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"William Trevor ist einzigartig - unbeirrbar darin, das Gewöhnliche und Vertraute immer wieder verblüffend und neu erscheinen zu lassen." The Irish Times In allerletzter Sekunde kann Captain Gault einen Brandanschlag auf sein Gut in Lahardane vereiteln. Dennoch kommen er und seine englische Frau Heloise zu dem Schluss, dass es höchste Zeit ist, das unsichere Irland zu verlassen. Ganz anderer Meinung ist ihre achtjährige Tochter Lucy. Sie liebt ihr Zuhause und kann sich ein Leben jenseits der Wälder, Felder und langen Strände von Lahardane nicht vorstellen. Nachdem all ihre Proteste nicht fruchten, greift Lucy zum letzten Mittel: Am Vorabend der unwiderruflich beschlossenen Abfahrt reißt sie aus, um das Unabänderliche doch noch zu verhindern. Ein Ereignis, dessen Folgen die Gaults in eine Katastrophe stürzen und ihr Leben von nun an schicksalhaft bestimmen. In seinem Roman spiegelt der große irische Schriftsteller Trevor nicht nur das Irland der 1920er Jahre wider, in dem ein Ende der feindlichen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Arm und Reich nicht abzusehen ist. Er erzählt auch eine tief melancholische Geschichte von verpassten Gelegenheiten und Missverständnissen, die das Leben der Lucy Gault zu einer Tragödie machen. Ein Roman wie ein Requiem.
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Seitenzahl: 339
William Trevor
Die Geschichte der Lucy Gault
Roman
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
Hoffmann und Campe
Für Jane
Am Abend des 21. Juni 1921 verwundete Captain Everard Gault einen jungen Mann an der rechten Schulter. Er zielte in der Dunkelheit über die Köpfe der Eindringlinge hinweg, feuerte nur einen Schuss aus dem Fenster im Obergeschoss und beobachtete dann, wie die drei Gestalten davonhuschten, der Verwundete gestützt von seinen Kumpanen.
Sie waren gekommen, um das Haus in Brand zu stecken, aber man hatte mit ihrem Besuch gerechnet, weil sie schon vorher da waren. Beim ersten Mal waren sie später aufgetaucht, kurz nach ein Uhr morgens. Die Schäferhunde hatten sie verscheucht, aber eine Woche später lagen die Hunde vergiftet im Hof, und da wusste Captain Gault, dass die Eindringlinge wiederkehren würden. »Die Polizei ist überlastet«, sagte Sergeant Talty, als er von Enniseala nach Lahardane kam. »Schrecklich überlastet, Captain.« Lahardane war nicht das einzige Haus in Gefahr; jede Woche brach irgendwo ein Feuer aus, ganz gleich, wie die Polizei sich verteilte. »Hoffentlich hat das alles bald ein Ende«, sagte Sergeant Talty und ging wieder. Es herrschte Kriegsrecht, denn im Land waren Unruhen, die auf eine bewaffnete Auseinandersetzung hinausliefen. Die Sache mit den vergifteten Hunden wurde nicht weiter verfolgt.
Am Morgen nach der Schießerei entdeckte man Blut auf den Kieselsteinen der Wendestelle vor dem Haus, und hinter einem Baum fand man zwei Benzinkanister. Die Kiesel wurden wieder glatt geharkt und ein paar Eimer voll rot verfärbter Steine entfernt.
Für Captain Gault war die Angelegenheit damit erledigt: Die Übeltäter hatten ihre Lektion bekommen. Er schrieb einen Brief an Pater Morrissey nach Enniseala, in dem er den Geistlichen bat, er möge sein Mitleid und Bedauern übermitteln, falls er zufällig erfahren sollte, wer der Verwundete war. Er habe niemanden verletzen, sondern nur zeigen wollen, dass sein Haus bewacht wurde. Pater Morrissey schrieb zurück und schloss seine Bemerkungen mit dem Satz: Er war schon immer der Hitzkopf in der Familie. Doch der Brief hatte in der Wahl der Formulierungen und Wendungen etwas Irritierendes an sich, als falle es dem Pater schwer, sich zu dem Geschehen zu äußern, als begreife er nicht, dass der Captain niemanden hatte töten oder verwunden wollen. Er habe die Nachricht weitergeleitet, schrieb er, aber keine Antwort von der betreffenden Familie erhalten.
Captain Gault war selbst verwundet worden. Seit er vor sechs Jahren als Invalide aus den Schützengräben zurückgekehrt war, steckten Granatsplitter in seinem Körper, die sich nicht mehr entfernen ließen. Die Verletzung hatte damals das Ende seiner militärischen Laufbahn herbeigeführt: Er sollte für immer Captain bleiben, was eine große Enttäuschung für ihn war, denn er hatte seit jeher einen viel höheren Rang angestrebt. In anderer Hinsicht war er jedoch keineswegs enttäuscht. Er fand großen Trost in seiner glücklichen Ehe, in dem Kind, das seine Frau Heloise ihm geboren hatte, und in seinem Haus. Nirgendwo hätte er glücklicher sein können als hier, unter dem Schieferdach des dreistöckigen Hauses, dessen graues Gemäuer von weißen Holzfenstern und einer hübschen Lünette über der Eingangstür aufgehellt wurde. Rechts vom Haus befand sich ein breiter hoher Torbogen und ein kopfsteingepflasterter Hof, von dem ebenfalls gepflasterte Wege zu einem Apfelgarten und einem Ziergarten führten. Eine Hälfte des runden Vorhofs, auf den die vorderen Zimmer blickten, war mit Kies bestreut; die andere Hälfte bedeckte ein erhöht angelegter Rasen, den eine bogenförmige Rabatte aus blauen Hortensien gegen den steil ansteigenden Wald abgrenzte. Die oberen Zimmer auf der Rückseite boten einen Blick auf das Meer, so weit das Auge reichte.
