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Lionel Page hat es sich zur Aufgabe gemacht, all die Scharlatane und Wunderheiler zu entlarven, die anständigen Leuten das Geld aus der Tasche ziehen wollen. An übernatürliche Phänomene glaubt der gerissene Reporter nicht.
Doch als er eines Tages in New York ein verschollenes Manuskript von Edgar Allan Poe aufspüren soll, muss Lionel feststellen, dass offenbar nicht alles, worüber der Horror-Großmeister geschrieben hat, seiner Fantasie entsprungen ist – und dass Lionel selbst dem Übernatürlichen bereits näher gekommen ist, als er geahnt hat …
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Seitenzahl: 689
Das Buch
Lionel Page hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Scharlatane und Wunderheiler zu entlarven, die den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Er glaubt nicht an übernatürliche Kräfte – bis er eines Tages von der geheimnisvollen Regina Dunkle kontaktiert wird. Die reiche Dame hat von einem verschollenen Manuskript von Edgar Allan Poe gehört, das in New York entdeckt wurde. Sie will es kaufen, und Lionel soll für sie die Echtheit des Textes überprüfen. Wenn er sich weigert, droht Regina, Lionels gut gehütetes Geheimnis öffentlich zu machen, was seine Karriere ruinieren würde. Widerwillig nimmt Lionel den Auftrag an und reist nach New York, doch der Besitzer des Poe-Manuskriptes ist auf grausame Weise ermordet worden. Für Lionel Page beginnt ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit, in dessen Verlauf sich alles, woran er je geglaubt hat, als Lüge erweist …
Der Autor
Craig Schaefer führt seine Leser besonders gerne kreuz und quer durch das moderne, in okkulte Mysterien versunkene Amerika. Er lebt in North Carolina, wo er sich vor allem in Museen, Büchereien, auf einsamen Kreuzungen mitten im Nirgendwo und an ähnlichen Orten aufhält, an denen sich die Autoren düsterer Fantasy gerne versammeln. Mehr über Craig Schaefer und seine Romane erfahren Sie auf www.craigschaeferbooks.com.
Roman
Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe: GHOSTS OF GOTHAMDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe 05/2022
Redaktion: Claudia Fritzsche
Copyright © 2019 by Craig Schaefer
Copyright © 2022 dieser Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27806-9V002
www.heyne.de
Durch ewig gleiche WiederkehrDenselben Ort stets schauen,Verfallen dem Wahnsinn und der Sünde mehr:Des Stückes Seele ist das Grauen.
E. A. Poe: »Der Erobererwurm«
Lionel Page trug einen Plastikknopf im Ohr, hatte in seiner Hemdtasche eine Kamera versteckt und genoss in der ersten Reihe eine ungehinderte Aussicht auf den Schauplatz eines Verbrechens. Unzählige Personen drängten sich in dem großen Saal; sie schwitzten unter den harten weißen Lichtern und stampften mit den Schuhen auf die körnigen alten Dielenbretter. Lionel saß Schulter an Schulter mit seinen Nachbarn, und als die gesamte Masse auf den Zuschauerrängen mit einem vereinten Schrei der Ekstase hochsprang, zerrte sie ihn mit sich. Es war eine menschliche Flutwelle, durchtränkt von Körpergerüchen und dem Gestank billigen Parfüms.
»Seid ihr gerettet?«, kreischte der Mann der Stunde. Der Reverend Wright beherrschte die Bühne – ein wirbelnder, in sein Mikrofon heulender Derwisch in einem cremefarbenen Baumwollanzug. Die Menge heulte zurück.
»Seid ihr erlöst?«, verlangte er zu wissen. »Ja«, brüllten die Gläubigen zurück. Sie streckten die Hände den heißen Lichtern entgegen, als wollten sie versuchen, in den Himmel zu klettern. Der Mann links von Lionel rollte wie in einem Anfall mit den Augen, bis nur noch das blutunterlaufene Weiße zu sehen war, während er den Kopf nach oben und unten warf. Als die Rufe verblassten und erstarben, knisterte plötzlich eine weibliche Stimme in Lionels rechtem Ohr.
»Das war das letzte Mal, dass ich an dir gezweifelt habe.«
Lionels Blick fiel auf den Mittelgang. Eine lange Reihe von Gemeindemitgliedern, die Hälfte mit Stöcken oder Rollatoren, wartete darauf, ins Scheinwerferlicht zu treten. Reverend Wright winkte eine der Personen auf die Bühne. Es war eine ältliche Frau mit einer Sauerstoffflasche, die sie hinter sich herzog wie ein Gefangener die Eisenkugel an seinem Fuß. Beiläufig hob Lionel sein Handgelenk an den Mund. Ein winziger grauer Plastiktropfen baumelte nun vor seinen Lippen, und ein Draht lief den Arm hinauf. Ein größer werdender Fleck aus feuchtem Schweiß klebte ihm das Hemd an den Rücken.
»Das hast du schon beim letzten Mal gesagt«, murmelte er. »Erzähl mir etwas Positives.«
»Die ganze Operation verläuft genau so, wie du es erwartet hast.«
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Lionel. »Haben wir Ton?«
»Deutlich genug, um ihn zu kreuzigen. Verschwinde, bevor dich jemand erkennt. Ich habe zwei weitere Jungs in der Menge, und einer filmt auf der Empore.«
Die Zuhörer verstummten, als der Reverend die Hände auf das verfilzte struppige Haar der ältlichen Frau legte. Er schaute hoch zu den Lichtern, und sein verschwitztes Gesicht schimmerte.
»Ich erhalte ein … O Herr, hier kommt es«, sagte er. »Ja. Mabel. Dein Name ist Mabel, nicht wahr?«
Ihr Ruf »Das stimmt!« war unter dem einsetzenden Jubel und Applaus kaum zu hören. Sie sah den Reverend an, als wäre er eine Erscheinung des Herrn, während Lionel auf seinen harten Holzstuhl zurücksank. Er verschränkte die Arme vor der Brust, und seine Gedanken kreisten wie ein Hai in dunklem Gewässer, während er weiter die Show beobachtete.
»Mabel. Wundervolle gesegnete Mabel.« Wright drückte sich den Handballen gegen die Stirn und schloss die Augen. »Der Herr sagt mir, dass du kämpfst. Du hast einen Dämon in deiner Lunge, der die gute, süße Luft erstickt. Es ist ein Emphysem, nicht wahr? Sie haben es erst im letzten Jahr diagnostiziert. Aber die Ärzte wissen nicht alles. Nein, Madam, das tun sie nicht.«
Lionel hob wieder den Ärmelaufschlag an seinen Mund.
»Hast du die Technik-Zwillinge bei dir im Wagen?«
»Wie immer«, antwortete die Stimme der Frau.
»Können sie in das Lautsprechersystem hier eindringen?«
»Ich glaube, sie haben schon …« Sie hielt inne. »Warte. Lionel, was hast du vor?«
Auf der Bühne salbte der Reverend Mabels Stirn mit Wasser aus einer glänzenden Plastikflasche – Wunderwasser, das gratis für eine Spende von zwanzig Dollar oder mehr ausgeteilt wurde. Der Hai in Lionels Gedanken kreiste schneller, er hatte Blut gerochen.
»Ich habe es satt, das mitansehen zu müssen« sagte er. »Gebt mir Deckung. Macht den Ton bereit.«
»Nein.« Ihre Stimme klang rasiermesserscharf. »Nein. Du bist von etwa achthundert fanatischen Anhängern von Reverend Wright umgeben, die ganz in seiner Gewalt sind. Jetzt ist nicht die Zeit, Des Kaisers neue Kleider zu spielen. Sie werden die Wahrheit genauso erfahren wie alle anderen, nämlich aus den Neun-Uhr-Nachrichten. Verschwinde endlich.«
Er war bereits auf den Beinen, hatte sich zusammen mit der Menge erhoben, und ein donnernder Jubel schob ihn voran. Mabel umschlang Wright mit gebrechlichen, vogelartigen Armen, während Tränen über ihr Gesicht strömten.
»Diese Menschen werden ausgeraubt«, keuchte Lionel in sein verstecktes Mikrofon. »Sie haben die Wahrheit verdient. Hier und jetzt.«
»Du bringst dich in Lebensgefahr. Lionel!«
Mabel humpelte von der Bühne herunter, und Wright breitete die Arme aus, als wollte er den ganzen Saal umarmen.
»Ein weiteres Wunder beginnt! Vergesst nicht, Leute, dass ich kein Heiler bin. Nein, Sir. Nein, Madam. Ich bin nur ein Gefäß für die himmlische Wahrheit Gottes. Es ist euer Glaube, und es ist die Liebe zum Herrn, die euch befreien werden. Bekomme ich ein Halleluja?«
Lionel rannte los. Er sprang auf die Bühne, wirbelte herum und warf die Hände in die Luft.
