Die Geschichte der Deutschen - Wilhelm von Sternburg - E-Book

Die Geschichte der Deutschen E-Book

Wilhelm von Sternburg

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Beschreibung

Der bekannte Historiker und Journalist Wilhelm von Sternburg erzählt deutsche Geschichte neu. Er nimmt uns mit auf eine Zeitreise zu den wichtigsten Personen und Ereignissen in Politik, Kunst und Wissenschaft. Wir erleben Geschichte mit all ihren Licht- und Schattenseiten.

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Die Geschichte der Deutschen
Sternburg, Wilhelm von
Campus Verlag
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9783593400402
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|5|Für Carla

|9|Warum über Geschichte nachdenken?

Geschichte ist öde. Die Mehrheit der Schüler in aller Welt hat dieses Verdammungsurteil zweifellos schon vor Urzeiten gefällt. Zahlenfriedhöfe, pathetische Schlachtengemälde, nervige Statistiken, in unverständlicher Sprache abgefasste Dokumente, staubige Grabfunde, Tonscherben und abgegriffene Münzen oder die endlosen Beschreibungen von Domschätzen und Herrschaftsinsignien – wer soll da nicht einschlafen?

Geschichte ist faszinierend. Sie erzählt von unserem Herkommen und dem Werden unserer Umwelt. Sie erklärt uns unendlich vieles: warum unsere Vorfahren immer wieder Krieg führten, warum Elend und Hunger die Völker heimsuchten, warum die Eisenbahn, der Telegraf oder der Computer die Welt veränderten, warum die Frauen in Europa um ihre Gleichberechtigung so lange kämpfen mussten, warum Deutschland erst so spät eine Demokratie wurde, warum es wichtig war, die Europäische Union zu gründen. Geschichte löst längst nicht alle, aber doch manche Rätsel unseres gesellschaftlichen Alltags.

Mein Interesse an der Vergangenheit begann im Religionsunterricht. Ich war in der siebten Klasse und wir lasen den Roman Quo vadis?, in dem der polnische Autor Henryk Sienkiewicz aus der Zeit der Christenverfolgungen im Römischen Reich erzählt. Mich fesselte weniger der religiöse Hintergrund dieses Romans als vielmehr die Schilderung des Lebens im alten Rom. Mein Vater wies mich wenig später auf die Jugendbuchausgabe von Felix Dahns Ostgoten-Saga Ein Kampf um Rom und Gustav Freytags Epos Die Ahnen hin, in dem die Geschichte der Deutschen seit den Tagen der Germanen romanhaft dargestellt wird. Zugegeben: Heute, gut 50 Jahre später liest kaum noch einer diese beiden Wälzer. Nicht nur die Jugendlichen greifen lieber zu den Asterix-Comics, in denen die Kelten und Germanen als rauf- und saufwütige Gesellen durch die Lande ziehen. Oder sie kaufen eine Kinokarte, um die Abenteuer von König Artus, seiner schönen Frau Guinevere und den Rittern der Tafelrunde auf der Leinwand zu verfolgen. Mir aber eröffnete sich damals Buchseite |10|um Buchseite eine neue Welt. Ich begann, über mein eigenes kleines Leben hinauszublicken.

Bald entdeckte ich auch, wie widersprüchlich Eltern und Lehrer, Mitschüler und Freunde über die Berichte in den Zeitungen oder im Radio (Fernsehen gab es damals noch nicht) die Welt deuteten, wie sie über das Heute sprachen und sich dabei häufig überaus einseitig auf das Gestern beriefen. Ihre Urteile über die Vergangenheit und damit auch die Gegenwart basierten in der Regel weniger auf Fakten als auf ideologischen Vorurteilen, denen sie durch den Einfluss ihrer Umgebung erlegen waren. Für meine Eltern und ihre Bekannten beispielsweise war der Erste Weltkrieg aus deutscher Sicht ein Verteidigungskrieg, zu dem die neidischen Nachbarn uns im August 1914 angeblich gezwungen hätten. Über Hitler und den Nationalsozialismus sprachen die Erwachsenen in meiner Jugend kaum. Wenn diese Zeit überhaupt thematisiert wurde, dann wiesen sie entschuldigend auf die soziale Not und die hohe Arbeitslosigkeit in den Jahren vor der Errichtung der Diktatur hin. Und natürlich hatten sie fast alle nichts von den Untaten der Nazis gewusst.

Als ich dann in den nächsten Jahren die Arbeiten der Historiker las, wurde ich immer misstrauischer. Die häufig aggressive und sehr einäugige Betrachtung der Ereignisse und der Menschen, die sie bewirkt hatten, ließ mich ahnen, dass die Wirklichkeit komplizierter ist, als es uns die Schlagzeilen der Medien oder die Wahlkämpfer der Parteien zu suggerieren versuchen. Historische Schuld und Unschuld, die Opfer und die Täter der Geschichte – das war und ist offensichtlich nicht so einfach, wie es die nationalen Propagandisten des Ruhmes der Deutschen (oder Engländer, Franzosen, Italiener, Russen, Amerikaner ...) immer wieder verkünden.

Es wurde mir immer klarer, dass das Denken und Handeln der Völker im Alltag des Heute tief geprägt ist von ihrer Vergangenheit. Sitten- und Moralansprüche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen, Arbeitsethos und Religion, Gesetze und gesellschaftliche Tabus, Sprache und kulturelle Eigenarten – vieles davon beruht auf jahrhundertealten Traditionen. Die Vergangenheit ist vielfach höchst lebendige Gegenwart.

Allmählich wurde mir auch bewusst, dass die Helden meiner Jugend – Cäsar, Karl der Große, Napoleon, Bismarck – für Krieg, Mord und Elend verantwortlich waren. Der Heroismus der Geschichtsschreibung rechtfertigte nur allzu häufig die Taten der gesellschaftlichen Eliten und vergaß darüber die unzähligen Opfer des Handelns von Königen und Fürsten, Feldherren und Kirchenführern. Cäsar hinterließ in Gallien eine verbrannte Region. Karl der Große befahl die Hinrichtung |11|von über 4 000 Sachsen. Die mittelalterlichen Päpste dachten in der Regel nicht an Gott, sondern an die Vermehrung von Macht und Reichtum. Luther, der große Reformator, war ein Judenhasser. Die goldgierigen Konquistadoren Hernando Cortez und Francisco Pizarro vernichteten mit Feuer und Schwert und unter dem Zeichen des Kreuzes die Azteken- und Inkareiche in Mexiko und Peru. Der Dreißigjährige Krieg wurde vom Habsburger Kaiser Ferdinand II. und dem Schweden-König Gustav Adolf, von den Generälen Wallenstein und Tilly im Namen der Religion geführt, aber es ging in erster Linie um Geld und Macht und der Krieg verwüstete Mitteleuropa. Als Napoleon seine Eroberungspläne realisierte, mussten Hunderttausende Franzosen, Italiener, Engländer, Russen, Österreicher, Bayern und Sachsen sterben. Bismarck führte drei verlustreiche Kriege, um die Demokratie in Deutschland zu verhindern und die Herrschaft der Hohenzollern im von ihm neu gegründeten Deutschen Reich zu sichern. Im 20. Jahrhundert verblutete Europas Jugend während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben vor Verdun und auf den Schlachtfeldern Flanderns. Dreißig Jahre später starben Hunderttausende im eisigen Stalingrad, weil Hitler die Welt erobern wollte. Die sozialistische Utopie, auf die sich der Kommunismus berief, mündete im terroristischen Stalinismus. Der deutsche Nationalsozialismus gebar das Unvorstellbare, die Ermordung des europäischen Judentums.

Ich musste es erst lernen: Geschichte ist Chaos. Der Weg des Fortschritts, den wir uns optimistisch als große Menschheitsleistung anrechnen, bleibt weitgehend eine Illusion. Triumph und Fall der Völker und ihrer Lenker stehen dicht nebeneinander. Goethes Graf Egmont, der im 16. Jahrhundert zur Rebellion der Niederländer gegen ihre spanischen Unterdrücker aufrief und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, wusste um die Hilflosigkeit des Menschen und der Mächte: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«

In meiner Jugend glaubte ich, die Völker seien fähig aus der Geschichte zu lernen, zeigte sie doch, dass vor allem Krieg und Elend die vergangenen Jahrhunderte bestimmt hatten. Die Sieger von heute waren fast immer die Verlierer von morgen. Weltreiche entstanden und vergingen. Die kurzen Perioden des Friedens bescherten den Menschen in der Regel sehr rasch Wohlstand. Der Krieg dagegen machte stets wenige reich und ließ die Massen verarmen. Wissen wir das nicht alles, wenn wir zurückblicken auf das, was war?

|12|Hoffnungsschimmer hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Im Westeuropa unserer Tage genießen wir die längste Friedensperiode und trotz des viel beschworenen wirtschaftlichen Niedergangs eine Zeit des Wohlstands, die es für uns so in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Und sind da nicht die großen Ideen eines Platon, Aristoteles, Spinoza oder Kant? Die Bücher von Ovid, Dante, Cervantes, die Dramen und Komödien Shakespeares oder der europäischen Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts? Die unsterblichen Kunstwerke der griechischen Dramatiker und Bildhauer? Die Bilder Michelangelos, Botticellis, van Goghs oder Kandinskys? Gibt es nicht die herrliche Musik von Bach, Beethoven, Gustav Mahler ? Hat die Welt nicht Pest und Cholera, Tuberkulose und Diphtherie weitgehend besiegt? Haben die Dampfmaschine, die Elektrizität und die moderne Technik nicht Millionen Arbeiter von den Härten schwerster Handarbeit befreit, die in den vergangenen Jahrtausenden das Leben ihrer Vorfahren bestimmte? Geschichte ist janusköpfig. Sie hat immer zwei Seiten. Verbrechen und menschliche Größe stehen eng beieinander.