Die Ursprünge der Gaults in Irland verloren sich irgendwann vor mehreren hundert Jahren. Von Norfolk kommend – das jedenfalls glaubte die Familie, ohne es genau zu wissen –, ließen sie sich zunächst im Westen der Grafschaft Cork nieder. Ein Söldner, der dort aus unbekannten Gründen untergetaucht war, begründete ihre bescheidene Dynastie. Irgendwann Anfang des 18. Jahrhunderts zog die inzwischen angesehene und wohlhabende Familie in den Osten, und in jeder Generation hielt ein Sohn die Verbindung zum Militär aufrecht. Die Ländereien von Lahardane wurden erworben, der Hausbau begann. Der Wald im Tal wurde angelegt, dazu die lange gerade Allee, die man auf beiden Seiten mit Kastanien säumte. Spätere Generationen pflanzten den Obstgarten mit Bäumchen aus der Grafschaft Armagh; der Ziergarten, den man klein hielt, wurde nach und nach angelegt. 1769 weilte Lord Townshend, der Vizekönig von Irland, auf Lahardane; ebenso Daniel O’Connell, als 1809 in Dromana, dem Sitz der Stuarts, alle Zimmer belegt waren. Auf diese Weise hinterließ die große Geschichte ihre Spuren. Aber ebenso gut in Erinnerung und ebenso oft im Gespräch waren Geburten, Hochzeiten und Todesfälle, Begebenheiten im Haushalt, Veränderungen und Anbauten an diesem oder jenem Zimmer, Zerwürfnisse und Versöhnungen. 1847 erlitt ein Gault einen Schlaganfall und war drei Jahre lang bei vollem Bewusstsein ans Bett gefesselt. Es folgten die katastrophalen sechs Monate des Jahres 1872, als beim Kartenspiel ein Feld nach dem anderen an die benachbarten O’Reillys verloren ging. 1901 brach die Diphterie aus und verbreitete sich so rasch und dramatisch, dass nur der jetzige Everard Gault und die fünfköpfige Familie seines Bruders verschont blieben. Über dem Schreibtisch im Salon hing das Gemälde eines entfernten Vorfahren, dessen Identität keinem der Lebenden bekannt war: ein hageres, ernstes Gesicht, mit blauen, ausdruckslosen Augen. Es war das einzige Porträt im Haus, obwohl es seit dem Beginn der Fotografie Alben mit Bildern von Freunden, Verwandten und den Gaults auf Lahardane gab.
Dies alles – das Haus mit dem übrig gebliebenen Weideland, der Strand unterhalb der hellen Lehmklippen, der Weg dort entlang zum Fischerdorf Kilauran, die Allee, über der sich die Zweige der Kastanien mittlerweile berührten – gehörte ebenso zu Everard Gault wie sein glattes dunkles Haar und die Gesichtszüge, die jenem auf dem Porträt im Salon glichen. Er war groß und hielt sich aufrecht, ein Mann, der nichts von sich versteckte und keine großen Ambitionen mehr hegte, denn er hatte vor langer Zeit akzeptiert, dass seine Bestimmung darin lag, sein Erbe in gutem Zustand zu halten, Bienen in seine Stöcke zu locken und Apfelbäume, die nicht mehr trugen, auszugraben und zu ersetzen. Er fegte eigenhändig die Schornsteine des Hauses, konnte Mörtel verfugen und Fensterscheiben auswechseln. Er kroch auf dem Dach herum und reparierte kleine Löcher, die sich von Zeit zu Zeit im Blei bildeten; der Fischleim, den er in die schadhaften Stellen drückte, hielt dann wieder eine Zeit lang.
Bei vielen dieser Arbeiten half ihm Henry, ein stark untersetzter Mann mit behäbigen Bewegungen, der tagsüber nur selten den Hut vom Kopf nahm. Henry hatte vor Jahren ins Pförtnerhaus eingeheiratet, in dem er und Bridget nun allein wohnten, da die Ehe kinderlos geblieben war und Bridgets Eltern nicht mehr lebten. Ihr Vater hatte sich mit zwei Männern, die ihm unterstanden, um die Pferde und alle anderen auf Hof und Feld anfallenden Arbeiten gekümmert, die Henry jetzt allein erledigte. Ihre Mutter hatte im Haus gearbeitet, so wie ihre Großmutter davor. Bridget war von der gleichen gedrungenen Statur wie ihr Mann, hatte kräftige breite Schultern und ein resolutes Auftreten: In der Küche führte nur sie das Kommando. Kitty Teresa, die Kammerzofe, half Heloise Gault bei den Arbeiten, die früher auf mehrere Dienstboten verteilt waren. Einmal in der Woche kam die alte Hannah zu Fuß aus Kilauran, um Kleidung, Bettwäsche und Tischdecken zu waschen und die Fliesen in der Eingangshalle samt den Steinböden im hinteren Teil des Hauses zu schrubben. Den früheren Lebensstil von Lahardane konnte man sich nicht mehr leisten. Die lange Allee führte jetzt durch Land, das den O’Reillys beim Kartenspiel zugefallen war, so dass den Gaults gerade noch genug Weideland blieb, um eine bescheidene Herde Frisian-Rinder zu halten.
Drei Tage nach der nächtlichen Schießerei las Heloise Gault Pater Morrisseys Brief, dann drehte sie das Blatt um und las ihn noch einmal. Sie war eine schlanke, schmächtig gebaute Frau Ende dreißig und trug ihr langes blondes Haar zu einer Frisur aufgesteckt, die ihre Gesichtszüge gut zur Geltung brachte und ihrer spröden Schönheit einen Hauch von Strenge verlieh, der in ständigem Widerspruch zu ihrem Lächeln stand. Aber seit der Nacht, als ein Schuss sie geweckt hatte, war dieses Lächeln nur noch selten zu sehen.
Heloise Gault hatte Angst, obwohl sie normalerweise kein feiger Mensch war. Auch sie kam aus einer Soldatenfamilie und hatte es verwunden, dass sie, wenige Jahre vor ihrer Hochzeit, nahezu ohne Familie zurückblieb, nachdem ihre Mutter, eine Witwe aus dem Burenkrieg, gestorben war. Gewöhnlich fiel es ihr leicht, in Zeiten von Unglück und Chaos Mut aufzubringen, aber bei dem Gedanken daran, dass jemand das Haus, in dem sie, ihr Kind und die Magd schliefen, niederbrennen wollte, verließ sie die gewohnte Zuversicht. Hinzu kamen die vergifteten Hunde, der unbeantwortete Brief an die Familie des jungen Mannes, das Blut auf den Kieselsteinen. »Ich habe Angst, Everard«, gab sie schließlich zu und behielt ihre Gefühle nicht länger für sich.
