Die Hexen von New York - Craig Schaefer - E-Book
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Die Hexen von New York E-Book

Craig Schaefer

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Beschreibung

In New York erfuhr Journalist Lionel Page, dass das Übersinnliche real und er selbst ein Hexer ist. Als seine Freundin Maddie verschwindet, macht er sich auf die Suche nach ihr. Die Spur führt ihn zu Cordell Spears, einem Millionär, der Ausgrabungen in Griechenland finanziert und eine Ausstellung der Fundstücke plant. Als Cordell von einer Frau angegriffen wird, die ihn des Mordes an ihrem Mann, einem Archäologen, beschuldigt und ein kleines Tongefäß mit dem Namen Tisiphone bei sich trägt, wird Lionel klar, dass es bei dieser Ausstellung um mehr geht als bloßen Marmor und dass auch Maddie etwas damit zu tun hat. Für Lionel beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der ihn zurück nach New York führt – direkt zu Göttern, Helden und Furien ...

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Seitenzahl: 583

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Das Buch

Vor einem Jahr erfuhr Reporter Lionel Page, dass das Übersinnliche real und er selbst ein Hexer ist. Jetzt ist seine Freundin Maggie, seine Lehrerin in Sachen Magie, verschwunden. Die Spur führt Lionel zu Cordell Spears, einem Millionär, der in Griechenland entdeckte Artefakte nach Amerika gebracht hat. Als Spears bei der Ausstellungseröffnung beinahe von einer Furie getötet wird, weiß Lionel, dass er es wieder einmal mit Hexen, Göttinnen und mythischen Monstern zu tun hat. Erneut muss er alle seine Kräfte aufbieten, um die Welt – und seine große Liebe – vor dem Bösen zu retten.

Die Autorin

Craig Schaefer ist das Pseudonym der Autorin Heather Schaefer. Sie lebt in North Carolina, wo sie sich gerne in Museen, Büchereien, an einsamen Kreuzungen mitten im Nirgendwo und ähnlichen Orten aufhält, wo sich Autor*innen düsterer Fantasy gerne versammeln.

Roman

Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:A TIMEFORWITCHESDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 07/2023

Redaktion: Claudia Fritzsche

Copyright © 2020 by Craig Schaefer

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (I. Pilon, Nattle, Raftel, Lions mane, Croisy, Babich Alexander, Bodor Tivadar, Maisei Raman)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30522-2V001

www.heyne.de

I DER MAGIER

Eins

»Ich wusste, dass es eine Fortsetzung geben wird.«

Lionel erkannte das Gesicht der dunkeläugigen Frau am Tisch mit den Vorspeisen. Aber nach ihrem Namen musste er suchen. Sie warf ihm einen Rettungsanker zu.

»Jerrica Winter«, sagte sie.

»Wir sind uns letztes Jahr auf der Presse-Expo in Washington, D. C. begegnet.«

»Richtig.«

Er schüttelte ihre Hand. Sie hatte einen sanften Griff, und ihre Fingerspitzen glitten über seine Handinnenseite, als die Berührung endete. Sie hob die Hand an ihr Gesicht, schnipste ein paar Strähnen ihres rabenschwarzen Ponys weg und musterte ihn von oben bis unten. Er trug ein Sakko zu seinem elfenbeinfarbenen Hemd und den verblassten Jeans, aber auf dieser Party fühlte er sich noch immer zu nachlässig angezogen. Eine schwarze Krawatte war an diesem Abend vorgeschrieben, und über den unechten Sandsteinboden der Galerie im Griffith-Museum huschten zahllose maßgeschneiderte Anzüge und schimmernde Haute-Couture-Roben. Wenigstens war er nicht allein, während er am unmodischen Rand der Galerie lehnte. Jerrica war in einem Hosenanzug von der Stange und bequemen Schuhen erschienen.

»Ich habe Ihr Buch während des Fluges zu Ende gelesen«, sagte sie. »Sehr gut. Als Sie ›auf unbestimmte Zeit‹ von Channel Seven weggegangen sind, dachte ich mir schon, dass Sie an einem Folgeband arbeiten. Der Verleger muss Ihnen einen gigantischen Vorschuss gezahlt haben, damit Sie ein festes TV-Einkommen aufgeben.«

»So ungefähr«, sagte er, reckte den Hals und schaute sich um. Er hoffte noch immer, ein besonderes Gesicht in der Menge zu entdecken.

Vor einem Monat hatte er New York verlassen. Nun lebte er von seinen dahinschwindenden Ersparnissen und fuhr einen rostfleckigen Toyota Corolla mit Fließheck, den er an der Grenze zu New Jersey gekauft hatte. Seine Mission wurde mit Intuition und Tankstellenkaffee befeuert.

Jerrica schenkte ihm einen fragenden Blick, als ob ihr gerade ein Gedanke gekommen wäre. »Sie sind doch nicht hinter Spears her, oder? Ich weiß, dass Sie Großwildjäger sind, aber in diesem Fall würden Sie Ihre Zeit verschwenden. Er ist so sauber, dass er quietscht, wenn er geht.«

Cordell Spears. Unsichtbare Fingerspitzen blätterten das Personenregister in Lionels Hinterkopf durch. Ein Milliardär und Philanthrop, der sein Geld mit Medizintechnologie gemacht und seinen Namen von Küste zu Küste auf ein Dutzend Kinderkrankenhäuser geklebt hatte. Nein. Als Journalist hatte es sich Lionel zur Aufgabe gemacht, Quacksalber, Scharlatane und Spiritisten zur Strecke zu bringen. Soweit er wusste, war Spears nichts von alldem.

Aber …

»Jeder hat eine Leiche im Keller«, sagte er in beiläufigem Tonfall, während er die ausgebreiteten Vorspeisen auf dem Tisch beäugte. Kleine Teller mit russischen Eiern, Quadern aus weißem Kuchen, der wie importierter attischer Marmor wirkte. Das Knurren in seinem Magen erinnerte ihn daran, dass er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte, als er mit einem Pappbecher schwarzen Kaffees und einem schal schmeckenden glasierten Donut in der Mittelkonsole nach Indiana gefahren war.

»Er nicht. Zumindest keine, die es wert wären, dass man darüber schreibt.« Jerrica schürzte die Lippen, als ob sie diesen Mangel jeglichen Skandals missbilligen würde. »Zwei Ex-Frauen, aber wer hat so etwas nicht? Er bezahlt seine Alimente immer rechtzeitig. Keine verärgerten Angestellten, die noch eine Rechnung mit ihm offen haben, keine heimlichen Informanten. Spears-Biomedical-Angestellte erhalten ein ganzes Jahr bezahlten Mutterschaftsurlaub und eine ausgezeichnete Rente. Der Knabe hat sein Leben der Ausrottung von Kinderkrankheiten verschrieben, und wenn er gerade keine medizinischen Wunder wirkt, finanziert er Wohltätigkeitspartys wie diese hier aus eigener Tasche. Er ist einer von den Guten. Ein Superheld aus dem wirklichen Leben.«

Lionel hob die Brauen. »Ein Superheld sogar?«

»Die Post nannte ihn ›Tony Stark mit Stethoskop‹.«

»Ich weiß nicht recht, ob es so etwas wie einen ›guten Milliardär‹ gibt. Nicht, wenn man tief genug gräbt.«

»Das ist zynisch«, sagte sie.

»Eine schlechte Angewohnheit von mir. Ich versuche, sie abzulegen.«

Er griff nach einem mediterranen Feuerrad, einer Tortilla-Spirale, die mit sonnengetrockneten Tomaten, Spinat und Rahmkäse gefüllt war. Es lag kalt auf seiner Zunge, schmeckte frisch und nach einer Spur von Parmesan.

»Wenn Sie es geschafft haben, müssen Sie mir den Trick verraten«, sagte sie. »Wenn Sie also keine Hintergrundinformationen über Spears sammeln, was machen Sie dann hier?«

Gute Frage.

Er war hier, weil seine Geliebte offenbar ein Versprechen hielt, das sie ihm gegeben hatte. Sie hatte es mit blutigen Tränen auf den Wangen ausgesprochen, während sie das Messer mit dem Horngriff gepackt hielt, mit dem sie sich manchmal den Arm ritzte, damit der Druck aus ihr wich. Weißt du, was als Nächstes geschieht? Du wachst eines Morgens auf, und ich bin weg … Ich bin … einfach weg. Weil ich immer irgendwann gehe.

Er war hier, weil er allein im gemeinsamen Bett aufgewacht war – auf dem Hausboot, das sie in Montauk gemietet hatten. Nichts war von ihr zu sehen, außer einem Bonbonpapier auf der Spüle und einer leeren Stelle dort, wo ihr Rollkoffer gestanden hatte. Ihre Herrin – jetzt ihrer beider Herrin – hatte Lionel vor eine einfache Wahl gestellt. Seine Odyssee in New York hatte ihn, den berufsmäßigen Skeptiker, in eine Welt der Geister und des Grauens gestürzt. Das alles konnte er hinter sich lassen; er konnte zurück nach Chicago gehen, zurück zu den Kameras und dem Scheinwerferlicht und zu seiner Illusion einer rationalen Welt. Irgendwann würden die Erinnerungen vielleicht verblassen.

Oder er wählte Maddie. Wenn er das tat, würde er ihrer Spur durch ein von Spuk und Schrecken heimgesuchtes Amerika folgen müssen. Seine Lehrerin, die sich als ältliche Dame namens Regina Dunkle ausgab, konnte ihm den Sieg nicht versprechen. Alles, was sie ihm versprach, waren Kampf und Qual. Und Magie.