»Halleluja«, brüllte er, während die Menge nur noch ein verwirrtes Murmeln von sich gab. Er grinste wie ein Wahnsinniger und sprang an Wrights Seite. Dann vollführte er einen kleinen Stepptanz, schnippte mit den Fingern und zeigte auf den Reverend. »Halleluja, preiset den Herrn und preist den guten Reverend Wright. Meine Damen und Herren, ich heiße Lionel Page. Ich bin Reporter bei Channel Seven News, und ich hatte die Ehre, die unschätzbare Ehre, vorhin mit dem Reverend und seiner wunderbaren Frau Marise ein Interview führen zu dürfen. Es war offen und herzlich, und ich hoffe, Sie alle werden einschalten und es sich ansehen.«
Wright glotzte ihn an. Er, der Showmaster, war plötzlich aus dem Gleichgewicht gebracht und an den Rand der Bühne gestoßen worden. »Ich … also, ja, das stimmt, und Mr. Page war ein sehr guter Interviewer. Aber ich bin nicht sicher, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um …«
»Ich würde mir wünschen, dass Sie einschalten könnten«, sagte Lionel, »aber dieses Interview wird nie gesendet werden. Ich glaube nicht einmal, dass die Kamera es aufgezeichnet hat. Nein, es war eine List – eine Lüge, um es ehrlich zu sagen –, damit wir einen Blick hinter die Kulissen werfen konnten. Dort habe ich die Runde gemacht und etliche meiner kleinen Lauschgeräte angebracht.«
Das heilige Glänzen auf Wrights Gesicht verblasste, während ihm das Blut in die Füße sackte. Das Mikrofon in seiner Hand sank immer tiefer, wie in Zeitlupe. »Was?«, sagte er so leise, dass es kaum zu hören war. Die Menge murmelte, regte sich unsicher und warf Lionel böse Blicke zu. Sie wussten nicht, was hier vorging, aber sie stimmten allesamt darin überein, dass es ihnen nicht gefiel.
»Wissen Sie, ich bin von Natur aus neugierig«, sagte Lionel zu dem Meer wütender Gesichter. »Wenn ich einen Magier sehe, will ich stets erfahren, wie seine Tricks funktionieren. Und in diesem Fall … nun, es ist ganz gewiss keine Magie.«
In den Lautsprechern knisterte und kreischte es, dann drang eine blecherne Stimme heraus; sie gehörte der Frau des Reverends, war heimlich hinter der Bühne aufgenommen.
»Als Nächstes kommt … mal sehen … Mabel Abrom… Abromo… Gütiger Gott, irgendein langer polnischer Name. Nenn sie einfach Mabel. Sie hat im letzten Monat eine Gebetskarte geschickt und um Hilfe bei ihrem Emphysem ersucht. Mein Gott, diese dumme Frau hat danach einfach weitergeraucht. Sag ihr, dass Jesus ihr befiehlt, damit aufzuhören, und nimm den Nächsten dran, sonst sind wir noch die ganze Nacht hier.«
Wright stolperte einen Schritt zurück und starrte die Lautsprecher mit großen Augen an. Ein Schatten fiel über die Menge; die Stimmung wandelte sich von Verwirrung in langsam aufkochende Wut. Lionel spürte erregt, wie die Aufmerksamkeit der Angestachelten zwischen den beiden Personen auf der Bühne hin- und herpendelte. Wrights hintergangene Gläubigenschar überlegte wie ein Heckenschütze, wen sie aufs Korn nehmen und abschießen sollte. Die Vorhänge hinter der Bühne lockten; sie waren Lionels letzte Aussicht auf ein Entkommen. Aber er stellte sich breitbeinig auf die Dielenbretter.
»Er hat keinen heißen Draht zu Gott, Leute.« Lionel klopfte gegen seinen Ohrhörer. »Nur zu der lieblichen Marise, die euch von Informanten in der Warteschlange ausspionieren lässt, die eure Karten und Briefe durchforstet und dann ihrem Mann all die wundersamen Informationen ins linke Ohr spricht.«
Das Lautsprechersystem schrillte wieder, und weitere mitgeschnittene Informationen drangen heraus.
»Du machst es großartig heute Abend«, sagte Marise. »So, das hier ist Chester. Chester hat einen offenen Facebook-Account. Gütiger Gott, was haben wir bloß vor den sozialen Medien gemacht? Sie erleichtern uns die Arbeit so sehr. Oh, wie nett. Seine Ex-Frau ist eine Schlampe, und sein Neffe ist drogenabhängig. Erwähne die Frau nicht, sondern sag ihm nur, dass sein Neffe Billy mit Gott ins Reine kommen und aufhören muss, mit dieser Bande herumzuziehen.«
Vor zwei Jahren hatte Lionel aus der Mitte eines Aufruhrs während eines Stromausfalls berichtet. Er hatte nie das Gefühl gewalttätiger Energie vergessen, als ihn ein psychischer Tornado umtost hatte und Hunderte Personen zu einer einzigen hirnlosen, brutalen Faust geworden waren. Genauso fühlte es sich jetzt auch an – aber er war nun so in Fahrt, dass er keine Angst verspürte.
»Das einzig Wahre, das er euch heute Abend erzählt hat, ist die Tatsache, dass er kein Heiler ist. Das ist er wirklich nicht. Er ist ein billiger Schmierenkomödiant, der euch billige Tricks vorgaukelt.« Lionel beugte sich vor und nahm dem Reverend die Flasche mit dem »Wunderwasser« aus der zitternden Hand. Er hielt sie gegen das grellweiße Licht. »Und das hier? Das ist Leitungswasser. Sie füllen es hinter dem Haus aus einem Gartenschlauch ab.«
Er öffnete den Verschluss und drehte die Flasche um. Ein Wasserstrom ergoss sich auf die alten, zerkratzten Dielenbretter der Bühne, durchnässte seine Turnschuhe und die polierten weißen Schuhspitzen von Reverend Wright.
»Es kann euren Durst stillen«, sagte Lionel, »aber das ist auch schon alles.«
Die Zuschauer im Raum erstarrten und schwiegen. Die leere Plastikflasche fiel aus Lionels Händen. Sie traf auf die Dielen, prallte ab, rollte herum und blieb vor den Scheinwerfern an der Rampe liegen.
Dann wurde die versteinerte Zuhörerschaft zu einer wahren Lawine. Die Menge drängte gemeinsam vor, erstürmte die Bühne und gab ein tierisches Gebrüll von sich. Einzelne Parteien wandten sich gegeneinander; sie schrien, schlugen auf die anderen ein, schwangen Stühle. Die immer noch Gläubigen und die sich betrogen Sehenden prallten aufeinander wie Schwerter und Schilde. Überall in dem Theater kam es zu kleinen Handgemengen, und etliche Personen versuchten, ihre Freunde aus dem Kampfgeschehen zu zerren. Ordnung und Frömmigkeit brachen unter dem Druck des gewalttätigen, elektrisierenden Chaos zusammen.
Lionel blieben etwa fünf Sekunden, in denen er mit einer Mischung aus Stolz und Bedauern das betrachten konnte, was er angerichtet hatte, bevor ihn eine fleischige Faust bewusstlos schlug. Er fiel hin, knallte mit dem Rücken auf die Bühne, rollte sich wie ein Fötus zu einer Kugel zusammen und ging unter in einer Flut aus Körpern und tretenden Füßen.
»Du bist ein Idiot«, sagte Brianna.
Die Stimme in seinem Ohr, der Engel auf seiner Schulter, stand als Silhouette in der Tür von Lionels Krankenzimmer. Sie schüttelte ihre krause schwarze Haarmähne und stemmte eine dunkle Hand in die Hüfte. Sein Kopf rollte zurück. Die Matratze fühlte sich unter seinem schmerzenden Rücken an wie aus Beton, und er schloss die Augen.
»Ich liebe dich auch, mein Sahnetörtchen.«
»Es ist dir sicherlich bewusst, dass die Menge dich hätte zerreißen können«, sagte sie zu ihm. »Das begreifst du doch, nicht wahr? Du hattest Glück, dass mehr Menschen auf den Reverend Wright wütend waren als auf dich. Übrigens will er uns verklagen.«
»Er soll sich hinten anstellen und warten, bis er an der Reihe ist. Haben wir die Story?«
»Wir haben sie«, sagte Brianna. »Das Filmmaterial ist Gold wert.«
Sie trat in das Krankenzimmer. Die Tür fiel hinter ihr zu. Als sie neben seinem Bett stand, mischte sich eine Spur von Hibiskus-Parfüm in die antiseptisch riechende Luft.
»Aber du solltest nicht die Story sein«, sagte sie zu ihm.
»Ich war wütend.«
»Ja, das warst du.«
Er öffnete die Augen und blinzelte in die Lichter über ihm. Die Neonröhren summten leise in der Stille. Eine Topfpflanze stand auf seinem Nachttisch, eine Ansammlung aus roten und purpurfarbenen Blüten, und auf einer verschnörkelt beschrifteten Karte stand: »Von deinen Freunden bei Channel Seven, Chicago.« Niemand sonst hatte ihm Blumen geschickt. Einen Herzschlag lang ärgerte ihn das, bis ihm einfiel, dass er ja außerhalb der Nachrichtenabteilung niemanden kannte.
»Ich hasse diese billigen Schwindler«, sagte er, »die mit ihren ›magischen Kräften‹ die letzten Pennys aus den alten Leutchen pressen. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dabeizustehen und zuzusehen.«
»Völlig verständlich. Schließlich leitet sich die Berufsbezeichnung ›Berichterstatter‹ vom Verb ›bestatten‹ ab. Ach nein, warte. Es kommt von ›berichten‹. Mein Fehler.«
»Aber ich habe doch berichtet«, sagte er und schenkte ihr seinen besten, reinsten Unschuldsblick. »Ich habe von der Bühne berichtet. Live und mitten aus dem Geschehen.«
Sie rieb seine Schulter. Ihre Hand bewegte sich in sanften Kreisen, und sie schenkte ihm ein zögerliches Lächeln. »Trottel.«
»Du liebst mich, und du weißt es.« Lionel regte sich auf der Matratze und ächzte. Seine linke Hüfte fühlte sich an, als wäre sie von einer Stahlramme getroffen worden. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Umrisse einer sich rasch ausbreitenden Prellung.
