Die Geißel des Himmels - Ursula K. Le Guin - E-Book

Die Geißel des Himmels E-Book

Ursula K. Le Guin

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Beschreibung

George Orr möchte nur eines – auf einer Erde, wo Überbevölkerung und Hungersnot herrschen, einen Ort finden, an dem er in Frieden leben kann. Aber Orr verfügt über eine erstaunliche Fähigkeit: Seine Träume verändern die Wirklichkeit. Und er kann nicht beeinflussen, was er träumt. Der Psychiater Willam Haber bietet ihm seine Hilfe an. Erst will er Orr nicht glauben, doch bald begreift er, welche Macht er ausüben kann, wenn er sich der Träume seines Schützlings bedient. Und damit beginnt ein schicksalhaftes Ringen um die Zukunft der Menschheit ... Ein hochbrisanter Science-Fiction-Roman, in dem Ursula K. Le Guin die Gefühlswelt der Protagonisten und die beängstigend realistischen Schauplätze auf souveräne Weise im Gleichgewicht hält.

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von

Joachim Körber

Impressum

Titel der Originalausgabe: The Lathe of Heaven

Erstmals erschienen 1971 bei Avon Books in New York

© 1971 by Ursula K. Le Guin

copyright renewed © 1999 by Ursula K. Le Guin

© der Übersetzung 2024 by Joachim Körber & Hannes Riffel

© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Agentur Paul & Peter Fritz, Zürich, und der Agentur Ginger Clark Literay, Orange, New York. // Die deutsche Erstausgabe erschien, übersetzt von Birgit Reß-Bohusch, 1974 bei Heyne in München // Die vorliegende Neuübersetzung erschien erstmals 2006 bei der Edition Phantasia in Bellheim und wurde für diese Ausgabe durchgesehen und grundlegend überarbeitet // Vorlage hierfür war Five Novels (New York: Library of America, 2024), Seite 3–161 // Verlag und Herausgeber danken Joachim Körber für die gute Zusammenarbeit

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Robert Schekulin

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-26-1 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-27-8 (E-Book)

1

Konfuzius und du, ihr seid beide Träume; und dass ich dich einen Traum nenne, ist auch ein Traum. Solche Worte nennt man paradox. Vielleicht werden wir aber nach zehntausend Geschlechtern einmal einem großen Berufenen begegnen, der sie aufzulösen vermag.

Zhuāngzi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland

Von der Strömung getragen, von Wellen herumgewirbelt, im Sog der geballten Macht des Ozeans treibt die Qualle im Abgrund der Gezeiten. Das Licht scheint durch sie hindurch, das Dunkel dringt in sie ein. Getragen, herumgewirbelt, im Sog von Irgendwo nach Irgendwo, denn in der Tiefsee gibt es keine Himmelsrichtungen, nur näher und ferner, höher und tiefer, schwebt und schwankt die Qualle; ein leichtes, schnelles Pulsieren durchströmt sie so wie das gewaltige, täglich wiederkehrende Pulsieren des mondgetriebenen Meeres. Schwebend, schwankend, pulsierend, das verwundbarste und substanzloseste aller Geschöpfe, aber zu seiner Verteidigung gebietet es über Gewalt und Kraft des ganzen Ozeans, dem es sein Wesen, seinen Weg und seinen Willen anvertraut hat.

Doch hier erheben sich die störrischen Kontinente. Schelfe aus Kies und Klippen aus Fels erheben sich kahl aus dem Wasser in die Luft, dieses trockene, schreckliche Weltall voller Strahlung und Instabilität, wo das Leben keine Unterstützung findet. Und jetzt, jetzt führen die Strömungen in die Irre, die Wellen sind verräterisch, durchbrechen den ewigen Kreislauf, springen mit tosender Gischt gegen Felsen und Luft, brechen …

Was wird das Geschöpf aus reiner Meeresströmung auf dem trockenen Sand des hellen Tageslichts anfangen; was wird der Verstand anfangen, wenn er jeden Morgen erwacht?

Ihm waren die Lider weggebrannt worden, sodass er die Augen nicht schließen konnte, und das sengende Licht strömte ihm ins Gehirn. Er konnte den Kopf nicht drehen, da herabgestürzte Betonquader ihn niederdrückten und die Stahlstangen, die aus ihren Kernen ragten, seinen Kopf wie in einem Schraubstock festhielten. Als diese fort waren, konnte er sich wieder bewegen; er setzte sich auf. Er befand sich auf Betonstufen; ein Löwenzahn, der aus einem kleinen Spalt im Beton wuchs, blühte neben seiner Hand. Nach einer Weile erhob er sich, aber kaum war er auf den Beinen, wurde ihm speiübel, und er wusste, das lag an der Strahlenkrankheit. Bis zur Tür waren es nur zwei Schritte, denn aufgeblasen beanspruchte die Luftmatratze das halbe Zimmer. Er schaffte es zur Tür, öffnete sie, trat hinaus. Da erstreckte sich der endlose Linoleumkorridor, der – leicht schwankend – meilenweit verlief, und weit entfernt, sehr weit, die Herrentoilette. Er ging darauf zu, versuchte sich an der Wand abzustützen, aber da gab es nichts zum Abstützen, und die Wand verwandelte sich in einen Fußboden.

»Ruhig. Ganz ruhig.«

Das Gesicht des Fahrstuhlführers schwebte, bleich, von ergrautem Haar eingerahmt, wie ein Papierlampion über ihm.

»Das ist die Strahlung«, sagte er, aber Mannie schien ihn nicht zu verstehen, sagte nur: »Beruhigen Sie sich.«

Er lag wieder auf der Luftmatratze in seinem Zimmer.

»Sind Sie betrunken?«

»Nein.«

»Von irgendwas high?«

»Krank.«

»Was haben Sie genommen?«

»Konnte den passenden nicht finden«, antwortete er und wollte damit sagen, dass er versucht hatte, die Tür abzuschließen, durch die die Träume kamen, aber keiner der Schlüssel hatte ins Schloss gepasst.

»Der Arzt aus dem fünfzehnten Stock kommt rauf«, sagte Mannie leise durch das Tosen der Brandung.

Er strampelte, versuchte zu atmen. Ein Fremder mit einer Spritze in der Hand saß auf seinem Bett und betrachtete ihn.

