walker. Sie können sehr zornig, geradezu cholerisch werden, schlagen dann mit der Schwanzflosse aufs Wasser und »klopfen« mit dem Ober- und Unterkiefer. Intelligente Wesen sind offensichtlich auch zu »Bösem« befähigt, wie wir es von unseren Vettern, den Schimpansen kennen. Delfine quälen aus Spieltrieb oder anderen Beweggründen andere, kleinere Delfine, fügen ihnen sogar Schaden zu, vergewaltigen Weibchen der eigenen oder fremden Art, betreiben die im kirchlichen Kontext lange Zeit als extrem sündhaft angesehene Masturbation. Ja, sie schrecken auch nicht davor zurück, im Wasser schwimmende oder tauchende Frauen schwer zu bedrängen. Ein Neoprenanzug ist in so einer Situation ein großer Gewinn. Zuverlässig erkennen junge Männchen, welche unter den mit Neopren gekleideten Wesen weiblich sind, und regelmäßig müssen Frauen sich vor ihnen in Sicherheit bringen und die Flucht aus dem Wasser ergreifen.

Alterungsforscher erzählen von Methusalems, Grönlandhaien und anderen Greisen

Liebeshungrige Delfinjünglinge, uralte Geschöpfe aus der Tiefe sind ein Phänomen – aber es gibt noch andere, über die im Allgemeinen wenig bekannt ist. Als die dynastischen Spannungen in Europa gerade ihren Höhepunkt erreichten und im Dreißigjährigen Krieg gipfelten, der Westfälische Friede Europa neu ordnete und der Sonnenkönig Ludwig XIV. sich von der religiösen Toleranz abwandte, wurde im eiskalten Wasser der Arktis ein Hai geboren. Nahezu 400 Jahre später lebt er immer noch, um von Wissenschaftlern auf sein Alter hin untersucht und danach wieder in sein Element entlassen zu werden. Damit wurde der bis dahin weitestgehend unerforschte Grönlandhai (Somniosus microcephalus) zum ältesten bekannten Wirbeltier und übertraf den bisherigen Rekordhalter, die Aldabra-Riesenschildkröte, um das Doppelte.

Es ist eine andere Welt und ein schwer vorstellbares Leben in den unendlichen Weiten des Arktischen Meeres und den lichtlosen Tiefen von 2.000 Metern. Hier darf man nicht wählerisch sein in Bezug auf die Nahrung. Der Eishai, wie der Grönlandhai auch genannt wird, frisst wahrlich alles, was er zwischen die Zähne bekommt. Irgendwann – als Pubertierender mit ungefähr 150 Jahren – wird er dann geschlechtsreif. Und noch viel später, das könnten weitere 100 oder 150 Jahre sein, erreicht er seine maximale Länge, immerhin zwischen sechs und sieben Meter und manchmal sogar mehr, was ihn zu einer der größten heute lebenden Haiarten macht.

Wie aber können Forscher sicher sein, ein so altes Exemplar gefangen zu haben? Mit herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden lässt sich das Alter der Tiere tatsächlich nicht bestimmen. Zu Hilfe kommt den Forschern die gute alte C14-Methode. Die dafür benötigte Gewebeprobe wird aus den Augenlinsen entnommen, einem seltsamen Gewebe, das sich kaum durch den sonst ständig stattfindenden »Umbau« im Körper ändert. Das Zentrum der Linse enthält somit eine chemische Signatur, aus der sich das Alter bestimmen lässt.

Derartige Lebensspannen zu erreichen, scheint vor allem jenen Meeresbewohnern vergönnt zu sein, die in kalten Gewässern leben. Auch Grönlandwale werden mit bis zu 200 Jahren sehr alt, Schwertwale erreichen »nur« die Hälfte davon. An die Wirbellosen kommen die Geschöpfe mit einer Wirbelsäule aber nie heran: In der Antarktis leben große Schwämme, die vermutlich 10.000 Jahre auf dem Buckel haben.