Hier wird die Geschichte der Deutschen erzählt. Wir sollten aber nie vergessen, dass es eine isolierte nationale Geschichte im Grunde nie gab. Immer war diese eingebettet in die Geschichte ihrer Nachbarn, ja in die Weltgeschichte. Die Wanderungen der germanischen und slawischen Stämme, die Ende des 2. Jahrhunderts verstärkt einsetzten, um dann immer wieder dramatische Völkerverschiebungen in Europa auszulösen, hingen eng miteinander zusammen. Sie wirkten auf das Leben im untergehenden Rom ebenso ein wie auf das der Menschen in Gallien, Germanien, Skandinavien, Britannien oder östlich der Elbe. Das Reich Karls des Großen umfasste das heutige Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland und große Teile Italiens. Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Die Reformation war trotz des Wittenberger Mönches Martin Luther kein isoliert deutsches, sondern ein die gesamte christliche Welt aufrührendes Ereignis. Als Friedrich der Große im 18. Jahrhundert Preußens Truppen in Schlesien einmarschieren ließ, löste er einen langen Krieg aus, dessen Beben bis in die nordamerikanischen Kolonien zu spüren war, weil sich dort Franzosen (Friedrichs Feinde) und Engländer (Friedrichs Verbündete) verlustreiche Schlachten lieferten, die über das Schicksal Preußens mitentschieden. Die Französische Revolution von 1789 hat die deutschen Länder, England oder das zersplitterte Italien kaum weniger tief verändert als Frankreich selbst. Die Wurzeln der industriellen Revolution liegen zwar in England, aber sie verbreitete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts über ganz Westeuropa und den aufstrebenden nordamerikanischen Kontinent. Die zwei Weltkriege des |13|20. Jahrhunderts – an deren Ausbruch Deutschland einen unheilvollen Anteil hatte – veränderten nicht nur unser Land, sondern die Welt.

Aber jedes Volk, jeder Staat hat zugleich seine ganz eigene Entwicklung durchgemacht. Das gilt auch für Deutschland. Die geografische Lage, das Klima, die natürlichen Rohstoffreichtümer, die Kultur und die gesellschaftlichen Strukturen bestimmen Leben, Denken und Handeln einer Nation. So haben sich beispielsweise in England schon sehr früh mit der Magna Charta von 1215 und in Frankreich nach der Revolution von 1789 erste demokratische Strukturen herausgebildet. Und das hatte entscheidenden Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen dieser Völker. Die Deutschen dagegen hielten bis 1945 mehrheitlich am obrigkeitsstaatlichen Denken fest, das seit den Tagen des frühen Mittelalters die Herrschaft einer kleinen Oberschicht sicherte. Nicht zuletzt an dieser antidemokratischen Mentalität scheiterten die Revolution von 1848 und Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die Weimarer Republik. Schließlich wurde sogar ein Diktator und Massenmörder wie Adolf Hitler möglich.

Erzählt wird in diesem Buch ausführlich von den Persönlichkeiten, die die Geschichte der Deutschen auf besondere Weise bestimmt haben. Dies, obwohl die Historiker schon lange darüber streiten, ob es denn tatsächlich die Männer (von Frauen sprachen sie in diesem Zusammenhang eigentlich nie) sind, die Geschichte machen, oder ob nicht umgekehrt die wirtschaftlichen, kulturellen und mentalen Entwicklungen das Leben der Menschen verändern. Beides gilt wohl. Die geschichtsmächtigen Persönlichkeiten bleiben immer auch abhängig von den Ereignissen und Abläufen, die ihr Handeln motivieren und begrenzen. Aber Cäsar oder Napoleon haben mit ihren politisch-militärischen Entscheidungen zweifellos die Epoche, in der sie lebten, geprägt. Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 ohne Bismarck ist kaum weniger vorstellbar als das Dritte Reich ohne den Verbrecher Adolf Hitler.

Entscheidend für die biografischen Abschnitte in diesem Buch war für mich aber vor allem der Wunsch, die Geschichte der Deutschen für den Leser spannend zu erzählen. Spiegelt sich doch im Leben des Einzelnen jenseits aller abstrakten Erklärungen und Deutungen besonders eindrucksvoll und verständlich wider, dass der Mensch im Zentrum des Geschehens steht – heute ebenso wie vor über 2 000 Jahren.

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|14|In den Wäldern der wilden Germanen

Obwohl die nationalen Verkünder im 19. und 20. Jahrhundert etwas ganz anderes behaupten, ist es eine Realität: Die Deutschen als Volk treten erst sehr spät in die Geschichte ein. Im Vergleich zu den Hochkulturen der Ägypter, Griechen oder Römer geht es in West-, Mittel- und Nordeuropa noch lange urzeitlich zu. Schrift, Baukunst, Wissenschaften, Bodenbearbeitung und Alltagstechnologie erleben im Nahen Osten und in Asien bereits eine Blütezeit, als die Menschen nördlich der Alpen unter primitivsten Bedingungen zu überleben versuchen. Die erste ägyptische Dynastie ist rund 3 000 Jahre vor der neuen Zeitrechnung, die für das Abendland mit der Geburt Christi beginnt, entstanden. Da hockten die Bewohner unserer Breitengrade noch unter den Blätterdächern ihrer schützenden Bäume und suchten nach Pflanzen oder fingen mit Schlingen Kleintiere und Rehwild, um nicht zu verhungern.

Die Region, die von den Römern Germanien genannt wird und von der die Deutschen heute nur noch einen kleinen Teil bewohnen, bietet eine bedrohliche, zum ständigen Überlebenskampf herausfordernde Umwelt. Riesige, fast undurchdringliche Wälder überziehen das Land zwischen Maas und Elbe, zwischen den Alpen und dem Nordmeer. Wölfe, Auerochsen und Bären leben in ihnen, Regen und Nebel bestimmen das Klima. Die römischen Legionäre, die in den Norden geschickt werden, um Kastelle und Grenzwälle zu bauen und das Weltreich gegen die Einbrüche der ruhelos umherziehenden germanischen Völkerschaften zu schützen, sehnen sich zurück in ihr sonniges Italien. Der erste Römer, der im Jahr 98 n. Chr. ausführlicher von den Germanen erzählt, der Historiker Publius Cornelius Tacitus, spricht seinen im unwirtlichen Norden dienenden Landsleuten zweifellos aus dem Herzen: »Wer würde schon ohne Gefahr Asien, Afrika oder Italien aufgeben, um nach Germanien zu ziehen, in jenes abstoßende Land mit seinem rauen Klima, seiner unfreundlichen Kultur und Erscheinung!«

Es sind nicht Germanen, erst recht nicht Deutsche, die das Land als Erste besiedeln|15|. Die bäuerlich-kriegerischen Stämme, die in der Steinzeit in West- und Mitteleuropa leben, kommen vermutlich aus Zentralasien und sie wandern über Südosteuropa ein. In einem langen Zeitabschnitt führt sie ihr Weg über die Donau und den Rhein in das Pariser Becken und nach Mitteldeutschland. Einige Stämme erreichen sogar die Britischen Inseln. Diese Ursiedler roden die Waldgebiete, auf denen sie ihre Wanderung unterbrechen. Sie bauen einfache Häuser und bestellen die Felder. Ihre Werkzeuge sind Steingeräte, die sie mit den neuen Techniken des Schleifens und Bohrens verbessern. Sie halten Ziegen und Schafe, Hausrinder und Hausschweine, später auch Pferde. Jäger sind sie nicht. Der Boden, auf dem sie Leinen- und Hülsenfrüchte und Einkorn pflanzen, wird rücksichtslos ausgebeutet, um die Ernährung der Stammesangehörigen sicherzustellen. Sie wandern weiter, wenn die intensiv bepflanzten und durch die Rodungen bald weggeschwemmten Ackerböden nichts mehr hergeben. Das kann nach einigen Generationen der Fall sein, oder schon nach wenigen Jahrzehnten. Ihre Sprache ist bis heute unbekannt. Wir nennen sie »indogermanisch«, ein Begriff, in den Herkunfts- und neues Siedlungsgebiet einfließen.

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Die Kelten im Süden ...

Wahrscheinlich wird Europa in diesen Frühzeiten seiner Geschichte von unentwegten Wanderungsbewegungen bestimmt. So erscheinen während der Bronze und Eisenzeit, also etwa in den letzten zwei Jahrtausenden vor Christus, immer wieder neue Völker an den Rändern des europäischen Kontinents, die rasch die Oberhand über die Altsiedler gewinnen. Im südlichen Mittel- und in Westeuropa sind das die Kelten, im Norden die Germanen. Hunger, Beutegier, militärische Niederlagen und dramatische Klimaveränderungen haben sie aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben.

Die ersten Völkerschaften, von deren Kultur und Zusammenleben uns die Grab- und Siedlungsfunde, die Berichte der griechischen und römischen Geschichtsschreiber etwas mehr erzählen, sind die Kelten. Sie bestimmen etwa vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. die Geschichte Westeuropas. Auch ihre Anfänge liegen weitgehend im Dunkeln. Aber wir wissen immerhin, dass sie aus dem Voralpenraum in den Westen und Süden des Kontinents ausschwärmen und schließlich die Normandie und die Bretagne, die Britischen Inseln, Teile Italiens und der Iberischen Halbinsel und sogar die heutige |16|Türkei erreichen. Die Städte Budapest und Turin gehen auf keltische Siedlungsgründungen zurück. In Deutschland sind ihre Spuren hauptsächlich im Süden zu verfolgen. Ein Vordringen nach Norden über Hessen hinaus haben die germanischen Stämme verhindert.