Der Captain und seine Frau kannten sich gut. Sie teilten einen gewissen Lebensstil, folgten festen Prioritäten und Interessen. Die frühe Erfahrung mit dem Tod, die beiden gemeinsam war, hatte sie eng zusammengeschweißt und dazu beigetragen, dass sie in ihrer Ehe dem Familienleben einen hohen Stellenwert einräumten und die Geburt ihrer Tochter willkommen war. Heloise war lange davon ausgegangen, dass sie weitere Kinder bekommen würde und hegte noch immer die Hoffnung auf wenigstens eine Schwangerschaft. Aber inzwischen hatte ihr Mann sie ausreichend davon überzeugt, dass es kein Versagen ihrerseits war, wenn es keinen männlichen Erben auf Lahardane gebe, und sie empfand – je größer ihr einziges Kind wurde – eine tiefe Dankbarkeit für die einmalige Geburt und das von Zuneigung geprägte Leben zu dritt.
»Du bist doch sonst nicht so ängstlich, Heloise.«
»Das Ganze ist nur passiert, weil ich hier bin. Weil eine Engländerin auf Lahardane ist.«
Sie sei es, beharrte Heloise, die Aufmerksamkeit auf das Haus zog, doch das bezweifelte ihr Mann. Er erinnerte sie daran, dass der versuchte Brandanschlag auf Lahardane Teil eines Musters war, das sich in ganz Irland wiederholte. Allein die Beschaffenheit des Hauses und der Besitz von Land, so gering er auch sein mochte, dazu die Verbindung der Familie zum Militär hätten genügt, um den nächtlichen Ärger zu provozieren. Und er musste zugeben, dass der von ihm vertretene Standpunkt nicht gerade dazu beigetragen hatte, den Drang zur Zerstörung, ganz gleich, woher er kommen mochte, zu unterdrücken. Nach dem Vorfall schlief Everard Gault eine Zeit lang am Nachmittag und hielt nachts Wache; und wenngleich nichts passierte, schufen die Sorge um die Sicherheit und die Angst seiner Frau eine beunruhigende Atmosphäre, eine Anspannung, die sich auf alle im Haus übertrug, letztendlich auch auf das Kind.
Lucy, die fast neun war, hatte sich in jenem Sommer mit dem Hund der O’Reillys angefreundet, einem großen ausgelassenen Tier, halb Setter, halb Retriever. Er stammte, so vermutete Henry, aus einem der verlassenen Häuser und hatte sich vor ungefähr einem Monat auf dem Hof der O’Reillys eingeschlichen, wo ihn die Wachhunde nach anfänglichen Feindseligkeiten duldeten. Henry hielt ihn für eine nutzlose Kreatur, und Lucys Papa empfand ihn als lästig, vor allem wenn er die Klippen herunterrannte und jedem, der am Strand spazieren ging, seine Begleitung anbot. Die O’Reillys hatten dem Hund keinen Namen gegeben und hätten es – so Henry – wohl kaum bemerkt, wenn er wieder verschwunden wäre. Wenn Lucy und ihr Papa frühmorgens zum Schwimmen gingen, schickte er den Hund immer fort, sobald er ihn über den groben Strandkies springen sah. Lucy fand das hartherzig, sagte es aber nicht. Sie erzählte auch nicht, dass, wenn sie verbotenerweise allein schwimmen ging, der namenlose Hund aufgeregt am Ufer umhertobte, nie aber einen Fuß ins Wasser setzte und manchmal mit einer ihrer Sandalen im Fang davonrannte. Der Hund sei alt, sagte Henry, aber wenn er mit Lucy am Strand war, wurde er fast wieder zum Welpen, bis er sich irgendwann erschöpft hinlegte und ihm die lange rosa Zunge aus der Schnauze hing. Einmal fand sie die Sandale nicht mehr, mit der er gespielt hatte, obwohl sie den ganzen Morgen danach suchte. Sie musste ein altes Paar aus dem untersten Teil ihres Kleiderschranks ausgraben und hoffte, niemand würde es merken, was auch der Fall war.
Als die Schäferhunde auf Lahardane vergiftet wurden, schlug Lucy vor, den zugelaufenen Hund als Ersatz für einen der beiden zu verwenden, zumal er den O’Reillys nie richtig gehört hatte; doch ihr Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe, und nach einer Woche begann Henry zwei Schäferhundwelpen zu trainieren, die ihm ein Bauer aus der Nähe von Kilauran zu einem günstigen Preis überlassen hatte. Obwohl sie ihre Eltern innig liebte – ihren Vater wegen seiner gewohnten Gutmütigkeit, ihre Mutter wegen ihrer Sanftheit und Schönheit –, war Lucy diesen Sommer auf beide böse, weil sie den Hund der O’Reillys nicht ebenso gern mochten wie sie, und auf Henry war sie böse, weil auch er ihn ablehnte: Rückblickend hätte all dies am Ende des Sommers vergessen sein sollen, und ohne den nächtlichen Ärger wäre es wohl auch so gewesen.
Lucy erzählte man nichts von dem Vorfall. Da der Schuss ihres Vaters sie nicht geweckt hatte, wurde er im Traum zu einem knackenden Ast, der im Wind nachgab; und Henry erzählte ihr, die Schäferhunde seien wahrscheinlich auf ein vergiftetes Feld geraten. Doch im Laufe der Wochen wurde sie das Gefühl nicht los, dass dieser Sommer anders war, und sie verschaffte sich Gewissheit, indem sie lauschte.
»Alles wird sich beruhigen«, sagte ihr Papa. »Man spricht sogar schon von einem Waffenstillstand.«
»Der Ärger wird weitergehen, ob mit oder ohne Waffenstillstand. Das weißt du genau. Man spürt es. Für uns gibt es keinen Schutz, Everard.«
Lucy lauschte in der Eingangshalle und hörte, wie ihre Mutter vorschlug, dass sie vielleicht wegziehen sollten und womöglich gar keine andere Wahl hatten. Sie verstand nicht, was damit gemeint war oder was sich wieder beruhigen sollte. Sie schlich dichter an die leicht geöffnete Tür, weil die Stimmen leiser sprachen als zuvor.
»Wir müssen an sie denken, Everard.«
»Ich weiß.«
Und in der Küche sagte Bridget: »Die Morells sind aus Clashmore weggezogen.«
»Ich weiß.« Henrys bedächtiger Tonfall drang zu Lucy in den Hundegang, wie der Durchgang von der Küche zur Hintertür genannt wurde. »Ich hab’s schon gehört.«
»Die beiden sind über siebzig.«
Henry schwieg einen Moment lang, dann sagte er, dass in Zeiten wie diesen immer mit dem Schlimmsten gerechnet werde, da man im Zweifel eher an das Eintreten als an das Ausbleiben eines Unglücks glaubt. Die Gouvernets seien aus Aglish weggezogen, sagte er, die Priors aus Ringville, die Swifts und die Boyces. Überall war von Aufbruch und Abschied die Rede.
