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Naturzeit – ein ganz besonderer Naturführer über die 30 bekanntesten Pilze zu denen wir Menschen eine ganz besondere Beziehung haben. Pilze haben uns Menschen schon immer fasziniert und so haben sich im Lauf der Zeit Sagen und Brauchtum um sie gebildet. Neben den Bestimmungsmerkmalen und detailreichen Zeichnungen werden besondere Geschichten, Begegnungen und der Bezug der jeweiligen Art zu uns Menschen unterhaltsam und emotional erzählt. Die Natur ist kostbar – dieser bibliophil mit Halbleinen und offenem Papier ausgestattete Band für Naturliebhaber ist es auch.
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Seitenzahl: 217
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AUSTERN-SEITLING / AUSTERNPILZ
BACKHEFE / BIERHEFE
BIRKENPORLING
BROTSCHIMMEL
DUNKLER HALLIMASCH
ECHTER HAUSSCHWAMM
ECHTER PFIFFERLING / EIERSCHWAMMERL
EDELREIZKER / ECHTER REIZKER
FALSCHES WEISSESSTÄNGELBECHERCHEN
FALTEN-TINTLING / SCHOPF-TINTLING
FLIEGENPILZ
FLOCKENSTIELIGER HEXEN-RÖHRLING / SCHUSTERPILZ
GEMEINER RIESENSCHIRMLING / PARASOL
GIESSKANNENSCHIMMEL
GLÄNZENDER LACKPORLING
GRÜNER KNOLLENBLÄTTERPILZ
JUDASOHR / HOLUNDERSCHWAMM
KAISERLING
MITTELMEER-FEUERSCHWAMM
PURPURBRAUNER MUTTERKORN-PILZ
PÉRIGORD / SCHWARZE TRÜFFEL
PINSELSCHIMMEL
SCHIEFER SCHILLERPORLING / CHAGA
SPEISE-MORCHEL / RUND-MORCHEL
SPITZKEGELIGER KAHLKOPF
STEINPILZ
TRICHODERMA
VIOLETTGRÜNER FRAUEN-TÄUBLING
WIESEN-CHAMPIGNON
ZUNDERSCHWAMM
Liebe Leserinnen und Leser,
für dieses Buch erhielt ich den Auftrag, 30 häufige, beliebte, außergewöhnliche, bedeutende, interessante, wichtige, emotional ansprechende oder gefährliche Pilzarten – wissenschaftlich nennen wir sie Fungi – auszusuchen. Die Aufgabe wäre wohl unlösbar, wenn es bei der Wahl hieße „völlig objektiv“ zu bleiben. Denn jeder Autor würde eine mehr oder weniger abweichende Wahl treffen. Gut, Steinpilz, Pfifferling und Parasol würden in der Regel den Weg unter die 30 Auserwählten finden, vielleicht auch noch ein Vertreter der Milchlinge oder Reizker wie auch der Täublinge und noch etliche mehr. Über die anderen ließe sich aber in jedem Fall streiten. Was man daher beachten sollte: Es kann sich in hierbei keinesfalls um eine „objektive“ und undiskutable Liste der „30 wichtigsten Pilze Europas“ handeln, falls es so etwas überhaupt geben würde.
Unterschiedlichste Aspekte berücksichtigend wurden schließlich etwa zwei Drittel „traditioneller“ Großpilze ausgewählt, sogenannte Makromyzeten, die in der Regel dem entsprechen, was sich Menschen unter Pilz oder Schwammerl vorstellen. „Großpilze“ ist eine unsystematische Bezeichnung für Fungi, deren Fruchtkörper makroskopisch, das heißt mit bloßem Auge, gut erkennbar sind. Allein von diesen soll es in Europa an die 10.000 geben, doch so genau kennt ihre Zahl niemand. Das restliche Drittel setzt sich aus Fungi unterschiedlicher systematischer Zugehörigkeit zusammen, aus Freunden und Feinden von Pflanzen, Tieren, anderen Pilzen und uns Menschen. Nicht alle würde der mykologische Laie (Mykologie ist die Pilzwissenschaft) wahrscheinlich als Pilz erkennen. Vielfach handelt es sich um Mikroorganismen, Hefen oder Parasiten. Schimmelpilze wie Pinselschimmel der Gattung Penicillium und die berühmte Bier- oder Backhefe (Saccharomyces cerevisiae) zählen ebenso zu diesen „Exoten“ wie der berüchtigte Hausschwamm, der es vermag unsere Behausungen zu zerstören. Die Reihenfolge der Arten folgt keinerlei systematischen oder sonstigen Kriterien. Vielmehr geht es darum einen spannenden und abwechslungsreichen Streifzug durch die Welt der Pilze zu bieten, in dem „Klassiker“ die Staffel manchmal an „Außenseiter“ weiterreichen.