»Das hat gewirkt«, sagte der Fremde. »Er kommt zu sich. Sie fühlen sich beschissen? Bleiben Sie ruhig. Sie sollten sich auch beschissen fühlen. Haben Sie das alles auf einmal genommen?« Er hielt sieben der kleinen Plastiktütchen aus dem Medikamentenautomaten hoch. »Ganz schlechte Mischung, Barbiturate und Dexedrin. Was wollten Sie sich denn antun?«

Es fiel ihm schwer zu atmen, aber die Übelkeit war abgeklungen, und zurückgeblieben war nur eine schreckliche Schwäche.

»Haben alle das Datum dieser Woche«, fuhr der Arzt fort, ein junger Mann mit braunem Pferdeschwanz und schlechten Zähnen. »Was bedeutet, sie wurden nicht alle mit Ihrer Apothekenkarte gezogen, also muss ich Sie wegen Kartenbetrug melden. Gefällt mir nicht, aber ich wurde gerufen, und mir bleibt nichts anderes übrig, verstehen Sie? Keine Sorge, bei diesen Medikamenten ist das kein Straftatbestand, Sie kriegen bloß eine Aufforderung, dass Sie sich bei der Polizei melden sollen, und die werden Sie zur Untersuchung in die Uniklinik oder ins Kreiskrankenhaus schicken, wo man Sie zur FTB – zur ›Frewilligen Therapeutischen Behandlung‹ – an einen Arzt oder Seelenklempner überweisen wird. Ich hab das Formular schon anhand Ihres Ausweises ausgefüllt; jetzt müsste ich nur noch wissen, wie lange Sie diese Medikamente schon in einer höheren Dosierung eingenommen haben als Ihrer eigenen.«

»Zwei Monate.«

Der Arzt kritzelte etwas auf ein Blatt Papier auf seinen Knien.

»Und von wem haben Sie sich die Apothekenkarten ausgeliehen?«

»Von Freunden.«

»Ich brauche die Namen.«

Nach einer Weile sagte der Arzt: »Wenigstens einen Namen. Reine Formsache. Die kriegen keinen Ärger. Passen Sie auf, die werden lediglich von der Polizei verwarnt und das Gesundheitsamt überprüft ein Jahr lang Ihre Apothekenkarten. Reine Formsache. Einen Namen.«

»Ich kann nicht. Die wollten mir nur helfen.«

»Hören Sie, wenn Sie die Namen nicht nennen, gilt das als Widersetzlichkeit, und Sie kommen entweder ins Gefängnis oder zur Zwangstherapie in eine geschlossene Anstalt. Außerdem können Sie die Karten über die gespeicherten Daten des Medikamentenautomaten zurückverfolgen, wir nehmen Ihnen also nur die Arbeit ab. Kommen Sie, nennen Sie mir nur einen der Namen.«

Er bedeckte das Gesicht mit den Armen, um das unerträgliche Licht abzuhalten, und sagte: »Ich kann nicht. Ich kann das nicht. Ich brauche Hilfe.«

»Er hat meine Karte geborgt«, sagte der Fahrstuhlführer. »Jau. Mannie Ahrens, 247-602-6023.« Der Kugelschreiber des Arztes machte kritzel kritzel.

»Ich habe Ihre Karte nie benutzt.«

»Bringen wir sie eben ein wenig durcheinander. Die prüfen das eh nicht nach. Die Leute verwenden andauernd die Apothekenkarten anderer Leute, die können das nicht nachprüfen. Ich verleihe meine andauernd oder benutz die von ‚nem anderen Typen. Solche Verwarnungen hab ich haufenweise rumliegen. Ich hab Sachen genommen, von denen das Gesundheitsamt nicht mal gehört hat. Die haben Sie noch nie erwischt. Beruhigen Sie sich, George.«

»Das kann ich nicht«, sagte er und meinte damit, er konnte Mannie nicht für sich lügen lassen, konnte ihn nicht daran hindern, für ihn zu lügen, konnte sich nicht beruhigen, konnte nicht weitermachen.

»In zwei oder drei Stunden geht es Ihnen besser«, sagte der Arzt. »Aber bleiben Sie daheim. In der Innenstadt ist sowieso alles blockiert, die U-Bahn-Fahrer streiken mal wieder, die Nationalgarde versucht, die U-Bahnen am Laufen zu halten, und in den Nachrichten heißt es, dass da völliges Chaos herrscht. Bleiben Sie hier. Ich muss jetzt los, ich gehe zu Fuß zur Arbeit, verdammt, zehn Minuten von hier, die staatliche Wohnanlage in der Macadam.« Die Luftmatratze federte, als er aufstand. »Wissen Sie, dass allein in diesem Gebäudekomplex zweihundertsechzig Kinder an Kwashiorkor leiden? Allesamt aus Familien mit geringem Einkommen oder von Sozialhilfe abhängig, und die kriegen einfach keine Proteine. Und was zum Teufel soll ich dagegen machen? Ich hab fünf verschiedene Anträge gestellt, damit diese Kinder wenigstens die Minimalration Proteine erhalten, aber die kommen einfach nicht bei, nichts als Papierkrieg und Ausreden. Leute, die von Sozialhilfe leben, können es sich leisten, anständiges Essen zu kaufen, kriege ich immer wieder zu hören. Klar, was aber, wenn es dieses Essen nirgendwo zu kaufen gibt? Ach, zum Teufel damit. Ich verpasse ihnen ein paar Vitamin C-Spritzen und tu so, als würden sie nur an Skorbut leiden und nicht verhungern …«

Die Tür fiel ins Schloss. Die Luftmatratze federte erneut, als Mannie sich dorthin setzte, wo der Arzt gesessen hatte. Es roch leicht süßlich, wie nach frisch geschnittenem Gras. Aus der Dunkelheit geschlossener Lider, dem Nebel, der überall ringsum aufstieg, sagte wie aus weiter Ferne Mannies Stimme: »Ist es nicht wunderbar, am Leben zu sein?«

2

Das Tor zu Gott ist Nichtsein.