Ein kriegerisches Volk sind die Kelten. Ihre adligen Führer leben in Burgfestungen. Ihre Weisen, die Druiden, erforschen den Ratschluss der Götter. Sie betreiben Astronomie, überliefern die religiösen Riten, vollziehen die Opferhandlungen und schneiden die Misteln – jene heiligen Zweige, die im Glauben der Kelten Krankheiten heilen und Fruchtbarkeit bringen sollen. Und ihre Kämpfer sind berüchtigt. Für die Römer ist deren Brauch, die Schädel der Besiegten zu balsamieren und bei Gelagen stolz herumzuzeigen, die reine Barbarei. Doch bei aller Grausamkeit und allem Kampfesmut sind die Kelten auch ein handwerklich geschicktes Volk. Von den Griechen und Römern übernehmen sie die Geldwirtschaft. Bald wird das Eisen, das sie vor allem in Gallien verhütten, für sie zum wichtigsten Metall. Die Werkzeuge und Kultgegenstände aus diesem Material sind mit hoher Kunstfertigkeit hergestellt, wie die zahlreichen Funde in den ausgegrabenen keltischen Kultstätten zeigen – das fein gearbeitete und vergoldete »Kultbäumchen von Manching« aus dem 3. Jahrhundert vor Christus beispielsweise, das in den Überresten einer großen keltischen Siedlung nahe Ingolstadt gefunden wurde und heute in der Archäologischen Staatssammlung in München aufbewahrt wird, ist eines von vielen Kunstwerken, die uns erhalten geblieben sind.

Die Kelten schenken Mitteleuropa den Mahlstein und die Töpferscheibe. Deutliche Spuren ihrer Sprache sind noch heute in Irland, Schottland, der Schweiz und Nordfrankreich zu finden, wo nach wie vor von einer Minderheit Gälisch, Rätoromanisch und Bretonisch gesprochen wird. Viele Namen von Flüssen, Bergen und Städten sind wahrscheinlich keltischen Ursprungs: Rhein, Taunus oder Bonn. Im Namen des Flusses Main klingt die keltische Siedlung Menosgada an; die Stadt Paris verdankt ihren Namen den keltischen Parisii; die Kelten haben sich hier einen Stützpunkt eingerichtet.

Die keltische Sagenwelt hat die Fantasie der modernen Menschen auf besondere Weise angeregt. Die Fantasy-Autoren erobern seit Jahren mit dem Kampf um Gerechtigkeit und Liebe in der Welt des Nebels, der dunklen Bergseen und der Felsenkliffs, an denen die schäumenden Wellen zerschellen, die Bestsellerlisten, und Der Herr der Ringe hat die Menschen scharenweise ins Kino gelockt. Aber die Welt, die uns dort begegnet, ist nicht die wirkliche Welt der Kelten. Ihren Alltag können die Archäologen anhand der Ausgrabungsfunde nachvollziehen|17|. Ihre Denkweise, Geschichte und religiösen Vorstellungen finden wir in den Legenden und Sagen, die irische und britische Mönche im 5. Jahrhundert zu sammeln beginnen. Sie sind es, die das Leben der Menschen in Erinnerung gehalten haben, die an der Wiege Europas stehen. Die Geschichte des Rinderraubs von Cuailuge handelt zum Beispiel davon, wie der Held CúChulainn und die anderen Krieger von Ulster sich gegen Angreifer aus Connaught verteidigen, die im Auftrag ihrer Könige den berühmten Bullen von Cuailuge (Cooley) rauben sollen. Nur CúChulainn ist nicht durch einen Fluch geschwächt und kann den Gegnern standhalten. In den Schwanenkindern des Lir werden die geliebten Kinder eines Königs von der Stiefmutter in Schwäne verwandelt. Auch die Erzählungen über den legendären König Artus und seine Tafelrunde stammen aus dem keltischen Sagenkreis: Der Herrscher mysteriöser Herkunft schlägt erfolgreich viele Schlachten und steht dabei unter dem besonderen Schutz des Zauberers Merlin. Schließlich wird er im Kampf gegen seinen Neffen Modrod, welcher ihn um Reich und Gattin betrogen hat, schwer verwundet und zur Heilung auf die Feeninsel Avalon gebracht. In der Dichtung des Mittelalters wird der Artus-Hof, dessen Mitglieder stets an einem runden Tisch sitzen, damit keiner einen besseren Platz haben kann als ein anderer, zum Ideal des Rittertums.

Zu verdanken sind diese Überlieferungen wohl vor allem dem irischen Nationalheiligen St. Patrick. 385 in England geboren, wird er in jungen Jahren von irischen Seeräubern entführt und nach Nordirland verschleppt. Dort hütet er sechs Jahre lang die Schafe seines Herrn. Später missioniert er als Mönch die Bewohner der irischen Provinzen Connaught, Ulster, Leinster und Munster. Irische und britische Mönche werden es sein, die dann Nord- und Mitteleuropa christianisieren. Von den alten keltischen Ländern Irland und Britannien aus findet das nördliche Abendland so den Weg zum Christentum. Der heilige Patrick hat aber auch ein kleines kulturelles Wunder vollbracht. Obwohl bekennender und missionierender Christ erkennt er den Wert der nationalen heidnischen Epen und erhält sie der Nachwelt. Nur wenige Missionare haben eine solche Toleranz gegenüber dem Denken der Welt des Heidentums gezeigt.

Heute sind die Kelten aus der Geschichte verschwunden. Sie gehen auf in den Völkern, die ihre Siedlungsgebiete erobern. Das sind zunächst die Römer, die sie unter Cäsar im gallischen Krieg besiegen. Als es dem römischen Feldherrn 52 v. Chr. nach jahrelangen Kämpfen gelingt den keltischen Fürsten Vercingetorix gefangen zu nehmen, verliert dessen Volk in Gallien seine Unabhängigkeit. Dann sind es zunehmend die germanischen Stämme, die die alten keltischen Gebiete erobern.

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|18|... im Norden die Germanen

Über die Herkunft der Germanen wissen wir ebenfalls nur wenig. Erstmals taucht ihr Name, der wahrscheinlich aus dem Keltischen stammt, im 4. Jahrhundert v. Chr. auf. Ihre Urheimat liegt in Nord- und Nordwestdeutschland, in Dänemark und im südlichen Skandinavien. In ihrer Frühzeit sind sie in zahlreiche, in der Regel nicht allzu große Völkerschaften zersplittert. Auch das Leben ihrer Gemeinschaft ist von einem ständigen Überlebenskampf bestimmt. Boden und Nahrung müssen der Natur unter überaus schwierigen Bedingungen abgerungen werden. Stets drohen die Überfälle der Nachbarn oder einzelne Stammeskämpfe. Die Germanen sind sich untereinander spinnefeind. Ihre Gemeinsamkeiten beschränken sich zunächst auf die kultischen Rituale und die Sprache. Erst allmählich führen die immer neuen Wanderungen zu größeren Zusammenschlüssen, die dann die Goten, Alemannen, Sachsen und viele andere Stämme zu einer wachsenden Gefahr für das Römische Imperium werden lassen.

Die Germanen leben auf Einzelhöfen oder in kleinen Dörfern. Sie treiben Ackerbau und Viehzucht, kennen aber auch die Seefahrt und den Fernhandel. Ihre Haus- oder Nutztiere sind neben dem Pferd Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen. Adelssippen führen die germanischen Völkerschaften an. In der sozialen Hierarchie folgen dann die Freien, die Halbfreien und die Sklaven. In jährlichen Versammlungen, die bei den Wikingern Thing genannt werden, wählen sie ihren Stammesführer. Könige oder Häuptlinge sind es. Wer das werden will, muss seinen Stammesgenossen vor allem als Krieger und Heeresführer mit Mut und Stärke imponieren. Denn der Kampf steht im Zentrum des Lebens und Denkens eines Germanen. Er gibt dem Dasein seinen Sinn und stimmt die Götter gewogen. Denn nur wer mit dem Schwert in der Hand fällt, darf in die Ruhmeshalle der gefallenen Helden einziehen – in die Walhalla.

Die germanischen Götter heißen Odin (Wodan), Thor (Donar), Loki, Tyr oder Freyja. Ihre Zahl ist groß, denn sie sind für nahezu alles zuständig, was Leben und Schicksal ihrer menschlichen Verehrer bestimmt. Die sind zwar mutig im Kampf, aber furchtsam und den Göttern ergeben im Alltag. Ganz gleich ob für die Ernte und das Wetter, für den Sieg und den Tod – für alle Eventualitäten zeichnet ein Gott oder eine Göttin verantwortlich. Odin ist der Herr des Kampfes und der Toten. Er entscheidet die Schlacht und bewirtet die Krieger im Jenseits. Seine Frau Freyja ist die Göttin der Liebe, der Familie und der Fruchtbarkeit. Der stärkste aller Götter ist der Wettergott Thor, der mit seinem Hammer |19|das Chaos besiegt. Der Kriegsgott Tyr schützt die Fürsten und Herrscher. Um die Gunst ihrer Götter bitten die Germanen in heiligen Eichenhainen, wo sie nicht selten auch Menschenopfer darbringen.