»Warum bist du dann nicht glücklich?«, fragte sie ihn.
»Ich bin glücklich. Ich bin verdammt glücklich. Wir haben einen Betrug aufgedeckt und der Allgemeinheit einen Gefallen erwiesen … Ich bin glücklich.«
»Aber …«, setzte sie an.
Er zwang sich zu einem Kichern, sah zu ihr hoch und hob beide Hände, die Finger gespreizt.
»Aber? Es gibt kein Aber. So wie es keine Magie und keine Wunder gibt.«
Lionels Blick glitt für die Länge eines ruhigen Atemzuges in die Ferne.
»Es gibt sie nie.«
Brianna nickte sowohl ihm als auch sich selbst zu und betrachtete die Pflanze auf seinem Nachttisch.
»Ich weiß nicht einmal, was das ist«, sagte sie.
»Es ist hübsch.« Er hielt inne und fing ihren seitwärts gerichteten Blick auf. »Auffällig. Hübsch auffällig. Bedanke dich trotzdem bei allen für mich.«
»Bedanke dich selbst – du wirst in ein paar Stunden entlassen. Anscheinend fehlt dir nichts Wesentliches. Du leidest bloß darunter, ein Idiot zu sein, und dagegen gibt es noch keine Medizin. Wir können nur abwarten und auf eine Heilmethode hoffen.«
Lionel streckte die Arme über den Kopf und wünschte sich sogleich, er hätte es nicht getan. Sein Versuch eines Gähnens wurde zu einem erstickten Schrei, als seine Rückenmuskeln in Brand zu geraten schienen.
»Ja, ich glaube, ich brauche noch einen freien Tag und etwas Paracetamol. Wie sieht mein Gesicht aus?«
Sie betrachtete ihn eingehend und strich sich dabei über das Kinn. »Willst du das wirklich wissen? Nächste Frage.«
»Nein, wirklich.«
»Du siehst aus, als seiest du in eine Schlägerei geraten, aber eher in ein Bargerangel als in einen Boxkampf. Nichts, was ein wenig Schminke und die richtige Beleuchtung nicht wieder hinbekommen würden. Übrigens hast du um zwei Uhr ein Interview mit den Leuten vom Chicago Observer. Sie wollen alles über dein Buch erfahren, und ich habe ihnen schon gesagt, dass du pünktlich da sein wirst.«
»Ach, bist du jetzt nicht nur meine Chefin, sondern auch meine Agentin?«
»Positive Presse für dich bedeutet positive Presse für das Nachrichtenteam. Du hast ein Buch geschrieben, Lionel. Mach dir das zunutze. Spiel den Star, wenigstens ein bisschen, ja?«
»Ich war der Meinung, ich sollte nicht die Story sein«, entgegnete er.
»Betrachte es als Sühne für deine Missetaten«, meinte Brianna. »Geh hin und sündige fortan nicht mehr.«
Das Krankenhaus entließ Lionel in seinem zerknitterten Anzug und mit einer Rechnung sowie einem Rezept für Schmerzmittel. Er rief ein Taxi und ließ sich durch die Stadt fahren. Wegen des Nachmittagsverkehrs ging es nur im Schneckentempo voran. Die Türme und Einkaufsparadiese an der Michigan Avenue ragten wie die Wände einer Schlucht aus weißem Marmor auf. Die Sonne machte Lionel schläfrig. Er starrte die Schaufenster an, ohne wirklich zu sehen, was darin zum Verkauf auslag. Ihm kam der müßige Gedanke, dass er seit so vielen Jahren tagein und tagaus die gleiche Szenerie sah und sie deshalb nicht mehr wahrnahm. Sein Geist füllte alle leeren Stellen mit Bildern aus seiner Erinnerung.
Er stieg aus dem klimatisierten Wagen in die den Atem raubende Sommerhitze und war dankbar für die schwache Brise, die vom See herbeiwehte. Dann schob er sich durch eine Drehtür und betrat ein eisiges Mausoleum. Jemand hatte die Klimaanlage auf Museumsniveau heruntergeregelt. Lionel beklagte sich nicht darüber. Er schrieb sich am Empfang ein wie immer, nickte wie immer dem Sicherheitspersonal zu und fuhr in einem Edelstahlaufzug hoch zum dreiundzwanzigsten Stock. Karen, Briannas stets überarbeitete Assistentin, hielt ihn am Eingang zur Nachrichtenabteilung auf. Lionel griff nach dem Kaffeebecher in ihrer Hand, aber sie riss ihn weg.
»Der gehört Brianna«, sagte sie, »und nicht dir. Böser Reporter.«
»Der böseste von allen. Bekomme ich trotzdem keinen Kaffee?«
»Für dich gibt es ein Interview.« Sie deutete mit dem Kopf auf eine blitzsaubere Glastür hinter ihr. »Deine Verabredung für zwei Uhr kann offenbar die Uhr nicht lesen; er hockt schon eine halbe Stunde dort drinnen. Brianna sagt, du solltest nicht vergessen zu lächeln.«
»Aber der Kaffee«, sagte Lionel und starrte hilflos auf ihren Becher. »Danach? Bekomme ich danach einen Kaffee?«
»Unten im Foyer gibt es einen Kiosk, der den ganzen Tag geöffnet hat. Besorg dir selbst einen.«
Er wollte etwas Witziges erwidern, aber sie war schon weitergegangen, drängte sich durch das überfüllte Stockwerk und hatte den Kaffee mitgenommen. Lionel musste sich mit einem tiefen Luftholen zufriedengeben. Er stieß einen Seufzer aus und richtete den Blick auf die Tür des Besprechungszimmers.
Der Reporter des Observer hätte ein Ebenbild von Lionel sein können, so wie er vor einem Jahrzehnt ausgesehen hatte. Es war ein junger Kerl mit buschigem Haarschopf, und die Tinte auf seinem College-Diplom musste noch feucht sein – oder er absolvierte gerade zwischen den Unterrichtsstunden ein Praktikum. Es wirkte so, als trüge er den abgelegten Anzug seines Vaters. Er sprang hinter dem gläsernen Konferenztisch auf, hätte dabei fast seinen Stuhl umgekippt, und seine Finger schlossen sich so fest um Lionels Hand wie die Kiefer eines jungen Hundes um einen neuen Knochen.
»Ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie gerade heute Zeit für mich haben, Sir.«
Lionel musste grinsen. Er deutete auf den verlassenen Stuhl und zog sich selbst einen weiteren heran. »Bitte nennen Sie mich Lionel. Kein Problem. Ich freue mich, mit Ihnen zu reden.«
Der Wunderknabe durchblätterte seine Notizen. Er hatte ein sprachgesteuertes Aufnahmegerät dabei, dazu einen gelben Notizblock, einen dicken Umschlag und ein gebundenes Buch. Alles lag in einem Haufen vor ihm. Lionels Gesicht starrte ihn vom Schutzumschlag des Buches an, unmittelbar unter dem Titel Exzentriker, Quacksalber und Heilsbringer: Berichte von den Randbereichen des Journalismus. Der Fotograf hatte das Bild nachträglich bearbeitet und jede Spur von Grau aus dem dünnen kastanienfarbigen Haar getilgt – und ihn in ein ausgebeultes Jackett gesteckt, sodass er der typischen Vorstellung eines Laien von einem abenteuerlustigen, in der Welt umherziehenden Reporter entsprach.
»Gut, wir nehmen das Gespräch auf …« Der Finger des jungen Mannes erstarrte über einem kleinen roten Knopf. »Ist das in Ordnung? Dass wir es aufnehmen?«
»Natürlich. Darf ich Ihnen einen kleinen Tipp geben? Machen Sie sich immer eine Sicherungskopie und schreiben Sie mit, als würden Sie gar nicht aufnehmen. Auf diese Weise …«
»Wie bei Ihrem Interview mit Bill Clinton!«, zwitscherte der junge Mann. »Was wäre das für ein wunderbares Interview geworden, wenn die Batterien nicht nach etwa dreißig Sekunden leer gewesen wären?«
Beeindruckt lehnte sich Lionel auf seinem Stuhl zurück. Diese Erinnerung war schon so fern, dass sie nicht mehr schmerzte. »Einen solchen Fehler habe ich nie wieder begangen. Sie haben Ihre Hausaufgaben wirklich gemacht, nicht wahr?«
»Wie Sie in Ihrem Buch schreiben: Sei stets gut vorbereitet.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Buch. »Sie haben sich einen Ruf als … professioneller Entlarver erworben, wie man wohl sagen kann. Sie haben über Geistheiler, Medien und Scharlatane geschrieben. Darf man sagen, dass der größte Teil Ihrer Berufstätigkeit darin besteht, Menschen zu Fall zu bringen?«
Lionel blinzelte. »Ich … nein. Ich weiß nicht, ob das der Sache gerecht wird. Technisch gesehen haben Sie natürlich recht, aber bei der Entlarvung von Kriminellen haben wir nicht zum Hauptziel, sie zu Fall zu bringen. Wir Journalisten recherchieren, und wir berichten die Wahrheit.«
»Und was ist mit Objektivität? Sollen wir Journalisten nicht beide Seiten einer Geschichte erzählen?«
»Dabei gehen Sie davon aus, dass es zwei mitteilenswerte Seiten gibt«, sagte Lionel zu ihm. »Aber das stimmt nicht immer. Wenn jemand behauptet, die Erde sei flach oder der Mond bestehe aus grünem Käse, sind wir nicht verpflichtet, ihm genauso viel Raum zu schenken wie den Personen, die die Wahrheit auf ihrer Seite haben.«
Der junge Mann betrachtete seine hingekritzelten Notizen. Er fuhr mit der Fingerspitze über den Block und runzelte konzentriert die Stirn, als versuchte er, eine Restaurantrechnung aufzuteilen.