Bevor wir mehr über verblüffende biologische, kulinarische, praktische und kulturhistorische Aspekte dieser Pilzarten erfahren, sollte man sich kurz den gegenwärtigen Wissensstand über Pilze in Erinnerung rufen. Die allerwichtigste Erkenntnis, die sich erst in den letzten 50 Jahren definitiv gefestigt hat: Pilze haben nichts mit Pflanzen zu tun. Dann schon eher mit Tieren, mit denen sie aus evolutionärer Sicht wesentlich näher verwandt sind. Auch die Fungi müssen Nahrung zu sich nehmen, sozusagen „fressen“. Der Biologe sagt, sie sind in Bezug auf ihre Ernährung heterotroph, anders als die autotrophen Pflanzen, die durch die Photosynthese mit Hilfe von Sonnenenergie ihre eigene (und unsere) Nahrung herstellen können.
Was Pilzfreunde schätzen, sind in aller Regel nicht einmal die Fungi selbst, sondern ihre Fruchtkörper. Der eigentliche Pilz führt die längste Zeit ein verstecktes Leben in geeignetem Substrat wie Erde, abgestorbener organischer Materie, Holz oder auch in anderen Lebewesen und wird von uns kaum wahrgenommen. Die ebenso geheimnisvollen wie unbekannten Wesen dürfen wir ohne jede Übertreibung als wahre Herrscher der Welt betrachten, denn sie vernetzen Bäume und andere Pflanzen zu einem schwer durchschaubaren System. Munter bauen sie organische Materie ab (in der Ökologie nennt man sie Destruenten) und führen deren Bestandteile den globalen Stoffkreisläufen zu und sind Symbiosepartner unvorstellbarer Bedeutung, ohne die der Großteil der Bäume und Pflanzen kaum oder gar nicht gedeihen könnte. Sie helfen uns bei der Herstellung von Medikamenten und in der Biotechnologie, doch auch ganz wesentlich bei Prozessen, die bei der Produktion von Brot, Bier und Wein ablaufen. Eine Welt ohne Pilze ist undenkbar – es wäre eine völlig andere Welt als die, die wir kennen.
Die geheimnisvollen Fadenwesen bilden Hyphen (Pilzfäden), und diese wiederum ein unüberschaubares, alles verbindendes Netzwerk, das Myzel (Pilzgeflecht). In einem Kubikmeter guter Walderde können sich hunderte Kilometer solche Fäden finden und noch viel mehr. Die größten Lebewesen unseres Planeten sind weder Blauwale noch Mammutbäume, sondern eben Pilze.
Zu den größten Wundern des Lebens gehört die allgegenwärtige Mykorrhiza – jene Symbiose, bei der die dünnen Pilzfäden mit den feinsten Haarwurzeln der Bäume und anderer Pflanzen kooperieren, um lebenswichtige Stoffe auszutauschen. Die Pflanze als Zuckerproduzent hat dem Pilz etwas zu liefern, doch ebenso das Fadenwesen seinem Baum. Denn es vermag Wasser und Nährstoffe besser aus dem Boden zu holen als es die Pflanze allein jemals könnte. Die Freundschaft geht bei vielen Arten so weit, dass die Pilzfäden bis in das Zellinnere der Pflanzenwurzel hineinwachsen. Dann sprechen wir von einer Endomykorrhiza oder endotrophen Mykorrhiza. Die meisten Speisepilze sind Partnerpilze von Bäumen. Beachten Sie nächstes Mal bei der Schwammerlsuche genau, unter welchen Bäumen sich ihre Lieblinge wohlfühlen.
Andere Pilze brauchen abgestorbene organische Materie wie etwa Totholz oder Ähnliches. Sie sind Saprobionten, Moderpilze. Jeder von uns kennt sie gut, denn praktisch alle Zuchtpilze, von denen es immer mehr unterschiedliche Spezies zu kaufen gibt, gehören zu ihnen, angeführt von den beliebten Champignons. Doch nicht unerwähnt bleiben soll die dritte Ernährungsweise der Pilze: Die Parasiten unter ihnen befallen noch lebende Organismen. Das können Pflanzen sein, Tiere, andere Pilze oder wir Menschen. Die Talente und die Raffinesse der Fungi sind dabei so überragend, dass sie Ärzte ins Schwitzen bringen und sich unter ihnen Ratlosigkeit breitmacht. Pilzinfektionen führen jährlich weltweit zu zehntausenden Todesfällen.