Die Entstehung der Welt vollzieht sich nach ihrem Glauben in Urzeiten aus den Körperteilen des riesenhaften Ymir. Aus seinem Fleisch entsteht die Erde, aus seinem Blut das Meer, aus seinen Knochen die Berge, sein Haar wird zu Bäumen, sein Schädel formt den Himmel. Die Weltesche breitet ihre Äste über das All, ihre Wurzeln bergen die Quellen der Weisheit. Hier wohnen die Nornen, die Schicksalsgöttinnen. Aus der magischen Zeichenwelt der Runen, die in Stein oder Holz geritzt werden, lässt sich das Schicksal der Menschen deuten. Die germanischen Religionen tauchen in den großen Naturmythos ein. Die Natur ist Feind und Lebensspender zugleich. Die Götter sind schützend, aber auch furchtbar und manchmal sogar unberechenbar. Loki, ein Außenseiter unter den Göttern voller Hinterlist und Bosheit, zeugt drei Ungeheuer, den Fenriswolf, Hel und die Midgardschlange. Das ist der Anfang vom Ende der Götterwelt. Odin stirbt im Kampf mit dem Fenriswolf, Thor erschlägt die Midgardschlange, geht aber an ihrem Gift zugrunde, und ein Mistelzweig, den Loki dem blinden Hödr überreicht, tötet Odins und Freyjas Sohn Balder.

Die Germanen, davon spricht nicht nur Tacitus, trinken heftig, berauschen sich an ihrem Honigwein, genannt Met, und schrecken im Kampf vor nichts zurück. Ihre Frauen feuern hinter den Schlachtlinien die Krieger lauthals an, den Feind ohne Gnade niederzumetzeln. Für die arroganten Römer sind die aggressiven Germanen Barbaren, also rohe, ungesittete Menschen. Sie beziehen sich dabei auf einen Begriff, mit dem die Griechen einst alle nicht-griechischen Völker belegt haben. Sicher, wenn die germanischen Krieger die Siedlungen ihrer Nachbarstämme erobern, verschleppen sie die besiegten Männer als Sklaven, die Frauen werden vergewaltigt, Kinder und Alte erschlagen. Aber viel anders verhalten sich die römischen Eroberer auf ihren Feldzügen auch nicht. Überlegen sind sie den »barbarischen« Völkern und Stämmen allerdings in ihren zivilisatorischen Errungenschaften. Städtebau, Wohn- und Lebenskultur, die Künste – da geht es in Rom anders zu als in den germanischen Wäldern. Doch trotz dieser Unterschiede gilt für die gesamte Antike: Wer überleben will, muss stark und wehrhaft sein. Was die Deutschen (und nicht nur sie) noch 2 000 Jahre später zeitweise die primitive Schlussfolgerung ziehen lassen wird, auch in zivilisierten, von der Natur längst nicht mehr so bedrohten modernen Gesellschaften gelte dieses Gesetz.

Vieles aus der kultischen und begrifflichen Welt der Germanen hat sich bis |20|heute gehalten. Die Sonnenwendfeiern der Skandinavier oder die Erntefeste der Bauern, auch einige Namen unserer Wochentage leiten sich aus der germanischen Götterwelt her. So steckt im Freitag der Name der Fruchtbarkeitsgöttin Freyja, Donnerstag weist auf den Wettergott Thor oder Donar hin und Sonntag erinnert an den Tag, den die Germanen der Sonne geweiht haben.

Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. dringen germanische Stämme bis an die Weichsel, die obere Elbe, die Donau und den Rhein vor. Sie erreichen damit auch keltische Siedlungsgebiete. Die römischen Legionäre, kriegserfahren und gut gerüstet, beschleicht Schrecken und Furcht, wenn die wilden, ihre Streitäxte mit Gebrüll schwingenden germanischen Krieger aus den Wäldern hervorbrechen und über sie herfallen. Schon 113 v. Chr. ziehen die Volksstämme der Kimbern und Teutonen über die Grenzen des Römischen Reiches und schlagen dessen Heere in mehreren Schlachten. Erst zwölf Jahre nach dem Beginn ihres Kriegszuges werden sie in Oberitalien vernichtend besiegt. Dieser lange und zeitweise erfolgreiche Feldzug germanischer Stämme auf römischem Territorium bleibt ein unvergessener Schrecken für Roms Eliten.

Völlig erobert haben die Römer Germanien nie. Cäsar kann in einem achtjährigen Krieg die benachbarten keltischen Gallier (sie leben im heutigen Frankreich und Belgien und feiern als Asterix und Obelix in unseren Tagen ihre ruhmvolle Wiederauferstehung) unterwerfen. Sein Adoptivsohn, Kaiser Augustus, stärkt die römische Position an der Rheingrenze, um den Beutezügen germanischer Stämme nach Gallien entgegenzutreten. 74 n. Chr. beginnen die römischen Besatzer den Limes zu bauen, einen 6 Meter breiten Grenzgraben, hinter dem ein Palisadenwall errichtet wird. Noch heute kann der Wanderer in den Taunuswäldern die Überreste dieser Verteidigungslinie entdecken, die das Römische Reich vom »freien« (unbesetzten) Germanien trennt. Die beiden germanischen Provinzen (mit den Hauptorten Mainz und Köln), die die Römer hinter dem Limeswall gründen, können sie über Jahrhunderte halten. Trier wird im 3. Jahrhundert sogar zum römischen Kaisersitz und damit zur Metropole des Weströmischen Reiches.

Armin der Cherusker (16 v. Chr. – 21 n. Chr.)

Er ist der erste große Held der Deutschen gewesen, jubeln die Nationalisten, als sie im 19. Jahrhundert die politische Einheit ihres Volkes fordern. Mit seinem Sieg über die Legionen des römischen Statthalters Varus beim Teutoburger Wald, im fernen Norden Germaniens, habe dieser Recke in frühester Zeit den Selbstbehauptungswillen |21|der Deutschen bewiesen, und dieses Ereignis zeige, dass die Geschichte der Deutschen so alt sei wie die Geschichte der Römer. Eine hübsche Legende ist dies, mehr nicht.

Armin (Arminius) ist Stammesführer der germanischen Cherusker und gehört zu einem der vornehmen Adelsgeschlechter seines Volkes. Die Cherusker sind Verbündete der Römer und Armin besitzt das römische Bürgerrecht. Er dient als Offizier im römischen Heer. Sein Bruder Flavus bleibt zeitlebens ein enger und überzeugter Freund des Imperiums. Wie also kommt ausgerechnet dieser privilegierte Cherusker dazu, sich gegen die Römer zu wenden?

Wahrscheinlich fühlt sich Armin, der zu den Vertrauten des römischen Statthalters Varus zählt, durch die Steuerforderungen und neuen, engstirnigen Verwaltungsvorschriften der Besatzer herausgefordert. So wird er zum Aufrührer. Es gelingt ihm, die Cherusker und einige weitere Stämme zu einem Aufstand gegen die Besatzungsmacht zu vereinigen. Armin lockt die militärisch weit überlegenen Legionen des Varus in einen Hinterhalt und vernichtet die römischen Truppen in den Sümpfen nahe des Teutoburger Waldes. Die Römer verlieren in der zwei- bis dreitägigen Schlacht 30 000 Mann, und Varus tötet sich angesichts dieser militärischen Katastrophe selbst. Als Kaiser Augustus in Rom die Nachricht von der Niederlage erreicht, klagt er: »Varus, Varus – wo sind meine Legionen!«

Über mehrere Jahre hinweg wehrt sich Armin erfolgreich gegen alle römischen Angriffe. Am Ende wird er Opfer von Verrat und Intrige. Römerfreundliche Cherusker wenden sich von ihm ab, darunter auch der Vater seiner Frau Thusnelda. Armin wird von den eigenen Verwandten heimtückisch ermordet.

Den »nationalen Freiheitshelden« taufen die nach staatlicher Einheit strebenden Deutschen im 19. Jahrhundert in »Hermann der Cherusker« um. Sie bauen ihm und sich zur Ehre das protzige Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Im wirklichen Leben jedoch ist Armin schlicht den Weg zahlreicher Germanenfürsten gegangen. Wo es den eigenen Interessen nutzt oder die aktuellen Machtverhältnisse es fordern, verbünden sie sich mit den Besatzern. Viele Germanen dienen sogar im römischen Heer. Den Römern scheinbar treu ergebene Opportunisten also. Doch wendet sich die Lage, wechseln sie schnell wieder die Seiten.

Auch wenn die Heldengeschichte um Armin oder Hermann den Cherusker allenfalls der halben Wahrheit entspricht, hatte die Schlacht beim Teutoburger Wald für die römisch-germanische, sogar für die spätere europäische Geschichte langfristige Konsequenzen. Augustus und seine Nachfolger geben nach dieser Niederlage endgültig den Versuch auf, die rechtsrheinischen germanischen Gebiete zu erobern. Damit werden die meisten germanischen Stämme |22|nicht »romanisiert«. Das bleibt für ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Lebenshaltung, der die mediterrane Leichtigkeit fehlt, nicht ohne Folgen.

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Ein Imperium zerbricht, das Christentum entsteht – und die Germanen gehen auf Wanderschaft

Die deutschen Geschichts- und Geschichtenschreiber erzählen vom ständigen Sturm der Germanen gegen die Grenzen des Römischen Reiches, der immer stärker wird, bis es schließlich kapituliert. Was so aber nicht stimmt oder zumindest grob vereinfacht ist. Die Germanen müssen immer wieder schwere Niederlagen hinnehmen, und Rom bleibt noch lange ein mächtiges Reich. Es geht erst viel später nicht allein durch die Angriffe aus den germanischen Wäldern, sondern vor allem an den eigenen internen Machtkämpfen und Wirtschaftskrisen zugrunde. Als Roms Eliten nicht mehr in der Lage sind, die wirtschaftliche und militärische Größe des Reiches zu bewahren, setzt der Niedergang ein. Rom zerbricht an den Intrigen, der Geld- und Machtgier seiner führenden Männer, nicht am Kampfgeist der Germanen.