Im selben Moment begriff Lucy. Sie wusste, was es mit dem »verlassenen Haus« und dem davongelaufenen Hund auf sich hatte. Sie stellte sich zurückgelassene Möbel und Sachen vor, denn auch davon war die Rede gewesen. Als sie alles durchschaute, rannte sie aus dem Hundegang, und es war ihr egal, dass man ihre Schritte hörte, es war ihr egal, dass die Tür zum Hof laut knallte und die Erwachsenen somit wussten, dass sie gelauscht hatte. Sie rannte in den Wald, hinunter zum Bach, wo sie ihrem Papa erst vor wenigen Tagen geholfen hatte, eine Reihe Trittsteine zu legen. Sie würden Lahardane verlassen – das Tal und den Wald und den Strand, die flachen Felsen bei den Krabbenbecken, das Zimmer, in dem sie aufwachte, das Gegacker der Hennen im Hof, das Kollern der Truthähne, die ersten Spuren im Sand, die ihre Füße auf dem Schulweg nach Kilauran hinterließen, den aufgehängten Seetang, der das Wetter anzeigte. Sie würde eine Schachtel für ihre Muscheln suchen müssen, die auf dem Fenstertisch in ihrem Zimmer lagen, für ihre Tannenzapfen und den dolchförmigen Stock, ihre Kieselsteine. Nichts durfte zurückbleiben.
Sie fragte sich, wohin sie gehen würden, und der Gedanke an einen Ort, den sie sich nicht vorstellen konnte, war ihr unerträglich. Zwischen den Farnen, die ein paar Meter vom Bach entfernt in großer Anzahl wuchsen, weinte sie still vor sich hin. »Das ist unser Ende«, hatte Henry gesagt, und Bridget hatte ihm zugestimmt. In Irland sei die Vergangenheit der Feind, sagte ihr Papa bei einer anderen Gelegenheit.
Den ganzen Tag blieb Lucy an ihren geheimen Plätzen im Wald, der sich von der Talsohle steil nach oben zog. Sie trank aus der Quelle, die ihr Papa gefunden hatte, als er selbst noch ein Kind war. An der Stelle, wo die Sonne durch die Bäume schien, legte sie sich ins Gras. Sie suchte nach Paddy Lindons eingestürztem kleinem Haus, das sie bisher noch nie gefunden hatte. Paddy Lindon war immer wie ein Wilder aus dem Wald aufgetaucht, mit blutunterlaufenen Augen und Haaren, die noch nie einen Kamm gesehen hatten. Paddy Lindon hatte ihr den dolchförmigen Stock gesucht und ihr gezeigt, wie man Funken aus einem Feuerstein schlägt. Das Dach seines Häuschens sei teilweise eingestürzt, hatte er ihr erzählt, aber ein Teil sei noch in Ordnung. »Der Regen macht mir zu schaffen«, sagte er immer. »So wie der durch das alte Torfdach tropft, bringt er mich noch vor der Zeit ins Grab.« Der Regen verfolge und quäle ihn wie der Leibhaftige persönlich, sagte er. Und eines Tages sagte ihr Papa: »Der arme Paddy, er ist tot«; auch damals hatte sie geweint.
Wie schon so oft gab sie es auf, das kleine Haus zu suchen. Da sie langsam Hunger hatte, brach sie auf und ging durch den Wald zurück zum Bach und weiter zum Weg, der nach Lahardane führte. Es waren nur ihre Schritte zu hören oder wenn sie gegen einen Tannenzapfen trat. Für sie gab es keinen schöneren Ort als diesen Weg, der zurück zum Haus führte, auch wenn es fast nur bergauf ging.
»Wie siehst du denn aus!«, schimpfte Bridget laut in der Küche. »Kind, Kind, wir haben doch wirklich genug Ärger!«
»Ich gehe nicht von Lahardane weg.«
»Ach, ist ja schon gut.«
»Niemals.«
»Du gehst sofort nach oben und wäschst dir die Knie, Lucy. Und zwar bevor sie dich sehen. Noch ist nichts entschieden.«
Oben sagte Kitty Teresa, es werde bestimmt alles wieder gut: Sie sah die Dinge immer von der positiven Seite. Diese Einstellung hatte sie aus den Liebesromanen, die Lucys Mutter ihr für ein paar Pence in Enniseala kaufte, und sie erzählte Lucy oft Geschichten von Unglück oder vereitelter Liebe, die ein glückliches Ende fanden. Aschenputtel gelangten auf den Ball, Schwertkämpfe wurden vom attraktiveren Kombattanten gewonnen, Bescheidenheit wurde mit Reichtümern belohnt. Doch diesmal täuschte sich Kitty Teresa. Während ihre Wunschwelt zerfiel, konnte sie nur wiederholen, dass bestimmt alles wieder gut werde.
»Ich gehöre hierher«, sagte Everard Gault, und Heloise sagte, bisher habe sie genauso empfunden. Auf Lahardane sei sie glücklicher gewesen als überall sonst, aber dem nächtlichen Schuss würde bestimmt ein Racheakt folgen.
»Selbst wenn sie warten, bis die Unruhen vorüber sind, werden sie diese Nacht nicht vergessen.«
»Ich werde an die Familie des jungen Mannes schreiben. Pater Morrissey meint, ich soll es versuchen.«
»Du weißt, wir können von dem leben, was ich habe.«
»Lass mich erst an die Familie schreiben.«
Sie protestierte nicht. Auch dann nicht, als in den folgenden Wochen keine Antwort auf den Brief kam; und auch später nicht, als ihr Mann das Pony vor den Zweisitzer spannte und nach Enniseala fuhr, um die von ihm beleidigte Familie aufzusuchen. Sie boten ihm Tee an, den er annahm und als Zeichen der Versöhnung verstand: Er sei bereit zu zahlen, was man von ihm verlange, um die Angelegenheit zu regeln. Sie hörten seinem Vorschlag zu, während Kinder in der Küche barfuß ein und aus gingen und eines von ihnen gelegentlich das Schwungrad des Blasebalgs bewegte, so dass die Funken aus dem Torf stoben. Doch abgesehen von den unmittelbaren Höflichkeiten kam keine Reaktion. Der Sohn, den der Captain verwundet hatte, saß mit dem Arm in einer Schlinge am Tisch, ließ den Besucher seine Verachtung spüren und sprach ebenfalls kein Wort. Zum Schluss sagte Captain Gault – und es war ihm peinlich und unangenehm –, dass selbst Daniel O’Connell einmal auf Lahardane gewohnt habe. Der Name war berühmt, der Mann ein geliebter Fürsprecher der Unterdrückten; doch in diesem kleinen Haus hatte die Vergangenheit ihren Zauber verloren. Die drei jungen Männer hatten Kaninchen fangen wollen und sich verirrt. Sie hätten das Grundstück nicht betreten dürfen; daran bestehe kein Zweifel, wurde eingeräumt. Captain Gault sagte nichts von den Benzinkanistern. Er kehrte nach Lahardane zurück und hielt eine weitere Nachtwache.