Doch beeindrucken uns Pilze seit Urzeiten durch viel mehr als durch ihre biologischen Fähigkeiten. Schon früh haben sie die tiefsten Sphären unserer Seelen angesprochen. Eine Aura der Magie umgibt sie. Ihre geheimnisvolle, chthonische Welt ist jene der Hexenringe, der Unterwelt und der Finsternis, in der die Kräfte der Götter wirksam werden. Der Begriff „chthonisch“ leitet sich aus dem altgriechischen chton ab und steht für all das, was der Erde angehört. Kaum etwas könnte diese unterirdische Welt besser verkörpern als die Pilze. Als es noch keine strenge Naturwissenschaft gab, nahmen die Menschen im Rahmen ihrer mythischen Weltanschauung die Welt intuitiv ganz anders wahr, als wir es heute in der Regel tun. Der Boden und die Unterwelt standen im Mittelpunkt ihres Interesses. Sie verehrten die Erde mit ihren verborgenen Kreaturen, die mit der Unterwelt und dem Erdreich in Verbindung stehenden Gottheiten und sonstigen Wesen, die der Erde angehörend unterirdisch und damit chthonisch leben. Der animistische Glaube an die Beseeltheit aller Kreaturen und Naturerscheinungen regte die Fantasie unserer Ahnen an. Pilze standen dabei immer schon an vorderster Front, begleitet von Schlangen, Erdkröten, Salamandern und anderen Geschöpfen von Mutter Erde. Solche erdverbundenen Gottheiten prägten am Anfang die religiöse Entwicklung der Menschen. Der griechische Dichter Hesiod bezeichnete bereits um 700 v. Chr. die Muttergöttin Gaia und den Himmelsgott Uranos als Ursprung des olympischen Göttergeschlechts als Chthonioi, als chthonische Götter.
Die Symbolik der chthonischen Welt ist mächtig und steht ganz im Sinn von memento mori. Ihren symbolischen Höhepunkt erreicht sie bei Begräbnissen, in dem die erdverbundene Dimension über die himmlische siegt. Vorstellungen von Leben und Tod sind mit der chthonischen Welt verknüpft, mit der Verbindung zur Unterwelt, dem Zugang zu den Mächten der Allwissenheit und Zauberkraft der Toten. Die ganze Polarität des Daseins spiegelt sich in der erdverbundenen Welt wider: Licht und Finsternis und deren spirituelle Mächte, das Positive und das Negative. Und hier ist auch der Platz der Pilze. Die von ihnen ausgehende Faszination und geheimnisvolle Aura mögen zu einem beträchtlichen Teil in diesen Aspekten ihre Wurzeln haben.
„Wenn es wahr ist, dass das Totenreich eine unterirdische Welt darstellt, wie es der Brauch des Begrabens bestätigt“, lesen wir in „Die Brücke von San Giacomo“, einem Buch über Riten, Bräuche und Märchen zum Thema Tod in Süditalien von Luigi M. Lombardi Satriani und Mariano Meligrana, „... so stimmt es auch, dass die Wurzeln des Waldes bis ins Innere der Erde reichen, genauso wie aus dem Erdinnern die Quellen entspringen.“ Wir können noch ergänzen: Die Wurzeln des Waldes reichen nicht nur bis ins Innere der Erde, sie verbinden sich dort auch mit dem endlosen Pilzmyzel.
Wie viele Pilzarten es weltweit gibt, weiß niemand, doch könnten es mehrere Millionen sein. Die moderne Wissenschaft mit ihrer Molekularbiologie verändert unsere Sicht auf die Prozesse der Evolution, die Artbildung und auch die Frage, was Arten überhaupt sind. Heute scheinen wir weniger davon zu verstehen, als wir uns vor 30 Jahren eingebildet haben.
Die Faszination der Fungi ist überragend, und ich freue mich sehr, dass Sie mit mir diesen mykologischen und damit erdverbundenen Ausflug zu so manchen Pilzgeheimnissen unternehmen.
Ihr
Robert Hofrichter
AUSTERNSEITLING / AUSTERNPILZ
Pleurotus ostreatus
Der Austern-Seitling begeistert uns aus mehreren Gründen: Auf einem einzigen Baum kann er in derartigen Massen erscheinen, dass er eine ganze Familie mit einer wohlschmeckenden Pilzmahlzeit versorgen kann – noch dazu im tiefsten Winter, wenn sich kaum andere verwertbare Fruchtkörper zeigen. Als Moderpilz auf Holz – er befällt geschwächte oder abgestorbene Laubhölzer, seltener auch Nadelholz – kann er auch auf unterschiedlichen organischen Substraten leicht gezüchtet werden. So wurde er nach dem Champignon (siehe hier) unter Fantasienamen wie „Kalbfleischpilz“ in vielen europäischen Ländern zum zweitbekanntesten Zucht- oder Kulturpilz aus dem Supermarktregal. Zusätzlich dient er als Heilpilz, der auf immer mehr wissenschaftliches Interesse stößt. Und auch biologisch hat er es in sich: Nur wenige wissen, dass er sich zusätzlich zu seiner normalen Nahrung, die er durch das Zersetzen von Holz mit Hilfe seiner Enzyme gewinnt, auch als „Raubpilz“ ernährt. Ja, Sie haben richtig gelesen: Solche „räuberischen Pilze“ jagen aktiv andere Lebewesen im Boden! Doch dazu später mehr.