Richtig ist allerdings, dass in dieser Zeit eine sich im Laufe der Jahrhunderte immer stärker ausbreitende Wanderung der germanischen Völker einsetzt, die den damaligen europäischen Kontinent gehörig durcheinander wirbelt. Die Goten kommen von Skandinavien an die Weichsel und dringen in den Raum am Schwarzen Meer ein. Sie verdrängen von dort die Wandalen und Markomannen, die in den Süden, und die Burgunder, die in den Westen ziehen und die dort lebenden Völker vernichten oder zum Aufbruch zwingen, weil sie nun ihrerseits nach neuen sicheren Siedlungsgebieten suchen müssen. Die Chatten überschreiten den Limes und lassen sich im heutigen Hessen nieder, die Franken fallen vom Niederrhein kommend in Gallien ein.

Nach einigen Jahrzehnten der vorläufigen relativen Ruhe beginnt dann in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts der Sturm der Hunnen auf Europa. Das mongolische Reitervolk erobert Südrussland und löst eine große Fluchtbewegung aus. Die Ostgoten werden von den Hunnen geschlagen. Unter ihrem König Attila dringen sie bis ins heutige Frankreich und nach Italien vor. Erst in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern in Ostfrankreich können die Westgoten 451 die Hunnen stoppen. Ein Jahr später stirbt Attila in seiner Hochzeitsnacht, möglicherweise als Opfer eines Mordanschlages.

|23|Zwei Ereignisse in diesen bewegten Zeiten prägen die Geschichte Europas und damit auch Deutschlands: die Ausbreitung des Christentums zur römischen Staats- und zur Weltreligion und die Teilung des Römischen Imperiums in einen östlichen (griechisch-orientalischen) und einen westlichen Herrschaftsbereich. Kaiser Konstantin der Große erobert im 3. Jahrhundert Byzanz und macht die Stadt am Bosporus – sie heißt bald Konstantinopel, später dann Istanbul – zur neuen Hauptstadt des Imperiums. In Rom regiert künftig ein weströmischer Kaiser, der formell dem Herrscher in Byzanz untergeordnet ist. Das Weströmische Reich, innerlich von Parteienkämpfen zerrissen, hat den Eroberungszügen der Germanen nun militärisch kaum noch etwas entgegenzusetzen. Der Westgote Alarich marschiert 410 mit seinem Heer in Rom ein. Wenige Jahre darauf gründen die Westgoten ein Reich in Gallien und Spanien. Die Wandalen ziehen von Spanien nach Nordafrika und erobern Karthago. 455 fallen sie in Rom ein und plündern 14 Tage lang die Stadt. 476 stürzt Byzanz den letzten weströmischen Kaiser, Romulus »Augustulus«. Ein Weltreich ist untergegangen.

Ganz anders Byzanz. Mehr als 1 000 Jahre widersteht das östliche Reich allen Angriffen, bis es schließlich die osmanischen Truppen einnehmen. Am Kaiserhof in Konstantinopel kommt es zur Vermischung der orientalischen, hellenischen und römisch-christlichen Welt, die für die Kultur- und Geistesgeschichte Europas so bedeutungsvoll sein wird. Wirtschaft, Technik, Mathematik, Medizin, Philosophie, Religion – das Leben im christlichen Abendland ruht in den kommenden 1 500 Jahren auf unzähligen Entdeckungen und Entwicklungen der orientalischen und der griechisch-römischen Antike. Und neben allen Kriegen, Belagerungen und Völkerwanderungen wächst hier noch ein weiterer Machtfaktor heran, der die Verhältnisse nachhaltig verändern wird: das Christentum.

Im Imperium Romanum ist es zunächst verboten, seine Anhänger werden grausam verfolgt. An der Via Appia, der großen antiken Einfallsstraße der römischen Hauptstadt, kann der Reisende Tag für Tag die gekreuzigten Anhänger des Christentums sehen. In den Amphitheatern werden sie zur Belustigung der Zuschauer den Löwen vorgeworfen oder von Elefanten zu Tode getrampelt. Die Lehre der Christen basiert auf dem Judentum. Die hebräische Bibel, die wir als das Alte Testament kennen, und die Predigten des in Jerusalem als Aufrührer durch den römischen Statthalter Pontius Pilatus gekreuzigten Juden Jesus von Nazareth bilden den Mittelpunkt. Die Anhänger Jesu, es sind zunächst nur Juden, die später Christen genannt werden, sehen in ihm den Messias, den Retter der Welt, der sie von der Herrschaft der Römer befreien soll.

Konstantin der Große fördert als erster römischer Kaiser den neuen Glauben, |24|beendet die Christenverfolgung und macht Byzanz zu einer christlichen Metropole. Bis zum Jahr 300 hat sich die Lehre der Christen über die östliche Reichshälfte bis nach Italien, Gallien und Spanien ausgebreitet. Christliche Gemeinden gibt es zu dieser Zeit auch schon in Persien und Indien. Im Jahr 380 erhebt dann Kaiser Theodosius der Große das Christentum zur Staatsreligion. Für die Geistesgeschichte des Abendlandes ein einschneidender Moment. Das Christentum ist wie der jüdische Glaube eine monotheistische Religion. Demnach gibt es nur einen einzigen Gott, der den Himmel und die Erde geschaffen hat und das Schicksal der Menschen bestimmt. So ist es nun auch für die Germanen an der Zeit, von ihrer Göttervielfalt um Odin und Freyja Abschied zu nehmen.

Theoderich der Große (um 453–526)

Von den zahlreichen Germanenkönigen, die auf dem Boden des sich auflösenden Weströmischen Reiches eigene Herrschaftsgebiete errichten, ist der Ostgote Theoderich der Bedeutendste. Als er um 450 geboren wird, stehen die vom Stamm der Amaler geführten Ostgoten noch unter dem Einfluss der Hunnen. Als er gut 70 Jahre später im Sterben liegt, kann er auf eine über dreißigjährige erfolgreiche Königsherrschaft seines Volkes in Italien zurückblicken. Theoderich, der am Kaiserhof in Konstantinopel aufwächst und ausgebildet wird, erlebt einen raschen militärischen und politischen Aufstieg. Mehrere erfolgreiche Feldzüge auf dem Balkan schenken ihm die stets schwankende Gunst der byzantinischen Kaiser. Theoderich wird der mächtigste Mann in Italien. Formal dem Herrscher in Konstantinopel unterstellt, errichtet er ein eigenständiges Königreich, dessen Sitz in Ravenna liegt. Noch heute kann der Besucher das monumentale Grabmal des gotischen Königs und die byzantinischen Mosaiken in den Kirchen der einstigen weströmischen Hauptstadt bewundern.

Schon wenige Jahre nach dem Tod Theoderichs endet das ostgotische Königtum in Italien. Theoderich aber wird rasch zu einer Legende. Als Dietrich von Bern (das ist Verona) taucht er im Nibelungenlied auf, wo er am Hof des Hunnenkönigs weilt, obwohl Attila (in der Sage König Etzel) und Theoderich gar nicht zur gleichen Zeit gelebt haben. Zahlreiche Märchen und Heldensagen ranken sich um die Gestalt des Dietrich von Bern. Er tritt dort stets als edler, hilfreicher und die Parteien versöhnender Held auf.

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|25|Das Mittelalter

Früher haben die Historiker die europäische Geschichte in drei große Epochen eingeteilt: Antike, Mittelalter und Neuzeit. Die Antike endet für sie mit dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert und das Mittelalter mit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus 1492. Was danach kommt, gilt ihnen als die Neuzeit. Heute sehen wir solche Periodisierungen sehr viel differenzierter. Immerhin ist es sicher nicht falsch zu sagen, dass mit dem Ende von Theoderichs Königreich und der immer stärkeren Ausbreitung der Franken in West-, Mittel- und Südeuropa die Welt der Antike politisch untergegangen ist. Die Jahrtausende der nahöstlichen, ägyptischen, griechischen und römischen Zeit sind damit Geschichte geworden. Jetzt beginnen sich die Grundlagen des christlichen Abendlandes herauszubilden.

Auf dem Fundament von antiker Überlieferung und Christentum entwickelt sich an den Königshöfen der Karolinger, Ottonen, Salier und Staufer die europäische Kultur. Es entsteht das Reich der Franken, das sowohl den Deutschen als auch den Franzosen als »Vorläufer« ihres Nationalstaates gilt. Für uns ist Karl der Große ein deutscher Kaiser; unter seinem französischen Namen Charlemagne geht er in die französischen Geschichtsbücher ein. Seine Kaiserpfalz liegt in Aachen. Könnte es einen geografisch besser gelegenen Ort für den ersten wahrhaft europäischen Herrscher geben?

Es ist keine ruhige, friedvolle Zeit, in der Karl der Große am Anfang des 9. Jahrhunderts sein mächtiges karolingisches Frankenreich errichtet. Nach wie vor streiten die Völker Europas nicht nur unter sich um die Vorherrschaft, sie werden auch immer wieder von den kriegerischen Einfällen der arabischen, normannischen und ungarischen Heere heimgesucht. Die arabischen Armeen der Sarazenen erstürmen die Iberische Halbinsel und errichten dort eine Hochkultur, deren architektonische Schönheit man noch heute im spanischen Sevilla oder Granada bewundern kann. Sie fördern die Künste und Wissenschaften, gründen Schulen und Universitäten und überliefern den Menschen das medizinische |26|und philosophische Wissen der Antike, das ihre Gelehrten ins Arabische übersetzten, bevor die Buchrollen der Griechen in der Bibliothek von Alexandria verbrannten. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts können die christlichen Heere Spanien zurückerobern.

