Die Geisterhand. Unheimliche Geschichten - Selma Lagerlöf - E-Book

Die Geisterhand. Unheimliche Geschichten E-Book

Selma Lagerlöf

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Beschreibung

Atmosphärische Erzählungen aus dem Norden Ellen, eine junge Frau, die bei ihren Tanten lebt, will gerade einen Brief an ihren Verlobten schreiben, als etwas Unheimliches, Unbegreifliches geschieht, das ihr Leben von Grund auf ändern wird … Selma Lagerlöf (1858–1940) ist vor allem bekannt für ihr Buch über die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson zu den Wildgänsen. In den Erzählungen des vorliegenden Bandes – Die Geisterhand, Die Rache bleibt nicht aus, Eine Geschichte aus Hallstanäs und Vineta – zeigt sie, dass sie Leserinnen und Leser auch mit unheimlichen Geschichten zu fesseln vermag.

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Seitenzahl: 109

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Selma Lagerlöf

Die Geisterhand

Unheimliche Geschichten

Aus dem Schwedischen übersetzt von Marie Franzos

Reclam

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962303

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962303-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014607-1

www.reclam.de

Inhalt

Die Geisterhand

Die Rache bleibt nicht aus

Eine Geschichte aus Halstanäs

Vineta

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Nachbemerkung

Die Geisterhand

Gerade als es ein Uhr schlug, kam jemand und klingelte an der Glocke des Doktors. Das erste Läuten hatte kein Resultat, aber als das zweite und dritte verriet, dass es unerschütterlicher Ernst war, kam Doktors Karin durch die Küchentür, um zu sehen, was es gab. Und als Karin eine Weile verhandelt hatte, musste sie sich damit abfinden, den Doktor zu wecken. Sie klopfte an die Schlafzimmertür.

»Es ist jemand da von der Braut vom Herrn Doktor. Der Herr Doktor muss hin.«

»Ist sie krank?«, ertönte es von drinnen.

»Sie wissen nicht, was ihr fehlt. Sie glauben, dass sie etwas ›gesehen‹ hat.«

»Ja, ich lasse sie grüßen und sagen, dass ich komme.«

Der Doktor fragte nicht weiter. Liebte es nicht, das Mägdegeschwätz über seine Braut zu hören.

Eine wunderliche Sache mit diesem Aberglauben, dachte er, während er sich ankleidete. Da liegt doch das Haus mitten in der Stadt, nicht das geringste Romantische daran. Ein ganz gewöhnliches, hässliches, altes Haus, wie alle anderen in dem Viertel eingerichtet. Aber der Geisterspuk nistet sich dort ein.

Läge es nur in einem finsteren Gässchen oder ein wenig außerhalb der Stadt in irgendeinem verwilderten Garten, wo unheimliche alte Bäume die Fensterscheiben peitschten, in solch einer stürmischen Winternacht! Aber mit der Kirche und der Sparkasse und der Kaserne und der Zuckerfabrik ganz in der Nähe! Sollte man nicht glauben, dass die Zuckerfabrik mit all ihrem Rasseln und Kochen und den großen glühenden Dampfkesseln es dem Gespenst unbehaglich machen musste. Aber nein – durchaus nicht.

Auf seine Weise konnte das Gespenst Bewunderung verdienen. Es lag Energie in ihm, unglaubliche Energie und die Fähigkeit, sich im Bewusstsein der Leute zu erhalten. Man gab wohl zu, dass es sich jetzt etwa zwanzig Jahre nicht hatte sehen lassen, seit die Fräuleins Burmann in die Geisterzimmer gezogen waren. Aber hatte jemand es vergessen? Das zeigte sich ja jetzt: Bloß weil Ellen ganz plötzlich krank geworden war, musste es gleich heißen, sie hätte etwas gesehen.

Dass sie vor etwas erschrocken war, ja, das war wohl nicht unmöglich. Sie war wie prädestiniert, Gespenster zu sehen, dadurch, dass sie ihr ganzes Leben mit den zwei nervösen alten Tanten verbracht hatte. Und dass es ein Gespenst im Haus gab, hatte sie wohl immer gehört und geglaubt, von Kindheit auf war ihre Phantasie durch all das angeregt.