DIE FORM: ZWISCHEN OHR UND MUSCHEL
Der Winterspaziergang im Mischwald fängt gut an: Nicht nur ist die Natur teilweise verschneit, auch hat der Frost schon vor Tagen nachgelassen. Auf einer Buche, die irgendwie angeschlagen wirkt, zeigen sich selbst vier Meter über dem Boden ganze Büschel wunderschöner grauer Fruchtkörper mit weißlichen, hellen Lamellen, deren Hüte teilweise asymmetrisch sind und mit einer Hutseite am Baum festgewachsen. In der Tat: Sie erinnern in ihrer Form ein wenig an Muscheln oder auch an ein „seitlich wachsendes Ohr“, was die Bedeutung des wissenschaftlichen Namens ist.
Dem Kalender nach ist zwar Februar und damit tiefster Winter, doch die Witterung hat vor zehn Tagen umgeschlagen, selbst die Nächte verzeichnen nur wenige Grad unter null. Die Form der Pilze, der angenehme Pilzgeruch, die Jahreszeit, die Buche als Substrat (es können auch Walnussbäume und selten Fichten sein), all das lässt das Herz des Pilzfreundes höher schlagen. Unsicherheiten mit der Bestimmung hat er keine, schon greift er in seinen Rucksack und holt eine Stofftasche heraus, die er auch in der kalten Jahreszeit bei sich trägt. Ein echter Pilzfreund ist immer bereit. Eine wunderbare Pilzmahlzeit ist für heute gesichert. Und nicht einmal ein schlechtes Gewissen muss der Pilzfreund haben: Das Abernten der Fruchtkörper schädigt den Pilz nicht, der zudem in diesem Fall als Parasit auftritt, der einen zwar geschwächten, aber immer noch lebenden Baum befallen hat. Selbst wenn der Pilz Bäume umbringt, ist er für die Natur insgesamt ein Segen, denn „Totholz“ ist ein Zauberwort, das für ökologische Vielfalt und Biodiversität steht. Mehr als 3.000 Arten von Großpilzen sind bei uns darauf angewiesen, außerdem Legionen von Moosen, Flechten, Insekten und Vögeln. Sterbende und tote organische Materie ist das Allerbeste, was wir unserem Wald und seinen Kreaturen geben können. Leider tun wir das aber viel zu wenig.
IM TOTHOLZ IST ES GEMÜTLICH
Moderndes Holz ist ein Segen für das Ökosystem. Während am Boden, der zum Teil noch gefroren ist, keine Pilzfruchtkörper wachsen, sieht man sie auf Bäumen und Holz sehr wohl. Nicht nur der Austern-Seitling gedeiht, auch Judasohren (siehe hier) und Samtfußrüblinge (Flammulina velutipes) – alle drei sind vorzügliche Speisepilze.
Warum können diese Winterpilze auch bei diesen Temperaturen gedeihen? Und warum auf Baumstämmen? Als Folge der biochemischen Prozesse in faulendem und moderndem Holz entwickelt sich Wärme. Dieses Substrat ist somit wärmer als die Umgebung und als der Boden. Wunderbar für die Pilze, die keine „kalten Füße“ kriegen.
Selbst starke Fröste bringen manche Winterpilze nicht um. Nach dem Frost wachsen sie weiter. Lange Zeit verstand man nicht, wie dies möglich ist, doch die Wissenschaft hat zwischenzeitlich Antworten geliefert: Sogenannte Anti-Frost-Proteine (AFPs), sind dafür verantwortlich. Diese bemerkenswerte Gruppe von Eiweißen bindet sich im Pilzgewebe an Eiskristalle und verhindert deren Wachstum. Unkontrolliert im Gewebe und Zellen wachsende Eiskristalle würden unweigerlich zum Tod der Lebewesen führen, da sie die inneren Zellstrukturen zerstören. Anti-Frost-Proteine können dies schon in geringsten Mengen verhindern.
AUSTERNPILZE AUF DER PIRSCH – FADENWÜRMER FÜRCHTET EUCH!
