Liebe und Sommer - William Trevor - E-Book

Liebe und Sommer E-Book

William Trevor

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Beschreibung

Sie treffen sich heimlich auf einem abgelegenen Anwesen. Bei Florian ruft Ellie Erinnerungen an seine frühere Jugendliebe wach, und Ellie lässt sich von seiner geheimnisvollen Ausstrahlung in den Bann ziehen. Mit einer Tschechow'schen Note von Verlust und Sehnsucht erzählt William Trevor eindringlich von der Liebe eines Sommers. Florian Kilderry hält sich im ländlichen Rathmoyes auf, um den Besitz seiner verstorbenen Eltern aufzulösen. Als er mit seiner Kamera die Gegend durchstreift, trifft er auf die Trauergäste einer Beerdigung, unter denen auch Ellie Dillahan ist. Der unabhängige Mann und die verheiratete Farmersfrau fühlen sich spontan zueinander hingezogen und treffen sich fortan heimlich. Ellie ist hin- und hergerissen zwischen ihrem eintönigen, aber sicheren Leben an der Seite ihres Mannes auf dem Hof und den Verlockungen, die der geheimnisvolle Unbekannte verheißt. Auch wenn sich die beiden in ihrem Geheimnis sicher wähnen, bleibt ihre Affäre von einigen Bewohnern Rathmoyes' nicht unbemerkt. "Mit der Genauigkeit eines Chirurgen und der Eloquenz eines Dichters präsentiert Trevor dem Leser die Nischen des menschlichen Herzens." Literary Review

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Seitenzahl: 276

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William Trevor

Liebe und Sommer

Roman

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Hoffmann und Campe

Für Jane

Liebe und Sommer

1

An einem Juniabend in den späten fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts durchquerte Mrs Eileen Connulty die Stadt Rathmoye: von The Square Nummer 4 zur Magennis Street, von da in die Hurley Lane, die Irish Street entlang, über die Cloughjordan Road bis zur Kirche zum Heiligsten Erlöser. Dort verbrachte sie die Nacht.

Das Leben, das ein Ende gefunden hatte, war ein Leben voll guter Werke und guter Vorsätze gewesen, mit einem gewissen Maß an Strenge in häuslichen und familiären Angelegenheiten. Die Hoffnung auf persönliches Glück, die Mrs Connulty vor langer Zeit bewogen hatte, sich auf Ehestand und Geburt zweier Kinder einzulassen, war seither verflogen: Ihr Mann und ihre Tochter hatten sie enttäuscht. Beim Herannahen des Todes hatte sie befürchtet, sich nunmehr ihrem Mann zugesellen zu müssen, und gebetet, davon verschont zu bleiben. Von ihrer Tochter hatte sie sich bereitwillig getrennt; ihren Sohn zurückzulassen – jetzt fünfzig Jahre alt und ihr Liebling, seit er als Säugling in ihren Armen lag – hatte Mrs Connulty Tränen gekostet.

Die Rollos der Privathäuser, die herabgelassen worden waren, als der Sarg die Straßen passierte, wurden hochgezogen, kaum dass er entschwunden war. Läden, die geschlossen hatten, öffneten wieder. Männer, die die Köpfe entblößt hatten, setzten ihre Mützen oder Hüte wieder auf, die Kinder in der Hurley Lane, die ihre Spiele unterbrochen hatten, brauchten nicht länger gebändigt zu werden. Die Bestattungsunternehmer schritten die Kirchentreppe hinab. Zur morgigen Messe würde ein Bischof eintreffen; bis zuletzt würde Mrs Connulty die ihr gebührende Ehre zuteil.

Seinerzeit hatte es geheißen, der Familie, in die Mrs Connulty eingeheiratet hatte, gehöre halb Rathmoye, ein Eindruck, den ihr Pub in der Magennis Street, ihr Kohlenlagerplatz in der St. Matthew Street und ihr 1903 gegründetes Gästehaus The Square Nummer 4 hervorgerufen hatten. In den darauffolgenden Jahrzehnten waren weitere Immobilien in der Stadt hinzugekauft worden, die nach Instandsetzung und Renovierung bescheidene Mieten einbrachten, die zu einer beträchtlichen Gesamtsumme aufliefen. Trotzdem übertrieben die Leute, wenn sie behaupteten, den Connultys gehöre halb Rathmoye.