»Du hast Recht«, stimmte er seiner Frau ein paar Tage später zu. »Du hattest schon immer das richtige Gespür, Heloise.«
»Diesmal wäre es mir lieber, ich hätte es nicht.«
Everard Gault hatte 1915 als vermisst gegolten, und für Heloise war das Warten im Ungewissen die einsamste Zeit ihres Lebens gewesen, die zwei Jahre alte Tochter ihr größter Trost. Dann war ein Telegramm gekommen, und als sie wenig später die Nachricht erhielt, dass man ihren Mann wegen Dienstuntauglichkeit aus der Armee entlassen würde, hatte sie erleichtert die Augen geschlossen. Solange sie lebte, schwor sie sich, würde sie ihn nie wieder allein lassen, und ihr Vorsatz war ein Ausdruck der Dankbarkeit für diese freundliche Schicksalsfügung.
»Die ganze Zeit habe ich gespürt, dass sie dachten, ich hätte ihren Sohn vorsätzlich umbringen wollen. Sie haben mir kein einziges Wort geglaubt.«
»Everard, wir haben uns, und wir haben Lucy. Wir können woanders von vorn anfangen. Wo immer wir wollen.«
Heloise hatte Everard Gault immer Kraft gegeben, ihr Trost war wie Balsam auf die Wunden, welche die leidigen Niederlagen des Alltags mit sich brachten. Auch mit dieser Zwangslage kämen sie zurecht. Sie würden, wie Heloise gesagt hatte, von dem leben, was sie geerbt hatte; sie waren nicht arm, auch wenn sie nie so wohlhabend wären wie die Gaults es waren, ehe das Land verloren ging. Ihre finanziellen Verhältnisse würden sich an einem anderen Ort nicht von den jetzigen auf Lahardane unterscheiden. Der Waffenstillstand, den man endlich geschlossen hatte, fand kaum Beachtung, so wenig traute man ihm.
Im Wohnzimmer und in der Küche wurden die Gespräche fortgesetzt, das gleiche Thema jedoch von zwei verschiedenen Seiten betrachtet. Die Kammerzofe war untröstlich über das, was sie hörte, und als sie nachfragte, erklärte man ihr die Lage. Immerhin war Lahardane seit über zwanzig Jahren auch Kitty Teresas Zuhause gewesen.
»Oh, Ma’am«, flüsterte sie, rot im Gesicht, ihre Finger spielten am Saum der Schürze. »Oh, Ma’am!«
Doch wenngleich es das Ende für Kitty Teresa bedeuten mochte, so war es das keineswegs für Bridget und Henry, wie beide vermutet hatten. Als die Entscheidung gefällt war, wurde ihnen erklärt, dass sie das Pförtnerhaus weiter bewohnen und als Hausmeister für das größere Haus tätig sein könnten, außerdem würde man ihnen zumindest vorläufig die Herde überlassen, um ihnen einen dauerhaften Lebensunterhalt zu garantieren.
»Mit dem Milchgeld sind Sie besser bedient«, sagte Heloise, »als mit irgendeinem Lohn, den wir uns leisten können. Diese Lösung scheint uns gerecht.« Nur die Zeit, fügte der Captain hinzu, könne die ganze Verwirrung beilegen.
Sie würden nach England gehen, eröffnete Heloise schließlich ihrem Kind, nachdem sie Kitty Teresa versprochen hatte, sich nach einer anderen Stellung für sie umzusehen und der alten Hannah Bescheid gegeben hatte.
»Für lange?«, fragte Lucy und kannte die Antwort.
»Ja, ziemlich lange.«
»Für immer?«
»Wenn es nach uns ginge, dann nicht.«
Doch Lucy wusste, es wäre für immer. Bei den Morells war es für immer und bei den Gouvernets. Die Boyces seien in den Norden gezogen, sagte Henry, das Haus stehe zur Versteigerung. Seinem Tonfall konnte sie entnehmen, was das hieß, aber er sagte es ihr ohnehin.
»Es tut mir Leid, Lucy«, sagte ihr Papa. »Es tut mir wirklich sehr Leid.«
Ihre Mutter war Schuld, aber er genauso. Sie waren beide Schuld an Hannahs traurigem Schweigen und an Kitty Teresas roten Augen und ihrer nassen Schürze, mit der sie die Tränen trocknete, die ihr über Wangen und Hals liefen, was Bridget dazu veranlasste, ihr zwanzigmal am Tag zu sagen, sie solle aufhören. Henry schlich bedrückt im Hof herum.
»Du bist aber schön!«, rief ihr Papa in gespieltem Entzücken, als sie eines Morgens in ihrem roten Kleid im Esszimmer erschien.
Heloise schenkte an der Anrichte Tee ein und trug die Tassen mit den Untertassen zum Tisch. »Nun lach doch mal wieder, mein Schatz«, sagte sie, den Kopf zur Seite geneigt. »Nur einmal«, bat sie.
Henry fuhr mit den Milchkannen auf dem Karren am Fenster vorbei, und Lucy, die natürlich nicht lachte, lauschte dem auf der Allee verhallenden Klappern der Pferdehufe. Zwei Minuten dauerte das genau: Ihr Papa hatte es einmal beim Frühstück mit der Taschenuhr gestoppt.
»Denk an die armen kleinen Kinder der Kesselflicker«, sagte ihre Mama. »Die haben nie ein Dach überm Kopf.«
»Das wird dir nicht passieren, Lucy«, versprach ihr Papa. »Wir müssen uns alle an das Neue gewöhnen. Wir müssen, Lady.«
Normalerweise gefiel es ihr, wenn er sie »Lady« nannte, nicht aber an diesem Morgen. Sie sah nicht ein, weshalb man sich an etwas Neues gewöhnen sollte. Sie sagte, sie habe keinen Hunger, als man sie fragte, obwohl es nicht stimmte.