Die Wikinger, auch Normannen genannt, werden zum Schrecken für Europas Küstenländer. Als die karolingische Herrschaft allmählich wieder zerfällt, bricht dieses räuberische Seevolk alljährlich zu seinen gefürchteten Plünder- und Beutezügen ins Frankenreich auf. Mit ihren schnittigen Booten kommen sie im Dunkel der Nacht oder im Schutz dichter Nebelwände die Flussläufe der Rhône, des Rheins, der Elbe oder der Themse hinauf und stürmen die häufig im Schlaf überraschten, jedenfalls kaum zur Verteidigung bereiten Städte. Paris, Canterbury, Dublin, Lissabon, Hamburg, Aachen oder Trier – die Spur ihrer Raubzüge ist überall in Europa zu entdecken. Sie stellen mit ihren Kettenpanzern und Streitäxten zeitweise die schlagkräftigste Streitmacht Europas. Wo sie mit reicher Beute beladen wieder abziehen, hinterlassen sie Tod und Verderben. Später werden die Wikinger sesshafter, setzen sich nicht nur in England, sondern auch in Irland, in Sizilien und in der Normandie fest.

Aus den weiten Steppen des Ostens kommend, fällt das nomadische Reitervolk der Ungarn in Europa ein. Die Plünderer erobern das Land zwischen den Ostalpen, der Donau und der Save, sie dringen nach Italien ein und werden für die südlichen und östlichen deutschen Regionen zu einer bedrohlichen Geißel. Nichts scheint sie aufhalten zu können. Auf ihren schnellen, struppigen Pferden sind sie mit ihrem unbedingten und brutalen Kampfeswillen viele Jahrzehnte lang ihren Gegnern überlegen.

Die Sarazenen, die Wikinger, die Ungarn – die Menschen des Mittelalters erleben die Überfälle dieser Eroberungs- und Kriegsvölker als Trauma, das über Jahrhunderte hinweg nicht vergessen werden wird. Die Geschichte Europas ist seit ihren Anfängen immer auch eine Geschichte der Gewalt. Ob von außen hereingetragen oder durch innere Machtkämpfe entbrannt, haben die unzähligen Kriege unsere Vorfahren immer wieder in Elend und Tod gestürzt. Gewalt gehört zur europäischen Kultur. Vielleicht fällt es uns deshalb auch heute noch so schwer, in der Politik rational und menschlich zu entscheiden.

Im Hochmittelalter, ab dem 10. Jahrhundert, formt sich allmählich die Staatenwelt, die dann die politische Landkarte Europas bildet. Die Geschichte Frankreichs, Englands, Spaniens, Italiens oder Deutschlands nimmt nun festere Konturen an. Es ist auch die Zeit, in der die Macht von Papsttum und Kirche ihren Höhepunkt erreicht. Der christliche Glaube hat einen gigantischen Aufschwung |27|erlebt. Kein König oder Kaiser, der nicht von der Kirche inthronisiert wird.

Bonifatius (672/73–754)

Historisch gehört die von Päpsten und Bischöfen angestrebte christliche Missionierung Europas zu den bedeutendsten Taten des Mönchtums. Wie schon erwähnt, spielen dabei die Missionare aus England, Schottland und Irland eine herausragende Rolle. Sie kommen aus ihren Klöstern über den Kanal, durchwandern die heidnischen Länder des Kontinents und verkünden das Wort Gottes. Ihre Arbeit ist beschwerlich und gefährlich. Die Völker und Stämme in Gallien, Germanien oder in den slawischen Regionen halten zäh an ihren alten Göttern fest. Keiner der kämpferischen Germanen will freiwillig auf seinen Platz in Odins Walhalla verzichten. Mancher Missionar stirbt daher als Märtyrer und wird für die Kirche zum Heiligen.

Als »Apostel der Deutschen« gilt der Angelsachse Winifred. Geboren ist er im englischen Wessex. Seine erste Missionstätigkeit führt ihn zu den germanischen Stämmen Frieslands. Ihr ist wenig Erfolg beschieden. Papst Gregor II. beauftragt ihn wenig später mit der Germanenmission. Er erhält den Namen Bonifatius. Der Mönch geht zunächst wieder nach Friesland, dann nach Hessen, wo er die Klöster Fritzlar und Amöneburg gründet. 722 weiht ihn der Papst zum Bischof, zehn Jahre später wird Bonifatius Erzbischof für das gesamte ostfränkische Missionsgebiet. Er missioniert in Hessen und fällt dort bei Geisenheim die Donar-Eiche, um die Schwäche der heidnischen Götter, allen voran die des Wettergottes Thor, zu demonstrieren. Bonifatius errichtet die Bistümer Salzburg, Freising, Regensburg, Eichstätt, Würzburg und Erfurt. Im Machtkampf zwischen Kirche und Staat muss er es allerdings hinnehmen, dass die mächtigen Kanzler der fränkischen Könige, genannt Hausmeier, ein entscheidendes Wort bei der kirchlichen Neuordnung im Frankenreich mitreden.

Schließlich wird Bonifatius zum ersten Erzbischof von Mainz ernannt. Seine besondere Zuneigung aber gilt dem Kloster in Fulda. Der Kirchenfürst ist bereits 80, als er 754 zu einem neuerlichen Missionszug nach Friesland aufbricht. Während einer Predigt wird er dort von wütenden Friesen erschlagen. Sein Grab findet er im Dom von Fulda. So ist der Engländer Bonifatius mit seiner Missionsarbeit eine einflussreiche Persönlichkeit der deutschen Geschichte geworden. Er hat die Fundamente der katholischen Kirche in Deutschland gelegt.

|28|Das Mittelalter endet um 1500. Mit Christoph Columbus setzen nun die abenteuerlichen Entdeckungsreisen wagemutiger und Reichtum suchender Seefahrer und Kaufleute aus den Küstenländern Portugal, Spanien, England oder den Niederlanden ein. Sie beginnen die außereuropäische Welt zu erkunden und in blutigen Feldzügen zu unterwerfen. Mit Silberschätzen, neuen Rohstoffen und unbekannten Feldfrüchten beladen kehren die Schiffe in die Häfen Europas zurück. Es beginnt ein reger Austausch, und die Ureinwohner am anderen Ende der Welt werden gleichfalls zum katholischen Glauben bekehrt, notfalls mit Gewalt. Der italienische Mathematiker und Astronom Galileo Galilei begründet die modernen Naturwissenschaften und erklärt der staunenden Welt, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel sei. Was ihm eine Vorladung der päpstlichen Inquisition beschert. Nur ein Widerruf rettet ihn vor dem Scheiterhaufen. Schon vorher spricht der Mönch Martin Luther von der »Freiheit des Christenmenschen«. Aus der Sicht der römischen Amtskirche eine ungeheure Provokation, die Papst Leo X. mit dem Kirchenbann zu ahnden sucht. Die Neuzeit hebt an. Und immer noch ist die Kirche ein Machtfaktor, der zwischen Gut und Böse, Krieg und Frieden, Tod oder Leben zu entscheiden vermag.

Mit Schrecken sehen wir, wie viel Gewalt das Leben begleitet. Ein Grund dafür ist der Glaube. Der Sieg in einem Krieg oder in einer Fehde bleibt ein unschlagbares Zeugnis dafür, dass Gott geurteilt hat. Weil die Entscheidung in einem Kampf, aufgrund einer göttlichen Fügung gefallen ist, bleibt der Sieger moralisch unangreifbar. Das ist im »finsteren« Mittelalter so, und daran wird sich jahrhundertelang kaum etwas ändern.

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Die Karolinger einen das Frankenreich – und teilen es wieder

Aber kehren wir zurück zu den Anfängen des Frühmittelalters. Nach den Goten bestimmen nun die Franken die europäische Geschichte. Die Franken sind ein Sammelbegriff für verschiedene germanische Völkerschaften, die ursprünglich zwischen Rhein und Weser siedeln und schon seit Mitte des 3. Jahrhunderts immer wieder in das Römische Reich eindringen. Der erste berühmte Franke ist der Merowinger Chlodwig, der von 466 bis 511 n. Chr. lebt. Er gilt als der Gründer des fränkischen Reiches: Sein Heer erobert Gallien. Die alten römischen Provinzmetropolen Köln und Trier fallen in die Hände der Franken. Die Vorfahren |29|der Schwaben, die Alemannen, werden besiegt. Und Burgund verleibt er sich ein, indem er die Königstochter Chrodechilde zur Gemahlin nimmt. Die überredet ihn auch, sich taufen zu lassen. Zur Residenz seines Reiches wählt Chlodwig Paris. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass es sich hier keineswegs um eine rein deutsche Angelegenheit handelt.

Unter den Merowingern liegt die wahre Macht nicht bei den Königen, sondern in den Händen der so genannten Hausmeier. Diese verwalten, regieren das Reich und vererben ihr Amt an die Söhne. Pippin der Ältere ist der erste Hausmeier. Karl Martell, Sohn Pippins des Mittleren und nach dem französischen Wort für »Hammer« benannt, ist einer der kriegerischsten. Er fügt den Arabern 732 in der Schlacht von Poitiers eine bittere Niederlage zu und bewahrt so das Frankenreich vor der muslimischen Eroberung. Schließlich stürzen die Hausmeier die Merowinger und setzen sich selbst die Königskrone auf. Wieder ist es ein Pippin, dieses Mal der Jüngere, der den Neuanfang wagt. Er lässt sich drei Jahre nach der Geburt seines ältesten Sohnes zum König ausrufen. Damit haben die Franken wieder einen Herrscher, der die Macht nicht seinen Politikern überlässt, sondern selbst ausübt. Der neue König gehört zum Geschlecht der Karolinger. Unter seinem Sohn Karl dem Großen erreicht das fränkische Reich dann eine Ausdehnung, die es in den Augen der Zeitgenossen zum Nachfolger des Römischen Imperiums macht.