Auch Ozeanografen wollen ihre Geschichten erzählen

Das Planschbecken all der geschilderten Kreaturen ist das Weltmeer, ein weltweites Kontinuum. Die Entfernungen von A nach B sind in diesem Planschbecken jedoch ungeheuer weit. Man sollte meinen, dass die verschiedenen Ozeane und Regionen darum voneinander isoliert sind und wenig Gemeinsames aufweisen. Aber die Natur hat Wege gefunden, wie sie selbst diese Distanzen miteinander verbinden kann. Und das geht so: Hunderte Millionen Kubikmeter Meerwasser werden am Rand des antarktischen und arktischen Packeises, wenn im Winter das Wasser gefriert, immer kälter und salzhaltiger. Im Physikunterricht haben wir gelernt, dass kaltes Wasser dichter und bis zu einer Temperatur von vier Grad Celsius, entsprechend des Phänomens, das Dichteanomalie des Wassers genannt wird, immer schwerer wird. Es sinkt in die Tiefe des Ozeans hinab. Die Rotation der Erde versetzt die Wassermassen in Bewegung, denn nichts auf unserer Erde bleibt statisch, nicht einmal das, was wir in unserer Kurzlebigkeit Festland nennen. Die Erddrehung und die durch sie hervorgerufene Corioliskraft drängen das kalte, schwere Wasser in eine bestimmte Richtung, doch kontinentale Massen stellt sich ihm in den Weg.

Irgendwo finden sich aber Möglichkeiten, und ein weltumspannendes Zirkulationssystem entsteht, welches die Ozeanografen Globales Förderband und Thermohaline Zirkulation nennen. Unvorstellbare Wassermassen rollen wie eine gigantische Flutwelle über untermeerische Berge, Täler, Canyons und Tiefseeebenen. Nur um Tausende Jahre später an der Oberfläche zum Ausgangspunkt zurückzukehren und einen neuen Zyklus zu beginnen. Während wir arbeiten, schlafen, Familien gründen, mit Freunden essen gehen und irgendwann leider auch vergehen, rollen diese Millionen Kubikmeter Wasser zuverlässig um den Globus und transportieren Wärme, Stoffe und allerhand andere Dinge – in unserem Zeitalter auch Plastikenten, die von einem Schiff ins Meer gefallen sind. Die wenigsten Menschen wissen etwas von diesem globalen Förderband, das so weit entfernt und für unser tägliches Leben irrelevant erscheint. Doch nur auf den ersten Blick. Denn an der Oberfläche der Ozeane muss irgendwo genauso viel Meerwasser zurückfließen wie in der Tiefe abtransportiert wird, um die Bilanz der Wassermassen auszugleichen. So entsteht der Golfstrom, der aus seinem Entstehungszentrum in den warmen Meeren Mittelamerikas quer durch den Atlantik Wärme nach Europa bringt und dafür sorgt, dass die Winter bei uns mild sind, während Menschen im kontinental klimatisierten Moskau bei Eiseskälte auf den Frühling harren müssen.

Der Klimaforscher über den Treibhauseffekt

Und einen weiteren Meereszyklus gibt es, den wenige Menschen kennen. Auch der Kohlenstoff ist nicht irgendwie statisch einfach nur da, sondern Teil eines gigantischen, weltumspannenden Rückkopplung-Regulationssystems. Einem Förderband nicht unähnlich kontrolliert er den Treibhauseffekt unseres Planeten. Wir kennen es aus den Nachrichten: Zuviel davon ist schädlich, lässt den Meeresspiegel steigen und macht das Klima zu warm und unstabil mit vielen Stürmen. Zu wenig würde uns aber andererseits auch verhungern lassen. Wissenschaftler nennen dies den Carbonat-Silikat-Zyklus, und bei diesem dürfen wir nicht zu kleinlich denken, denn wir reden von einem Zyklus, der sich in Rhythmen abspielt, die 500.000 Jahre umfassen.

Dieser Kreislauf reguliert langfristig den Gehalt der Atmosphäre an Kohlenstoffdioxid und gleicht Abweichungen aus. Atmosphärisches Kohlendioxid regnet in Form von Kohlensäure auf das Gestein der Oberfläche, wo diese schwache Säure Silikatgesteine erodiert und den Kohlenstoff in Calcium-Silikat-Minerale bindet. Nun ist er also sicher »im Keller« verstaut wie die Kartoffeln im Winter, denn ein Übermaß des Kohlenstoffs würde die Erde sehr ungemütlich machen. Aber er bleibt nicht für immer im Keller, denn irgendwann würde er uns dann fehlen. Sind doch auch wir selbst, alle Lebewesen, aus Kohlenstoff aufgebaut. Durch tektonische Vorgänge gelangen die oberflächennahen »Keller«-Schichten tiefer und werden dort zu Magma geschmolzen. Und dabei wird er wieder frei, und als Kohlendioxid raucht er aus den Vulkanen hinaus, um einen neuen Zyklus zu beginnen.