Zhuāngzi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland

Dr. William Habers Praxis hatte keine Aussicht auf den Mount Hood. Es handelte sich um eine der innen gelegenen Gewerbesuiten im dreiundsechzigsten Stock des Willamette East Tower, die überhaupt keine Aussicht hatten. Aber eine der fensterlosen Wände zeigte ein großes fotografisches Wandbild des Mount Hood, und das betrachtete Dr. Haber, während er über die Sprechanlage mit seiner Vorzimmerdame redete.

»Wer ist dieser Orr, der gleich drankommt, Penny? Der Hysteriker mit den Leprasymptomen?«

Sie saß nur drei Schritte von ihm entfernt auf der anderen Seite der Wand, aber eine Praxissprechanlage wirkt, ebenso wie ein Diplom an der Wand, vertrauenerweckend auf die Patienten und stärkt das Selbstvertrauen des Arztes. Schließlich gehört es sich nicht, dass ein Psychiater die Tür aufreißt und »Der Nächste!« ruft.

»Nein, Doktor, das ist Mr. Greene morgen um zehn. Jetzt ist der dran, den uns Dr. Walters von der Universitätsklinik überwiesen hat, ein FTB-Fall.«

»Medikamentenmissbrauch. Richtig. Ich habe die Akte hier. Okay, schicken Sie ihn rein, wenn er da ist.«

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hörte er den Fahrstuhl jaulend heraufkommen und anhalten, die Türen keuchend aufgehen; dann Schritte, ein Zögern, die Vorzimmertür, die geöffnet wurde. Außerdem konnte er jetzt, darauf aufmerksam geworden, den ganzen Flur hinauf und hinab und auf den Stockwerken über und unter sich Türen, Schreibmaschinen und Toilettenspülungen hören. Eigentlich bestand die Kunst darin, das alles nicht zu hören. Nur noch im Kopf waren massive Wände verblieben.

Während Penny die Formalitäten des ersten Besuchs mit dem Patienten regelte und Dr. Haber wartete, betrachtete er abermals das Wandbild und fragte sich, wann diese Fotografie wohl aufgenommen worden war. Blauer Himmel, Schnee vom Vorland bis zum Gipfel. Zweifellos schon vor geraumer Zeit, in den sechziger oder siebziger Jahren. Die Auswirkungen des Treibhauseffekts hatten sich nur langsam gezeigt, und Haber konnte sich, 1962 geboren, deutlich an den blauen Himmel seiner Kindheit erinnern. Heute war der ewige Schnee von allen Bergen der Erde verschwunden, sogar vom Everest, sogar vom Erebus mit seinem Feuerschlund an der Küste der antarktischen Wüste. Gut möglich, dass sie eine moderne Fotografie nachkoloriert hatten, den blauen Himmel und den weißen Gipfel gefälscht; schwer zu sagen.

»Guten Tag, Mr. Orr!«, rief er, stand auf, lächelte, streckte jedoch nicht die Hand aus, denn viele Patienten fürchteten sich heutzutage sehr vor Körperkontakt.

Der Patient zog unsicher die fast dargebotene Hand zurück und spielte nervös mit seiner Halskette. »Wie geht es Ihnen?«, sagte er. Die Halskette war das übliche Modell, lang und aus versilbertem Stahl. Gewöhnliche Kleidung, Büroangestelltenstandard; der Haarschnitt konservativ schulterlang, der Bart kurz. Helle Haare und Augen, ein kleiner, zierlicher blonder Mann, leicht unterernährt, bei guter Gesundheit, zwischen achtundzwanzig und zweiunddreißig Jahre alt. Nicht aggressiv, sondern eher sanftmütig, ein Hasenfuß, verklemmt, konventionell. In der Beziehung zu einem Patienten, sagte Haber häufig, waren die ersten zehn Sekunden am wichtigsten.

»Setzen Sie sich, Mr. Orr. Prima! Rauchen Sie? Die mit braunen Filtern beruhigen, die mit weißen sind nikotinfrei.« Orr rauchte nicht. »Also, mal sehen, ob wir hinsichtlich der Beurteilung Ihrer Situation übereinstimmen. Das Gesundheitsamt möchte wissen, warum Sie sich die Apothekenkarten Ihrer Freunde geborgt und sich am Medikamentenautomaten mehr als die Ihnen zustehende Ration Aufputschmittel und Schlaftabletten beschafft haben. Richtig? Darum haben die Sie zu den Jungs auf dem Hügel geschickt, und die wiederum haben eine Freiwillige Therapeutische Behandlung empfohlen und Sie zur Therapie an mich überwiesen. Soweit korrekt?«

Er hörte sich sprechen, den sorgfältig einstudierten jovialen, zwanglosen Tonfall, der seinem Gegenüber die Befangenheit nehmen sollte; wovon sein Patient offenbar noch ein ganzes Stück entfernt war. Er blinzelte häufig, wirkte, so wie er dasaß, verkrampft, die Haltung seiner Hände übertrieben förmlich: das klassische Bild unterdrückter Nervosität. Er nickte, als würde er gleichzeitig um Atem ringen.

»Okay, prima, das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn Sie Ihre Tabletten gehortet hätten, um sie an Süchtige zu verkaufen oder einen Mord zu begehen, säßen Sie jetzt richtig in der Patsche. Aber da Sie sie selbst genommen haben, kommen Sie mit ein paar Sitzungen bei mir davon! Ich möchte natürlich wissen, warum Sie die Tabletten genommen haben, damit wir dann gemeinsam einen besseren Lebensplan für Sie ausarbeiten können, der einerseits dafür sorgt, dass Sie sich an die Dosierungsbeschränkungen Ihrer Apothekenkarte halten, Sie aber andererseits vielleicht völlig von der Medikamentenabhängigkeit heilt. Sie haben gewohnheitsmäßig«, er warf einen kurzen Blick in die Mappe, die die Uniklinik geschickt hatte, »mehrere Wochen lang Barbiturate eingenommen, dann ein paar Nächte zu Dextroamphetamin gewechselt und sind dann wieder zu den Barbituraten zurückgekehrt. Wie hat das angefangen? Schlaflosigkeit?«

»Ich schlafe gut.«

»Aber Sie haben Albträume.«

Der Mann blickte ängstlich auf: ein Anflug unverhohlenen Entsetzens. Das würde ein einfacher Fall werden. Er hatte keine Schutzmechanismen.