Danach am Strand kam gerade die Flut, das Wasser überspülte die Möwenspuren auf dem Sand und die aufgewühlten Häufchen der Sandwürmer. Sie warf Seetangzweige für den Hund der O’Reillys und fragte sich, wie viele Tage ihr noch blieben. Das hatte niemand gesagt, und sie hatte nicht gefragt.
»Du gehst wieder zurück«, befahl sie dem Hund und zeigte auf die Klippen, und als er nicht gehorchte, imitierte sie den Tonfall ihres Vaters.
Sie ging allein weiter, an den Felsen vorbei, die wie Finger ins Meer ragten, und überquerte den Bach bei den Trittsteinen. Als sie im Wald ein Stück bergauf geklettert war, konnte sie das Meer und das kurze Kreischen der Möwen nicht mehr hören. Helle Lichtstreifen glitten durch die dunklen Bäume. »Ich hab nicht mal die Hälfte des Tals gesehen«, sagte Paddy Lindon oft. Jedes Jahr, hatte er ihr einmal erzählt, setze er Kartoffeln auf der Lichtung, die er neben seinem Häuschen gerodet hatte, aber an diesem Morgen brachte sie es nicht übers Herz, es wieder zu suchen.
»Wer will mit mir nach Enniseala fahren?«, fragte ihr Papa am Nachmittag, und natürlich sagte sie ja. Er lehnte sich gemütlich in den gebogenen Sitz des Pferdewagens zurück, die Zügel lose zwischen den Fingern. Mit fünf, sagte er, sei er zum ersten Mal in Enniseala gewesen, um sich das Frenulum an der Zunge durchschneiden zu lassen.
»Was ist Frenulum?«
»Ein dünner Hautlappen unter der Zunge. Wenn er zu fest verwachsen ist, ist man zungenlahm.«
»Was ist zungenlahm?«
»Wenn du nicht deutlich sprechen kannst.«
»Und das konntest du nicht?«
»Behaupteten sie jedenfalls. Es hat nicht wehgetan. Hinterher bekam ich einen Kasten mit Murmeln geschenkt.«
»Ich glaube, es tut weh.«
»Bei dir ist es ja nicht notwendig.«
Die Murmeln waren in einem flachen Holzkasten mit einem Deckel zum Auf- und Zuschieben. Es gab ihn immer noch, neben dem Tivolispiel im Salon. Sie musste sich auf einen Schemel stellen, wenn sie Tivoli spielten, aber sie wusste, dass da der Kasten mit den Murmeln war, denn das hatte er ihr einmal erzählt. Er hatte es nur vergessen. Manchmal vergaß er Sachen.
»In Kilauran gibt es einen Fischer, der nicht sprechen kann«, sagte sie.
»Ich weiß.«
»Er benutzt seine Finger dazu.«
»Ja, stimmt.«
»Man kann ihm dabei zusehen. Die anderen Fischer verstehen ihn.
»Tja, Sachen gibt’s! Willst du jetzt die Zügel halten?«
In Enniseala kaufte ihr Papa neue Koffer bei Domville’s, weil sie nicht genug hatten. Einer der Verkäufer kam aus dem Büro und sagte, es tue ihm Leid. Er könne es nicht fassen. Dass er diesen Tag erleben müsse, hätte er nie für möglich gehalten. »Hoffentlich kommen Sie bald wieder, Captain.«
Ihr Vater nickte ständig und sagte nichts, bis er die Hand ausstreckte und den Mann als Mr. Bothwell ansprach. Die neuen Koffer passten kaum in die Kutsche, aber am Ende ging es doch. »Gut«, sagte ihr Papa, stieg aber nicht ein, sondern nahm sie auf eine Weise an die Hand, die sie ahnen ließ, wohin sie gingen.
Bei Allen’s konnte er die Tür aufmachen, ohne dass die Glocke läutete. Er öffnete sie einen Spalt und packte oben den Riegel, dann schob er die Tür auf, und sie konnten hineingehen. Im Innern griff er über die Theke, nahm das Glas vom Regal und kippte die Süßigkeiten in die Waagschale. Anschließend ließ er sie in eine weiße Papiertüte gleiten, stellte die Tüte erneut auf die Waage und setzte den Stöpsel wieder auf das Glas. Am liebsten mochte er Lakritzbonbons und Mandelnougat, und sie ebenfalls. Lemon’s Pure Sweets stand auf dem silberfarbenen Papier der Sahnebonbons.
Während er die Süßigkeiten abwog, hätte sie, wie immer, am liebsten gekichert, aber sie unterließ es, weil es alles verdorben hätte. Er zog die Tür nach innen auf, und die Glocke läutete. »Viereinhalb Pence«, sagte er, als das Mädchen mit den Zöpfen von hinten kam. »Sie sind wirklich schrecklich!«, sagte das Mädchen.
Wenn sie auf der Straße fuhren, hielt er die Zügel immer selbst. Er saß kerzengerade da, hielt sie straff, zog erst am einen, dann am anderen und löste manchmal eine Hand, um jemandem zuzuwinken. »Was heißt ›und County‹?«, fragte sie, als sie die Geschäfte hinter sich gelassen hatten.
»Und County?«
»Driscoll und County, Broderick und County.«
»Das Co. steht nicht für County, sondern für Company. ›Und Company Ltd.‹ Das Ltd. bedeutet ›mit beschränkter Haftung‹.«
»In der Schule steht es für County. County Cork, County Waterford.«
»Es ist nur die gleiche Abkürzung. Man kürzt ein Wort ab, damit nicht so viel auf einer Karte oder über einem Geschäft steht.«
»Komisch, dass sie gleich sind.«
»Möchtest du jetzt die Zügel?«
Der Geruch von Leder hing im Wagen, aber er war noch stärker, als die neuen Koffer im Haus geöffnet wurden. Die Schrankkoffer waren schon halb voll, ihre Deckel wurden von Bügeln offen gehalten, die sich beim Zuklappen einfalteten. Henry maß die Fenster aus, sie sollten später mit Brettern vernagelt werden.
»Wer ist noch nie mit dem Zug gefahren?«, fragte ihr Papa wie früher, als wäre sie immer noch drei oder vier Jahre alt. Er war als Kind oft allein mit dem Zug unterwegs gewesen, dreimal im Jahr musste er fort in die Internatsschule. Er besaß noch immer den Koffer und die Kartons mit den schwarz aufgemalten Initialen. Sie bat ihn, ihr etwas über die Schule zu erzählen, aber er vertröstete sie auf die Zugfahrt. Im Moment hätten alle zu tun, sagte er.