Er hatte Maddie gewählt. Und nie zurückgeschaut.

Aber nun war seine Lehrerin verschwunden. »Regina« hatte ihr Telefon abgestellt und methodisch alle Spuren ihrer Existenz gelöscht. Diese besondere Maske würde sie nie wieder tragen. Aber Lionel fühlte sich nicht im Stich gelassen. Wenn er manchmal halb wach in den Resten eines vergessenen Traums hing, glaubte er sie zu spüren. Dann beobachtete sie ihn, war neugierig, wollte unbedingt sehen, was er mit den Werkzeugen anstellte, die er von ihr erhalten hatte.

Die Göttin Hekate – Titanin, Königin der Hexen, Bewahrerin göttlicher Mysterien – glaubte fest an die Erziehungsmethode des »Friss oder stirb«. Und Hekate hatte ihn für sich erwählt, wie sie es Jahrhunderte zuvor mit Maddie gemacht hatte.

Also hatte er sich auf seine Intuition verlassen und war losgefahren. Er war wogenden Wolken aus Sperlingen gefolgt und hatte seinen Kurs nach den Graffiti auf Eisenbahnwaggons berechnet. Lionel war neu in dieser ganzen »Hexensache« – er sprach das Wort noch immer nicht laut aus und nannte sich selbst nie einen Hexer –, und er wusste nicht, ob er wirklich das Wispern des Universums hörte oder nur eine metaphorische Münze warf und sich einbildete, in all dem Lärm ein Signal zu vernehmen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, bis er eine konkrete Spur fand. Seine Intuition hatte ihn zu einem billigen Hotel am Rand von Bloomington geführt, wo das Reinigungspersonal vergessen hatte, eine Touristenbroschüre für das Griffith-Museum zu entsorgen, die der vorige Gast zurückgelassen hatte. Lionel hatte sie durchgeblättert. Heute Abend begann eine neue Ausstellung mit dem Titel Schätze der mykenischen Welt, die später durch Nordamerika reisen sollte.

Herabhängende Banner säumten die Wände der große Halle und umkreisten die Ränder einer gläsernen Decke, die spitz wie ein Zirkuszelt zulief. Dahinter war der düstere Nachthimmel sichtbar. Ein knochenweißes Stück der Mondsichel spähte herunter und wurde von dahintreibenden Wolkenfetzen verschleiert. Das war genau die Art von Szenerie, die Maddies Aufmerksamkeit erregte: Sie selbst war ein Schatz aus der mykenischen Welt. Aber bisher war hier nichts von ihr zu sehen.

Lionel versuchte gerade, Jerricas Frage zu beantworten, als plötzlich eine tiefe, selbstsichere Stimme in seine Gedanken schnitt.

»Jerrica Winter und Lionel Page? In wie großen Schwierigkeiten stecke ich denn hier?«

Jerrica begrüßte den Neuankömmling mit einer schnellen, aber festen Umarmung. »Sie wissen, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben.«

Er wirkte wie eine aus Marmor gemeißelte Statue, war gebaut wie ein griechisch-römischer Ringer, steckte in einem Tausend-Dollar-Anzug und hatte ein ungezwungenes, fröhliches Lachen. Er wandte sich Lionel zu und streckte ihm eine manikürte Hand entgegen.

»Das sagte der Skorpion zum Frosch. Lionel! Sie kennen mich zwar nicht, aber ich kenne Sie. Ich bin ein großer, großer Fan von Ihnen. Cordell Spears – es freut mich, dass wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht begegnen.«

Der Mann der Stunde. Lionel entgingen nicht die privaten Sicherheitsmänner, die in respektvoller Entfernung warteten, aber jederzeit herbeispringen konnten. Sie trugen Ohrhörer wie beim Geheimdienst, und dem Schnitt ihrer Jacketts nach zu urteilen, steckten mehr als Muskeln darunter.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, entgegnete Lionel. »Ich habe gehört, dass Sie die Person sind, der wir diese Ausstellung zu verdanken haben?«

»Unsere Archäologen haben die wahre Arbeit geleistet. Ich bezahle bloß die Rechnungen. Aber es ist für eine gute Sache. Für mich ist Geschichte wichtig. Sie sollte es für uns alle sein. Wir können keinen klaren Kurs in die Zukunft steuern, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen.«

»Dem stimme ich zu«, antwortete Lionel.

Cordell schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Deswegen ist Ihre Arbeit so wichtig. Sie jagen Betrüger und enttarnen Scharlatane. Mein Spielplatz ist die Wissenschaft der Medizin, und Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass fast jede Woche irgendwo ein Betrüger eine neue Wundermedizin anpreist …«

Er hielt inne. Eine ältere Dame, deren Zweistärkenbrille an einer Kette von ihrem Hals herabhing, winkte ihm quer durch den Raum mit einer Broschüre zu.

»Anscheinend muss ich jetzt dort hinaufsteigen und gegen mein Lampenfieber kämpfen. Ich bin schon tausendmal in der Öffentlichkeit aufgetreten, und immer fühlt es sich für mich wie das erste Mal an. Jerrica, Lionel, wir sehen uns nach der Show.«

Lionel schaute ihm hinterher; die stillen Personenschützer folgten ihm wie Phantome. Er spürte Jerricas Blick auf sich ruhen, während er seinen winzigen Teller mit vegetarischen Appetithäppchen füllte.

»Sie suchen nach einem Grund, ihm nicht zu vertrauen«, meinte sie.

»Ich habe keine Abneigung gegen ihn …«

»Aber Sie vertrauen niemandem«, sagte sie. »Wie ich schon sagte. Sie sind ein Zyniker.«

»Das ist eine schlechte Angewohnheit.«

»Ich halte es eher für sexy.« Sie hielt den Kopf schräg. »Was machen Sie danach? Wollen wir etwas trinken gehen und uns unterhalten?«

Es klang so, als hätte sie mehr als eine bloße Unterhaltung im Sinn. »Da müsste ich zuerst meine Freundin fragen.«

»Oh. Ist sie hier?«

Nein, das war sie nicht. Lionel warf einen letzten Blick über das Meer aus Gesichtern und suchte nach der Biegung ihres Kinns, nach dem Glänzen ihrer hellen Augen. Maddie war nicht hier. Er war seiner Intuition gefolgt, und nichts war dabei herausgekommen. Vielleicht hatte er sich selbst nur etwas vorgemacht.

»Im Augenblick führen wir eine Fernbeziehung«, sagte er.

Jerrica schüttelte den Kopf. »Beenden Sie es und ersparen Sie sich maßlosen Kummer. So etwas funktioniert am Ende doch nie.«

Das Licht der Wandleuchter wurde gedämpft. Durch den gläsernen Zeltbaldachin schimmerte das skelettbleiche Mondlicht herunter. Ein Mikrofon ließ einen Herzschlag lang eine kreischende Rückkoppelung hören, als Cordell Spears das Podium betrat. Er stand dort für einen Moment, wie eine Mauer aus steinernem Schweigen, und alle Augen richteten sich auf ihn.

»Sind wir nicht … großartig?«, fragte er die Versammelten.

Schwaches Murmeln und Laute der Unsicherheit antworteten ihm.

»Amerika wurde auf den Fundamenten der Vergangenheit errichtet«, sagte er. »Unsere Vorväter besannen sich der Traditionen von Griechenland und Rom, als sie den Grundstein für diese Nation legten. Warum? Weil sie sich auf die Geschichte stützten und eine großartige Zivilisation studiert hatten, die Jahrhunderte überdauert hatte. Was haben sie in ihr gesehen? Größe. Ein Modell, das nachgeahmt werden sollte, ein Versprechen beständigen Ruhms.«

Cordells Rede war gut eingeübt, und er hatte den ganzen Saal in seiner Hand, aber Lionel war mehr an einer Frau interessiert, die gerade hereingekommen war. Lionel passte schon nicht in diese Menge, aber diese Frau schien wie das verirrte Teil eines völlig anderen Puzzles. Sie hatte krauses orangefarbenes Haar, Ringe unter ihren entsetzt dreinblickenden Augen und hohle, bleiche Wangen. Sie trug eine Hausjacke und Springerstiefel.

Und als sie sich einen Weg mitten durch die offene Galerie bahnte, schien niemand – niemand außer Lionel – sie wahrzunehmen. Das blasse Mondlicht wand sich um sie, raubte ihrer Haut die Farbe und verwandelte die Frau in ein Geschöpf aus Glas.

New York hatte Lionel Wunden zugefügt, die ihm ein ganzes Leben bleiben würden – äußere und innere Wunden. Die neue Frau bemerkte, dass er sie ansah. Sie drehte sich zu ihm um, als sie an ihm vorbeiging, und ihr Mund bewegte sich stumm. Vielleicht spürte er den Widerhall der Worte im Innern seines Schädels, oder er hatte nur ihre Lippenbewegungen gelesen: Versuche nicht, mich aufzuhalten.

Maddie hätte gewusst, was jetzt zu tun war. Aber Maddie war nicht hier. Er war allein. Lionel stellte seinen Teller am Rand des Vorspeisenbüfetts ab. Er richtete sich auf, spannte seine Schultern an, machte die Knie geschmeidig. Was immer hier gleich geschehen mochte – er musste sich für eine Seite entscheiden und handeln. Schnell.