»Irgendwie schon«, sagte er heiser.

»Das war leicht zu erraten, Mr. Orr. In der Regel schicken sie mir die Träumer.« Er grinste den kleinen Mann an. »Ich bin Traumspezialist. Buchstäblich. Oneirologe. Schlaf und Träume sind mein Metier. Okay, damit komme ich zur nächsten begründeten Vermutung, nämlich der, dass Sie Phenobarbital genommen haben, um die Träume zu unterdrücken, aber feststellen mussten, dass das Medikament bei zunehmender Gewöhnung immer weniger wirkt, und irgendwann gar nicht mehr. Ganz ähnlich verhält es sich mit Attentin. Also haben Sie sie abwechselnd genommen. Richtig?«

Der Patient nickte steif.

»Warum war der Zeitraum der Einnahme von Attentin stets kürzer?«

»Es hat mich nervös gemacht.«

»Das kann ich mir vorstellen. Und die letzte kombinierte Dosis, die Sie einnahmen, brachte das Fass zum Überlaufen. Ohne an sich gefährlich zu sein. Trotzdem haben Sie etwas Gefährliches getan, Mr. Orr.« Er legte eine Kunstpause ein. »Sie haben Ihre Träume unterdrückt.«

Wieder nickte der Patient.

»Würden Sie versuchen, die Nahrungs- und Wasseraufnahme zu unterdrücken, Mr. Orr? Haben Sie in letzter Zeit einmal versucht, ohne Luft auszukommen?«

Er behielt den jovialen Tonfall bei, und der Patient brachte ein kurzes, unglückliches Lächeln zustande.

»Sie wissen, dass Sie Schlaf benötigen. So, wie Sie Nahrung, Wasser und Luft benötigen. Aber ist Ihnen klar, dass Schlaf allein nicht ausreicht, dass Ihr Körper ebenso nachdrücklich darauf besteht, den ihm notwendigen Traumschlaf zu bekommen? Wenn Ihrem Gehirn systematisch alle Träume entzogen werden, stellt es ziemlich merkwürdige Dinge mit Ihnen an. Sie werden gereizt, hungrig und unkonzentriert – kommt Ihnen das bekannt vor? Das lag nicht nur an dem Attentin! Ein Hang zu Tagträumen, schwankende Reaktionszeiten, Vergesslichkeit, Verantwortungslosigkeit und eine Neigung zu paranoiden Wahnvorstellungen. Und zuletzt wird es Sie zwingen zu träumen – ganz gleich wie. Kein Medikament kann Sie am Träumen hindern, es sei denn, es bringt Sie um. Extremer Alkoholismus kann beispielsweise zu einem Zustand führen, der zentrale pontine Myelinolyse genannt wird und tödlich ist; Ursache dafür ist eine Schädigung des Hirnstamms, die durch fehlende Träume ausgelöst wird. Nicht durch Schlafmangel! Durch das Fehlen eben jenes Stadiums, das im Schlaf eintritt, das Traumstadium, REM-Schlaf, sogenannter paradoxer Schlaf. Sie sind allerdings kein Alkoholiker und nicht tot, darum weiß ich, dass das, was Sie genommen haben, um Ihre Träume zu unterdrücken, nur teilweise gewirkt hat. Aus diesem Grund sind Sie a) durch partiellen Traumentzug in einer recht schlechten körperlichen Verfassung, und b) haben Sie versucht, in eine Sackgasse zu gehen. Gut. Warum wollten Sie in diese Sackgasse gehen? Angst vor Träumen, vor Albträumen, nehme ich an, oder was Sie für Albträume halten. Können Sie mir irgendetwas über diese Träume sagen?«

Orr zögerte.

Haber machte den Mund auf und wieder zu. Nur zu oft wusste er, was seine Patienten sagen wollten, konnte es besser sagen als sie selbst. Aber es war wichtig, dass sie den ersten Schritt machten. Das konnte er ihnen nicht abnehmen. Und letztlich diente dieses Gespräch nur der Vorbereitung, war ein Ritual, das aus den Kindertagen der Psychoanalyse übriggeblieben war; seine einzige Funktion bestand darin, ihm eine Entscheidungshilfe zu bieten, wie er dem Patienten helfen konnte, ob eine positive oder eine negative Konditionierung angebracht war, wie er vorgehen sollte.

»Ich habe nicht häufiger Albträume als andere Menschen, glaube ich«, sagte Orr und betrachtete seine Hände. »Nichts Besonderes. Ich … ich fürchte mich davor zu träumen.«

»Vor Albträumen?«

»Vor allen Träumen.«

»Ich verstehe. Haben Sie eine Ahnung, woher diese Angst eigentlich kommt? Oder wovor Sie sich fürchten, was Sie meiden möchten?«

Da Orr nicht gleich antwortete, sondern nur dasaß und seine Hände anstarrte, derbe, rötliche Hände, die allzu reglos auf seinen Knien lagen, hakte Haber nur ein wenig nach. »Liegt es am Irrationalen, Gesetzlosen, manchmal Unmoralischen der Träume, erfüllt Sie etwas Derartiges mit Unbehagen?«

»Ja, in gewisser Weise. Aber aus einem bestimmten Grund. Sehen Sie, hier … hier bin ich …«

Das ist der springende Punkt, die Blockierung, dachte Haber und starrte ebenfalls diese verkrampften Hände an. Armer Kerl. Er hat feuchte Träume und Schuldkomplexe deswegen. Als Kind Bettnässer, eine zwanghafte Mutter –

»Sie werden mir nicht glauben.«

Der kleine Kerl war kränker, als er aussah.

»Ein Mann, der sich mit Träumen im Schlaf und mit Tagträumen befasst, schert sich nicht groß um Begriffe wie glauben oder nicht glauben, Mr. Orr. Das sind Kategorien, in denen ich nicht denke. Sie haben keine Gültigkeit. Gehen Sie also bitte darüber hinweg und fahren Sie fort. Meine Neugier ist geweckt.« Klang das herablassend? Er musterte Orr, um festzustellen, ob dieser ihm die Bemerkung übelnahm, und sah dem Mann einen Moment in die Augen. Außergewöhnlich schöne Augen, dachte Haber, und wunderte sich selbst über dieses Wort, denn Schönheit war ebenfalls eine Kategorie, in der er nicht so oft dachte. Die Pupillen waren blau oder grau, sehr klar, beinahe durchsichtig. Einen Moment blickte Haber selbstvergessen in diese klaren, schüchternen Augen; aber nur kurz, sodass dieses seltsame Erlebnis kaum einen Eindruck in seinem Bewusstsein hinterließ.