»Sie sehen es also als unleugbare Tatsache an, dass es so etwas wie übernatürliche Phänomene nicht gibt? Keine Wunder und nichts, was nicht durch die Wissenschaft erklärt werden könnte?«
»Keineswegs.« Lionel legte die Hände flach auf den Tisch. »Es ist lediglich eine unleugbare Tatsache, dass ich solche Phänomene noch nie gesehen habe. Es ist auch eine Tatsache, dass jeder einzelne Mensch, dem ich je begegnet bin und der behauptet hat, übersinnliche Kräfte zu besitzen, entweder ein Betrüger oder ein Selbstbetrüger war. Zeigen Sie mir ein waschechtes Wunder, und wenn es sich wirklich als solches erweist, verspreche ich Ihnen, der Erste zu sein, der darüber einen Artikel schreibt. Ich halte lediglich keine Tatsachen zurück.«
»Aber, Mr. Paget …«
»Page.« Lionels Stimme knallte wie ein Peitschenschlag. Er holte tief Luft, versuchte, sich zu beruhigen, und sah dem jungen Mann tief in die Augen. Er fühlte sich wie eine Maus, die den Stahlhebel der Falle in Zeitlupe auf ihren Nacken niedergehen sieht. »Mein Name ist Page.«
Der junge Mann griff nach dem Umschlag.
Er öffnete die Lasche und holte ein Magazin heraus. Es handelte sich um eine zerknitterte Ausgabe des People-Magazins vom Januar 2002 mit einem Schnappschuss, den ein Paparazzo aus der Sicherheit seines Wagens heraus aufgenommen hatte. Es war die Nahaufnahme eines Jugendlichen mit versteinerter Miene, der die Treppe einer Highschool herunterstapfte und das Gewicht der ganzen Welt in seinem Rucksack mitzuschleppen schien. Der junge Reporter hielt das Magazin hoch, damit Lionel einen eingehenden Blick darauf werfen konnte, und zeigte dann auf die hellgelbe Schlagzeile: »Zehn Jahre nach dem Massaker auf der Emerald Ranch: eine Begegnung mit dem echten Überlebenden.«
»Das sind Sie, nicht wahr?« Der junge Mann hob den Blick von dem Bild und sah den älteren müden Mann an, der ihm gegenüber am Tisch saß. »Sie sind Lionel Paget.«
Lionel schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Dieses Interview ist beendet.«
Der junge Mann folgte ihm zur Tür und hinaus in die Nachrichtenabteilung, während er das Magazin wie eine Fahne schwenkte. »Aber das hier ist eine wichtige Story. Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, was geschehen ist, wie es Ihr Leben bestimmt hat und warum Sie verschwunden sind …«
Lionel wirbelte auf den Fersen herum und starrte den Jungen an. Er senkte seine Stimme zu einem leisen Knurren.
»Ich bin wegen Leute wie Ihnen verschwunden. Und ich schwöre bei Gott, dass ich Sie zusammenschlagen werde, wenn Sie versuchen sollten, mir in den Aufzug zu folgen!«
Der junge Mann erstarrte, wirkte wie an den Fußboden genagelt und sah hinter Lionel her. Lionel winkte Karen herbei, während er sich den Aufzügen näherte.
»Sag Brianna, dass ich mir ein paar Tage freinehme«, teilte er ihr mit.
Irgendwann musste das ja passieren, sagte Lionel zu sich selbst. Er hatte gewusst, dass die Vergangenheit nicht für immer tot und begraben bleiben würde. Das tat sie nie. Er hatte bloß immer gehofft, dass sie erst in einem fernen und nebulösen Später wieder lebendig werden würde. So etwas wie ein Zeugenschutzprogramm hatte es für ihn nicht gegeben, und er war umringt von Personen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, Geheimnisse auszugraben. Der einzige Grund, warum sie ihn bisher nicht unter die Lupe genommen hatten, lag darin, dass sie keinen Grund dazu gehabt hatten.
Er sprang vom Bürgersteig in ein gelbes Taxi und sagte dem Fahrer, er solle ihn nach Hause bringen. Er musste nachdenken.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er dankbar für den vierundzwanzigstündigen Nachrichtenzyklus. Sollte der Observer doch die Story bringen und ihn bloßstellen. Lionel konnte seine fünfzehn Minuten ungewollter Berühmtheit ertragen, denn er würde in dem Augenblick wieder vergessen sein, in dem irgendeine prominente Persönlichkeit oder ein Politiker etwas – irgendetwas – annähernd Interessantes tat oder von sich gab. Es würde nicht lustig werden, und seine Kollegen würden ihn von nun an mit anderen Augen sehen, aber das konnte er ertragen.
Ich sollte der ganzen Sache zuvorkommen, dachte er. Das Taxi rumpelte über ein Schlagloch, und er rutschte auf dem geflickten Kunstlederbezug herum, während er sein Mobiltelefon herausholte. Ich muss zumindest Brianna informieren. Sie sollte es von mir und nicht von irgendeinem dämlichen Reporteranfänger erfahren, falls er dieses Magazin nicht schon jedem gezeigt hat, der mich kennt.
Ihm blieb keine Zeit zu wählen. Sein Bildschirm leuchtete auf, als ein Anruf hereinkam. Es war eine Nummer aus der Gegend, die er aber nicht kannte. Ein Teil von ihm hoffte, dass es jemand vom Observer war – jemand, der dort etwas zu sagen hatte. Lionel stand noch immer unter Dampf, und den wollte er unbedingt ablassen.
»Ja?«, sagte er.
Die Frau am anderen Ende hatte eine alte und zarte Stimme, die mit einem schwachen Akzent gefärbt war. Deutsch, dachte er. Irgendetwas rief in ihm den Gedanken an Marlene Dietrich hervor.
»Guten Tag, Mr. Page. Bitte entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit; wir sind uns noch nicht begegnet. Mein Name lautet Regina Dunkle, und ich wäre dankbar, wenn Sie mir einige Minuten von Ihrer Zeit schenken könnten.«
Lionel fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht, und sein Zorn fiel in sich zusammen wie ein angestochener Ballon. »Ich … ich gehe nicht davon aus, dass Sie etwas mit dem Observer zu tun haben?«
»Ich fürchte nein.« Die Frau kicherte höflich. »Und ich habe auch nicht vor, Ihre persönlichen Geheimnisse an die Öffentlichkeit zu bringen, so wie es ein gewisser aufstrebender Journalist beabsichtigt.«
Als sich Lionel auf seinem Sitz vorbeugte, traf ihn aus der Klimaanlage des Taxis ein Schwall kalter Luft. Sie hauchte ihm am Hals entlang und fuhr ihm mit eisigen Fingern über die Schultern.
»Woher …« Er hielt inne und versuchte, seine umherwirbelnden Gedanken einzufangen. »Woher wissen Sie das?«
»Geld, Mr. Page, öffnet alle möglichen Türen. Und ich habe eine Menge Geld, mit dem ich um mich werfen kann. Mir werden nur wenige Informationen verweigert. Ja, ich weiß, wer Sie sind und was Sie als Kind erlitten haben. Und es ist mir gleichgültig. Ich bin eher an dem Mann interessiert, zu dem Sie geworden sind – und an Ihren ziemlich einzigartigen Gaben.«
»Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Worum geht es hier, Mrs. Dunkle?«
»Um eine Story. Ich habe einen Hinweis für Sie. Es handelt sich entweder um einen ausgeklügelten Scherz – von der Art, die Sie während des größten Teils Ihrer Reporterlaufbahn entlarvt haben – oder um ein Fenster in ein historisches Mysterium. Wie dem auch sei, ich will die Wahrheit wissen, und das Aufspüren der Wahrheit ist Ihre Spezialität. Schenken Sie mir zwanzig Minuten Ihrer Zeit. Ich werde Sie für Ihre Mühen entlohnen, und wenn Sie beschließen sollten, die Story weiterzuverfolgen, werden Sie die Exklusivrechte daran haben.«
Solche Anrufe kannte Lionel bereits. Es waren Leute – zumeist einsame Stubenhocker –, die ihm das Antlitz Jesu auf einer verbrannten Toastscheibe zeigen oder den Beweis dafür liefern wollten, dass Außerirdische in ihrem Hinterhof gelandet waren. Für gewöhnlich verwies er solche Personen an die Nachrichtenredaktion, sollte doch irgendein Assistent seine Zeit mit der Jagd nach gar nichts vergeuden. Aber das hier war … anders. In der Stimme dieser Frau lag etwas, das so fest wie ein Stein, aber gleichzeitig elektrisierend war. Ihre kalte Zuversicht verlockte ihn.
»Ich kann Ihnen fünfzehn Minuten einräumen«, sagte er zu ihr.