Die Seitlinge zählen zu den sogenannten nematophagen Pilzen, einer ökologischen Sondergruppe karnivorer Pilze, die sich auf Fadenwürmer (Nematoden) als Beute spezialisiert haben, eine der ökologisch wichtigsten und artenreichsten Gruppen von Bodenorganismen. Zwischenzeitlich kennt man bereits etwa 160 Pilzarten mit einer solchen Ernährungsweise.
Fangringe aus Pilzfäden zu bauen ist eine evolutionär schon ältere Erfindung. So wurde in einem 100 Millionen Jahre alten Bernsteinstück ein nematophager Pilz mitsamt dem Wurm für die Ewigkeit konserviert.
Der Mechanismus der Jagd der Seitlinge funktioniert so: Sie produzieren auf ihren Pilzfäden winzige Tröpfchen von Toxinen. Innerhalb von 30 Sekunden ist der Fadenwurm (das sogenannte Älchen) durch diese paralysiert, ohne dass er getötet wird. Dann wächst die Hyphe (ein einzelner Pilzfaden) in den Wurm hinein und verdaut ihn mit Hilfe effektiver Enzyme innerhalb von 24 Stunden von innen heraus. Pilze „fressen“ grundsätzlich verflüssigte Nahrung, einen Mund und Verdauungstrakt haben sie ja nicht.
Manche Pilzarten verwenden auch „Lassos“, um die winzigen Fadenwürmer zu fangen. Diese Pilze stricken Fangringe aus ihren Fäden (Hyphen), und diese haben einen Durchmesser zwischen 0,02 und 0,10 mm. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist mit 0,12 mm etwas dicker. Zu den Lassos und anderen kugeligen Fangstrukturen mit dornigen Auswüchsen werden wir noch zurückkehren, wenn wir die Tintlinge (siehe hier) behandeln. Auch sie sind nematophag.
Diese ausgefallene Ernährungsweise mancher Pilzarten könnte künftig eine große Bedeutung in der Land- und Forstwirtschaft erlangen: Man testet bereits den Einsatz nematophager Pilze (z. B. Paecilomyces) im Pflanzenschutz. Da viele Fadenwürmer Kulturpflanzen schädigen, also pflanzenpathogen sind, versucht man ihnen nematophage Pilze auf den Hals zu hetzen.
Übrigens war der Austernpilz auch unter den ersten, die man für die biologische Sanierung vergifteter Böden eingesetzt hat, die sogenannte Bioremediation, ein ganz wichtiges Zukunftsthema.
PILZZUCHT: WER WILL SCHON AUF DIE NÄCHSTE SAISON WARTEN?
In aller Regel sind es die saprobiontischen Pilze, die man gut züchten kann, Moderpilze also, welche auf abgestorbener organischer Materie gedeihen.
Die Zucht der begehrten Partner-, Symbiose- oder Mykorrhizapilze – und das ist die Mehrzahl der wertvollen Pilze, die wir lieben, Steinpilz und Co. – will hingegen nicht im nennenswerten Maßstab gelingen, obwohl an ihr intensiv geforscht wird. Dass man aber bereits mit Trüffeln geimpfte Bäumchen kaufen kann, werden wir später noch lesen.
Saprobionten erhalten ihren Namen von sapros, altgriechisch „faul“ oder „verfault“, was andeutet, dass sich solche Lebewesen von toter, sich zersetzender organischer Substanz ernähren.
Zusammen mit dem Champignon, dem Shiitake und einigen weiteren gehört der Austern-Seitling weltweit zu den wichtigsten Kulturpilzen. In riesigen Hallen auf Ballen aus gehäckseltem, feuchtem Stroh werden beispielsweise in Frankreich, Italien und Deutschland große Mengen Austernpilze gezüchtet. So eine Produktionshalle muss ein extrem sauberer Ort sein, denn nicht nur unser begehrter Austern-Seitling wartet auf Nahrung, sondern auch unzählige weitere Pilze, darunter Schimmel und solche, die Toxine produzieren, Bakterien und ein ganzes Heer von anderen Organismen. Höchstmögliche Hygiene lautet die Devise für die Pilzzüchter. Kühl gelagert bleiben die Zuchtpilze bis zu acht Tage frisch.
Doch brauchen Sie gar nicht auf diese „industrielle“ Produktion zu warten: „Pilze zu Hause züchten, ernten, zubereiten und genießen“ verspricht die Werbung, und in diesem Fall verspricht sie nicht einmal zu viel. Es funktioniert wirklich ganz einfach: Ein Blick ins Internet reicht und Sie werden den passenden Lieferanten finden. Fünf bis zehn Tage nach der Lieferung beginnen die ersten Fruchtkörper zu wachsen, und wiederholte Erntewellen für insgesamt acht bis zehn Wochen sind in Aussicht.