Zwei

Cordell Spears bemerkte die Frau, die auf sein Podium zuschlich, genauso wenig wie alle anderen in der Menge. Er erging sich in Lobpreisungen der antiken Welt.

»Warum drängen wir uns in die großen Kinos und sehen Titanen mit Superkräften dabei zu, wie sie sich auf der Leinwand gegenseitig bekämpfen?«, fragte er. »Weil sich die Menschheit nicht ändert. Die Bedürfnisse und der Hunger der Menschen bleiben stets dieselben. Wir brauchen unsere Heroen, so wie es schon vor Tausenden von Jahren der Fall war. Die Leute müssen daran erinnert werden, dass die Kinder der Götter unter uns sind, und wenn die Menschheit schwach und verängstigt, verloren und allein ist, dann sind die Heroen bereit, vorzutreten und sie zu beschützen. Nicht jeder kann groß sein, aber jeder kann unter dem Strahlen der …«

Die Frau brachte ihn mit einem einzigen Wort zum Schweigen. Ihre Stimme hallte durch den Raum.

»Mörder.«

Nun wurde sie von allen gesehen. Jeder Kopf drehte sich in ihre Richtung, und ein leises Murmeln lief durch die Menge. Hinter dem Podium tauchten bereits zwei von Cordells Leibwächtern auf wie geschmeidige und effiziente Automaten. Eine Sekunde lang wirkte ihr Chef erschüttert, doch dann verbarg er sein Unbehagen hinter einem leichten Lächeln.

»Ich … glaube, diese Dame ist hier am falschen Ort. Sicherheitsdienst, könnten Sie …? Danke. Aber gehen Sie bitte behutsam mit ihr um. Sie befindet sich offensichtlich in einer Notlage. Wir werden uns darum kümmern, dass sie die Hilfe erhält, die sie benötigt, in Ordnung?«

Sie wich nicht zurück. Lionel sah, wie sie eine Hand zum Bund ihrer Hausjacke führte.

»Sie belügen diese Leute«, sagte sie. »Alles an Ihnen ist eine Lüge. Und Heroen können sterben. Heroen sterben genauso wie jeder andere.«

Cordell schüttelte den Kopf. Er war ernst.

»Nein, meine Liebe. Heroen leben ewig – so lange wie ihre Geschichte.«

Ihre Blicke trafen sich. Die Galerie erstarrte.

»Ihre Geschichte endet heute Abend«, sagte die Frau.

Mit einem Ruck schob sie ihre Hausjacke zurück und zog hervor, was sie darunter verborgen hatte. An ihrer Seite, mitten in ihrer Drehung, sah Lionel es: Eine Flasche aus weißem Ton, lang und dünn und mit scharlachroten Zeichen bedeckt. Ein Klumpen aus blutrotem Wachs versiegelte den Korken.

»Schießt!«, rief einer der Leibwächter, und sie zogen ihre Pistolen.

Lionel packte Jerrica an der Schulter und schleuderte sie zu Boden. Die Zuhörer gingen in Deckung, zerstreuten sich, und das Einzige, was die Schreie übertönte, war das gleichzeitige Knallen der abgefeuerten schlanken Automatikwaffen. Aus den Mündungen kam eine Art Blitzlichtgewitter, die Frau taumelte rückwärts und vollführte einen abgehackten Tanz, während rote Krater in ihre Brust gerissen wurden.

Sie fiel rücklings auf den Boden; ihre Augen waren weit geöffnet und glasig und starrten Lionel an.

Die Tonflasche entglitt ihrer offenen Hand. Sie fiel aus den bleichen Fingern auf den Sandstein und rollte herum. Ein weiterer Leibwächter stieß Cordell schnell weg vom Podium, während die Menge in Panik geriet. Ein Mitarbeiter des Museums riss das Mikrofon an sich, bat um Ruhe und versprach, dass die Gefahr vorüber sei. Niemand hörte ihm zu.

»Jesus!«, sagte Jerrica, während sie neben Lionel kauerte. »Das war Wahnsinn. Was haben die sich dabei gedacht? Sie hätten uns alle treffen können!«

Sie hatten nur ihren Boss beschützen wollen. Private Sicherheitsdienste. Lionel war nicht überrascht. Er konzentrierte sich vielmehr auf die weiße Tonflasche, die zwischen aufstampfenden Füßen umherrollte und immer schneller wurde, als verfolge sie eigene Absichten.

Er streckte die Hand nach unten, und die Flasche stieß gegen seine Fingerspitzen. Lionel hob sie vom Sandstein auf und steckte sie in die Brusttasche seines Sakkos.

Er stand auf – eine Insel inmitten des Chaos. Eine solche Position war Lionel schon vertraut gewesen, als er noch nichts über Monster und Magie gewusst und sein Geld damit verdient hatte, als beinharter Skeptiker alle Betrüger bloßzustellen, die sich scheinbar übernatürlicher Phänomene bedienten. Panik überspülte ihn wie warme Wellen an einem Sandstrand. Er behielt einen kühlen Kopf, riss sich zusammen, betrachtete den Aufruhr und schuf daraus ein klares Bild. Da war Cordell, mit gesenktem Kopf, der durch den Angestellteneingang hinausgezerrt wurde. Die beiden Schützen waren zurückgeblieben; ihre gerade eben noch rauchenden Pistolen steckten wieder in den Futteralen und waren nicht mehr zu sehen. Der eine versuchte, die Menge zu beruhigen, machte ausholende Bewegungen mit seinen offenen Händen; der andere schaute blass und mit leerem, unfokussiertem Blick auf die Leiche herunter.

Lionel kannte die Geschichte des Mannes. Der Leibwächter war für diesen einen Augenblick ausgebildet worden und hatte vermutlich tausend Stunden auf dem Schießstand verbracht, aber keine Ausbildung konnte vermitteln, wie es sich anfühlte, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Man musste es auf die harte Tour lernen, und dann musste man lernen, von nun an dieses Gewicht mit sich herumzuschleppen.

So war es bei Lionel gewesen.

Er betrachtete wieder den Leichnam. In der ganzen Verwirrung, die aus den vornehmen Besuchern einen kreischenden Mob gemacht hatte, war jemand damit beschäftigt gewesen, die Geschichte der Ereignisse umzuschreiben.

Nun hielt die tote Frau eine Waffe in der Hand.

Lionel entzündete eine helle Lampe in seinem Kopf und befragte seine eigenen Erinnerungen. Er wusste besser als die meisten Menschen, wie sehr einen die eigenen Augen zu täuschen vermochten. Er hatte Geistheiler und Medien zur Strecke gebracht, die die Massen mit billigen Zaubertricks genarrt hatten, und manchmal waren die einfachsten Täuschungen die überzeugendsten gewesen. Er spielte alles rückwärts und in Zeitlupe ab. Der Griff nach der Flasche, der Ruf – der Leibwächter hatte eine Waffe gesehen oder hatte eine zu sehen geglaubt …

Oder er wollte, dass die Menge das glaubte. Denn Lionel wusste, was er gesehen hatte, und seine Augen logen nicht. Es war die linke Hand der Frau gewesen. Sie hatte die Flasche mit ihrer linken Hand hervorgezogen, dann war auf sie geschossen worden, sie war zu Boden gefallen, und die Flasche war auf Lionel zugerollt. Ihre linke Hand war leer gewesen. Und nun lag ein kleiner, zerkratzter und schmutziger Revolver Kaliber .32 auf ihrer offenen Handfläche.

Untergeschoben. Er hatte Cops gekannt, die eine solche Waffe bei sich trugen, für den Fall, dass eine unrechtmäßige Schießerei in eine rechtmäßige verwandelt werden sollte. Es gab keinen Grund, warum ein Leibwächter es nicht genauso machen sollte. Aber er wusste noch etwas anderes: Er würde sie damit nicht durchkommen lassen. Er brauchte Unterstützung – jemanden, der die Fakten bestätigen konnte. Er sah sich mit fragenden Blicken nach seiner Journalistenkollegin um.

»Haben Sie ihre Hand gesehen?«

Jerrica schüttelte den Kopf und konnte ihm nicht folgen. »Was ist damit?«

»Die Flasche. Haben Sie die Flasche in ihrer Hand gesehen?«

»Was? In ihrer anderen Hand? War sie betrunken?« Jerrica streckte die Finger aus und sah, dass sie zitterten. »Verdammtes Adrenalin. Wie können Sie nur so ruhig sein? Sie wirken wie einer dieser Kriegsreporter.«

Er hatte die falsche Frage gestellt. Er behandelte diese Situation wie ein gewöhnliches Verbrechen aus seinem alten und normalen Leben. Er hatte eine scharfe Trennlinie durch seine Lebensgeschichte gezogen und sie damit in zwei Hälften geteilt: vor New York und nach New York. Die Frau, die niemand gesehen hatte; die Tonflasche … Er sollte diese Angelegenheit wie eine Nach-New-York-Situation behandeln.

»Als sie die Hand von ihrer Jacke genommen hat«, sagte er, »kurz bevor sie erschossen wurde, haben Sie da wirklich eine Waffe in ihrer Hand gesehen?«

Jerrica schaute von ihren zitternden Fingern zu der toten Frau auf dem Boden.

»Sie ist doch da.«

»Ja, aber haben Sie den Revolver wirklich gesehen, bevor die Frau erschossen wurde? Oder haben Sie die Flasche gesehen?«

Oder haben Sie beides gleichzeitig gesehen?, fragte er sich. Jerrica blinzelte. Etwas glitzerte hinter ihren Augen auf; Synapsen verbanden sich nicht richtig, während sie sich bemühte, zwei miteinander unvereinbare Versionen der Wahrheit in Einklang zu bringen. So konnte sich kognitive Dissonanz auswirken.