»Also gut«, sagte Orr mit einigem Nachdruck, »ich habe geträumt, und diese Träume … diese Träume haben … haben die Welt außerhalb der Träume beeinflusst. Die reale Welt.«

»Das kennen wir alle, Mr. Orr.«

Orr sah ihn an. Ein vollkommen normaler Mensch.

»Die Wirkung der Träume des paradoxen Schlafs, kurz vor dem Erwachen, kann auf der emotionalen Ebene der Psyche dergestalt sein –«

Aber der normale Mensch unterbrach ihn. »Nein, das meine ich nicht.« Und ein wenig stotternd: »Ich meine, ich habe etwas geträumt, und es ist wahr geworden.«

»Das glaube ist Ihnen gern, Mr. Orr. Und das meine ich im vollen Ernst. Seit dem Aufkommen naturwissenschaftlichen Denkens ist niemand mehr geneigt, eine derartige Äußerung infrage zu stellen, geschweige denn als Hirngespinst abzutun. Prophetische –«

»Ich habe keine prophetischen Träume. Ich kann nichts vorhersehen. Ich verändere lediglich etwas.« Die Hände waren zu Fäusten geballt. Kein Wunder, dass die hohen Tiere an der Uniklinik den Kerl hierhergeschickt hatten. Die Irren, mit denen sie nicht fertig wurden, schickten sie immer zu Haber.

»Können Sie mir ein Beispiel nennen? Können Sie sich an das allererste Mal erinnern, als Sie so einen Traum hatten? Wie alt waren Sie da?«

Der Patient zögerte ziemlich lange, und schließlich sagte er: »Sechzehn, glaube ich.« Sein Verhalten blieb weiterhin friedfertig; er ließ große Angst vor diesem Thema erkennen, aber keine Abwehrreaktion oder Feindseligkeit gegenüber Haber. »Sicher bin ich mir nicht.«

»Erzählen Sie mir von dem ersten Traum, bei dem Sie sicher sind.«

»Da war ich siebzehn. Ich wohnte noch zu Hause, und die Schwester meiner Mutter war bei uns untergeschlüpft. Sie stand kurz vor der Scheidung, arbeitete nicht und bezog Sozialhilfe. Sie war immer irgendwie im Weg. Wir hatten eine normale Dreizimmerwohnung, und sie ging nie aus. Sie trieb meine Mutter die Wände hoch. Besonders rücksichtsvoll war sie nicht, Tante Ethel, meine ich. Hielt andauernd das Badezimmer belegt – in der Wohnung hatten wir noch ein eigenes Bad. Und mir hat sie, na ja, im Spaß Avancen gemacht. Halb im Spaß. Kam nur in Schlafanzughosen in mein Zimmer, so was eben. Sie war erst Anfang dreißig. Damit kam ich nicht klar. Ich hatte noch keine Freundin und … Sie wissen schon. Die Pubertät. Da gerät ein Junge rasch aus der Fassung. Mir war das zuwider. Ich meine, sie war meine Tante!«

Er sah hoch, um sich zu vergewissern, dass der Arzt wusste, was ihm zuwider gewesen war, und ihm das nicht übelnahm. Die aufdringliche Freizügigkeit in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte, was die Sexualität betraf, zu genauso viel Angst- und Schuldkomplexen bei denen geführt, die sie geerbt hatten, wie die fortwährende Unterdrückung im neunzehnten Jahrhundert. Orr fürchtete, Haber könnte schockiert sein, dass er nicht mit seiner Tante hatte ins Bett gehen wollen. Haber behielt seinen unverbindlichen, aber interessierten Ausdruck bei, und Orr fuhr fort.

»Also, ich hatte damals dauernd solche Angstträume, und diese Tante kam immer darin vor. Meistens irgendwie verkleidet, wie das bei Leuten in Träumen eben ist; einmal erschien sie als eine weiße Katze, aber ich wusste, dass es Ethel war. Jedenfalls brachte sie mich eines Abends dazu, sie ins Kino einzuladen, und wollte, dass ich sie anfasste, und als wir nach Hause kamen, räkelte sie sich auf meinem Bett und sagte immer wieder, meine Eltern würden schlafen und so was, und als ich sie endlich aus meinem Zimmer vertrieben hatte und schlafen konnte, hatte ich diesen Traum. Einen ausgesprochen lebhaften Traum. Als ich aufwachte, konnte ich mich ganz deutlich daran erinnern. Ich träumte, Ethel wäre in Los Angeles bei einem Autounfall ums Leben gekommen und wir hätten eben das Telegramm erhalten. Meine Mutter weinte, während sie versuchte, das Essen zu richten, und sie tat mir leid und ich wünschte, ich hätte etwas für sie tun können, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das war alles … Aber als ich aufstand, ging ich ins Wohnzimmer. Keine Ethel auf der Couch. Da war niemand mehr in der Wohnung, nur meine Eltern und ich. Sie war nicht da. Sie war nie da gewesen. Ich musste gar nicht fragen. Ich erinnerte mich daran. Ich wusste, dass Tante Ethel vor sechs Wochen in Los Angeles auf dem Freeway bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, auf dem Rückweg von einem Anwalt, den sie wegen der Scheidung aufgesucht hatte. Das war uns in einem Telegramm mitgeteilt worden. In dem Traum erlebte ich nur noch einmal, was tatsächlich geschehen war. Aber es war nicht geschehen. Bis zu dem Traum. Ich meine, ich wusste immer noch, dass sie bei uns gewohnt und bis gestern Nacht auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen hatte.«

»Aber es gab nichts, was das untermauert, was es bewiesen hätte?«

»Nein. Nichts. Sie war nie da gewesen. Niemand erinnerte sich daran, dass sie da gewesen war, außer mir. Und ich war im Irrtum. Bin es.«

Haber nickte verständnisvoll und strich sich über den Bart. Der leichte Fall von Medikamentenmissbrauch schien sich zu einer ernsthaften Verwirrung ausgewachsen zu haben, aber noch nie war ihm eine Wahnvorstellung so unverblümt geschildert worden. Orr mochte ein intelligenter Schizophrener sein, der ihn an der Nase herumführte, ihm mit schizoider Erfindungsgabe und voller Heimtücke etwas vorspielte; aber ihm fehlte die leicht introvertierte Arroganz solcher Leute, für die Haber ein außerordentlich feines Gespür besaß.