Mare nostrum – an den Küsten des Meeres blühte unser Geist auf

Dass heute nicht mehr allein der im Magma »erlöste« Kohlenstoff die Atmosphäre erreicht, sondern auch das viele Kohlendioxid, das bisher in fossilen Brennstoffen gebunden war, ist das Ergebnis der exponentiellen Entwicklung der menschlichen Zivilisation vor grob 10.000 Jahren. Am Mittelmeer und östlich davon finden sich wesentliche Wurzeln der modernen Zivilisation, wenn es um Europa und »den Westen« geht. Nahezu alles, was unser Leben heute ausmacht, hat dort seine Anfänge. Sokrates, Platon, Aristoteles – sie legten wesentliche Fundamente unserer spirituellen Entwicklung. Und es ist kein Zufall, dass unser Geist nicht im eiskalten Sibirien so früh so große Sprünge machte, sondern rund um das klimatisch milde Mittelmeer, an dem, frei nach Platon, die Menschen saßen wie die Frösche an einem Teich. Als der Denker dies sagte, hat der Vergleich nicht einmal mehr gehinkt, denn die unternehmenslustigen Griechen hatten zwischen den Küsten Südfrankreichs und Spaniens bis zum Schwarzen Meer bereits über 150 Siedlungen gegründet, die durch eine rege Seefahrt im Austausch standen.

Höhenflüge des Geistes – das Philosophieren – hängen eng mit einem angenehmen Umfeld zusammen: das subtropische, mediterrane Klima ist wie geschaffen dafür, speziell der Schatten eines Olivenbaumes – er ist der ultimative Charakterbaum dieser Region –, mental gestärkt durch den vergorenen Saft einer weiteren urmediterranen Pflanze, Vitis vinifera, der Weinrebe. Nur die ausgleichende Wirkung des riesigen Wasserspeichers Ozean kann für ein wohltuendes und inspirierendes Klima wie das mediterrane sorgen – der Physiker spricht trocken von der spezifischen Wärmekapazität des Wassers. Diese ist viel höher als bei den meisten anderen uns bekannten Stoffen. Das ist eine weitere Besonderheit des Wunderstoffs, der etwa 70 Prozent der Erdoberfläche bedeckt und aus dem häufigsten Element des Universums – Wasserstoff – besteht, der sich mit dem häufigsten Element der Erde, dem Oxygen verbindet. Es ist ein Stoff aus scheinbar einfachen Molekülen, doch mit mehr als 40 verschiedenen Anomalien, die ihn von jeder anderen vergleichbaren Flüssigkeit unterscheiden. Die Zusammenhänge zwischen Weltmeer und Klimaregulierung, der Einfluss des Meeres und seiner Landschaften auf alles rundherum sind in Zeiten von global change in aller Munde und nur ein blonder US-Präsident bezweifelt das Offensichtliche.

Hinter den geistigen Fortschritten unserer Art stecken also objektive Naturfaktoren, welche das Zentrum der frühen Zivilisation, die heute die ganze Welt prägt, ausgerechnet im östlichen Mittelmeerraum und weiter im angrenzenden Fruchtbaren Halbmond entstehen ließen. In einer Abhandlung von Klaus Held über die »Entdeckung der Welt bei den Griechen« und den »Ursprung Europas« heißt es dazu: »Wer arm ist und keine Zeit zu verlieren hat, um für seine tägliche Lebenserhaltung zu arbeiten, kann sich den Luxus solchen Denkens nicht leisten. Deshalb sagt Aristoteles treffend: Weil sie Muße hatten, d. h. vom Druck der Lebensnot entlastete freie Zeit besaßen, haben die Menschen zu philosophieren begonnen. Nur in der Muße, die ihnen ihr Wohlstand ermöglichte, konnten sich die Bewohner Ioniens auf eine so radikal neue Weise für die Welt öffnen.«

Strandgüter des Geistes sammelten sich am Meer übrigens auch in religiöser Hinsicht. Hier war die Heimat nicht nur des Pantheons der griechischen und römischen Götter, sondern hinter den östlichen Ufern der Levante entstand unter einem winzigen und im globalen Maßstab unbedeutenden Volk in den Bergen Kanaans auch die scheinbar einleuchtende Idee eines einzigen Gottes (eine revolutionäre geistige Innovation): Der Monotheismus der Israeliten in der späteren Form des Judentums, Christentums und Islams sollte die vorherrschende Religionsform der Welt werden, vereint unter der Schirmherrschaft des Stammvaters Abraham.