Genau wie Hexerei.

»Ich habe …« Ihre Stimme verblasste. Was immer sie im Bann hielt – Lionel konnte darauf wetten, dass es auch auf alle anderen im Raum wirkte –, erlaubte ihr nicht, den Satz zu beenden.

Polizisten drängten gegen die Menge an und schafften es in Rekordzeit zum Tatort. Eine Frau hielt eine Marke hoch und erschuf durch reine Willenskraft einen freien Raum um die Leiche. Eine andere in Straßenkleidung redete mit dem geschockten Leibwächter, nahm ihm sanft die Waffe ab und notierte sich die Fakten in einem Notizbuch. Neben Lionel sagte Jerrica plötzlich etwas. Er drehte sich zu ihr um und blinzelte.

»Wie bitte?«

»Ich habe gefragt, ob Sie vielleicht doch einen Drink mit mir nehmen möchten«, sagte sie. »Ich weiß zwar nicht, wie es Ihnen geht, aber ich werde wohl zwei oder drei Gläser brauchen, bis meine Hände nicht mehr zittern.«

»Entschuldigung«, sagte er.

»Richtig. Die Fernbeziehung.« Sie klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »Wie ich schon sagte: Reißen Sie sich die Bandage ab und machen Sie Schluss. Es wird nur in Tränen enden.«

Vielleicht. Aber eines wusste Lionel mit Sicherheit. Er hatte den Weg hierher durch ein Zusammenspiel von Intuition und Fügung gefunden und war sich nicht sicher, ob er dem Wind der Magie oder reinem Zufall gefolgt war. Aber an dieser Situation war nichts willkürlich oder beliebig. Er war auf der Suche nach Maddie gewesen, doch das Universum schien etwas Ironischeres im Sinn zu haben.

Jetzt würde er Maddies Job erledigen müssen.

Die Lichter der Polizeiwagen und Ambulanzen tauchten die muschelförmigen Bauten des Griffith-Museums in Wirbel aus winterlichem Blau. Lionel schob die Schultern hoch, zog sein Sakko gegen die bittere Nachtkälte zu und entfernte sich von dem Tatort. Er hatte die Parkgebühren gespart, indem er den Corolla drei Blocks entfernt am Rand einer düsteren und schlecht asphaltierten Straße stehen gelassen hatte. Niemand würde ihn stehlen wollen, und es befand sich nichts darin außer einigen Verpackungen aus Schnellrestaurants und einem leeren Kaffeebecher.

Der Aufruhr und die Lichter verblassten allmählich hinter ihm. Die Klänge der nächtlichen Stadt drängten in die entstandene Leere. Bloomington schlief, aber es schlief unruhig, es brummte und stöhnte, während es sich hin und her warf. Doch im Wesentlichen ließ es ihn mit seinen Gedanken allein. Ein einsamer Hund bellte in der Ferne; seine Wut hallte von dunklen Fenstern und vorgelegten Läden wider.

Die Nacht war angereichert mit einer Spur saurer Magie, und alles lief auf die kleine Tonflasche hinaus, die in seiner Brusttasche steckte. Er dachte daran, sie zu entkorken und nachzusehen, was sich darin befand. Doch er besann sich eines Besseren. Die tote Frau hatte keinen Revolver besessen, aber sie hatte eindeutig vorgehabt, Cordell Spears für etwas zur Rechenschaft zu ziehen, das er getan hatte, und diese Flasche war ihre Waffe gewesen. Solange er nicht mehr darüber wusste, würde er sie behandeln, als ob sie mit Nitroglyzerin gefüllt wäre. Er notierte sich gerade im Kopf eine Aufgabenliste – welchen Spuren er folgen sollte, welche Möglichkeiten er zu bedenken hatte –, als ihn eine Stimme aus einem dunklen Hauseingang ankrächzte.

»He, Bruder. Kannst du einem Veteran aushelfen? Ich will mir nur etwas zu essen besorgen.«

Der Mann saß zusammengesunken in einem steinernen Torbogen unter einer zerbrochenen Glühbirne. Seine Wangen waren bleich, voller Stoppeln, und er trug einen schmierigen Kampfanzug, der in einem anderen Leben einmal sauber und grün gewesen sein mochte. Lionel blieb stehen. Er griff nach seiner Geldbörse, rechnete rasch und überlegte, wie viel er erübrigen konnte. Seine Geldmittel versiegten schnell – die Arbeit als inoffizieller Agent einer antiken griechischen Göttin brachte überraschend wenig ein –, aber es war kalt und spät, und er konnte einfach nicht weitergehen.

Er bückte sich und hielt dem Mann einen um den Finger gerollten Fünfdollarschein entgegen. Der Obdachlose sah ihn mit wässerigen Augen an.

Dann schnellte seine Hand, die in einem zerfetzten, fingerlosen Handschuh steckte, nach oben und packte Lionels Handgelenk.

»Du solltest dich vorsehen«, knurrte er mit einer Stimme, die viel zu tief für seinen schwachen Körper klang. »Pass auf, mein Sohn, und nimm dich in Acht vor der Heiligen Walze.«

Lionel zog seine Hand nicht weg. Er konnte es nicht. Der Griff des Mannes war so fest wie ein Schraubstock, und seine Augen … nun loderte es in ihnen; sie waren wach und scharf und glitzerten und nagelten ihn an Ort und Stelle fest.

»Er hat sich ein Monster für eine monströse Straße gebaut«, sagte er zu Lionel. »Einen Streitwagen aus blutigem Stahl, einen Todesschlitten, einen absoluten Autobahn-Killer! Die Heilige Walze ist auf einer Mission, und deine Superschnecke … sie ist ihm auf der Spur.«

»Madison?« Lionel beugte sich näher zu ihm herab. »Was weißt du über Madison?«

»Die zwei scheinen sich gegenseitig unter die Erde bringen zu wollen. Du willst ihr helfen? Dann solltest du schnell laufen, junger Löwe. Aber achte auf das, was hinter dir geschieht. Du hast eigene Probleme, und sie kommen rasant auf dich zu. Das sind Probleme, die dich bei lebendigem Leib fressen werden …«

Jetzt packte Lionel ihn ebenfalls. Seine freie Hand schloss sich um den Arm des Mannes und schüttelte ihn durch.

»Was weißt du? Maddie? Wo ist sie?«

Das Feuer in den Augen des alten Mannes erlosch, als wäre es abgeschaltet worden.

Er ließ Lionels Handgelenk los, sackte zurück gegen den kalten Torbogen und starrte in die Dunkelheit über Lionels Schulter.

»Ich weiß gar nichts über gar nichts«, sagte er. Seine Stimme schien eine Million Meilen weit weg zu sein. Langsam senkte er den Blick auf den Geldschein in seiner Hand. »Danke dafür, Bruder. Das weiß ich zu schätzen. Gott segne dich.«

Drei

Lionel wusste nicht mehr, wie oft er schon im Starlite Motel geschlafen hatte. Nun, nicht gerade in diesem hier in dieser Stadt, sondern in einem Haus der Kette. Das Motel, in dem er nun wohnte, war ein verblasstes Überbleibsel der Siebziger, das an einer einsamen Schnellstraße stand. Auf der anderen Seite der Straße schlossen sich Äcker und Maisfelder an, und in allen Richtungen war der Himmel pechschwarz. Schmutz klebte an der Plastikhülle des Parkplatzschildes, und die Glühbirnen darin brummten und flackerten durch die Nacht.

Überall im Land war er schon an Orten wie diesem gewesen, als er noch ein Straßenkrieger gewesen und Geschichten nachgejagt war. Hundert Namen, hundert Städte, und immer das gleiche Motel. Noch bevor er in die Parkbucht einbog, wusste er, was er vorfinden würde: einen Schlüssel mit einem dicken Plastikanhänger, die Zimmernummer in verblasstem Gold auf Schwarz gepinselt. Hinter der papierdünnen Tür papierdünne Wände. Gedämpftes Zuschauerlachen in einer späten Talkshow würde aus dem angrenzenden Zimmer herüberwehen. Eine geblümte Tagesdecke auf dem Bett, zu steif gestärkte Laken und an der Wand ein Kunstdruck mit der Darstellung einer ländlichen Szenerie, der vermutlich von einem Trödelmarkt stammte.

Die Vorhänge seines Zimmers waren aufgezogen. Er bewegte sich im Dunkel, umrundete einen kleinen Tisch vor dem Fenster und griff nach der Lampe. Draußen in der Nacht, hinter dem Parkplatz, hinter der Schnellstraße hing eine Vogelscheuche an einem schiefen Kreuz mitten auf dem weiten Acker.

Lionel schaltete das Licht ein, und die Welt draußen vor dem Fenster verschwand. Dann zog er die Vorhänge zu.

Er stellte die weiße Tonflasche auf den Tisch neben seinen geöffneten Laptop. Langsam und vorsichtig drehte er die Flasche und machte mit seinem Handy Fotos aus sämtlichen Blickwinkeln. Es war die erste Gelegenheit, die er zur genauen Betrachtung dieses Gegenstands hatte. Nun bemerkte er, mit welcher Präzision die scharlachrote Farbe aufgetragen worden war; sogar die Schlieren waren kunstvoll und sorgsam angebracht und verwischten die Farbe hier und dort wie in Ausführung eines unbekannten Gesetzes der Symmetrie. Er wusste nicht, was die Zeichen bedeuteten. Vielleicht »Vorsichtig behandeln« oder »Nicht öffnen«. Er drehte die Flasche noch ein wenig und wollte sie aus dem letzten verbliebenen Winkel aufnehmen. Da erstarrte er.