»Was meinen Sie, warum Ihre Mutter nicht bemerkte, dass sich die Realität seit der vergangenen Nacht verändert hatte?«

»Na ja, sie hat es nicht geträumt. Ich meine, der Traum hat die Realität wirklich verändert. Er schuf rückwirkend eine andere Realität, der sie die ganze Zeit angehört hatte. Da sie sich darin befand, hatte sie keine Erinnerung an eine andere. Ich schon, ich erinnerte mich an beide, weil ich … weil ich im Augenblick der Veränderung da war. Anders kann ich das nicht erklären, und ich weiß, dass es nicht besonders einleuchtend klingt. Aber ich brauche irgendeine Erklärung, andernfalls müsste ich mir eingestehen, dass ich verrückt bin.«

Nein, dieser Bursche war kein Hasenfuß.

»Ich halte nichts von Spekulationen, Mr. Orr. Ich bin auf Fakten aus. Und geistige Vorgänge sind für mich Fakten, glauben Sie mir. Wenn man sieht, wie die Träume eines anderen Menschen so, wie er sie träumt, schwarz auf weiß mit dem Elektroenzephalographen aufgezeichnet werden, und ich habe das schon zehntausend Mal gesehen, dann betrachtet man Träume nicht mehr als ›unwirklich‹. Sie existieren; sie ereignen sich wirklich; sie hinterlassen Spuren. Also gut. Ich nehme an, Sie hatten noch andere Träume, die die gleichen Folgen hatten?«

»Ein paar. Aber lange Zeit nicht mehr. Nur unter Stress. Aber es schien immer … immer öfter zu passieren. Ich bekam es mit der Angst zu tun.«

Haber beugte sich vor. »Warum?«

Orr sah ihn mit leerem Blick an.

»Warum hatten Sie Angst?«

»Weil ich nichts verändern will!«, sagte Orr, als wäre das offensichtlich. »Wer bin ich, in den Lauf der Dinge einzugreifen? Außerdem bewirkt mein Unterbewusstsein diese Veränderungen, ohne dass der Verstand es beeinflusst. Ich habe es mit Selbsthypnose versucht, aber das hat nichts gebracht. Träume sind zusammenhanglos, egoistisch, irrational – unmoralisch, wie Sie eben gesagt haben. Sie haben ihren Ursprung in dem, was unzivilisiert an uns ist, jedenfalls teilweise, habe ich recht? Ich wollte die arme Ethel nicht töten. Ich wollte nur, dass sie mich in Ruhe ließ. In Träumen geschieht so etwas immer auf drastische Weise. Träume schlagen den kürzesten Weg ein. Ich hatte sie umgebracht. Bei einem Autounfall, tausend Meilen weit weg, sechs Wochen vorher. Ich bin schuld an ihrem Tod.«

Haber strich sich wieder über den Bart. »Darum«, sagte er bedächtig, »die Träume unterdrückenden Medikamente. Um sich nicht wieder Schuld aufzuladen.«

»Ja. Die Medikamente verhinderten, dass diese Träume sich aufbauen und allzu lebhaft werden konnten. Es sind nur ganz bestimmte, sehr intensive, die …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… Wirklichkeit werden.«

»Na schön. Okay. Mal sehen. Sie sind unverheiratet; Sie sind Bauzeichner bei der Bonneville-Umatilla-Energieversorgung. Wie gefällt Ihnen Ihr Job?«

»Gut.«

»Wie ist es um Ihr Liebesleben bestellt?«

»Ich hatte eine Ehe zur Probe. Ging letzten Sommer in die Brüche, nach zwei Jahren.«

»Haben Sie oder die Frau sie beendet?«

»Beide. Sie wollte kein Kind. Es war kein vollwertiger Ehevertrag.«

»Und seither?«

»Na ja, im Büro gibt‘s ein paar Mädchen. Ich bin kein … kein so toller Hengst.«

»Wie sieht es mit zwischenmenschlichen Beziehungen generell aus? Finden Sie, dass Sie zufriedenstellende Beziehungen zu anderen Menschen haben, dass Sie eine Nische in der emotionalen Ökologie Ihrer Umgebung finden konnten?«

»Ich glaube schon.«

»So, dass Sie sagen können, mit Ihrem Leben ist im Großen und Ganzen alles in Ordnung? Okay. Und jetzt verraten Sie mir noch eines: Möchten Sie sich ganz im Ernst von dieser Medikamentenabhängigkeit befreien?«

»Ja.«

»Okay, gut. Also, Sie haben Medikamente eingenommen, weil Sie nicht mehr träumen wollen. Aber nicht alle Träume sind gefährlich; nur ganz bestimmte besonders lebhafte. Sie haben im Traum Ihre Tante Ethel als weiße Katze gesehen, aber am nächsten Morgen war sie keine weiße Katze – richtig? Manche Träume sind also in Ordnung – sie stellen keine Gefahr dar.«

Er wartete Orrs zustimmendes Nicken ab.