Auf strohgefüllten Beuteln und allerlei weiterem Substrat lässt sich der Austernpilz recht gut züchten.
Die Pilzzucht ist keine menschliche Erfindung. Dem Autor Gert von Natzmer ist bereits 1915 in seinen „Konvergenzen im Leben der Ameisen und Termiten“ aufgefallen, „daß die Pilzzucht sich nur in Staaten mit hoch ausgebildeter staatlicher Organisation vorfindet“. Wir Menschen haben seit etwas mehr als 5.000 Jahren solche Staaten, Termiten und Ameisen schon viel länger. Und ausgerechnet diese drei so unterschiedlichen Lebewesen sind zu Pilzzüchtern geworden. Die unterirdischen Pilzfarmen der Ameisen (seit 50 Millionen Jahren) und Termiten (seit mindestens 30 Millionen Jahren) gab es lange, bevor es überhaupt Menschen und ihre Vorfahren gegeben hat. Der Mensch ist somit nicht das einzige Lebewesen unseres Planeten, das Landwirtschaft und Pilzzucht betreibt.
PILZE LIEBEN RECYCLING
Die Initiative „Hut & Stiel“ aus Wien macht sich diese Technik zunutze: In der Stadt Wien fallen täglich allein 44 Tonnen Kaffeesud an. Ein Teil des Kaffeesatzes landet heute nicht mehr im Müll, sondern wird mit Pilzmyzel, Füllmaterial, Wasser und etwas Kalk vermischt. Das ergibt ein perfektes Pilzsubstrat. Nach fünf Wochen kann man sich auf bis zu drei Pilzernten freuen. Und am Ende kommt alles auf den Kompost und wird Teil eines ökologisch vertretbaren Kreislaufes.
Die Nahrungsmittelindustrie experimentiert mit immer neuen Ideen, bei denen Pilze eine Rolle spielen: Eine verlockend aussehende und wohlschmeckende Pilzwurst wird beispielsweise auch aus Austern-Seitlingen gemacht, die auf Trester gezogen werden – den vorwiegend festen, aber auch flüssigen Rückständen, die nach dem Auspressen des Saftes von Pflanzenbestandteilen übrig bleiben.
ESSEN SIE SICH GESUND!
Lange Zeit herrschte die irreführende Meinung vor, dass Pilze wenig „nahrhaft“ seien und in der Gesamternährung keine besonders große Rolle spielen. Pleurotus ist aber im wahrsten Sinn des Wortes ein vitaminreicher Vitalpilz mit Vitamin C, D, dem gesamten Vitamin B-Komplex, mit allen acht essentiellen Aminosäuren (für Vegetarier oder Veganer von großer Bedeutung) wie auch wichtigen Mineralstoffen und Spurenelementen. Und dass Ballaststoffe für uns gesund sind, weiß man schon lange.
BACKHEFE / BIERHEFE
Saccharomyces cerevisiae
Dieser Pilz, den wir mit bloßem Auge nicht sehen können, hat vor gut 10.000 Jahren eine Revolution der menschlichen Entwicklung ausgelöst. Ohne Übertreibung können wir behaupten, dass er einer der wichtigsten Pilze unserer ganzen Geschichte ist, denn er ist eng mit unserer Sesshaftwerdung verbunden.
Je nach Vorliebe oder Heimatgegend nennen Sie diesen Pilz unterschiedlich und stellen Festes oder Flüssiges in den Mittelpunkt – in jedem Fall aber kommen Sie täglich in Berührung mit ihm: mit der Bäcker-, Back- oder Bierhefe. Womöglich sagen Sie bairisch-österreichisch Germ, eher niederdeutsch Bärme oder norddeutsch Gest (engl. yeast). Gemeint ist immer ein und derselbe Organismus, der den wissenschaftlichen Namen Saccharomyces cerevisiae trägt: „Zuckerpilz des Bieres“.
EIN BLICK DURCH DAS MIKROSKOP BRINGT UNS WEITER
Doch wo bitte ist in einem intensiv duftenden braunen (Hefe-)Würfel der Pilz?
Erstens müssen wir uns die triviale Erkenntnis in Erinnerung rufen, dass es sich bei den „klassischen Pilzen“, an die wir bei diesem Begriff denken (Champignon, Steinpilz ...) nicht um die Pilze selbst handelt, sondern um ihre Fruchtkörper. Der eigentliche Pilz ist das Pilzgeflecht im Substrat. Wenn wir uns die Pilzfäden im Mikroskop anschauen, kommen wir dem Verständnis der Pilze und auch der Hefen schon näher. Hefen sind einzellige Pilze mit einem Zelldurchmesser von fünf bis zehn Mikrometern (μm, also Tausendstel Millimetern) – und somit Mikroorganismen.