Hier befanden sich Buchstaben. Sie waren winzig, präzise, saßen knapp über dem Flaschenboden. Griechisch. Er konnte diese Sprache nicht lesen, aber er erkannte die Buchstaben. Vielleicht war es ein einzelnes Wort.

Es war Maddies Handschrift.

Er legte seine Erinnerungen wieder unter die hellen Strahler des Verhörraums. Auf keinen Fall durfte er seinem Wunschdenken nachgeben oder vorschnelle Schlüsse ziehen. Aber er war sich vollkommen sicher, dass es Maddies unverwechselbare Handschrift war. Was immer heute Abend in dem Museum vorgefallen war, wer immer die Frau gewesen war, und was immer sie zu erreichen versucht hatte, bevor Cordells Männer sie erschossen hatten – Maddie war daran beteiligt gewesen. Sie war vor Lionel hierhergekommen. Er befand sich nur wenige Schritte hinter ihr.

Das bedeutete, dass er sie schnell einholen musste.

Lionel war ein Journalist der alten Schule. Er schätzte zwar das Internet – am meisten daran schätzte er, dass er innerhalb weniger Minuten Fakten eruieren konnte, nach denen er sonst tagelang in irgendeiner staubigen Amtsstube hätte suchen müssen, von den gelegentlich fälligen Bestechungsgeldern ganz zu schweigen –, aber was ihn anging, so gab es keinen Ersatz für Schuhsohlen und persönliche Befragungen unter vier Augen. Niemand brachte eine Geschichte für eine Titelseite zustande, nur indem er hinter einem Schreibtisch saß.

Aber inzwischen war es schon nach Mitternacht. Er konnte es kaum erwarten, Informationen über die tote Frau einzuholen und sich mit ihrer Geschichte zu befassen, aber hier in diesem Bezirk waren alle Türen bis zum Sonnenaufgang verriegelt. Es blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als ein wenig zu schlafen.

Eines konnte er jedoch noch tun. In den letzten zwei Wochen hatte er für sich einige Benutzerkonten in den sozialen Medien angelegt, damit er den Blick in die seltsameren Ecken des Internets nicht verlor. Wie erwartet hatte er hauptsächlich eine Ansammlung von wirren Verschwörungstheoretikern, Fantasten und Profitjägern gefunden, aber unter all diesen Spinnereien fanden sich doch einige Körnchen Wahrheit. So hatte er die Bekanntschaft einer bescheidenen einsiedlerischen Professorin für Alte Geschichte aus Toronto gemacht, deren poetischer Aufsatz über die Muse Melpomene exakt zu Lionels Erfahrungen passte, bis hin zu den Worten, die sie zu ihm gesagt hatte, als sie sich persönlich getroffen hatten. Und eine Mythpunk-Sängerin aus Arkansas hatte ihm Fotos ihrer Show in einem gewissen Nachtclub in New York geschickt, der von Ghulen heimgesucht wurde, und sie hatte ihm mitgeteilt, dass ihr bewusst sei, vor wem sie in jener Nacht gesungen hatte. Wenn man selbst dort gewesen war und es überlebt hatte, war klar, worauf sie anspielte.

Dies waren nun Lionels Leute. Er loggte sich mit seinem Passwort Narr333 dort ein und lud eines der Fotos hoch, die er von der Flasche gemacht hatte. Nicht das von den mit Schlieren besetzten scharlachroten Zeichen, denn falls sie gefährlich waren, wollte er nicht, dass sie durch das Internet trieben. Er nahm nur das letzte Bild, die Vergrößerung der griechischen Buchstaben am unteren Rand der Flasche.

Kann jemand das lesen und mir sagen, was es bedeutet?, tippte er. Vielen Dank im Voraus.

Er klickte auf Abschicken, fuhr den Laptop herunter und klappte ihn zu. Vielleicht würde ihm der nächste Morgen einige Antworten und neue Hinweise für seine Jagd liefern.

Lionel sehnte sich nach Schlaf. Er warf sich herum und drückte die gestärkten Laken zusammen, bis sie ein Seil bildeten, das sich um seinen nackten Körper schlang. Etwas verfolgte ihn durch die Dunkelheit. Es war ein Ungeheuer, bestehend aus einzelnen Augenblicken: einem Pistolenschuss, einer rollenden Tonflasche, einer Hand mit schmutzigen Nägeln, die in einem Handschuh mit abgeschnittenen Fingern steckte. Geräuschen und Bildern wuchsen Zähne in seinem Traum.

Er erwachte unter dem Summen der Klimaanlage, in der alte Stangen zu knirschen schienen. Nicht gut. Er warf die Beine über die Seite der Matratze und berührte mit den Füßen den abgetretenen, verblassten Teppich.

Einem Impuls folgend zog er die Vorhänge zurück. Dunkel drinnen, dunkel draußen. Es war 2 Uhr 14 am Morgen, und das Band der Schnellstraße lag leer da, gesäumt von einer Reihe ferner, blasser Laternen. Er sah hinüber zu den Maisfeldern auf der anderen Straßenseite. Nur undeutlich erkannte er den schiefen kreuzförmigen Pfosten, an dem die Vogelscheuche gehangen hatte.

Jetzt war der Pfosten leer. Lionel zog die Vorhänge wieder zu.

Auf dem Tisch stand die Tonflasche mit dem Korken, der mit einem Klumpen aus blutrotem Wachs versiegelt war. Sie lud ihn ein, forderte ihn auf, sie zu öffnen. Die in Maddies feiner Handschrift gemalten griechischen Buchstaben flossen vor seinem Blick durch die Dunkelheit.

Er schlurfte durch den Raum. Das Motel hatte Päckchen mit billigem Instant-Kaffee, Plastikbecher und eine zweifelhafte Plastikkaraffe im Angebot, die am Rand des Fernsehtisches standen. Er musste improvisieren.

»Ich werde dir jetzt einen Zauberspruch beibringen«, sagte Maddie.

Sie befanden sich oben in Montauk, auf einem gemieteten Hausboot und erholten sich in gegenseitiger Umarmung. Sie redeten nicht viel über Magie. Sie radelten am Strand entlang oder machten lange Spaziergänge und genossen die Gegenwart des anderen. Nach seinem Krankenhausaufenthalt wurde Lionel von Tag zu Tag stärker. Wenn die Sonne unterging und das Wasser in gekräuseltes gehämmertes Gold verwandelte, tranken sie Wein auf dem Achterdeck, gingen früh nach drinnen, liebten sich wie Frischvermählte, erschöpften sich gegenseitig und fielen gemeinsam in einen traumlosen Schlaf.

Es war ihm fast gelungen sich einzureden, dass das Leben perfekt war. Aber in Wahrheit – später sah er es so klar und deutlich wie den Sonnenaufgang über dem Meer – war das nicht das Leben. Sie machten Urlaub. Und Urlaube dauerten nicht ewig. Maddie musste zu ihrem Job, zu ihrer Berufung zurückkehren, und er musste einige harte Entscheidungen treffen.

Eines Abends fand er sie im Badezimmer. Sie hockte auf dem geschlossenen Toilettendeckel, hatte einen Arm ausgestreckt und hielt in der anderen Hand das Messer mit dem Horngriff. Auf ihrer Haut waren Reihen von wulstigen Narben zu sehen, wie Striche an einer Gefängniszellenwand. Noch hatte sie sich nicht geritzt. Sie kämpfte dagegen an. Sie ließ es zu, dass er ihr das Messer abnahm, wie er es schon einmal getan hatte, und sie zum Bett zurückführte. Am nächsten Morgen redeten sie nicht darüber.

Lionel war nicht so naiv, zu glauben, dass er Maddie gerettet oder geheilt hatte. Er war nicht ihr Märchenprinz, und er konnte nicht mit einem einfachen Kuss die Jahrhunderte ihres Schmerzes auslöschen. Er konnte die Geister hinter ihren Augen nicht bannen; er konnte sie nur für einige Zeit im Zaum halten. Er konnte für Maddie da sein, wenn sie ihn brauchte – falls sie es zuließ. Das war alles.

Doch er hätte jene Nacht als ein weiteres Zeichen erkennen müssen. Er hätte diese spontane Lektion in Magie ebenfalls als Zeichen deuten sollen. Sie hatte ihn auf das Unausweichliche vorbereitet.

»Ich weiß nicht«, sagte er mit einem Lächeln, während er die Frühstücksbratpfanne in der kleinen Spüle des Hausboots abwusch. »Glaubst du wirklich, ich bin bereit für noch mehr kosmische Macht? Sie könnte mir zu Kopf steigen.«

In der Kajüte duftete es nach frisch gebratenen Tomaten. Maddie stand hinter ihm, schlang die Arme um seine Hüften und drückte ihre Stirn gegen seinen Nacken.