Vor allem die Geschichte Frankreichs, Deutschlands und Italiens wird von seiner Politik, seinen militärischen Erfolgen und der Neuorganisation der Reichsverwaltung auf Jahrhunderte hinaus bestimmt. Karl gibt diesen Völkern bei allen Konflikten und unterschiedlichen Interessen der einzelnen Regionalfürsten das Gefühl von Größe und Gemeinsamkeit. Das Zentrum der Macht, das seit den großen Tagen Roms stets im Süden des Kontinents gelegen hat, verschiebt sich in die Mitte und in den Westen. Das politische Gesicht Europas gewinnt im karolingischen Reich seine künftigen Konturen.

Ist es wirklich nur ein Zufall, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kernländer des einstigen karolingischen Reiches wieder zusammenfinden, um eine neue Europäische Gemeinschaft zu gründen? Wohl kaum. Unzählige Kriege und ununterbrochene Machtkämpfe haben die Völker seit dem Ende von Karls Regierungszeit heimgesucht. Aber der Gedanke einer gemeinsamen Geschichte und Kultur ging trotz Hass und Gier, trotz aller Staatsgrenzen und dem nationalen Taumel der Neuzeit nie ganz unter. Die Welt hat sich seit Karl dem Großen mit immer größerer Geschwindigkeit tiefgreifend verändert. Trotzdem schlägt unter seiner Herrschaft die Geburtsstunde des Europas, in dem wir |30|heute leben. Nicht nur die Deutschen, sondern auch die Franzosen sehen und bewundern in dem ersten Karolinger den Gründungsvater ihrer nationalen Geschichte.

Karl der Große (747-814)

Generell wissen wir nicht viel über die Kaiser und Könige des Mittelalters. Schriftliche Zeugnisse gibt es fast nur in der Überlieferung amtlicher Urkunden oder in Darstellungen, die sehr klischeehaft und kritiklos vom Gottesgnadentum und den heroischen Taten der Monarchen berichten. Im Falle Karls des Großen können die Historiker immerhin auf eine Lebensbeschreibung zurückgreifen, in der die Gestalt des Königs individuelle Züge erhält. Nicht umsonst gilt die Vita Caroli Magni als die bedeutendste Herrscherbiografie des Mittelalters. Einhard, der Autor, schreibt sein Werk als Abt im Kloster Lorsch. Er ist ein ostfränkischer Adliger, wird Mönch und geht als Lehrer an die karolingische Hofschule. Schließlich steigt er zum Berater und Vertrauten des Frankenkönigs auf und kann dessen Leben aus nächster Nähe verfolgen.

Der junge Thronfolger wächst zu einem geistig interessierten, die Jagd und den Kampf schätzenden Mann heran. Wie es für die Adelsjugend im Mittelalter die Regel ist, übt sich Karl im Reiten und im Umgang mit Waffen. Immer wieder werden sein Mut und seine Geschicklichkeit bei der Jagd und in der Schlacht gepriesen. In den späteren Lebensjahren lernt er dann auch Schreiben und Lesen. Hoch gewachsen und ein lebhafter Gesprächspartner, geht Karl offen auf die Menschen zu und schließt leicht Freundschaften. Die Frauen liebt er, ist mehrfach verheiratet und hat im Laufe seines Lebens immer wieder Nebenfrauen.

Im Alter von sechs Jahren wird Karl zusammen mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Karlmann von Papst Stephan II. zum König gesalbt. Damit sichert Pippin das Königtum für seine Familie. Nach dem frühen Tod des von ihm wenig geschätzten Mitregenten Karlmann ist Karl mit 34 Jahren Alleinherrscher und errichtet eine neue Ordnung im karolingischen Reich. Seine Kriegszüge vergrößern das fränkische Herrschaftsgebiet. Doch vor allem die jahrzehntelangen Kämpfe gegen die Sachsen fordern ihn immer wieder aufs Neue heraus. Unter Herzog Widukind gelingt es den an ihrem germanisch-heidnischen Glauben festhaltenden Sachsen lange Zeit, die Frankenherrschaft infrage zu stellen. Als die Sachsen erneut aufbegehren und von Karls Truppen besiegt werden, |31|kommt es zu einer grausamen Machtdemonstration. Der fränkische König lässt bei Verden über 4 000 gefangene Feinde – es handelt sich um die sächsische Adelselite – hinrichten. Ein Verbrechen, das der König zweifellos mit den politischen Interessen des Reiches und den religiösen Interessen des Christentums gerechtfertigt hat. So bricht er den Willen der Sachsen, erzwingt nicht nur ihre Unterwerfung, sondern auch gleich ihre Missionierung. Mit den Sachsenkriegen stößt Karl in neue Regionen vor. Auch das ist ein Neubeginn: Die Deutschen entdecken den Osten.

Bald darauf erreicht Karl ein Hilferuf des Papstes. Die Beziehungen zwischen den Franken und dem Papsttum sind eng; schließlich hat Stephan II. Karls Vater Pippin und dessen Söhne nicht umsonst zu Königen gemacht. Immer wenn die kirchlichen Herrscher den weltlichen Beistand im Kampf gegen die in der Gegend von Mailand ansässigen Langobarden benötigen, setzen sie auf die Franken. Nun also zieht Karl mit seinem Heer nach Italien, unterwirft die Langobarden, verbannt deren letzten König Desiderius in ein Kloster und setzt sich auch die langobardische Königskrone aufs Haupt. Seine Herrschaft dehnt sich aus. Bald wird Böhmen tributpflichtig. Die diplomatischen Verbindungen des Frankenreiches reichen bis zum Hof des Kalifen Harun Al-Radschid in Bagdad.

Im Jahr 800 ist Karl auf dem Höhepunkt seiner Macht. Wieder erreicht ihn eine päpstliche Bitte um Beistand. Papst Leo III. benötigt Unterstützung im Konflikt mit dem aufsässigen römischen Adel. Karl reist nach Rom. In der Peterskirche krönt Leo den König der Franken und Langobarden zum Kaiser und fällt vor ihm auf die Knie, so wie es seit jeher römisch-byzantinischer Brauch ist.

Ein bedeutender Prestigegewinn für die Karolinger. Mit dem Kaisertitel schafft Karl die machtpolitischen und teilweise auch schon territorialen Grundlagen für das (erst Jahrhunderte später so genannte) Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das bis 1806, also fast genau 1 000 Jahre, Bestand haben wird. Der Kaiser herrscht schließlich über das Gebiet des späteren Deutschland bis zur polnischen Grenze, über Nord- und Mittelitalien sowie Frankreich, Nordspanien, Belgien und die Niederlande.

Die Kaisermacht beruht im Mittelalter noch ganz auf der Person des gesalbten Herrschers. Seine außergewöhnliche Stellung in der Gesellschaft wird äußerlich durch die Insignien der Macht wie Krone, Zepter, Reichsapfel und Reichsschwert unterstrichen. Die Anwesenheit des Kaisers in den verschiedenen, teilweise weit auseinander liegenden Ländern ist eine wichtige Voraussetzung, um den Herrscheranspruch zu unterstreichen. Keine leichte Aufgabe in |32|einer Zeit, zu der es weder schnelle Verkehrsmittel noch andere Kommunikationswege gibt, mit denen sich Distanzen mühelos überwinden lassen.

Bis zum Bau der Eisenbahn bleiben Reisen in Europa ungemein beschwerlich und langwierig. Die Straßen und Wege sind verschlammt und löchrig. Reisen sind für die Kaiser wie für die Fürsten und Kaufleute stets ein notwendiges, aber gefährliches Abenteuer. So befindet sich Karl oft über Jahre hinweg in fernen Gebieten des Reiches. Seine Grafen haben inzwischen im kaiserlichen Namen für Ordnung und Frieden in den Regionen zu sorgen, in denen er nicht persönlich anwesend sein kann. An Hoftagen erlässt der Herrscher seine Kriegsbefehle und seine Kapitularien, die Gesetze und Verordnungen, die das Reich befrieden und zusammenhalten sollen. Sie regeln das soziale Zusammenleben und die wirtschaftlichen Entwicklungen. Die Reform des Münzwesens gehört ebenso dazu wie die Anordnung, Latein zur Verwaltungs- und Kirchensprache zu erheben.

Der Hof Karls des Großen ist daher zunächst keine zentrale Regierungs- und Königsresidenz, wie wir es aus späteren Zeiten kennen. Denn nicht nur auf seinen Kriegszügen, sondern auch in Friedenszeiten ist der Kaiser ständig unterwegs, um bei seinen Untertanen Präsenz zu zeigen und Unruhen oder gar Aufstände gegen seine Herrschaft zu unterbinden. In Reims oder Metz, in Paris, Rouen oder Orléans entstehen Königshöfe, und über das gesamte Reichsgebiet errichten Karl und seine Nachfolger ein Netz von Kaiserpfalzen, zum Beispiel in Frankfurt am Main, in Paderborn oder im holländischen Nijmegen. Sie dienen dem Herrscher und seinem Reisegefolge während ihrer oft monatelangen Aufenthalte als Quartier und Festung. Schon vor der Kaiserkrönung wählt Karl dann aber Aachen zu seinem bevorzugten Aufenthaltsort.