»Ausgezeichnet. Dann erwarte ich Ihr baldiges Eintreffen.« Er konnte das zufriedene Lächeln auf ihren Lippen beinahe hören. »Und, Mr. Page, lassen Sie mich bitte nicht warten.«
Die Adresse, die Regina Lionel gegeben hatte, lag in Lincoln Park. Der Taxifahrer setzte ihn an einer Straßenecke vor einem schwarzen schmiedeeisernen Gitter ab, hinter dem sich eine Terrasse erstreckte. Seine mysteriöse Anruferin hatte nicht gelogen, als sie behauptet hatte, so viel Geld zu besitzen, dass sie damit herumwerfen konnte. Sie lebte am Ostende des Viertels in einem dreistöckigen Sandsteingebäude, das eine wundervolle Aussicht auf die sanft gewellte grüne Parklandschaft und auf den Lake Michigan dahinter bot. Lionel schaute an dem ehrwürdigen Haus hoch und pfiff leise, während eine Brise vom See sein Button-down-Hemd kräuselte. Eine Liegenschaft wie diese würde mindestens drei oder vier Millionen Dollar kosten, und sie hatte angedeutet, dass es nicht ihr einziges Haus sei. »Meine Residenz in Chicago«, hatte sie am Telefon gesagt.
Er trat durch das unverschlossene Gittertor, klingelte und wartete.
Schließlich wurde die Tür geöffnet, und Lionel stand vor Regina Dunkle. Sie sah so aus, wie ihre Stimme klang – wie ein Stummfilmstar, der den Zenit seines Ruhms überschritten hatte. Sie war gealtert wie ein edler Wein; der Blick ihrer dunklen Augen war scharf, ihr Haar war eine Mähne aus flüssigem Silber, und sie trug einen Hausmantel aus Satin in der Farbe des Vollmonds. Sie bat ihn herein. Jede ihrer Bewegungen, sogar die beiläufige Drehung ihrer Hand, wirkte absichtsvoll und genau bemessen.
»Mr. Page. Bitte kommen Sie herein.«
Er nickte dankbar und trat über die Schwelle. Sie schloss die Tür und führte ihn in einen Salon, der vom Foyer abzweigte und in dem Teppiche mit Wellenrand und von der Farbe blauer Meeresgischt den weißen Marmorboden bedeckten. Mehrere Sessel und ein Diwan, die um einen kalten, stillen Kamin standen, hatten Polster in der Farbe frisch gefallenen Schnees, und durch die kalte, reglose Luft schwebte der schwache Duft von Rosen.
»Bitte nennen Sie mich Lionel«, sagte er, schaute sich um und suchte nach Anzeichen für einen Butler oder eine Hausdame. »Leben Sie allein, Mrs. Dunkle?«
»Wenn ich Sie Lionel nennen soll, dann müssen Sie mich Regina nennen.« Sie nahm in einem der Sessel Platz und bedeutete ihm, sich ihr gegenüber zu setzen. Ein Teeservice stand auf einem Mahagonitisch zwischen ihnen. Aus der zarten Porzellankanne stieg feiner Dampf auf. »Und, ja, ich ziehe es vor, allein zu leben. Es muss närrisch erscheinen, so viel Platz für eine einzige Frau zu verschwenden, aber ich habe meine Privatsphäre schon immer sehr geschätzt.«
»Was Sie allerdings nicht davon abgehalten hat, sich in mein Leben einzumischen.«
Sie zeigte ein schwaches Lächeln und griff nach der Teekanne.
»Ich glaube daran, Geheimnisse zu bewahren, Lionel. Aber man kann kein Geheimnis bewahren, wenn man es nicht kennt, oder? Kamille?«
»Wie bitte? Oh. Der Tee. Ja, danke.«
Während sie beide Tassen füllte, sah er sich noch einmal langsam um und betrachtete seine Umgebung mit dem Blick eines Reporters. Plötzlich erkannte Lionel, warum sich der Raum für ihn falsch anfühlte, seit er ihn betreten hatte.
Keine Fotos. Keine Kunst. Keine Nippesfiguren oder Erinnerungsstücke auf dem Kaminsims. Der Salon war steriler als ein Operationssaal. In diesem Haus schien niemand wirklich zu leben. Gewöhnliche Menschen stellten ihr Heim mit allen möglichen Dingen voll und verliehen ihm so eine persönliche Note. Das hier wirkte eher wie eine schlechte Bühnendekoration oder ein unbewohntes Haus, das von einem Makler für den Verkauf vorbereitet worden war.
»Leben Sie schon lange in Lincoln Park?«, fragte er.
»Ich verbringe den Sommer hier, so oft es mir möglich ist.« Sie stellte die Teekanne ab und sah ihm in die Augen. »Die Seeluft ist gut für meine Atmung. Honig?«
»Ein wenig.«
»Ich glaube, Sie werden ihn mögen«, sagte sie und nahm einen Löffel. »Ich bin sehr kritisch, was meinen Honig anbelangt. Es geht nichts über Qualität.«
»Ich will Sie nicht hetzen, aber diese Story, von der Sie sprachen …«
»… wird am besten in einer zivilisierten Umgebung diskutiert.«
Sie hielt ihm die Teetasse auf einer zarten Untertasse entgegen. Dann hob sie ihre eigene Tasse wie zu einem Trinkspruch. Sie nahm einen Schluck und wartete in gespanntem Schweigen, bis er das Gleiche tat. Der Tee schmeckte kräftig und sauber, und seine Kräuter tanzten mit einer süßen, geschmeidigen Note auf der Zunge.
»Und nun können wir uns zivilisiert unterhalten«, sagte sie zu ihm. »Lesen Sie zum Vergnügen?«
»Natürlich. Vielleicht nicht so viel, wie ich sollte, aber ich liebe gute Bücher. Vor allem Literatur, in der es mysteriös zugeht.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Regina. »Sie kommen mir vor wie ein Mann, der unwiderstehlich von Mysterien angezogen wird. Was Lektüre angeht, so ist meine persönliche Leidenschaft die dunkle Romantik. Das war eine Bewegung im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Mary Shelley und Lord Byron … die dunkle romantische Literatur zeichnet sich durch eine starke, beinahe zwanghafte Leidenschaft für das Makabre aus.«
»Horrorgeschichten.«
»Aber nichts so Banales wie ein Killer hinter einer Hockeymaske, der Betreuer von Jugendlagern mit einer Machete niedermetzelt«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Eher ein Fest der Finsternis. Diese Autorinnen und Autoren wussten, dass im Grotesken Schönheit zu finden ist. Im Herzen des Wahnsinns liegt Offenbarung. Haben Sie Poe gelesen?«
Lionel zuckte leicht mit den Achseln. »Es sprach der Rabe: Nimmermehr? Ich fürchte, das ist alles, woran ich mich aus meiner Highschool-Zeit erinnern kann. Das und die Geschichte über diesen Knaben, der seinen Freund in einer Wandnische einmauert.«
»Das Fass Amontillado«, erwiderte Regina. »Wussten Sie, dass Poe eine wahre Geschichte als Vorlage dafür gedient hat? In Persien bestand früher die übliche Strafe für Diebstahl darin, dass der Dieb draußen in der Wüste in eine Säule eingeschlossen wurde. Darin war es so eng, dass er keinen Muskel mehr bewegen konnte, wie in einem aufrecht stehenden Sarg. So blieb dem Dieb nichts anderes übrig, als zu warten, zu leiden und zu kochen. Austrocknen ist eine außerordentlich grausame Todesart.«
»Das … wusste ich nicht«, sagte Lionel.
Sie stellte ihre Teetasse ab.
»Kommen Sie mit. Ich will Ihnen etwas zeigen.«
Er stand auf, und sie führte ihn einen Korridor entlang.
»Hoffentlich handelt es sich nicht um ein Fass Amontillado«, sagte er und bemerkte selbst die Nervosität in seiner Stimme.
Sie warf einen Blick über die Schulter und bedachte ihn mit einem leicht spitzbübischen Lächeln. »Meines Wissens haben Sie mir nichts gestohlen.«
Die Flügel hölzerner Schiebetüren rollten zur Seite und gaben den Blick auf eine gewaltige Bibliothek mit kunstvoll bearbeiteten Regalen frei, die vom Boden bis zur Decke reichten und mit ihren sanften Schwüngen wie erstarrte Mahagoniwogen wirkten. Buchrücken aus Pappe, Leinen und altem Leder drängten sich auf jedem Regal; es waren Tausende Bände, deren Goldprägungen wie Erzadern glänzten. Bernsteinfarbenes Licht strömte aus einem Kristalllüster, der über einem einzelnen Armlehnsessel und einem Beistelltisch in der Mitte des Zimmers hing.
»Meine bescheidene Sammlung«, sagte Regina, während sie Lionel hineingeleitete.
Die Luft roch schwach nach getrockneten Gewürzen, und hier schien es ein paar Grad kühler als im Rest des Hauses zu sein. Während Lionel an den Regalen vorbeispazierte und dabei an einer Rollleiter vorbeikam, die Zugang zu den obersten Fächern gewährte, bemerkte sein geübter Blick winzige Hygrometer und das graue Plastikauge eines Bewegungsalarmsensors.