»Ich glaube, ich kann dafür sorgen, dass du demütig bleibst«, entgegnete sie. »Außerdem ist es nur ein einfacher Trick. Lehrlingsniveau – alt, aber gut. Ich weiß, dass die Herrin dir ein wenig Kriegsmagie beigebracht hat, die seit dem Untergang Trojas niemand mehr entfesselt hat, aber das war etwas Besonderes und Einmaliges. Damit du nicht stirbst. Soweit es mich angeht, bist du noch im ›Erst gehen lernen, dann laufen lernen‹-Stadium. Du musst mehr über die Grundlagen wissen, bevor ich dich auf die Menschheit loslassen kann.«

Er drehte sich rasch auf dem Absatz um, wandte den Rücken der Spüle zu und sah Maddie an. Mit der Fingerspitze voll glitzerndem Seifenschaum zeichnete er eine feuchte Linie um ihren Kiefer herum.

»Auf die Menschheit loslassen?«

Sie rümpfte die Nase.

»Du bist immer noch mein Lehrling«, sagte sie. »Ich trage die Verantwortung für dich. Nimm die hübsche Schüssel aus dem Schrank – die lackierte. Und hol eine Kerze. Ich glaube, mein Feuerzeug ist irgendwo in der Kramschublade.«

Lionel saß allein in der Dunkelheit auf dem kratzigen billigen Teppich. Die Kaffeekaraffe war mit Leitungswasser aus dem Badezimmerwaschbecken gefüllt und stand neben einem leeren Plastikbecher. In seinem Gepäck hatte er immer einige kurze elfenbeinfarbene Votivkerzen.

Er hielt Maddies Feuerzeug hoch. Es bestand aus billigem rosa Plastik und stammte von einer Tankstelle irgendwo da draußen in dem endlosen Gewirr der Schnellstraßen. Sie hatte es zurückgelassen.

»Du wirst nicht immer genau das zur Verfügung haben, was du brauchst«, hörte er sie sagen, »aber das macht nichts …«

Maddie hielt ihre frisch geschrubbten Hände hoch.

»Einer richtige Hexe ist nichts Schmutziges fremd.«

Sie setzten sich auf den glatten Laminatboden der Kajüte, und zwischen ihnen standen eine dunkle lackierte Schüssel und ein Krug mit frischem Wasser, das sie am Pier aus dem Meer geschöpft hatten. Lionel deutete mit dem Kopf über seine Schulter auf das Bett und die zerknitterten purpurfarbenen Laken.

»Wie schmutzig wird es denn?«

Maddie lachte. »Nicht diese Art. Ich habe dir gesagt, dass Sexualmagie Arbeit ist. Dabei geht es sogar um Mathematik. Nein, ich will damit sagen, dass wir möglicherweise verschiedene Dinge benutzen müssen, die uns bei der Konzentration auf unser Werk helfen. Meerwasser, eine geweihte Schüssel, eine Kerze. Auch Steine und Kräuter besitzen außerordentlich nützliche Eigenschaften.«

Sie hielt ihr Feuerzeug hoch – das billige von der Tankstelle. Das Benzin floss zwischen den durchscheinenden rosa Plastikwänden hin und her.

»Aber das alles sind nur Requisiten. Sie helfen sehr, doch vergiss nie, woher die Kraft wirklich kommt. Wenn du das, was du brauchst, nicht zur Verfügung hast, musst du improvisieren und auf deine eigenen Fähigkeiten vertrauen. Du kannst es trotzdem schaffen. Ich habe schon geweihte Kerzen aus geschmolzener Malkreide hergestellt und statt Zeremonialwein schwarz gebrannten Schnaps verwendet. Xiulang kann unheimlich genaue Tarot-Deutungen mit leeren Papierfetzen anstellen.«

Lionel blinzelte mehrmals und legte die Hände gegen seine Brust. »Willst du damit sagen … dass die echte Magie die ganze Zeit hindurch in mir gesteckt hat?«

»Du Schaf. Ja, es stimmt. Zumindest im Wesentlichen. Es gibt Zeiten, in denen man eine Aufgabe mit den eigenen Mitteln lösen kann – du hast zum Beispiel heute gelernt, wie du Todesenergie bannen kannst –, und es gibt Zeiten, in denen eine kluge Hexe den Blick zum Olymp hebt.«

»Ich war nie sehr religiös.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nun, Hekate hat dich zu sich geholt, und deshalb bist du jetzt religiös.«

»Da ist etwas dran«, sagte er.

»Das Dasein als Hexe dreht sich immer um Geschäfte. Um Verhandlungen, Verträge und Zugeständnisse. So ist es auch beim Umgang mit den Göttern.« Sie hob den Finger. »Zeige immer Respekt. Mit ein wenig Frömmigkeit und ein wenig Respekt kommst du weit.«

Lionel dachte an sein Erlebnis mit der Muse Melpomene. Rasche Verhandlungen von Maddies Seite und eine Geste des Vertrauens von ihm selbst hatten ihnen das Leben gerettet.

»Ich diene Hekate und bete sie an«, sagte Maddie, »aber bevor ich mich auf das Meer hinauswage, bringe ich Poseidon ein Opfer. Wenn ich auf die Jagd gehe, entbiete ich zuerst Artemis meine Dankbarkeit. Dann landen meine Schüsse stets im Ziel.«

»Aber du kennst diese Gottheiten! Du kannst dir nicht vorstellen, wie seltsam es sich für mich anfühlt, so etwas zu sagen. Vor zwei Wochen habe ich noch nicht einmal an die Existenz von Magie geglaubt. Wenn ich der Rufer bin, wird der Olymp wohl kaum einen Grund haben, auf mich zu hören.«

Ihr Lächeln war sanft und nachsichtig.

»Du wärest überrascht, was ein wenig Respekt und ein offenes Herz alles bewirken können. Und nun kommt die Lektion des heutigen Tages. Ich werde dir einen sehr einfachen Schutzzauber beibringen. Weil … weil ich vielleicht nicht immer in deiner Nähe sein werde.«

Vier

Lionel saß mit überkreuzten Beinen allein in der Dunkelheit auf dem Teppich des Hotelzimmers. Er drehte am Reibrad des Feuerzeugs. Es gab ein kratzendes Geräusch von sich, ein Funke flog auf, dann erglühte eine sich wiegende Feuerzunge. Das Licht nahm ihm die Nachtsicht und verwandelte das Zimmer in einen Bereich tintenschwarzer Finsternis mit nichts als ihm und seinen improvisierten Werkzeugen darin. Er sprach die Worte aus seiner Erinnerung.

»Holde Aphrodite, Herrin von Agape und Eros …«

»Holde Aphrodite«, flüsterte Maddie und fuhr mit der leeren Hand über die ebenfalls leere Schüssel, »Herrin von Agape und Eros, von Philia und Ludus, Herrin der Liebe in allen Namen und allen Gestalten. Die Liebe sei mein Schild, und das Verlangen leite meine Schritte.«

Lionel beobachtete sie neugierig und nachdenklich. Sie fing seinen Blick auf.

»Kennst du diese Worte?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Meine Sprache – meine erste Sprache – kennt viele Namen für die Liebe. Die moderne Vorstellung, in jemanden ›verliebt‹ zu sein, wäre uns damals sehr merkwürdig vorgekommen. Es ist ein so großes Prinzip – das wichtigste in der menschlichen Erfahrung, in ein einziges Wort gefasst. Agape ist die selbstlose Liebe, die man jedem schenkt, auch vollkommen Fremden. Es ist … Mildtätigkeit, Mitgefühl und Freundlichkeit.«

»Davon gibt es heute nicht mehr viel«, sagte er.

»Also streng dich an, mehr davon in die Welt zu bringen. Ohne Agape fällt alles auseinander. Und Eros …«

»Das kenne ich«, sagte Lionel und deutete noch einmal mit dem Kopf auf die zerknüllten Laken.

Ein schelmischer Blick trat in Maddies Augen. »Das glaubst du vielleicht. Aber beim echten, wirklichen Eros geht es nicht darum, etwas zu kennen. Er fegt dich zusammen, hungert deinen Geist aus und erdrosselt deinen Verstand. Auf Zypern habe ich eine Priesterin gekannt, die ihre Herrin als Tymborychos bezeichnete. Das bedeutet ›Totengräberin‹, und sie benutzte den Begriff in tiefstem Respekt. Du alberst nicht mit Eros herum. Du ergibst dich, auf dass Aphrodites Wille geschehe. Auch wenn das für dich den vollkommenen Untergang bedeutet.«

Lionel blinzelte. »Zugegebenermaßen habe ich nur meine undeutlichen Erinnerungen an die Mittelschule, aber ich war der Meinung, Aphrodite sei die – du weißt schon – die nette und strahlende Göttin der Liebe mit dem großen Herzen und den vielen Erosknaben.«

»Willkommen in der wirklichen Welt«, sagte Maddie vollkommen ernst. »Du hast eine Weile gebraucht, aber ich bin froh, dass du jetzt endlich bei uns bist. Weiter. Philia ist die Freundesliebe. Damit meine ich natürlich nicht deine Follower in den sozialen Medien. Es ist die Liebe einer echten, tiefen Freundschaft.«

»Einer Freundschaft, bei der man jemanden morgens um zwei Uhr zum Flughafen fährt?«

»Oder bei der man von jetzt auf gleich beim Zusammenpacken und Umziehen hilft. Es geht um Loyalität, um Fürsorge, um das gemeinsame Feiern der Siege und das Ertragen der Niederlagen. Freundschaft ist Liebe, mächtige Liebe. Ich glaube, das wird in unserer Zeit oft vergessen. Die Menschen lernen, dass Liebe und Sex zusammengehören und man seine Freunde nicht lieben kann, weil das bedeutet, dass man etwas anderes von ihnen erwartet.« Sie schrieb Gänsefüßchen in die Luft. »›Platonisch‹. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diesen Mist hasse. Freundesliebe ist Liebe, so echt und wahr und stark wie jede andere Form. Deswegen haben wir verschiedene Wörter dafür.«

Lionel versuchte sich zu erinnern. »Und … Ludus?«

»Ludus ist der Inbegriff von ›Schwer zu erklären, aber du erkennst es, wenn du es spürst‹. Ludus ist die spielerische Liebe. Leicht und neckisch und köstlich. Sie kann zu Philia werden, sie kann zu Eros werden, oder sie bleibt, was sie ist. Hast du schon einmal mit einer dir vollkommen fremden Person geflirtet?«

»Ja«, sagte Lionel. »Ich glaube mich zu erinnern, dass ihr Name Madison Hannah lautete. Wir sind uns bei einer Tasse Kaffee begegnet, an meinem ersten Abend in Manhattan. Es war eine Situation wie in einer typischen romantischen Komödie.«

»Wie ist es für dich gelaufen?«, fragte sie.