Als er das erste Mal auf Krankenbesuch bei den Tanten gewesen war, hatte sie ihm gewissermaßen triumphierend gesagt: »Hier ist das Geisterzimmer«, in einem Ton, als zeigte sie eine Familienkostbarkeit.

»Sehen Sie, Herr Doktor, es geht nicht an, in diesem Zimmer Karten zu spielen.«

»Ach, warum nicht?«

»Ja, wenn einer der Spielenden den geringsten Fehler macht, den allerunbedeutendsten Kniff, da kommt eine Hand und legt sich neben ihn auf den Spieltisch.«

»Was für eine Hand?«

»Eine alte hässliche Hand mit schweren Diamantringen auf den krummen Fingern und mit echten Spitzen ums Handgelenk.«

»Nun, und dann?«

»Ja, man sieht nichts als nur die Hand.«

»Aber woher kommt das?«

»Das weiß niemand, sie hat sich immer hier gezeigt.«

Sie hatte das sehr keck erzählt, aber wer konnte wissen, wer konnte wissen? Sie glaubte wohl an den Spuk.

»So kommt sie, sehen Sie, Herr Doktor, kommt die Tischkante heraufgeschlichen, dicht neben dem, der spielt, hu, und dann zeigt sie auf eine der Karten mit einem großen gekrümmten Finger! Sie hat Nägel wie Klauen, gekrümmt und spitzig.«

Nun, wirklich daran glauben konnte sie wohl doch nicht. Sie hatte ja gerade das Gespensterzimmer zu ihrem Zimmer gewählt ...

Der Doktor jagte an der großen Zuckerfabrik vorbei, wo die ganze Nacht gearbeitet wurde, und gelangte über die hohe Steintreppe hinein in das Haus.

Gott erbarme sich, auch er war nahe daran, zu erschrecken. Im Treppenhaus stand eine lange Gestalt, ganz in einen schwarzen Schal eingerollt. Tante Malin war selbst heruntergekommen, um ihm die Stiegen hinaufzuleuchten.

»Wie geht es Ellen?«, fragte der Doktor.

»Wie gut von dir, so rasch zu kommen«, sagte Tante Malin. »Ich weiß nicht, was sie hat. Du musst kommen und selbst sehen.«

Sie sprang beinahe die Stiegen hinauf, so alt sie war. Der Doktor bekam erst jetzt den lebendigen Eindruck, dass wirklich Gefahr im Verzug war.

Ärgerlich, wenn jetzt etwas dazwischenkommen sollte, mit dem kleinen Mädchen dort oben, das er sich zur Frau gewählt hatte. Er hatte in seinem ganzen Leben keine gesehen, die ihm besser gefiel. Recht schön, und keine anderen Verwandten als die zwei alten Tanten, und natürlich streng erzogen, ans Heim gewöhnt, tüchtig im Haushalt, friedfertig.

Als sie ins Vorzimmer kamen, wendete sich Tante Malin wieder an ihn.

»Wir erwachten mitten in der Nacht dadurch, dass sie so furchtbar schrie, und wir haben sie seither nicht beruhigen können. Wir wussten uns keinen anderen Rat, als nach dir zu schicken.«

Sie öffnete die Tür zu Ellens Zimmer, steckte den Kopf hinein und sagte, dass er gekommen war. Gleich darauf wurde er eingelassen.

Drinnen war es so hell, dass er im ersten Augenblick kaum etwas sehen konnte. Sie hatten wohl alles hereingestellt, was es in der Wohnung an Lampen und Leuchtern gab. In dieser Beleuchtung wurde es einem klar, dass dies einst der Festsaal gewesen war, in den Glanzzeiten des Hauses.

Also hier hatten sie an den Spieltischen gesessen, und gerade da hatte die Gespensterhand sich gezeigt. Das musste einen Schrecken und einen Aufstand gegeben haben! Man brauchte nur seine Braut anzuschauen, um zu wissen, wie sie ausgesehen haben mochten.