Im Mikroskop sehen wir, dass die Zellen der Pilze einen Zellkern haben, und damit wie Pflanzen und Tiere zu den „höheren“, eukaryotischen Organismen zählen. Diese Zellen sind wesentlich größer als etwa jene der Bakterien (die wir ja mit unserem Mikroskop gar nicht sehen könnten). Weiter zeigt sich, dass die Zellen der Hefen einzeln vorliegen und nicht in Fäden (Hyphen), wie sie für Pilze charakteristisch sind. Hefen sind also einzellige Pilze, die sich in der Regel sehr einfach – und damit auch sehr schnell – asexuell durch Teilung (Spaltung) vermehren. Es gibt auch Hefen, die Fäden bilden, auch die Bierhefe kann das. Und wenn Bierhefe in fädiger Form auftritt, kann sie auch die sogenannten Ascosporen bilden, die für die Schlauchpilze namensgebend ist. Die meisten Hefen, so auch unsere Bier- oder Bäckerhefe, zählen systematisch zu den Schlauchpilzen (Ascomycota), einer der beiden Großgruppen der Fungi.
In der Regel sehen wir aber im mikroskopischen Bild einzelne, winzige, ovale Zellen von Saccharomyces cerevisiae. Wenn die Bedingungen passen, allem voran die Temperatur, geht es schnell: Aus der Mutterzelle entsteht durch Sprossung eine Tochterzelle, und je besser die Bedingungen sind, desto schneller geht es mit der Vermehrung der Zellen weiter. Auch der Stoffwechsel dieser sich vermehrenden Hefepilze kommt in Fahrt. Wunder über Wunder: Der Teig geht auf.
Was dabei genau passiert, weiß der Biotechnologe Prof. Oliver Ullrich aus Hamburg:
„Die Backhefe besteht aus Pilzen, die den Einfachzucker Glukose benötigen, um sich zu vermehren. Diesen bekommen sie, indem sie mithilfe von Enzymen die Glukose aus der Stärke des Mehls aufspalten. Unter Anwesenheit von Sauerstoff bildet sich dabei Kohlendioxidgas, das in Form kleiner Bläschen den Teig auflockert. Bei 32 Grad arbeiten die Hefepilze am besten – dann wird viel Kohlendioxidgas gebildet, und der Teig geht gut auf. Man kann diesen Effekt noch unterstützen, indem man etwas Zucker hinzugibt.“
AM ANFANG WAR DAS PILS, PARDON, DER PILZ!
Doch wenn es nach dem bayerischen Biologieprofessor Joseph Reichholf geht, stand das Brot vor grob gerechnet etwa 12.000 Jahren gar nicht im Mittelpunkt des menschlichen Interesses. Vielmehr glaubt er, dass das Sesshaftwerden des Menschen, die neolithische Revolution also, in direktem Zusammenhang mit den Anfängen der Bierproduktion steht. Joseph Reichholfs Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte“ ist hochspannend, denn Bierproduktion bedeutet gezielte Nutzung eines Pilzes – selbst wenn man damals den Prozess selbst und die Rolle der Hefe im Geschehen nicht verstand, noch nicht einmal wusste, dass es Hefen überhaupt gibt.
Lange war die gängige Theorie, dass das Sesshaftwerden eine Folge der Bestandsrückgänge des Wilds in den Wäldern und des dadurch verursachten knappen Fleischangebots war. Laut Reichholf aber wurden wir sesshaft, um – zum Schutz vor Wild und Nachbarn – auf die neu gepflanzten Getreidefelder aufzupassen. Mehr Bier herstellen – so lautete die Devise der Schamanen und Klanchefs. Für spirituelle Zwecke spielten berauschende Stoffe (darunter auch Fliegenpilze, siehe hier) immer schon eine hervorragende Rolle. Erst danach folgte das Brot, so Reichholfs These. Unsere Alltagserfahrung deckt sich mit seiner These. Es gab und gibt bis heute keine menschliche Kultur, die keine berauschenden Mittel verwendet.
WELTMEISTER IM BIERKONSUM
Die absoluten Gewinner der spätsteinzeitlichen Erfindung sind die Tschechen: Mit 143 Litern Bier je Einwohner pro Jahr sind sie einsame Weltspitze. Im Land gibt es mehr als 300 Brauereien, Pilsner Urquell, Budweiser (Budvar), Staropramen und Krusovice sind die berühmtesten Marken.