»Denken Sie über Folgendes nach. Was halten Sie davon, wenn wir der ganzen Sache einmal auf den Grund gehen und dabei vielleicht herausfinden, wie Sie sicher träumen können, ohne Angst? Lassen Sie mich erklären. Das Thema Träume ist bei Ihnen emotional ziemlich aufgeladen. Sie haben buchstäblich Angst davor, zu träumen, weil Sie glauben, dass einige Ihrer Träume Auswirkungen auf das wirkliche Leben haben, die Sie nicht beeinflussen können. Nun, das ist vielleicht eine komplexe und bedeutungsvolle Metapher, mit der Ihr Unterbewusstsein Ihrem Bewusstsein etwas über die Realität sagen möchte – über Ihre Realität, Ihr Leben –, das Sie momentan rational noch nicht zu akzeptieren bereit sind. Aber wir können die Metapher auch wörtlich nehmen; im Augenblick ist es noch nicht nötig, sie in rationale Begriffe zu übersetzen. Ihr Problem ist derzeit Folgendes: Sie haben Angst davor zu träumen, aber trotzdem müssen Sie träumen. Sie haben versucht, Ihre Träume mit Hilfe von Medikamenten zu unterdrücken, was nicht geklappt hat. Okay, versuchen wir das Gegenteil. Bringen wir Sie absichtlich zum Träumen. Bringen wir Sie gleich hier dazu, intensiv und lebhaft zu träumen. Unter meiner Aufsicht, unter kontrollierten Bedingungen. Damit Sie wieder die Kontrolle über alles erlangen, das Ihrer Meinung nach aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Wie soll ich denn auf Kommando träumen?«, fragte Orr, dem sein Unwohlsein anzusehen war.

»In Dr. Habers Palast der Träume können Sie das! Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?«

»Bei der Zahnbehandlung.«

»Gut. Okay. Wir machen das folgendermaßen: Ich versetze Sie in hypnotische Trance und suggeriere Ihnen, dass Sie schlafen, dass Sie träumen werden – und was Sie träumen werden. Sie setzen eine Trancekappe auf, um sicherzustellen, dass Sie sich wirklich im Tiefschlaf befinden, nicht nur in einer hypnotischen Trance. Während Sie träumen, beobachte ich Sie die ganze Zeit, und zwar unmittelbar und über das EEG. Ich wecke Sie, und dann sprechen wir über das Traumerlebnis. Wenn alles gefahrlos über die Bühne gegangen ist, können Sie dem nächsten Traum vielleicht ein wenig gelassener entgegensehen.«

»Aber ich werde hier nicht wirkungsvoll träumen; das passiert nur bei einem einzigen Traum unter Dutzenden oder Hunderten.« Orrs Schutzbehauptungen waren erstaunlich stimmig.

»Sie können hier auf jegliche Weise träumen. Trauminhalt und Traumwirkung können von einem motivierten Probanden und einem gut ausgebildeten Hypnotiseur fast vollständig kontrolliert werden. Ich mache das schon seit zehn Jahren. Und ich bin die ganze Zeit bei Ihnen, weil Sie eine Trancekappe tragen werden. Kennen Sie das?«

Orr schüttelte den Kopf.

»Aber Sie wissen, was das ist.«

»Damit wird ein Signal durch Elektroden geschickt, mit dem das … das Gehirn stimuliert wird, sich anzupassen.«

»So ungefähr. Die Russen benutzen Trancekappen seit fünfzig Jahren, die Israelis haben sie weiterentwickelt, und schließlich sind wir an Bord gekommen und haben mit der Massenproduktion für die professionelle Anwendung zur Beruhigung psychotischer Patienten und für den Hausgebrauch zur Induzierung von Schlaf oder Alpha-Trance begonnen. Daraufhin habe ich vor zwei Jahren im Klinikum von Linnton mit einer Patientin gearbeitet, die unter schweren Depressionen litt. Wie so viele depressive Menschen bekam sie nicht viel Schlaf und besonders wenig Schlaf im REM-Stadium, Traumschlaf eben; jedes Mal, wenn sie in die Phase des paradoxen Schlafs eintrat, wachte sie auf. Ein Teufelskreis: mehr Depressionen – weniger Träume; weniger Träume – mehr Depressionen. Das galt es zu durchbrechen. Aber wie? Kein uns bekanntes Medikament verstärkt den paradoxen Schlaf. EHS – elektronische Hirnstimulation? Aber dazu hätte man Elektroden implantieren müssen, und zwar tief, um die Schlafzentren zu erreichen. Andererseits sollten solche Operationen besser vermieden werden. Ich verwendete die Trancekappe bei ihr, um sie zum Schlafen anzuregen. Was aber, wenn man das diffuse, niederfrequente Signal spezifischer machen und direkt auf den spezifischen Bereich im Gehirn richten würde? Na klar, Dr. Haber, das ist ein Kinderspiel! Nachdem ich mich jedoch eingehender mit der Elektrotechnik beschäftigt hatte, dauerte es nur zwei Monate, eine einfache Maschine zu bauen. Dann versuchte ich, das Gehirn der Probandin während der entsprechenden Phasen von Schlaf und Traum mit einer Aufzeichnung von Gehirnwellen eines gesunden Menschen zu stimulieren. Mit mäßigem Erfolg. Ich fand heraus, dass ein Signal von einem anderen Gehirn bei dem Probanden eine Reaktion auslösen konnte oder auch nicht; und musste lernen zu verallgemeinern, aus Hunderten von normalen Gehirnwellenaufzeichnungen den Durchschnitt bilden. Wenn ich dann mit der Patientin arbeite, treffe ich wieder eine Auswahl, die maßgeschneidert ist: Wann immer das Gehirn des Probanden etwas macht, das es machen soll, zeichne ich diesen Augenblick auf, verstärke ihn, erweitere und verlängere ihn, spiele ihn wieder ab und stimuliere das Gehirn dadurch, seinen eigenen gesündesten Regungen zu folgen, wenn das Wortspiel gestattet ist. Also, das erforderte alles eine Menge Ergebnisanalysen, sodass aus einem einfachen EEG mit Trancekappe das da wurde«, und er deutete auf den Urwald elektronischer Geräte hinter Orr. Der größte Teil davon war hinter Kunststoffpaneelen verborgen, denn viele Patienten hatten entweder Angst vor Maschinen oder identifizierten sich allzu sehr mit ihnen, aber auch so beanspruchte das alles ein Viertel des Sprechzimmers für sich. »Das ist die Traummaschine«, sagte er mit einem Grinsen, »oder, etwas prosaischer, der Verstärker; seine Aufgabe besteht darin, zu gewährleisten, dass Sie schlafen und träumen – so kurz und leicht oder so lang und intensiv, wie wir es wollen. Ach, die depressive Patientin in Linnton wurde übrigens diesen Sommer als völlig geheilt entlassen.« Er beugte sich vor. »Möchten Sie es versuchen?«

»Jetzt?«

»Worauf wollen Sie warten?«

»Aber ich kann nicht nachmittags um halb fünf einschlafen …« Dann blickte er betreten drein. Haber hatte in einer übervollen Schublade seines Schreibtischs gekramt und brachte jetzt ein Formular zum Vorschein, das Formular »Einverständniserklärung zur Hypnose«, wie es das Gesundheitsamt vorschrieb. Orr nahm den Kugelschreiber, den Haber ihm reichte, unterschrieb das Formular und legte es ergeben auf den Schreibtisch.