»Ich weiß nicht, ob bescheiden das Wort ist, das ich dafür wählen würde«, murmelte er. »Einiges hier gehört eher in ein Bibliotheksmuseum.«
»Eine ganze Menge sogar. Ich liebe Erstausgaben, seltene Folianten und Unikate. Die Inhalte sind natürlich wichtig, aber das reine Sammeln ist ein angenehmer Zeitvertreib. Ich beschäftige Händler in etlichen großen Städten auf der ganzen Welt, die sofort Kontakt mit mir aufnehmen, wenn sie auf etwas stoßen, das in mein Sammelgebiet fällt.«
Kein Stäubchen war auf den Regalen zu sehen. Lionel wandte sich von den Büchern ab.
»Ich vermute, das ist der Grund, warum Sie mich gerufen haben?«
»Im Jahre 1845«, sagte Regina, »befand sich Edgar Allan Poe in New York und arbeitete dort als Herausgeber des Broadway Journal. Im Dezember jenes Jahres veröffentlichte er eine Erzählung mit dem Titel Die Tatsachen im Fall des M. Valdemar. Die Titelfigur, Ernest Valdemar, hatte auf seinem Totenbett in ein Experiment eingewilligt. Er wurde mesmerisiert, also in Trance versetzt. In dieser Trance konnte er sprechen und Fragen beantworten – auch dann noch, als sein Körper starb und das Herz aufhörte zu schlagen. Dies ging so weiter, bis er aus der Trance geholt wurde, und in diesem Augenblick zerfiel sein Körper vor den Augen der entsetzten Anwesenden, zu denen auch Mr. Poe persönlich gehörte.«
»Aber … das war doch eine Geschichte, nicht wahr? Eine Fiktion.«
In Reginas Lächeln lag etwas Ausweichendes. Sie hob den Finger.
»Das ist der interessante Teil. Poe veröffentlichte den Text zunächst als Augenzeugenbericht. Das hat damals einen ziemlichen Aufruhr verursacht.«
»Vermutlich waren die Menschen im Jahre 1845 leichtgläubiger als heute«, meinte Lionel.
»Oh, eher im Gegenteil, wie vor allem Sie wissen sollten. Haben Sie nicht Ihr ganzes Erwachsenenleben damit verbracht, Betrügereien aufzudecken? Wenn niemand an Scharlatane glaubte, gäbe es für Sie keine Notwendigkeit, ihre Tricks zu enthüllen, oder?«
»Ich muss zugeben, dass Sie nicht ganz unrecht haben.«
»Auch Poe hat hin und wieder gern einen Schabernack getrieben«, sagte sie, »und so veröffentlichte er bald einen Widerruf und stellte klar, dass die Geschichte frei erfunden war und es niemanden namens Ernest Valdemar gab. Aber das beruhigte die Lage nicht. Noch Jahre später beharrten einige Leute darauf, dass es sich um einen Tatsachenbericht handelte und der Widerruf nur ein Vertuschungsmanöver war. Und dann gibt es noch das hier.«
Regina glitt über den Boden der Bibliothek; die Satinschleppe ihres Hauskleides trieb hinter ihr her. Sie zog eine schwarze Ledermappe aus einem Regal und hielt sie Lionel entgegen.
»Das hier habe ich im letzten Jahr auf einer Auktion in London ersteigert. Es ist ein Brief von Rufus Griswold – die Echtheit wurde von Experten bestätigt. Griswold war damals ein gefeierter Dichter, ein Freund Poes und einer der Geldgeber des Broadway Journal.«
Vorsichtig öffnete Lionel die Mappe. Das einzelne Blatt darin war vergilbt, ausgefranst und luftdicht in Plastik eingeschweißt, und es befanden sich nur wenige Zeilen in einer krakeligen Handschrift darauf.
»02/11/45
Edgar – absolut nicht. Du bist verrückt, wenn Du es unternimmst. Ich rate Dir, ihnen zu sagen, dass dieses garstige Stück nichts anderes ist als ein Albtraum, den Du nach dem Genuss einer schlecht gewordenen Wurst verfasst hast. Du wirst einen Aufruhr verursachen, wenn Du dies einen Tatsachenbericht nennst. Um der Liebe Gottes willen, Mann, schreib wenigstens das Ende um. Einige Geschichten sollten nicht erzählt werden.
- RWG«
Lionel schaute von dem Blatt auf. »Es scheint, dass er den Rat seines Freundes nicht beherzigt hat.«
»Nur zur Hälfte. Mein Kontakt in New York hat mich gestern Abend benachrichtigt. Auf dem privaten Kunstmarkt ist ein Manuskript aufgetaucht: die handschriftliche erste Fassung von Die Tatsachen im Fall Valdemar. Es ist vermutlich diejenige, die Poe seinem Freund Rufus gezeigt hat.« Regina trat näher an ihn heran. Ihre Augen fingen das Licht des Kristalllüsters ein und blitzten auf. »Mir wurde berichtet, diese Fassung habe ein anderes Ende. Das echte Ende. Ich würde diese Geschichte sehr gerne lesen, Lionel.«
Lionel schloss die Ledermappe und gab sie Regina zurück. Er betrachtete sie und fühlte sich unbehaglich, als er eine Spur ihres Blumenparfüms in der kalten Luft der Bibliothek wahrnahm.
»Ich weiß nicht recht, was das alles mit mir zu tun hat«, sagte er zu ihr.
»Meine Wünsche sind in Sammlerkreisen wohlbekannt, insbesondere nachdem ich im letzten Jahr diesen Brief erworben habe. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass es sich bei dem aufgetauchten Manuskript um einen Schwindel handelt. Um eine Fälschung, die mich um einen großen Teil meines Vermögens erleichtern soll. Sie haben Ihre Karriere darauf aufgebaut, Schwindler und Diebe zu entlarven; Sie haben eine Nase dafür, Täuschungen aufzuspüren, und ich glaube nicht, dass Sie wissen, wie gut Sie wirklich darin sind.«
Sie stellte die Mappe zurück ins Regal und drehte sich zu ihm um.
»Ich würde Sie gern als meine rechte Hand in dieser Angelegenheit einsetzen. Gehen Sie nach New York. Wenn das Manuskript echt ist, will ich es haben. Wenn es eine Fälschung ist, will ich wissen, wer sie geschaffen hat. Ich werde für Ihre Fahrtkosten und Unterkunft aufkommen, und auch für alle Ausgaben, die Sie haben werden. Geld spielt keine Rolle. Falls sich die Sache als Schwindel herausstellen sollte, haben Sie natürlich die Exklusivrechte an dieser Geschichte. Ich bitte Sie nur darum, die Ergebnisse Ihrer Nachforschungen zuerst mir zu überbringen, bevor Sie sie der ganzen Welt mitteilen.«
Lionel schüttelte den Kopf. Er ging auf den lackierten Eichendielen hin und her, die unter seinen Schritten sanft ächzten.
»Ich muss Ihnen sagen, Mrs. Dunkle …«
»Regina.«
»Regina … Das ist eine interessante Geschichte. Aber das macht sie noch nicht zu einer wichtigen Nachricht. Wenn jemand einen gefälschten Picasso oder Rembrandt für ein paar Millionen Dollar zu verkaufen versucht, wäre das etwas, das meine Chefin senden würde. Aber eine Kurzgeschichte aus dem 19. Jahrhundert, sei sie nun eine Fälschung oder nicht, wird keine großen Einschaltquoten bringen.«
»Ich hatte schon angenommen, dass Sie einen zusätzlichen Anreiz benötigen«, sagte sie, »und deshalb will ich noch etwas hinzufügen. Ich glaube, ich sagte bereits am Telefon, dass ich Zugang zu beträchtlichen Geldmitteln habe. Ich mische in unzähligen Geschäften mit.«
»Was soll das heißen?«
Sie trat noch näher an ihn heran. So nahe, dass er ihren warmen Atem an seiner Wange spürte, während sie ihm tief in die Augen blickte.
»Sie haben den größten Teil Ihres Lebens damit verbracht, vor der Vergangenheit davonzulaufen. Sie haben verzweifelt versucht, so zu tun, als wären Lionel Page und Lionel Paget zwei verschiedene Personen.«
Lionel schluckte schwer. Er wollte ihrem Blick nicht standhalten, aber er brachte es nicht fertig, sich von ihr abzuwenden. Ohne die geringste Berührung hatte sie ihn aufgespießt wie einen Schmetterling auf einer Nadel.
»Ich brauchte einen Neuanfang.«
»So etwas gibt es nicht«, sagte sie, »aber das ist nicht mehr relevant, da der Observer nun eine Story bringen will, in der Ihre Deckung auffliegt. Oder … vielleicht auch nicht. Ich besitze Einfluss, und ich genieße es, diesen Einfluss zugunsten meiner Mitarbeiter auszuspielen. Ich will, dass Sie mein Vermittler werden, Lionel. Ich muss nur den Telefonhörer in die Hand nehmen. Wenn Sie diesem Auftrag zustimmen, werde ich Ihnen versprechen, dass die Story über Sie nicht veröffentlicht wird.«
»Ich glaube, dieser junge Reporter ist ein freier Mitarbeiter«, sagte er. »Vielleicht kennen Sie jemanden beim Observer, aber der Knabe wird seine Geschichte einfach überall anbieten …«
Sie schnitt ihm das Wort ab; ihre Stimme klang plötzlich scharf wie ein Peitschenknall.