Die Stadt, dicht gedrängt und gewöhnlich, lag in einer Mulde und war dort aus Gründen entstanden, die niemand kannte und um die niemand sich Gedanken machte. Am ersten Montag im Monat brachten die Bauern ihr Vieh und liehen sich bei einer der beiden Banken von Rathmoye Geld. Vom Zahnarzt, der am Square praktizierte, ließen sie sich die Zähne ziehen, gelegentlich baten sie einen Anwalt um Rat, sie begutachteten den Landmaschinenpark von Des Devlin in der Nenagh Road, schlossen Geschäfte mit Heffernan, dem Saatguthändler, ab und tranken in einem der zahlreichen Pubs der Stadt. Ihre Frauen kauften Lebensmittel im Cash & Carry ein oder, falls sie nicht haushalten mussten, bei McGovern’s; Schuhe bei Tyler’s, Kleider, Vorhangstoffe und Wachstücher in der Tuchhandlung Corbally’s. Früher, vor dem Bau des großen Shannon-Wasserkraftwerks, hatte es Arbeit in der Mühle und im Elektrizitätswerk der Mühle gegeben; jetzt gab es Arbeit in der Molkerei und in der Kondensmilchfabrik, auf Bauhöfen, in Geschäften und Pubs oder in der Mineralwasserfabrik. Am Square stand ein Gerichtsgebäude, am Ende der Mill Street befand sich ein stillgelegter Bahnhof. Es gab zwei Kirchen und ein Kloster, eine Schule der Christlichen Brüder und eine Berufsfachschule. Pläne für ein Schwimmbad harrten der Bereitstellung von Geldmitteln.

In Rathmoye sei nichts los, sagten seine Bewohner, blieben meistenteils aber trotzdem dort wohnen. Nur die Jungen zogen fort – nach Dublin, Cork oder Limerick, nach England, manchmal auch nach Amerika. Viele kehrten zurück. Auch dass nichts los sei, war eine Übertreibung.

Die Totenmesse fand am Morgen des folgenden Tages statt, und als sie zu Ende war, blieben die Trauergäste vor dem Friedhofstor stehen und erklärten, man werde Mrs Connulty nie vergessen, weder in der Stadt noch darüber hinaus. Die Frauen, die sich zusammen mit ihr in der Kirche zum Heiligsten Erlöser abgeplagt hatten, beteuerten, sie sei ihnen allen ein Vorbild gewesen. Sie erinnerten daran, dass ihr keine Arbeit zu niedrig gewesen sei, nie habe sie die Stunden bedauert, die sie damit zugebracht hatte, eine Überfülle an Messing zu polieren oder altes Kerzenfett abzukratzen. In sechzig Jahren hätten die Altarblumen nicht ein einziges Mal frisches Wasser benötigt, die Missionsbroschüren seien nachgelegt worden, wann immer sie auszugehen drohten. An Soutanen, Chorhemden und Priesterroben habe sie kleinere Flickarbeiten ausgeführt. Die Fliesen des Altarraums zu wischen sei ihr heilige Pflicht gewesen.

Während sie so ihre Erinnerungen austauschten und das Leben, das ausgelöscht worden war, weiterhin in höchsten Tönen lobten, fotografierte ein junger Mann in einem blassen Tweedanzug, mit dem er an diesem warmen Vormittag auffiel, heimlich die Szene. Er war die zehn Kilometer von seinem Wohnort hergeradelt und von der Trauergemeinde aufgehalten worden. Eigentlich war er gekommen, um das ausgebrannte Kino der Stadt zu fotografieren. Von diesem hatte er in einer ähnlichen Kleinstadt gehört, wo er unlängst den gefährdeten Zustand einer Häuserzeile, die von einem Erdrutsch aus ihren Fundamenten gerissen worden war, fotografisch festgehalten hatte.

Der junge Mann, dunkelhaarig und schmächtig, etwa Anfang zwanzig, war fremd in Rathmoye. Ein Hauch von Eleganz – in seiner ganzen Haltung, mit seiner flotten grün-blau gestreiften Krawatte – wurde von der bequemen Schlotterigkeit seines Anzugs Lügen gestraft. Seine Miene hatte etwas irreführend Ernstes, was den wiedersprüchlichen Eindruck nur noch verstärkte. Sein Name war Florian Kilderry.