»Wunderbar. Gut. Jetzt verraten Sie mir noch eins, George. Verwendete Ihr Zahnarzt vorgefertigte Aufnahmen, oder betete er sie lieber selbst in den Schlaf?«

»Aufnahmen. Ich habe Stufe drei auf der Suggestibilitätsskala.«

»Genau in der Mitte der Kurve, hm? Also, damit die Suggestion eines Trauminhalts gut funktioniert, brauchen wir eine ziemliche tiefe Trance. Wir wollen schließlich keinen Trancetraum, sondern einen echten Schlaftraum; dafür sorgt der Verstärker, aber wir wollen gewährleisten, dass die Suggestion ziemlich tief geht. Um zu vermeiden, dass wir Stunden damit zubringen, Sie für die tiefe Trance zu konditionieren, verwenden wir die Pressurmethode. Schon mal gesehen, wie die funktioniert?«

Orr schüttelte, sichtlich beklommen, den Kopf, widersprach allerdings nicht. Er strahlte eine gewisse Ergebenheit aus, eine Passivität, die feminin wirkte, wenn nicht sogar kindlich. Haber wurde sich bewusst, dass dieser körperlich schmächtige und fügsame Mann seinen Beschützerinstinkt weckte, aber auch den Tyrannen in ihm. Es war so einfach, ihn zu beeinflussen, zu bevormunden, dass der Wunsch fast übermächtig wurde.

»Ich wende sie bei den meisten Patienten an. Sie ist schnell, sicher und zuverlässig – und eindeutig die beste Methode, um Hypnose zu induzieren; und sie bereitet dem Hypnotiseur wie dem Probanden am wenigsten Probleme.« Orr hatte bestimmt das eine oder andere Ammenmärchen über Probanden gehört, die aufgrund von zu langer oder unsachgemäßer Anwendung der Pressurmethode Gehirnschäden davongetragen hatten, und auch wenn diese Gefahr hier nicht bestand, musste Haber sich dem stellen und Orr beruhigen, damit er sich nicht gegen die Pressur wehrte. Darum plauderte er unbekümmert weiter, beschrieb die fünfzigjährige Geschichte der Pressurmethode, schweifte ganz von der Hypnose ab und kam wieder auf die Themen Schlaf und Träume zurück, um Orrs Aufmerksamkeit vom Induktionsprozess weg und zu dessen eigentlichen Zielen hin zu lenken. »Das Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Kluft, die zwischen dem Wachzustand oder hypnotischen Trancezustand und dem Traumstadium existiert. Diese Kluft hat einen gebräuchlichen Namen: Schlaf. Orthodoxer Schlaf, Non-REM-Schlaf, wie Sie wollen. Es gibt, vereinfacht ausgedrückt, vier Geisteszustände, die für uns relevant sind: Wachzustand, Trance, orthodoxer Schlaf und paradoxer Schlaf. Wenn man sich mentale Aktivitäten genauer ansieht, haben orthodoxer Schlaf, paradoxer Schlaf und Trancezustand etwas gemeinsam: Schlaf, Traum und Hypnose setzen allesamt die Aktivität des Unterbewusstseins, des unbewussten Verstandes, frei; sie greifen auf primäre Denkprozesse zurück, wohingegen es sich bei den mentalen Aktivitäten im Wachzustand um sekundäre Prozesse handelt – um rationale Prozesse. Aber betrachten wir einmal die EEG-Aufzeichnungen der vier Stadien. Hier haben der paradoxe Schlaf, die Trance und der Wachzustand viel gemeinsam, während der orthodoxe – gewöhnliche – Schlaf vollkommen anders ist. Und man kann nicht direkt von einer Trance in das echte Träumen des REM-Stadiums überwechseln. Das Non-REM-Stadium muss dazwischenliegen. Normalerweise erlebt man den paradoxen Schlaf in einer Nacht vier- oder fünfmal, etwa alle ein oder zwei Stunden und auch jeweils nur eine Viertelstunde am Stück. Die übrige Zeit befindet man sich im einen oder anderen Stadium des orthodoxen Schlafs. Auch da träumt man, aber normalerweise nicht lebhaft; mentale Aktivitäten im orthodoxen Schlaf erinnern an einen Motor im Leerlauf, so etwas wie ein konstantes Murmeln von Bildern und Gedanken. Wir haben es jedoch auf die lebhaften, gefühlsgeladenen, unvergesslichen Träume des paradoxen Schlafs abgesehen. Unsere Hypnose und der Verstärker gewährleisten, dass wir dorthin gelangen, dass wir die neurophysiologische und temporale Kluft des Schlafs überwinden und direkt zu den Träumen vorstoßen. Deshalb müssen Sie auf dieser Couch hier Platz nehmen. Die Pioniere meines Fachgebiets waren Dement, Aserinsky, Berger, Oswald, Hartmann und all die anderen, aber die Couch haben wir direkt von Papa Freud übernommen … Nur benutzen wir sie zum Schlafen, wogegen er starke Vorbehalte hatte. Also, für den Anfang möchte ich, dass Sie sich hier an das Fußende der Couch setzen. Ja, genau so. Da werden Sie eine ganze Weile sein, also machen Sie es sich so bequem wie möglich. Sie sagten, Sie haben es schon mit Selbsthypnose versucht, richtig? Na schön, dann wenden Sie jetzt ruhig die Techniken an, die Sie dabei verwendet haben. Wie sieht es mit tief durchatmen aus? Zählen Sie beim Einatmen bis zehn, halten Sie den Atem fünf Sekunden an; ja, genau so, ausgezeichnet. Blicken Sie jetzt bitte zur Decke hoch, direkt nach oben. Okay, gut so.«