»Prima. Keine Beschwerden.«

»Gut zu hören. Es gibt übrigens noch andere Bezeichnungen für Liebe. Philautia ist eine gute. Die Liebe zum Selbst, aber nicht auf narzisstische Weise. Es geht eher darum … sich selbst zu genügen. Bestimmt hast du Menschen kennengelernt, die tief in ihrem Innern einen Hass auf sich selbst gehegt haben.«

»Sicher«, sagte Lionel. »Jimmy V. Sloane, der Handelsreisende in Schreibmaschinen.«

Maddie schürzte die Lippen, als ob sie soeben etwas Saures geschmeckt hätte. Dann nickte sie.

»Ein perfektes Beispiel. Alles, was Sloane getan und sich verschafft hat, und jeder, dem er wehgetan hat – das alles ist nur geschehen, weil er an sich selbst nichts Gutes finden konnte. Also hat er nach Liebe und Anerkennung draußen in der Welt gesucht, aber das hat nicht funktioniert. Ohne Philautia wird man zum schwarzen Loch. Man verspürt einen Hunger, der nie gestillt werden kann. Echte, ehrliche Selbstliebe bedeutet, dass man nicht von der Wertschätzung anderer Menschen abhängt und man die Liebe, die man in seinem Innern trägt, mit der Welt teilen kann. Und das bringt uns zu unserem gegenwärtigen Zauberspruch zurück.«

Lionel zeigte auf die leere lackierte Schüssel, die auf dem Laminat zwischen ihnen stand.

»Richtig. Hattest du nicht gesagt, dass es sich um einen Schutzzauber handelt? Es klingt eher, als wäre es ein Liebeszauber.«

Sie schenkte ihm ein schelmisches Lächeln und griff nach dem Krug mit dem Meerwasser.

»Warum kann es denn nicht beides sein?«

Eine blasse weiße Votivkerze brannte auf dem Teppich des Motelzimmers und trug die Flamme aus Maddies Feuerzeug. Leitungswasser rann in einem stetigen warmen Rinnsal aus der Kaffeekaraffe in den Wegwerfbecher aus Plastik. Lionel holte mehrfach tief Luft und konzentrierte sich ganz auf das, was Maddie ihm beigebracht hatte, während sein Herz zu einem langsamen, aber festen Schlag fand.

»Holde Aphrodite«, flüsterte er, »Herrin von Agape und Eros, von Philia und Ludus, Herrin der Liebe in allen Namen und Gestalten. Die Liebe sei mein Schild, und das Verlangen leite meine Schritte.«

Er schob die Kerze über den Teppich, bis sich ihre kleine Flamme in dem Becher spiegelte. Das Wasser kräuselte sich, und das Feuer tanzte darin und wurde in der Finsternis zum Zwillingslicht.

»Der erste Teil besteht aus der Anrufung«, hallte Maddies Stimme in seinen Ohren wider. »Dann kommt die Sichtbarmachung. Stell dir jemanden vor, den du liebst. Egal, wer es ist, aber stell dir vor, wie du ihn oder sie liebst. Die blinde Mildtätigkeit von Agape, der heiße Wirbelwind von Eros, die vertrauenswürdigen Bande von Philia, der Tanz von Ludus. Meditiere darüber, während du dir das Gesicht der geliebten Person im Wasser vorstellst. Du wirst sie in dem widergespiegelten Schatten am Rand der Kerzenflamme sehen.«

Lionel konzentrierte sich. Das Hausboot verblasste, der Lärm vorbeifahrender Motorschiffe und das Plätschern der Wellen gegen den Pier wurden zu einem gedämpften, bedeutungslosen Brummen und Summen. Er war allein, meditierte, seine Aufmerksamkeit und sein Atmen und der Rhythmus seines Pulses richteten sich auf die widergespiegelte Flamme.

Es gab nur eine Person, die er dort sehen würde. Sie saß neben ihm; ihr Körper war bloß ein Schatten, während er in das Wasser starrte. Und darin sah er ihr Gesicht, einen Geist neben dem Leuchten des Feuers.

»Ich verrate dir ein Geheimnis«, flüsterte Madison. »Es gibt nur eine Flamme.«

Dann sah er, wie sich das Mysterium enthüllte. Er sah die Kerze neben ihm und das reflektierte Licht im Wasser, in dem sich das Bild von Madisons Gesicht zeigte. Er dachte an all das, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, an die Not, die sie Hand in Hand ertragen, und an den Krieg, den sie geführt und gewonnen hatten. Sie waren miteinander verbunden, durch Philia und Eros und den ganzen Rest, so wie die Reflexion der Flamme mit der Kerze verbunden war.

Sie waren eins.

»Auch wenn du und deine Liebe voneinander getrennt seid«, sagte Madison, »durch Raum oder Zeit oder sogar durch den Tod, kannst du sie auf diese Weise herbeirufen. Und dann ist sie bei dir, als ob sie dich nie verlassen hätte. Du bist nicht allein. Vergiss das niemals.«

Lionel starrte in den Plastikbecher, umgeben von dem Kerzenschein und dem Summen der Klimaanlage. Er spürte Maddie neben sich. Er sprach die Worte aus seiner Erinnerung.

»Mag mein Licht sie in der Dunkelheit finden. Mag die Wärme meines Feuers sie in der Kälte finden. Mag meine Stärke ihre Stärke sein und sie von allen Schrecken abschirmen. Aphrodite, Königin des Verlangens, mein Herz ist rein. Sei meiner Bitte hold, und lege deine gnädige Hand auf ihren Pfad.«

»Nun besiegeln wir den Spruch«, wies Maddie ihn an. »Nimm den Zeigefinger der Hand, die du hauptsächlich benutzt, und berühre damit die Wasseroberfläche. Die Taube ist Aphrodites Botin, also zeichne eine und erschaffe sie auf diese Weise.«

Es war einfach. Abstrakt: Zwei umgedrehte »U« als Symbole für die Flügel der Taube, und das lauwarme Wasser kräuselte sich unter seiner Fingerspitze. Lionel sandte seinen Zauber zu Maddie, wo immer sie auch sein mochte. Er sprach die letzten Worte, die sie ihn gelehrt hatte.

»Möge dein Herz zu mir fliegen.«

Und es war vollbracht.

»Siehst du?«, sagte Maddie. »So einfach ist das.«

Lionel hatte die ungereimten Worte der voces mysticae verwoben und die Todesenergie damit gebannt. Er hatte gegen eine tobende verräterische Hexe gekämpft, die mit seit Jahrhunderten unausgesprochenen Verwünschungen bewaffnet gewesen war, während die rastlosen Toten über das Schlachtfeld gewirbelt waren. Der Rationalist in ihm hasste es, das zugeben zu müssen, aber langsam gewöhnte er sich an die Spezialeffekte. Das hier war vergleichsweise einfach, ein winziger Zauber, aber …

»Trotzdem mächtig«, sagte er und sprach damit den Gedanken laut aus. Maddie nickte anerkennend.

»Das sind die einfachsten Techniken oft. Erinnere dich an Lektion eins: Hexen benutzen das, was ihnen zur Verfügung steht. Punkt. Es geht bei uns um die Resultate. Insbesondere bei denen von uns, die Hekate dienen. Ihr sind immer nur die Resultate wichtig, Entschuldigungen hingegen nicht so sehr.«

»Das habe ich bemerkt.« Er schaute hinunter auf die Kerze. Kalt und starr stand sie da. Hatte er sie gelöscht, oder war Maddie das gewesen? Er erinnerte sich nicht. »Ich hatte geglaubt, es sei ein Zauber zum Selbstschutz. Es geht aber um die Person, auf die du dich konzentrierst.«

»Ja?« Wieder dieses schelmische Lächeln. »Liebe ist ein Kraftverstärker. Sie breitet sich aus und wächst. Und sie schützt jeden, den sie berührt. Außerdem hast du genug Zeit in der Dunkelheit verbracht, um eines zu wissen.«

Er legte den Kopf schräg. »Was denn?«

»Wie ist es denn, wenn alles zum Schlechten steht, wenn du ganz allein und verloren und verängstigt bist und nicht weißt, was du tun sollst? Manchmal kannst du dann am besten durch die Dunkelheit schreiten und kämpfen, wenn du für jemand anderen stark bist.«

Fünf

Splitter aus trockenem und staubigem Licht bahnten sich einen Weg um die Vorhänge herum und brachten die langsam sich ausbreitende Wärme einer Morgendämmerung in Indiana mit. Lastwagen rumpelten die Schnellstraße entlang, und das Summen ihrer Reifen folgte Lionel bis ins Badezimmer. Er rasierte sich, schnitt sich dabei in die Wange und stillte das Blut mit einem Papiertaschentuch, während er darauf wartete, dass das Wasser aus dem Duschkopf wärmer wurde. Es war dieselbe Routine, und er verspürte dieselbe Energie wie an jenen zahllosen Morgen, wenn er als freier Journalist auf der Jagd nach einer Geschichte gewesen war.