Ein kleines Mosaik aus verschiedenen marinen und maritimen Steinchen haben wir jetzt zusammengefügt, als Appetithäppchen sozusagen, doch braucht es ausführlichere Kapitel, um auf einzelne Themen tiefer eingehen zu können. Kommen Sie nun also an Bord und freuen Sie sich auf eine spannende Entdeckungsfahrt.

ALS DIE OZEANE GEBOREN WURDEN

Vom ewigen Auf und Ab des Meeresspiegels und dem Puzzlespiel der Tektonik

Wir verzichten hier darauf,

das Gesagte durch Zitate aus der Literatur zu belegen.

Was jeder sehen kann, bedarf keiner Stützung

durch fremde Meinungen;

und wer nicht sehen will, dem ist ohnehin

auf keine Weise zu helfen.

Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, 1929

Die eine Milliarde dreihundertsiebzig Millionen dreihundertdreiundzwanzigtausend Kubikkilometer (Salz)Wasser auf unserem Blauen Planeten (nach allerneuesten Kalkulationen 1,332 Milliarden Kubikkilometer; diese neu berechnete Zahl weicht überraschend wenig von der weltweit ersten Kalkulation des Forschers John Murray aus dem Jahre 1888 ab) halten wir für die natürlichste Sache der Welt: Wasser in seinen drei Aggregatzuständen gehört einfach zu unserem Himmelskörper und zu unserem Leben dazu. Basta!

Aber: So einfach ist es nicht! Richtig ist, dass es schon in den »jungen Jahren« des Weltraums Wasser darin gab und dass Wasser im Universum eine häufige chemische Verbindung ist. Selbst in fernen Galaxien hat man es spektroskopisch nachweisen können. Allerdings: Immer entweder als Wasserdampf oder als Eis. Nehmen wir z.B. die Ringe des Saturn: Sie bestehen zu mindestens 90 Prozent aus fast reinem Wassereis. Zusammen enthalten die Saturnringe bis zu 30-mal so viel Wasser wie auf der Erde vorhanden ist – das behaupten Astronomen. Auch Kometen und andere kleinere Himmelskörper können in ihren Kernen Unmengen von Wasser enthalten und innerhalb unserer Galaxie, der Milchstraße, findet sich fein verteiltes Wassereis auch in sogenannten prästellaren Wolkenkernen auf Myriaden interstellarer Staubteilchen. Lynds 1544 ist so eine Region: Sie enthält so viel eisförmiges Wasser, dass dieses unsere Ozeane mehrere Millionen Mal füllen könnte. Flüssiges Wasser aber, das einen Großteil unseres Blauen Planeten mit einem durchschnittlich 3.700 Meter tiefen Weltmeer bedeckt, das ist – kosmisch gesehen – scheinbar doch eine ziemlich besondere und keineswegs die »natürlichste Sache« der Welt.

Bisher jedenfalls verlief die Suche nach Flüssigwasser in den unendlichen Weiten des Kosmos erfolglos, auch wenn einiges darauf hindeutet, dass es anderswo Ozeane gegeben haben könnte. So gab es einst auf der Oberfläche der Venus vermutlich Flüssigwasser, doch verschwand es vor Milliarden Jahren, als sich in den Meeren der Erde bereits Cyanobakterien (Blaualgen) tummelten. Und auch auf dem Mars könnte es neuesten Forschungen zufolge Wasser gegeben haben. Es muss dann allerdings schwer mit Salzen gesättigt und unter dem Gefrierpunkt kalt gewesen sein, also nicht gerade einladend für ein extraterrestrisches Badevergnügen. Wie aber kommt es, dass wir genau dieses auf der Erde an den Stränden der Ozeane genießen können?

Wie das Wasser auf die Erde kommt

Unser Planet ist etwa 4,6 Milliarden Jahre alt. Seine Entstehung verdanken wir unendlich vielen Kollisionen: Der Raum um die Sonne war voller Staubteilchen, kleiner Brocken und immer mehr auch großer Asteroiden. Wie ein kosmisches Räumungsfahrzeug machten sich die heute existierenden Planeten ihre Bahn frei, krachten dabei stets mit mehr oder minder massigen Körpern zusammen und verschmolzen zu etwas Neuem. So entstand nach und nach die Erde als der Planet, der der Sonne am drittnächsten ist. Woher kam nun aber das Wasser auf diesem Planeten?