»Ich will nicht gehen«, sagte sie, als sie ihre Mama im Schlafzimmer fand.
»Dein Papa und ich wollen auch nicht gehen.«
»Und warum tun wir’s dann?«
»Manchmal müssen wir Dinge tun, die wir nicht tun wollen.«
»Papa wollte die Männer doch gar nicht töten.«
»Hat dir Henry das erzählt?«
»Henry nicht. Und Bridget auch nicht.«
»Es ist nicht lieb von dir, wenn du so unleidlich bist, Lucy.«
»Ich will auch nicht lieb sein. Ich will nicht mit euch gehen.«
»Lucy …«
»Ich geh nicht.«
Sie rannte aus dem Zimmer und hinunter zu den Trittsteinen. Sie liefen ihr hinterher, riefen im Wald nach ihr und fanden sie, aber alles, was sie ihnen auf dem Rückweg sagte, prallte an ihnen ab. Sie wollten nichts hören, und sie wollten nichts verstehen.
»Kommst du mit mir zur Molkerei?«, fragte Henry am nächsten Tag, und sie schüttelte trübselig den Kopf. »Wollen wir draußen Tee trinken?«, fragte ihre Mama und lächelte sie an. Und ihr Papa sagte, offenbar habe es ihr die Sprache verschlagen, als das Tischtuch auf dem Gras ausgebreitet wurde und es Zitronenkuchen gab, ihren liebsten Kuchen. Sie wünschte, sie wäre nicht mit ihm nach Enniseala gefahren und hätte ihn nicht nach dem Frenulum gefragt und was über den Geschäften geschrieben stand. Ständig spielten sie ihr etwas vor.
»Sieh mal«, sagte ihr Papa. »Der Bussard.«
Und sie sah unwillkürlich auf. Der Bussard war nur ein Punkt am Himmel, der ständig seine Kreise zog. Sie beobachtete ihn, und ihr Papa sagte, sie solle nicht weinen.
Das Weinen von Kitty Teresa in den Schlafzimmern hörte niemand mehr, denn Kitty Teresa war bereits fort, sie war nach Dungarvan zurückgekehrt, als man keine andere Stellung für sie finden konnte. Bevor sie ging, versprach sie zurückzukommen, sobald die Gaults wiederkehren würden. Ganz gleich, wo sie war, sie würde zurückkommen.
»Sie haben eine Wohnung gemietet«, sagte Bridget in der Küche, und Henry holte vom Regal über dem Küchenherd den Zettel mit der Adresse. Zuerst sagte er nichts, und dann meinte er, das sei also erledigt. »Nur bis sie was Festes haben«, sagte Bridget. »Sie kaufen sich ein Haus, nehme ich an.«
Im Hof sägte Henry das Holz zum Vernageln der Fenster. Lucy saß unterm Birnbaum auf dem Sims, das sich im Hof entlang der Ostmauer erstreckte, und sah ihm zu. Sie hatte sich angewöhnt, auf dem Heimweg von der Schule allein zu baden; sie beschwerte ihre Kleider mit dem Schulranzen, rannte schnell ins Wasser und wieder heraus, dann trocknete sie sich irgendwie ab. Henry wusste Bescheid; sie wusste nicht, woher, aber er wusste es. Wenn sie sich jetzt davonstahl, erriet er wahrscheinlich, wohin sie ging. Ihr war es egal. Sollte er sie ruhig verpetzen. Es sah ihm zwar nicht ähnlich, so etwas zu tun, aber wie die Dinge standen, war es durchaus möglich.
Auf der Wiese über den Klippen hörte sie das Angelus-Läuten in Kilauran. Manchmal hörte man es, manchmal nicht. Sie hörte es auch noch, während sie sich am Strand auszog. Es verlor sich erst, als sie ins Meer rannte und hinauswatete. Das war immer der schönste Moment – wenn sie langsam durch die Wellen schritt, die Kälte am Körper hochstieg und auf der Haut prickelte und sie den Sog der Unterströmung an den Füßen spürte. Sie breitete die Arme aus und schwamm, bis sie nicht mehr stehen konnte, dann ließ sie sich mit der Flut treiben.
Der Strand war in beiden Richtungen leer gewesen, als sie ins Wasser gegangen war. Als sie jetzt zurückschwamm, bewegte sich dort etwas, und ohne es deutlich zu erkennen, wusste sie, dass es der Hund der O’Reillys war, der seinen eigenen Schatten auf dem Sand jagte. Das machte er oft; während sie ihn beobachtete, blieb er kurz stehen und starrte in ihre Richtung, bevor er sein Spiel fortsetzte.
Sie drehte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Wenn sie ausriss, würde sie die Abkürzung nehmen, von der Paddy Lindon immer geredet hatte. »Geh auf der steilen Seite den Wald hoch«, hatte er immer gesagt. »Wenn du lange genug gehst, stößt du auf die Straße.«
Sie schwamm zurück ans Ufer, und als das Wasser seicht wurde, watete sie durch die letzten Wellen. Der Hund schnüffelte am Kiesstrand herum, und sie wusste, er hatte ein Kleidungsstück stibitzt, und was immer auch fehlte, würde inzwischen unter den Kieseln oder im Tang begraben liegen. Während sie sich anzog, stellte sie fest, dass ihr Sommerunterhemd verschwunden war, doch als sie im zerfledderten Saum aus Seetang und im Kies suchte, konnte sie es nicht finden.
Der namenlose Hund, hilflos in seiner Schmach, kuschte ganz erbärmlich, als er auf dem Weg die Klippe hinauf beschimpft wurde, bis er genug bestraft war. Dann schmiegte er seinen zerzausten, unordentlichen Kopf an Lucys Beine, damit sie ihn streichelte und tätschelte und umarmte. »Und jetzt zurück«, befahl sie und sah, nunmehr wieder streng, wie er überlegte, ob er sich ihrem Befehl widersetzen sollte, und sich dann eines Besseren besann.
In ihrem Zimmer ersetzte sie das verloren gegangene Unterhemd durch eines aus den bereits eingepackten Kleidern. Er nehme nie einen anderen Weg, hatte Paddy Lindon gesagt, wenn er zu den Prozessionen in Dungarvan oder sonntags zum Hurling ging. Wenn er Glück hatte, fuhr ein Wagen auf der Straße vorbei, und er konnte ihn anhalten.