Vermutlich war er noch immer auf der Jagd nach einer Geschichte. Das alte Spiel. Aber eine neue Mannschaft.

Jemand von der Reservebank hatte eine Botschaft in seinem Laptop hinterlassen – laut der automatischen Zeitanzeige vor einer Stunde. Er zog eine abgetragene Jeans und ein weiches Baumwollhemd an und knöpfte sich die Manschetten zu, während er sich an den Tisch setzte. Nach zwei Klicks flackerte ein elektronischer Umschlag auf und wurde zu einem neuen Fenster.

Das ist ein Name, schrieb seine gelehrte Bekannte. Tisiphone. Was immer in dieser Flasche stecken mag, ich würde es mir gut überlegen, ob ich das Siegel brechen würde. Zumindest sollten ein Gefahrstoffteam und ein paar Giftexperten in der Nähe sein. Ich mein’ ja nur. Fröhliches Jagen, Q.

Der Name kam ihm sehr bekannt vor. Er hatte ihn schon einmal irgendwo gehört. Also rief er seinen Webbrowser auf. Der Name führte ihn zu Zeichnungen und Holzschnitten, zu Bildern von Figuren mit ledrigen Fledermausschwingen, scharfen Zähnen und Gürteln aus gewundenen, giftigen Schlangen.

Tisiphone. Eine der drei Erinnyen, der Göttinnen der Vergeltung. Tisiphone, eine chthonische Gottheit, ist mit der Aufgabe betraut, Morde zu rächen.

Lionel stand wieder auf dem Boden aus Sandstein unter dem gläsernen Dach und sah zu, wie sich die zerzauste Frau einen Weg durch die Menge bahnte. Sie hatte Cordell Spears mit einem einzigen Wort zum Schweigen gebracht: »Mörder.«

»Den Erinnyen war das göttliche Recht verliehen, jene Sterblichen zu verfolgen und zu bestrafen, welche die göttliche Ordnung dadurch störten, dass sie schreckliche Verbrechen begingen«, las er laut und scrollte den Text auf dem Bildschirm weiter nach unten. »Ihre Opfer wurden gefoltert, in den Wahnsinn getrieben und schließlich getötet, wonach ihre Seelen zu den Gruben des Erebos geschleift wurden, wo über sie Gericht gehalten wurde.«

Er warf einen Seitenblick auf die weiße Tonflasche. Ja, ich werde sie wohl nicht öffnen.

Bevor er ergründen konnte, was die tote Frau zu erreichen versucht hatte – und welches Verbrechen sie hatte rächen wollen –, musste er herausfinden, wer sie gewesen war. Dieser Teil war leicht. Die örtlichen Onlinezeitungen berichteten lang und breit über die Schießerei im Griffith-Museum. Dabei ging es mehr um Cordell Spears als um die Frau, die ihn angeblich hatte töten wollen. Lionel klickte sich von einem Artikel zum nächsten und suchte nach echten Nachrichten inmitten all der marktschreierischen Behauptungen. Es war so, wie Jerrica ihm gesagt hatte: Cordell trug den Umhang eines wirklichen Superhelden, der mit der einen Hand Kinderkrankheiten heilte und mit der anderen seine Leidenschaft für die Archäologie finanzierte, während er zwischen Wohltätigkeitsveranstaltungen hin- und herflog.

Anscheinend ist er nicht in der Lage, etwas Unrechtes zu tun, was mir sofort die Vermutung aufdrängt, dass er etwas Unrechtes tun muss, dachte Lionel. Aber, um ehrlich zu sein, so bin ich nun einmal gepolt.

Außerdem ist seine Frisur vollkommen. Ich traue keinem Mann, dessen Frisur vollkommen ist.

Er fand den Namen des Opfers drei Ebenen weiter unten und las ihn dem leeren Raum laut vor. »Kayla Lambert, dreiundvierzig Jahre alt, Postangestellte.«

Er musste sofort an die Amokläufe der Postangestellten in den Achtzigerjahren denken. Aber Amokläufe geschahen überall, aus jedem beliebigen Grund. Er versuchte noch immer herauszufinden, welche Art von Waffe sich in Kayla Lamberts Flasche befand. Gift? Säure? Das Äußere bestand aus Ton, aber innen konnte das Gefäß verstärkt und gegen Zersetzung geschützt sein. Noch drei beherzte Schritte, und Kayla Lambert wäre Cordell so nahe gekommen, dass sie ihm die Flasche ins Gesicht hätte schleudern können.

Er gab ihren Namen in einer ganzen Reihe von Suchmaschinen ein und erhielt zumindest eine Spur. LexisNexis, TLO und Tracers öffneten ihre Datenbanken weit vor ihm. Nun ja, eigentlich nicht vor ihm, sondern vor der Channel-Seven-Legitimation, die ihm nicht weggenommen worden war, nachdem er sich eine unbegrenzte Auszeit genommen hatte. Sie hätten völlig verschiedene Wege einschlagen können, aber Brianna, seine Ex-Chefin und Ex-Geliebte, hielt ihm immer noch den Rücken frei.

Kayla fuhr einen Toyota-Pick-up, in dessen Registrierung eine Wohnwagensiedlung zwölf Meilen die Schnellstraße hinunter angegeben war. Lionel brauchte unbedingt frische Luft. Er notierte sich rasch die Adresse und nahm seine Schlüssel.

Draußen warfen Kinder auf einem leeren Stellplatz einen Fußball aus Schaumstoff und traten Steine in die Luft. Stimmt, dachte Lionel, als er von der Hauptstraße abbog und einen langen Zufahrtsweg entlangrollte, es ist Samstag. Seit New York drohte ihm sein Zeitgefühl zu entgleiten. Die Tage flossen zusammen, und die alten Gewohnheiten, die sein früheres Leben geprägt hatten – das Umsteigen von einem Zug in den anderen, der Drink nach der Arbeit, Abgabetermine, fällige Rechnungen und Verabredungen –, waren weggefallen.

In der Wohnwagensiedlung hingegen schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Schwere Anhänger waren mit den Reifen halb in die getrocknete Erde eingesunken, und es würde einen Traktor brauchen, sie wieder herauszuziehen. Tote Fliegen sprenkelten die Motorhauben toter Zugmaschinen. Verbogene Antennen stachen in den Himmel und versuchten, Sender einzufangen, die es schon seit Lionels Kindertagen nicht mehr gab.

Nichts bewegte sich hier, nichts bewegte sich fort. Dafür war der Schlamm viel zu dick.

Er hielt sich an einen Gehweg aus zerborstenen Steinplatten und fand schließlich Kayla Lamberts mobiles Heim. »Mobil« war allerdings zu hoch gegriffen, denn das verblasste Gehäuse saß auf einem Fundament aus gesplittertem, verrottetem Holz, und das, was einmal eine Anhängerkupplung gewesen sein mochte, war nur noch ein zerbrochener Knoten aus Rost. Das Einzige, was stabil und fest wirkte, war das Schloss an der Tür. Lionel warf einen Blick über die Schulter. Niemand war in der Gegend; niemand beobachtete ihn.

Es war egal. Maddie war diejenige mit den Dietrichen, und sie war gegangen, bevor sie ihm deren Anwendung hätte beibringen können. Wenn er die Tür eintrat, würde es einen zu großen Lärm verursachen. Er überdachte seine Möglichkeiten und kehrte zurück zu Lektion eins.

Hexen benutzen das, was funktioniert. Nimm den Hokuspokus weg und behandle das hier wie jede andere Spur. Wie würde ich normalerweise hineingelangen?

Das »Verwaltungsbüro« der Siedlung befand sich in einem kleinen Campingwagen hinter einem Reisebus, der auf Holzblöcken stand. Der diensthabende Geschäftsführer, ein Knabe in den frühen Zwanzigern, der seine Teenager-Akne noch nicht losgeworden war, hielt die Stellung und las in einem Ökonomiebuch. Er sah die Zwanzigdollarnote zwischen Lionels Handfläche und Zeigefinger an, als könnte sie ihn beißen.

»Zehn Minuten«, sagte Lionel.

»Die Polizei hat sich schon gemeldet«, sagte der Junge. »Sie haben gesagt, dass heute irgendwann ein Beamter vorbeikommt, der sich ihren Wagen ansehen wird. Sie wissen, was sie getan hat, ja? Sie hat versucht, diesen reichen Kerl umzubringen.«

Nein, dachte Lionel, ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Ich bezahle dafür, dass ich mir beliebig das Zuhause anderer Menschen ansehen kann. Er zwang sich zu einem sympathischen Lächeln und holte tief Luft.

»Zehn Minuten«, sagte er. »Ich sehe mich nur kurz um. Ich gehe mit leeren Händen hinein und komme mit leeren Händen heraus. Ich werde bloß ein paar Fotos machen.«

»Was ist, wenn die Polizei kommt, während Sie dort drinnen sind?«

»Das ist dann mein Problem.«

»Was ist, wenn Sie etwas berühren?« Er schwenkte sein Buch. »Sie wissen schon, Fingerabdrücke.«

»Auch mein Problem.«