»Diese – Geschichte – wird – nicht – veröffentlicht.« Sie hielt den Kopf schräg und sah ihn starr an. »Ich glaube daran, Geheimnisse zu bewahren. Und ich werde dafür sorgen, dass Ihre Geheimnisse bewahrt werden. Ich glaube auch, dass Geld zwei Zwecken dient, die beide gleich wichtig sind: dazu, Dinge zu ermöglichen, und dazu, Dinge zu verhindern.«
»Sie haben noch gar nicht erwähnt, wie Sie zu Ihrem Geld gekommen sind«, sagte er.
Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln, und in ihren dunklen Augen blitzte es.
»Nein, das habe ich nicht.«
»Ich bin natürlich neugierig …«
Regina packte ihn bei den Schultern. Sie schien stärker zu sein, als es den Anschein hatte. Vielleicht hatte er auch nur das Gleichgewicht verloren. Sie drehte ihn um, bis er in Richtung der offenen Tür stand. Ihr Atem war ein warmer Luftzug an seinem linken Ohr, während sie ihre Stimme zu einem Flüstern senkte.
»Ich bin nicht die Story. Die Story ist da draußen, in der Wildnis New Yorks. Meine Mittel, Ihre Gaben. Finden Sie die Wahrheit heraus und bringen Sie sie zu mir, und danach können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Haben wir eine Vereinbarung? Haben wir einen Pakt geschlossen, Sie und ich?«
Er stieß ein nervöses leises Lachen aus. »Wenn Sie es so sagen, klingt das wie ein Pakt mit dem Teufel.«
Ihre Hände glitten an seiner Brust entlang. Ihr fester Griff von hinten wurde zu einer sanften Umarmung; sie berührte ihn wie eine Freundin, die ihn schon seit Jahren kannte. Sie legte ihm das Kinn auf die Schulter.
»So düster bin ich gar nicht«, sagte sie. »Ich suche nur nach der Wahrheit genau wie Sie. Wir sind wie die beiden Seiten einer Medaille. Aber ich bin eine altmodische Frau, und ich glaube daran, die Dinge richtig zu machen, und deshalb muss ich darauf bestehen, dass Sie es laut aussprechen. Haben wir einen Pakt, Lionel? Ja oder nein?«
Bereits seit Reginas Anruf läuteten Alarmglocken in Lionels Kopf. Sie waren mit jeder Minute lauter geworden, und nun schrillten sie wie bei einem Feueralarm. Er fühlte sich wie Alice am Rand des Kaninchenbaus, als sie über den Abstieg nachdachte.
So seltsam die Situation – und so seltsam seine Gastgeberin – auch war, konnte er doch gegen die Fakten nichts einwenden. Sie brauchte Antworten. Er brauchte Schutz. Wenn sie Wort hielt, würden ihm ein oder zwei Tage Arbeit in New York das monatelange Offenlegen seiner Privatsphäre und etliche Kopfschmerzen ersparen. Seine Vergangenheit konnte begraben bleiben, so wie es sich gehörte.
Also sprang er in den Kaninchenbau.
»Ja«, sagte er. »Wir haben einen Vertrag.«
Sie stieß ihn sanft nach vorn, auf die Schiebetüren der Bibliothek zu.
»Draußen auf der Straße wartet ein Wagen auf Sie, und die Fahrerin hat einen Umschlag mit Banknoten für Sie. Das ist Ihre Bezahlung dafür, dass Sie mir zugehört haben. Sie hätten das Geld auch bekommen, wenn Sie mein Angebot abgelehnt hätten. Nehmen Sie es als Anzahlung für den ersten Tag und melden Sie sich bei mir, wenn Sie mehr brauchen. Sagen Sie der Fahrerin, sie soll Sie zum O’Hare-Flughafen bringen. Wenn Sie ihn erreicht haben, wird meine Assistentin Ihnen die Flugdaten, das E-Ticket und die Hotelreservierung auf Ihr Handy geschickt haben.«
»Ich kann nicht sofort aufbrechen. Ich muss erst nach Hause fahren, Kleidung zusammenpacken, meine Zahnbürste einstecken …«
»Dafür ist das Bargeld, Lionel. Kaufen Sie sich alles, was Sie brauchen, nachdem Sie gelandet sind. Betrachten Sie es als den Beginn eines Abenteuers. Und jetzt gehen Sie.«
Ein kohlrabenschwarz glänzender, langer Lincoln mit dem Kennzeichen eines Mietwagenverleihs wartete am Bürgersteig. Die Fahrerin, die Regina bestellt hatte, war eine wortkarge Frau, die Lionel einen Umschlag nach hinten reichte und nur kurz nickte, als er sie bat, ihn zum Flughafen zu fahren. Seine Versuche, ein Gespräch mit ihr anzufangen, bedachte sie mit nichtssagenden Lauten. Als Lionel versuchte, sie nach Regina und ihrem Reichtum auszufragen, gab sie gar keine Antwort mehr. Die Frage welkte und starb in der Luft zwischen ihnen. Eingehüllt von der Stille öffnete er den Umschlag und blätterte ein Bündel mit alten, zerknitterten Banknoten durch. Es mussten mindestens zweitausend Dollar sein, das meiste in Fünfzigern.
Regina hielt ihre Versprechen ein. Als der Lincoln vor dem Delta-Terminal des O’Hare-Flughafens hielt, hatte jemand mit einer unterdrückten Nummer Lionel die Flugdaten sowie die Adresse eines Hotels in New York geschickt. Die letzte Information, die er las, war jene, um die er Regina gebeten hatte, bevor er ihr beeindruckendes Haus verlassen hatte: den Namen ihres Kontakts vor Ort – des Buchhändlers, der von dem Poe-Manuskript erfahren hatte – und dessen Adresse.
Eine Stunde später saß er auf dem Flug nach Osten auf einem Fensterplatz, von dem aus er die Tragfläche überblicken konnte. Das Flugzeug war ein Embraer-Modell, eine schmale Maschine mit nur zwei Sitzen an jeder Seite des engen Mittelgangs, und sie schienen kaum die endgültige Flughöhe erreicht zu haben, als der Kapitän bereits die Landevorbereitungen verkündete. Der kurze Flug ließ gerade genug Zeit für das Abebben des Wirbelsturms, der durch diesen Tag getobt war, und für das Ansteigen der Angst, die nun die entstandenen Lücken füllte. Lionel blieb nichts anderes übrig, als still dazusitzen, nachzudenken und einen langen Spaziergang durch seine Erinnerungen zu machen.
Regina hatte recht; sie war hier nicht die Story. Trotzdem wollte er mehr über die Frau wissen, die seine Rechnungen bezahlte. Sie besaß Mittel, die sie ohne zu zögern einsetzte, und wenn sie die Wahrheit gesagt hatte, reichte ihr Einfluss in den Medien aus, um die Publikation einer Geschichte zu unterdrücken, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Das war nicht unbedingt schlecht; es war eine Macht an seiner Seite, die er vielleicht brauchen würde, sobald er in New York gelandet war. Er hatte geglaubt, alle wichtigen Personen in Chicago zu kennen: die Industriellen, die Stadträte, die immer gleichen Betreiber der Politikmaschinerie. Er konnte auf irgendeinen Empfang der oberen Zehntausend gehen und neunzig Prozent der Anwesenden beim Namen nennen. Die Hälfte von ihnen hatte er sich zu Feinden gemacht.
Doch während der ganzen Zeit, die er damit verbracht hatte, im Schmutz der Reichen und Mächtigen zu wühlen, war ihm der Name Regina Dunkle nie begegnet.
Ich sollte Brianna anrufen, sobald ich gelandet bin, und sie bitten, einige Nachforschungen für mich anzustellen. Plötzlich strauchelten seine Gedanken und hüpften aus den Geleisen. Mist. Der junge Reporter.
Regina mochte zwar in der Lage sein, den Observer dazu zu bringen, die Geschichte nicht zu veröffentlichen, aber kein Geld der Welt konnte die Zeit zurückdrehen. Wenn dieser junge Reporter klug genug war und die Redaktion nach dem katastrophalen Interview verlassen hatte, war vielleicht noch alles in Ordnung. Aber wenn er das nicht getan hatte – wenn er Lionels Kollegen um Informationen gebeten und das Magazin überall herumgezeigt hatte –, würde Brianna jetzt damit beschäftigt sein, eigene Nachforschungen anzustellen. Lionel hatte vorgehabt, ihr eines Tages die Wahrheit über seine Kindheit zu erzählen. Dieses verschwommene eines Tages aber hatte er in die fernste Zukunft schieben wollen. Auf alle Fälle wollte er nicht, dass sie es auf diese Weise herausfand.
Lionel saß verkrampft da, zehn Kilometer über Pennsylvania, und starrte sein nutzloses Handy an. Er konnte sich in das kostenpflichtige WLAN einloggen und eine rasche E-Mail absetzen, aber das fühlte sich fast noch schlimmer an, als wenn sie die Fakten aus einem sechzehn Jahre alten Magazin erfuhr. Er musste mit ihr sprechen; er musste ihre Stimme hören. Plötzlich schien die Landung noch viele Stunden entfernt zu sein.
Der junge Reporter und Regina waren am selben Tag in sein Leben getreten. Es fühlte sich wie ein abgekartetes Spiel an. Eine Sekunde lang fragte sich Lionel, ob sie zusammenarbeiteten, weil sie … Und hier fiel seine Theorie auseinander und verwickelte sich in einem Gewirr aus Fragen. Er schaute aus dem Fenster und hatte wieder das Gefühl, er sei Alice, die in die Kaninchenhöhle hinunterstarrte.