Als der Kaiser 814 stirbt, hinterlässt er ein äußerlich geeintes Reich. Wie hoch sein Ansehen gestiegen ist, beweist auch, dass die östlichen Völker unter dem Eindruck seiner machtvollen und erfolgreichen Politik den Eigennamen Karl als Königsbegriff für ihre Herrscher verwenden (im Russischen: Karol, im Polnischen: Król, im Ungarischen: Kiral). Nur Cäsar hat es vor ihm geschafft, dass sein Name in den Titel aller kommenden römischen Kaiser einfloss.

Nachfolger Karls wird sein Sohn Ludwig, der wegen seiner engen Zusammenarbeit mit dem hohen Klerus und seinen Klostergründungen bald den Beinamen »der Fromme« erhalten wird. Nach Karls Tod lässt sich Ludwig I. vom Papst in Reims zum Kaiser krönen. In seinen Herrschaftsjahren beginnt, zunächst für |33|viele noch kaum merkbar, der allmähliche Niedergang der Karolinger. Eine verwirrende Geschichte, in der sich die Söhne gegen die Väter auflehnen und die Thronfolge durch Erbteilungen bestimmt wird, die das Reich immer weiter schwächen. Das begünstigt den Aufstieg anderer Herrscherhäuser. Die Herzöge in Sachsen, Bayern, Schwaben oder Lothringen erheben immer nachdrücklicher Anspruch auf politische Mitsprache. Ihre eigennützigen Interessen stürzen das Reich in Krisen. Die vielen Adelsfehden, die sie untereinander austragen, zerstören zahlreiche Landstriche und bedrohen die Königsherrschaft.

Der Familienstreit ist der Anfang vom Ende der Karolinger: Die sich bekämpfenden Kaisersöhne Lothar, Ludwig und Karl einigen sich 843 in der Reichsteilung von Verdun auf die Grenzen ihrer jeweiligen Herrschaftsgebiete. Lothar, der formal die Kaiserkrone trägt, erhält das Mittelreich, das sich in einem schmalen Landstreifen von der Nordsee bis ans Mittelmeer hinzieht, Aachen und Rom umfasst, im Osten vom Rhein und im Westen von Schelde, Maas und Rhône begrenzt ist. Sein Bruder Karl herrscht in West- und Ludwig in Ostfranken, zu dem die Bischofssitze Mainz, Worms und Speyer gehören. Das führt nicht etwa zu modernen Staatsbildungen, aber die Territorien, die West- und Ostfranken zugeschlagen werden, bilden in ihren Grundzügen tatsächlich über die kommenden Jahrhunderte hinweg die Gebiete, die später Frankreich (Westfranken) und Deutschland (Ostfranken) heißen. Das Mittelreich hingegen zerfällt. Um dessen Länder werden Deutsche und Franzosen im Laufe der Jahrhunderte erbitterte Schlachten führen. Mit den Verträgen von Verdun beginnt eine endlose Reihe von Teilungs- und Freundschaftsverträgen, die Europas innere Grenzen immer wieder neu verschieben.

Ludwigs Ostfranken liegt also in den ehemaligen Gebieten des Gesamtreiches östlich des Rheins und in Bayern, wo Regensburg zur Residenz aufsteigt. Ludwig, der 59 Jahre König sein wird, unternimmt religiöse und kulturelle Anstrengungen, die nun bemerkenswerterweise nicht mehr auf das ganze Reich der Karolinger ausstrahlen, sondern weitgehend auf Ostfranken beschränkt bleiben. Er nutzt die Kultur und die Sprache für den politischen Zusammenschluss seiner Stämme. Deshalb werden die Historiker den so lange regierenden Ludwig später mit dem Beinamen »der Deutsche« belegen.

Ein neues Phänomen beginnt im 9. Jahrhundert immer deutlicher hervorzutreten: die Teilung Europas in neue, modernere Regionen, die Jahrhunderte danach zu Staaten werden. Der Universalismus des römischen Imperiums und des karolingischen Reiches, der das Allgemeine betont hat, weicht einer Neubesinnung auf die engere, bald durch eine gemeinsame Sprache und Kultur charakterisierte |34|Lebenswelt des eigenen Stammes und der sich nun stärker zusammenschließenden, unmittelbar benachbarten Völkerschaften.

Es kommt künftig immer dann zu neuen Reichsteilungen, wenn die Erbfolge unter den karolingischen Kaiser- und Königssöhnen umstritten ist. Erst spricht in der Regel das Schwert, dann werden in Verträgen die neuen Grenzen gezogen. 111 Jahre nach der Kaiserkrönung Karls des Großen endet schließlich die krisengeschüttelte Herrschaft der Karolinger in Ostfranken. Die sich jährlich wiederholenden Normanneneinfälle schwächen das Ansehen der Kaiserfamilie ebenso wie die immer wieder ausbrechenden inneren Kämpfe. Während in Westfranken mit Karl dem Einfältigen noch ein echter Karolinger die Königswürde erhält, wird in Ostfranken mit Arnold von Kärnten ein illegitimer Spross des Kaiserhauses König. Sein Nachfolger und unmündiger Sohn Ludwig »das Kind« stirbt 911 – und mit ihm der letzte der Karolinger.

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Eine Blütezeit für Kunst und Kultur, aber eine »finstere« Zeit für die einfachen Menschen

Im Zeitalter der Aufklärung, also im 18. und frühen 19. Jahrhundert, sprechen die Intellektuellen etwas verächtlich vom »finsteren« Mittelalter. Aberglaube und irrationales Denken, religiöser Fanatismus und Unwissenheit, Hunger und Elend, Krieg und Brandschatzungen, Folter und die als »schwarzer« Tod gefürchtete Pest – das ist für die Menschen späterer Jahrhunderte das Mittelalter. Das alles trifft auch zu. Aber es dürfen dabei die großartigen Gegenbilder nicht unterschlagen werden, die die mittelalterlichen Jahrhunderte auszeichnen. Dazu gehören die Kirchenbauten der Romanik und Gotik in Mainz, Worms oder Speyer, Chartres oder Reims und in vielen anderen europäischen Orten. Voller Bewunderung betrachten wir noch heute die Kirchenmalerei, die Stein und Holzskulpturen an den Altären, Kanzeln und Fassaden der Gotteshäuser. Im Spätmittelalter schafft der Bildhauer und -schnitzer Veit Stoß seine unvergleichlichen Altäre; in Nürnberg entstehen die ersten Bilder Albrecht Dürers. Und die Bibliotheken der Klöster, zum Beispiel in St. Gallen, beherbergen die schweren, reich illuminierten Codices, die die Mönche in Handarbeit kopiert haben.

Den mittelalterlichen Kaisern gelingt es, ihre Macht stark auszubauen. Damit entsteht eine neue staatliche und kirchliche Ordnung. Das Geldwesen und der Fernhandel entwickeln sich. In den Häfen der Adria ankern die Schiffe der |35|Händler, die auf den Spuren Marco Polos Seide und Gewürze, vor allem Pfeffer, nach Europa importieren. Die Dreifelderwirtschaft und eine verbesserte Pflugtechnik erleichtern die Landarbeit. Das alles bewirkt einen Aufschwung, der ein beträchtliches Bevölkerungswachstum sowie eine kulturelle Blüte mit sich bringt, die in den Wäldern der wilden Germanen noch undenkbar gewesen wäre.

Schon Karl der Große zieht eine Vielzahl von Bischöfen, Äbten, Künstlern und Gelehrten an seinen Hof, etwa den angelsächsischen Geistlichen Alkuin oder seinen Biografen Einhard. Sein Erneuerungswille erfasst alle Bereiche des kulturellen Lebens und geht als »karolingische Renaissance« in die Geschichte ein. »Obwohl gutes Tun besser ist als gutes Wissen«, heißt seine Maxime, »geht das Wissen doch dem Tun voraus.« Karl begründet die Hofschule, aus der bedeutende Elfenbein- und Goldschmiedearbeiten, Handschriften und Buchmalereien hervorgehen. Eine klare einfache Schrift entsteht: die karolingische Minuskel, die später das Vorbild für unsere Druckschrift liefert.

Otto der Große und alle nachfolgenden Kaiser setzen die karolingische Tradition fort. Neben dem Kirchenbau gilt dies besonders für das Bildungssystem sowie für die Miniaturmalerei, die die liturgischen Bücher und Evangeliarien zu kleinen Kunstwerken macht. In den Klosterzellen entstehen in mühsamer und langwieriger Arbeit hochwertige Bibel- und Buchabschriften, die zum bedeutenden kulturellen Erbe des Mittelalters zählen. Überhaupt sind die Klöster ein Hort der Bildung und der Kultur. In ihren Kräutergärten und Rezepturen tradieren die Mönche das heilkundliche Wissen. Die mittelalterliche Scholastik lässt die geistlichen Gelehrten eine Brücke schlagen zwischen dem christlichen Glauben und der antiken Philosophie. Die ersten Universitäten werden Ende des 12. Jahrhunderts in Paris, Oxford und Bologna gegründet. Unter dem übergeordneten Dach der Theologie, Jurisprudenz und Medizin lehrt man die septem artes liberales – die sieben freien Künste Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. Ohne die mittelalterliche Gelehrsamkeit wäre es den Humanisten nicht möglich gewesen, die inzwischen vergessenen Schriften der antiken Denker Platon, Aristoteles oder Seneca wiederzuentdecken. Die Klosterbibliotheken und die ersten Universitäten, die wenn auch noch zaghafte Entwicklung der neuen, »nationalen« Schriftsprachen und vor allem eine erste »nationale« Literatur, die an den Höfen entsteht – das sind nicht zu überschätzende zivilisatorische Errungenschaften des Mittelalters, die weit in die Neuzeit hineinwirken.

Für jedes Volk besitzt vor allem die gemeinsame Sprache einen starken Identifikationsfaktor|36|