Sie saß mitten im Zimmer in einem großen Lehnstuhl, hielt sich ganz aufrecht, sah sich mit wunderlich wandernden Blicken um, war bleich wie eine Tote, ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie bebte.

Der Lehnstuhl war mitten ins Zimmer gerückt. Es war einer mit freien Füßen. Kein Möbel stand in der Nähe, nichts konnte darunter verborgen liegen und plötzlich hervorkriechen.

Sie achtete nicht auf die, die hereinkamen. Sie hielt jetzt die Augen fest, ganz fest auf den Schatten des Schranks geheftet, der sich bis zur Kachelofenecke erstreckte. Sie hatte den Schatten wohl im Verdacht, dass er ihr irgendeinen hässlichen Streich spielen wollte. Sie zog ihre Röcke an sich, wie um zur Flucht bereit zu sein, wenn der Schatten sich verdichtete und sich als etwas entpuppte, vielleicht als eine große Hand mit Fingern und Klauen. Nun, der Doktor rückte in aller Eile eine Lampe hinüber, so dass ihr Licht in die Ecke fiel. Sie sank wieder in den Stuhl.

Nun kam Tante Bertha und legte denselben Bericht ab wie Tante Malin.

»Wir erwachten dadurch, dass sie schrie, als wäre sie wahnsinnig geworden, und so ist sie dann die ganze Zeit gewesen. Sie will nur Licht haben, immer mehr Licht. Was, glaubst du, ist das?«

»Ein Schrecken, nichts anderes als ein Schrecken«, flüsterte der Doktor.

So, nun waren ihre Blicke bemüht, sich hinter eine Gardine einzubohren. Er ging einmal ums Zimmer. Es konnte ja möglich sein, dass er entdeckte, was sie erschreckt hatte. Auf dem Schreibtisch lag ein tintiges Briefpapier. Sie hatte etwas zu schreiben begonnen, aber die Feder war ihr aus der Hand gefallen und übers Papier gerollt. Ein Briefchen, das er ihr spätabends geschickt hatte, um zu wissen, ob sie und die Tanten am nächsten Tag einen Ausflug mit ihm machen wollten, lag dicht daneben.

Es war offenbar, dass sie sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, um ihm zu antworten. Sie hatte eben »Mein gel ...« geschrieben. Dann war sie erschrocken und hatte die Feder fallen lassen.

Der Doktor fühlte, wie die Blicke der Tanten ihm folgten. Sie wunderten sich wohl, dass er kein Wort zu Ellen sprach. Das Erste, was geschehen musste, war, alle aus dem Zimmer zu bringen, sowohl Tante Malin und Tante Bertha als auch das Hausmädchen, damit sie den Schrecken nicht in ihr wachhielten.

»Ich glaube, sie wird mir schon alles erzählen, wenn ich allein mit ihr sprechen kann«, sagte er, und rasch war das Zimmer leer.

Er zog einen Sessel heran und setzte sich neben sie.

Wunderbar, wie viele Gesichter ein Mensch haben kann! Er hätte Ellen so kaum wiedererkannt. Ruhe, friedvolle Ruhe war das Hauptmerkmal ihres Aussehens. Er war davon bezaubert worden, sie immer gleich ruhig zu finden, eine förmliche Meisterin in der Kunst, die Tanten zu behandeln. Sie sah kaum von der Stickerei auf, wie sehr sie auch lärmten. Und dann hatte er einmal gewissermaßen eine Offenbarung gehabt. Im Heimkommen glaubte er eines Abends eine zarte, vornübergeneigte Gestalt im Lampenschein am Arbeitstisch sitzen zu sehen. Er hatte ein deutliches Bild des feinen Nackens und der kleinen Hände empfangen. Das ganze Zimmer war durch sie geschmückt. Daraufhin hatte er um ihre Hand angehalten.

Und nun jetzt dagegen! Nur bleiches Entsetzen und aufgescheuchte Wildheit. Gerade, was er nicht wollte. Eine hysterische Frau! Ah, Gott behüte, Gott behüte!

»Sag, Ellen, was hast du?«

Sie antwortete nicht.