Während den meisten Bierbrauern im Mittelalter von zehn Versuchen, Bier zu brauen, nur zwei gelangen, hatten viele Bäcker kein Problem. Daher wurde das Braurecht gern an Bäcker vergeben. Der Grund: In jeder Backstube schwirren Unmengen von Hefezellen herum, die ein wunderbares obergäriges Bier erzeugen.
Deutschland, genauer: Bayern, hat das Reinheitsgebot erfunden, behauptet man häufig, doch dies stimmt nicht ganz. Nur neuzeitlich können wir das gelten lassen: Am 30. November 1487 erließ Herzog Albrecht IV. von Bayern zum ersten Mal eine verbindliche Ordnung darüber, welche Zutaten zum Bierbrauen verwendet werden durften, nämlich ausschließlich Gerste, Hopfen und Wasser. Doch bereits der sumerische „Codex Hammurapi“ aus dem 18. Jh. v. Chr. regelte die Sauberkeit des Bierbrauens und des Verkaufs. Bei Verstößen drohte sogar die Todesstrafe. Die Sumerer und später die Babylonier kannten bereits mehr als 20 unterschiedliche Sorten Bier. Von Saccharomyces cerevisiae, dem Erzeuger des nahrhaften Getränks, konnten sie hingegen noch nichts ahnen. Und das sollte bis in die Neuzeit so bleiben. Obwohl schon Plinius der Ältere die Züchtung von Hefe (lat. fermentum, das Wort Fermentation geht darauf zurück) in seiner „Naturalis historia“ beschrieb, auch die Anwendung für die Bierherstellung, konnte er doch nicht wissen, mit was er es in Wirklichkeit zu tun hatte. Erst Louis Pasteur sorgte 1876 mit seiner Arbeit „Études sur la bière“ für definitive Klarheit.
BROT UND WEIN VERDANKEN WIR DER HEFE
Nicht nur das Bier war revolutionär, Brot und Wein waren es genauso. Seit Jahrtausenden begleiteten sie den Aufstieg der menschlichen Zivilisation, doch niemand konnte ahnen, dass sie alle drei ein und derselben „Ursache“ zu verdanken sind. Die Begriffe „Bier- und Backhefe“ lassen sich also synonym verwenden: Saccharomyces cerevisiae steckt hinter der alkoholischen Gärung der Weintrauben zu Wein und hinter einem schmackhaften, lockeren Brotteig. Niemand konnte verstehen, was da unsichtbar vor sich ging, denn ein Wein oder Teig holt sich bei der Spontangärung die nötigen Kulturen aus der Umgebung. Hefen, auch Saccharomyces, sind in der Natur weit verbreitet und befallen beispielsweise gern zuckerhaltige Früchte.
Über lange Zeiträume, z.B. im Mittelalter, war der Beruf des Bäckers eng mit dem des Brauers verbunden. Weil man den Grund für deren Erfolge nicht verstand, hielt man sie manchmal sogar für Spießgesellen des Teufels.
EINE BIOCHEMISCHE WUNDERFABRIK
Hefen gibt es viele: An die 700 Hefe-Arten sind bekannt, doch die meisten von ihnen treten zudem in verschiedenen Stämmen auf, die auch verschiedene Eigenschaften bzw. Talente haben: So können die obergärigen Stämme unserer Bierhefe die Zucker Glucose, Fructose, Mannose, Galactose, Saccharose, Maltose, Maltotriose und Raffinose nutzen, andere Stämme hingegen auch andere Zucker. Allerdings hat man unter all diesen Hefen bisher keine entdeckt, die sämtliche in der Natur vorkommenden Zucker umwandeln könnte.
Wir und mit uns die allermeisten Organismen würden ohne Sauerstoff schnell ersticken, nicht so die meisten Hefen. Sie können auch ohne Sauerstoff leben, sind also fakultativ anaerob. Ihren Stoffwechsel können sie je nach der Verfügbarkeit von Sauerstoff umschalten. Produktiver ist allerdings der Prozess mit Sauerstoff: Dabei wird viel mehr Energie frei, und auch die Zellteilungs- und damit Massenzuwachsraten sind höher. Ohne Sauerstoff können viele Hefen die Zucker zu niedermolekularen Stoffen wie Ethanol und Kohlenstoffdioxid abbauen – das passiert bei der alkoholischen Gärung.
ANTI-AGING MIT BIERHEFE
Die Nahrungsergänzungsmittel boomen, nie zuvor in der Geschichte hat es eine derartig unübersichtliche Fülle wirklicher und vermeintlicher Wundermittel gegeben. Nicht einmal zehn Leben würden ausreichen um sie alle auszuprobieren und herauszufinden, ob sie wirklich wirken.
Einzelne Hefezellen sind mit dem bloßen Auge nicht zu sehen, ihre Betrachtung ist nur unter dem Mikroskop möglich.