»Der ist nur für dich«, sagte ihr Papa.
Er war noch einmal zu Domville’s gefahren, um ihn zu besorgen. Der Koffer war, im Gegensatz zu den anderen, blau und kleiner, denn sie war schließlich auch klein. Echtes Leder, obwohl er blau sei, sagte er, und zeigte ihr die ins Schloss passenden Schlüssel. »Die dürfen wir nicht verlieren. Soll ich einen aufbewahren?«
Sie konnte nicht lächeln und wollte nicht weinen. Alle ihre Sachen, sagte er, alle ihre kostbaren Sachen würden hineinpassen, die Feuersteine und der Stock, der aussah wie ein Dolch.
»Irgendwann lassen wir L.G. auf den Deckel gravieren.«
»Danke, Papa«, sagte sie.
»Jetzt geh und pack deine Sachen ein.«
Doch der blaue Koffer auf der Bank unterm Fenster in ihrem Zimmer blieb leer, der Deckel geschlossen, und der Schlüssel für das Schloss hing weiter festgebunden am Griff.
»Verstehe«, sagte Bridget, als man ihr erklärte, dass es eine Weile dauern könnte, bevor man sich zumindest einige der zurückgelassenen Sachen nachschicken lasse. Henry und sie sollten von Zeit zu Zeit durch die Zimmer gehen, da in einem leeren Haus manchmal etwas passieren könne. Lucy hörte alles mit.
Die Laken zum Abdecken der Möbel lagen in der Eingangshalle bereit. Oben auf dem ersten Treppenabsatz war ein Haufen für den Wohltätigkeitsbasar, mit Kleidern, die sie nicht mitnehmen wollten. Auch von Lucy waren einige dabei, als sei inzwischen alles beschlossene Sache.
»Nicht doch, Liebes.« Ihre Mama stand in der Tür, aber Lucy sah nicht auf, sie presste ihr Gesicht fest in das Kissen. Dann kam ihre Mama herein und nahm sie in die Arme. Als sie ihr die Tränen abwischte, roch Lucy wieder den Duft auf dem Taschentuch, es war immer der gleiche. Alles würde gut werden, sagte ihre Mama. Sie versprach es ihr fest.
»Wir müssen uns von Mr. Aylward verabschieden«, sagte ihr Papa später, als er sie im Apfelgarten fand.
Sie schüttelte den Kopf, aber er nahm sie bei der Hand, und sie gingen durch die Felder und am Strand entlang nach Kilauran. Der Hund der O’Reillys stand oben auf der Klippe und beobachtete sie, aber er war klug genug, ihnen nicht zu folgen, weil ihr Papa dabei war.
»Könnte ich nicht bei Henry und Bridget bleiben?«, fragte sie.
»Aber nein, das geht nicht«, entgegnete er.
Die Fischer legten ihre Netze aus. Sie grüßten, und ihr Papa grüßte zurück. Er sagte etwas übers Wetter, und einer erwiderte, dieser Tage könne man wirklich nichts daran aussetzen. Lucy suchte den Fischer mit der Fingersprache, aber er war nicht da. Sie fragte ihren Papa nach ihm, und er sagte, der Mann sei vielleicht noch mit dem Boot auf dem Meer.
»Bei Henry und Bridget würde es mir gut gehen«, sagte sie.
»Aber nein, Liebes, wirklich nicht.«
Sie ergriff seine Hand und drehte den Kopf zur Seite, damit er nicht merkte, wie sie ihre Tränen zu unterdrücken versuchte. Als sie zur Schule gelangten, hob er sie hoch und ließ sie durch das Fenster hineinsehen. Alles war ordentlich, weil Ferien waren, alles stand so, wie Mr. Aylward es haben wollte, die vier leeren Tische, die darunter geschobenen Bänke, die aufgehängten Karten. Bajonette wurden erstmals in Bayonne hergestellt. Apfelwein ist der Saft von Äpfeln. Die Tafel war sauber, das Staubtuch lag zusammengefaltet neben der Kreideschachtel. Die glänzenden Karten – Flüsse und Berge, die Grafschaften von England und Irland – lagen aufgerollt im Regal.
»Wir brauchen ein bisschen Zeit«, sagte ihr Papa in Mr. Aylwards Haus, den Kopf in ihre Richtung neigend, und sie wusste, er meinte nicht alle drei Gaults, als er »wir« sagte.
»Tja nun, natürlich«, sagte Mr. Aylward. »Selbstverständlich.«
»Es bricht mir das Herz«, sagte ihr Papa. »Um ganz ehrlich zu sein.«
Aber was sonst hätte er tun sollen, fragte er Mr. Aylward, als er die Schatten dort unten gesehen habe, wohl wissend, dass irgendwo Benzin stand und, wer immer dort war, die Hunde vergiftet hatte. Er sei nervös gewesen, als er im Dunkeln schoss, sagte er. Kein Wunder, dass er keinen Soldaten abgegeben hatte.
»Jeder Mann mit Familie hätte genauso gehandelt«, sagte Mr. Aylward.
Schon einmal sei ein Schäferhund von Lahardane auf vergiftetes Land geraten, hatte Henry erzählt; nicht, dass dieser Hund gestorben wäre, aber trotzdem. Henry wollte immer, dass alles in Ordnung war, und machte sich selbst etwas vor.
»Vergiss die Gedichte nicht«, sagte Mr. Aylward. »Sie tut sich leicht beim Gedichtelernen, Captain.«
»Sie ist ein braves kleines Mädchen.«
Mr. Aylward küsste sie zum Abschied. Ihr Papa trank das Glas leer, das man ihm gereicht hatte. Er gab Mr. Aylward die Hand, und Mr. Aylward bedauerte, dass es so weit kommen musste. Dann gingen sie weg.
»Warum hatten sie Benzin dabei?«, fragte sie.
»Eines Tages werde ich dir alles erklären.«
Sie gingen an den Fischern vorbei, die jetzt die ausgelegten Netze flickten. An dieser Stelle hatten die Frauen gestanden und aufs Meer gestarrt, als die Mary Nell nicht zurückgekehrt war. Die Frauen hatten dagestanden, als sie zur Schule ging und auch als sie von der Schule zurückkam, die schwarzen Umhängetücher fest um den Kopf geschlungen, man sah kaum ihre Gesichter. Der Sturm, der die Mary Nell