»Mir musst du es sagen, verstehst du«, sagte er ein bisschen streng.

Sie heftete die Augen auf ihn, es war, als blitzte ein Schimmer von Hoffnung in ihnen auf.

»Du wirst ruhig werden, wenn du es sagst.«

Es war schade um ihre schönen hellen Augen. Sie hatten immer auf dem, mit dem sie gerade sprach, geruht, mit einem Schimmer so still wie der der Sonne. Sie waren vielleicht glänzender jetzt. Aber das war so ein Glanz, nach dem er sich eigentlich gar nicht sehnte.

Sie kämpfte heftig mit sich selbst. Sie konnte den Unterkiefer nicht stillhalten. Sie stopfte ein Taschentuch zwischen die Zähne, damit man nicht hörte, wie sie aufeinanderschlugen.

Endlich hörte er sie ein paar Worte sagen. Sie saß da und schlug mit der einen Hand auf die andere und dachte laut. »Ich muss es ihm sagen. Ich muss, ich muss. Sie kommt sonst wieder. Ja, sie kommt wieder.«

Dann begann sie zu sprechen, und seine Laune wurde seltsam gedämpft dabei. Es glich am ehesten der Stimmung, die über einen kommt, wenn man in einem feierlichen Aufzug im Frack geht, und es kommt ein Platzregen. Man fühlt, wie man seine ganze Größe und Würde einbüßt.

Sie gestand mit einem Mal, dass sie ihn nicht liebhatte. Sie hatte ihn gerne heiraten wollen, aber einzig und allein, um von daheim wegzukommen.

Würde es nicht ihm selbst gegolten haben, er hätte darüber lachen können, wie dieses Kind sich nach einem Mann gesehnt hatte. Nach dem ersten besten. Sie war so fest entschlossen, fortzukommen. Es war der Tanten wegen. Sie waren ja sehr gut gegen sie gewesen, und sie wussten selbst nicht, wie sie sie quälten.

Sie sah ihn an mit verzweifelten Augen und bettelte gleichsam, er möchte sie doch verstehen und mit ihr fühlen. Er wusste ja, wie die Tanten waren, er, der sie viele Jahre hindurch behandelt hatte. Sie waren so schwierig, so schwierig, so voll fixer Ideen und Verängstigungen. Tante Malin erwartete immer eine Feuersbrunst, Tante Bertha glaubte immer, dass sie auf der Straße überfahren werden würde. Er wusste, wie sie waren. Und wenn sie, Ellen, weiter bei ihnen blieb, würde sie ebenso wunderlich werden.

Aber sie wollte ein ordentlicher Mensch werden. Und sie hatte sie gebeten, fortgehen und arbeiten zu dürfen. Das hatten sie natürlich nicht erlauben wollen. Da konnte er doch begreifen, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als zu heiraten.

Der Doktor konnte es nicht lassen, zu fragen, ob sie nicht gefürchtet hatte, dass sie, mit jemandem verheiratet, aus dem sie sich nichts machte, ein schlimmeres Leben haben konnte als hier bei den Tanten.

Ach nein, schlimmer konnte es wohl nie sein. Ein Mann war wenigstens manchmal fort. Die Tanten waren den ganzen Tag zu Hause.

Nun, da sie schon so offenherzig war – war es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn liebzuhaben? Sie schüttelte den Kopf, das war etwas, was ganz außerhalb des Denkbaren lag. Und warum? War er zu hässlich? Nein, sie schlug beteuernd die Augen auf. War er langweilig? Sie machte eine abwehrende Handbewegung. Was für ein Fehler war also an ihm? Er war zu kalt. Ja so, er war zu kalt.

Der Doktor ging ein paar Schritte durchs Zimmer. Das war doch unglaublich, dass ein solches Kind da herumgegangen war und etwas Derartiges zusammengebraut hatte, hatte sich von ihm küssen lassen, ohne eine Spur von Neigung für ihn zu empfinden. Und sie hatte ihre Rolle gar nicht schlecht gespielt. Er war der Betrogene gewesen. Und dass er so unangenehm war, dass ein junges Mädchen gar nicht daran denken konnte, ihn zu mögen.