Wie ging diese Geschichte gleich noch mal?, überlegte er. Alice ist auf eine seltsame Party gegangen, hat psychedelisches Zeug gesehen und ist nach Hause zurückgekehrt. Ich hatte schlimmere Urlaube.
Es war acht Uhr abends Ostküstenzeit, und die Sommersonne schien noch immer hoch am wolkenlosen Himmel, als die Maschine in Schräglage ging und über die Außenbezirke von New York flog. Lionel stützte sich auf die Lehne seines Sessels und betrachtete die endlosen Reihen der Hochhäuser zu beiden Seiten der Tragfläche, die sich bis über den Horizont hinaus erstreckten. Er war noch nie in New York gewesen, und er hatte so etwas wie seine Heimatstadt erwartet – eine überschaubare Ansammlung dicht gedrängter Geschäftstürme in der Innenstadt, umgeben von endlosen Vorstädten. Nein. Das hier war eine Großstadt, gewaltig, so hoch wie breit, und jeder Quadratmeter des Bodens war bis zur Uferkante jeder einzelnen Insel bebaut. Hoch aufragende Kräne sprenkelten hier und da den Horizont und halfen bei der Errichtung noch höherer Wolkenkratzer, da die einzige Richtung, in die noch gebaut werden konnte, nach oben wies. Es war ein Bienenstock, jedoch bewohnt von Menschen, von acht Millionen, und es wurden beständig mehr, schneller, immer schneller. Plötzlich war er ein winziges Rädchen in einer gewaltigen, gleichgültigen Maschine.
Und irgendwo dort unten, irgendwo in den endlosen Straßen, in denen nun, da die Sonne allmählich unterging, lange Schatten wuchsen, befanden sich die Antworten, nach denen er suchte.
Das Flugzeug setzte mit einem alles erschütternden Schlag auf. Die Kraft der heulenden Bremsen drückte ihn in den Sitzgurt, während die schmale Maschine gegen ihren eigenen Schwung ankämpfte. Schließlich verlangsamte sie sich zu einem sanften Dahinrollen, hielt vor dem Terminal, und ein elektronisches Klingeln verkündete das Erreichen der Parkposition. Lionel reihte sich in die Schlange müder Pendler ein und schlurfte mit ihnen im langsamen Gänsemarsch aus dem Flieger.
Als er die Fluggastbrücke zur Hälfte hinabgeschritten war, wobei das Metall unter dem dünnen Teppich knarzte, holte er sein Handy hervor und wählte Briannas Nummer. Er lauschte dem Freizeichen, als er das Terminal von LaGuardia betrat, umgeben von einer Welle dahinhastender Reisender, die sich in alle Richtungen ausbreitete. Der Flughafen war eine Miniaturstadt. Dutzende Sprachen schallten durch die Luft, die Aromen von zahllosen Essensständen rangen miteinander um Aufmerksamkeit. Es war ein kaum im Zaum gehaltenes Chaos. Lionel blieb in Bewegung und versuchte, allen anderen Leuten aus dem Weg zu gehen, während er den Hinweistafeln folgte.
Beim zweiten Freizeichen nahm Brianna ab. Sie klang atemlos. »Lionel! Ich versuche schon seit zwei Stunden, dich anzurufen. Wo bist du?«
»In New York. Es ist eine lange Geschichte. Aber bevor ich dazu komme, muss ich dich etwas fragen. Dieser Reporter, der Knabe vom Observer …«
»Deshalb wollte ich dich …«
»Was immer er gesagt hat, zieh bitte keine voreiligen Schlüsse, ja? Da ist mehr …«
»Lionel, er ist tot.«
Er erstarrte. Von hundert auf null, wie ein Auto, das gegen eine Ziegelmauer fährt. Seine Beine fühlten sich an, als bestünden sie aus Eis. Ein Reisender in einem gut geschnittenen Anzug umrundete ihn, wäre beinahe mit seinem Rollkoffer gegen ihn geprallt und warf Lionel einen bösen Blick zu, als er an ihm vorbeilief.
»Was?«
»Deswegen wollte ich ja mit dir sprechen«, sagte sie. »Sein Chef beim Observer rief an und fragte, ob wir wüssten, warum er nach dem Interview mit dir nicht mehr zurückgekommen ist. Also haben wir beide einige Nachforschungen angestellt, und … er ist tot. Der Junge ist tot.«
Lionel kassierte viele wütende Blicke, als er stocksteif dastand – ein menschliches Hindernis im Fluss des Verkehrs. Mühsam löste er sich aus seiner Erstarrung und trat neben einen Zeitungskiosk, damit er den anderen nicht mehr im Weg stand. Die Fenster der Flughafenhalle befanden sich hinter ihm. Er spürte die Hitze der untergehenden Sonne auf seinem Rücken.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Er ist eine Minute nach dir gegangen. Karen sagte, du warst aus irgendeinem Grund wütend. Sie meint, dass er dir nachgelaufen sei.«
»Also hat er nichts gesagt …« Lionel verstummte. Das konnte er ihr später erzählen. »Und was ist dann geschehen?«
»Die Polizei sagt, dass es wie ein fehlgeschlagener Raubüberfall aussieht. Man fand seine Leiche hinter einem Müllcontainer in einer Seitengasse der North Michigan Avenue.«
Er schüttelte den Kopf. »Niemand wird am helllichten Tag auf der Magnificent Mile überfallen. Das ist einer der sichersten Orte in der ganzen Stadt. Wegen der Touristen steht alle fünf Meter ein Cop bereit.«
»Nun ja … es ist trotzdem passiert. Ich habe mit einem Bekannten von mir gesprochen, der im achtzehnten Distrikt arbeitet. Man hat dem Opfer alles abgenommen. Nicht nur seine Geldbörse, sondern auch seine Notizen, seinen Rekorder, einfach alles. Sie haben ihn mit leeren Taschen gefunden. Sein Leichnam wies Stichwunden auf. Er war regelrecht übersät damit.«
»Übersät?«
»Abgeschlachtet war das Wort, das meine Quelle benutzt hat. Lionel, sie wollen mit dir reden. Du warst die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat.«
»Karen war die letzte Person, die ihn lebend gesehen hat.«
»Ja, und sie war den ganzen Nachmittag hier, was zwei Dutzend Zeugen bestätigen können. Ihr hattet einen Streit, er ist hinter dir hergelaufen, und jetzt ist er tot, während du in … New York bist? Warum bist du in New York?«
»Sie glauben nicht, dass ich das getan habe.« Lionel war nicht sicher, ob das eine Aussage oder eine Frage war.
»Nein, natürlich nicht, aber du wirst verstehen, wie es aussieht. Sie würden ihre Arbeit nicht richtig machen, wenn sie nicht mit dir reden wollten. Ruf sie an und mach einen Termin für ein Verhör. Morty von der Rechtsabteilung wird auf der Polizeiwache zu dir stoßen. Mach einfach nur das, was er dir befiehlt, und sag kein Wort, wenn er es nicht vorher abgesegnet hat. Dann wirst du keine Schwierigkeiten haben.«
»Sie werden warten müssen. Ich habe gerade keine Zeit.«
»Ach ja. Warum bist du in New York?«
Die Sonne in seinem Rücken war untergegangen, und das Handy fühlte sich in seiner verschwitzen Hand glitschig an. Seine Gedanken wirbelten so schnell umher, das er sie nicht in Worte fassen konnte, und das, was er sagen wollte – in der Hauptsache die Wahrheit –, kam ihm nicht über die Lippen. Als er erstarrt war, waren die Gedanken zusammen mit ihm erstarrt und lagen nun in einem Scherbenhaufen vor seinen Füßen.
Ursprünglich hatte er vorgehabt, Brianna zu bitten, Nachforschungen über Regina Dunkles Geschäfte anzustellen. Aber alles, was er jetzt hörte, war Reginas Versprechen.
»Ich glaube daran, Geheimnisse zu bewahren. Und ich werde dafür sorgen, dass Ihre Geheimnisse bewahrt werden.«
Der Pakt, den sie miteinander geschlossen hatten, war einfach: Alles, was er tun musste, war nach New York zu fliegen, dieses Poe-Manuskript aufzuspüren und herauszufinden, ob es echt war oder ob jemand sie betrügen wollte. Alles, was Regina tun musste, war dafür zu sorgen, dass die Story des jungen Reporters nicht ans Licht der Öffentlichkeit kam.
Nun, die Story war jetzt genauso tot wie der Reporter selbst. Und all seine Beweise, einschließlich der alten und zerfledderten Ausgabe von People, in der Lionel die Titelgeschichte abgegeben hatte, waren verschwunden. Seine Geheimnisse waren gewahrt. So, wie sie es versprochen hatte.
Das war paranoid. Er wusste, dass es paranoid war. Regina war eine exzentrische Erbin mit einer literarischen Obsession und zu viel Zeit, aber sie war keine kaltblütige Mörderin. Der Zeitpunkt des Überfalls war natürlich verdächtig, aber sie hatte bloß angeboten, einige Telefonanrufe zu tätigen und ihren Einfluss geltend zu machen. Es war keine Rede davon gewesen, einen Auftragskiller auf diesen dummen, allzu eifrigen jungen Journalisten anzusetzen. Das entsprach nicht ihrer Abmachung. Er hätte einer solchen Tat nie zugestimmt, und da Regina so gut über ihn Bescheid wusste, wäre ihr das vollkommen klar gewesen.
Aber …