»Wessen Beerdigung?«, erkundigte er sich bei der Gemeinde, der er sich jetzt wieder zuwandte, nachdem er sich vorübergehend hinter einem abgestellten Wagen postiert hatte, um seine Bilder zu knipsen. Nachdem ihm Auskunft erteilt worden war, nickte er und fragte nach dem Weg zu dem verfallenen Kino. »Danke«, sagte er höflich, mit einem freundlichen Lächeln. »Danke«, wiederholte er und schob sein Fahrrad durch den Pulk der Trauernden.

Weder Mrs Connultys Sohn noch ihre Tochter wussten, dass die Trauergemeinde auf diese Weise abgelichtet worden war, und auch als sie sich jetzt, getrennt, auf den Rückweg zu The Square Nummer 4 machten, ahnten sie nichts von dem ungewöhnlichen Vorgang. Dann begann die Menge sich zu zerstreuen, viele kamen noch einmal in der Nummer 4 zusammen, andere wandten sich wieder ihren morgendlichen Verrichtungen zu, in denen sie unterbrochen worden waren. Als Letzter ging ein alter Protestant namens Orpen Wren, der glaubte, der hinabgesenkte Sarg enthalte die sterbliche Hülle eines ältlichen Küchenmädchens, das vor fünfunddreißig Jahren in einem ihm wohlbekannten Haushalt den Tod gefunden hatte. Das ehrerbietige Gemurmel der Stimmen ringsumher erstarb, die Autos fuhren davon. Orpen Wren, der allein gekommen war, blieb noch ein paar Augenblicke länger stehen, bevor auch er seines Weges ging.

Als Ellie zur Stadt hinausradelte, fragte sie sich, wer wohl der Mann gewesen sein mochte, der die Aufnahmen gemacht hatte. Daran, wie er sich nach dem alten Lichtspielhaus erkundigt hatte, konnte man erkennen, dass er sich in Rathmoye nicht auskannte, und sie hatte ihn noch nie auf der Straße oder in einem Geschäft gesehen. Sie überlegte, ob er vielleicht mit den Connultys verwandt war, denn immerhin hatte das Lichtspielhaus den Connultys gehört, und es war Mrs Connultys Begräbnis gewesen. Sie hatte noch nie erlebt, dass bei einer Beerdigung Aufnahmen gemacht worden wären, und nahm an, dass ihn die Connultys damit beauftragt hatten. Vielleicht arbeitete er ja auch für eine Zeitung, für die Nenagh News oder den Nationalist, denn manchmal konnte man in der Zeitung ein Foto von einer Beerdigung sehen. Wenn sie hinterher mit zum Haus gegangen wäre, hätte sie Miss Connulty danach fragen können, aber der Besamungstechniker wurde bei ihnen erwartet, und sie hatte ihm versprochen, da zu sein.

Sie beeilte sich, um nicht zu spät zu kommen, dabei hatte sie doch genau ausgerechnet, dass sie nicht zu spät kommen würde. Lieber wäre sie noch mit zum Haus der Connultys gegangen. Sie hätte es gern von innen gesehen, was ihr bisher noch nie vergönnt gewesen war, obwohl sie Mrs Connulty viele Jahre lang mit Eiern beliefert hatte.

Vielleicht hatten ja die Priester die Fotos bestellt, vielleicht führte Father Balfe, wie Sister Clare einmal angedeutet hatte, ein Gemeindebuch. Ein Gemeindebuch zu führen sähe eher Father Balfe ähnlich als Father Millane, nicht dass sie wusste, was es enthielt. Sie fragte sich, ob wohl auch sie auf dem Foto war. Sie erinnerte sich an die schlanken, zart wirkenden Hände, die die Kamera hochgehalten hatten.

Auf dem Hof stand der weiße Lieferwagen, und Mr Brannock stieg eben aus. Sie entschuldigte sich, und er fragte: »Wieso?« Sie werde ihm eine Tasse Tee brühen, sagte sie.

Nachdem er nur ein paar Minuten in den Überresten des Kinos verbracht hatte, machte Florian Kilderry in einem an der Landstraße gelegenen Pub namens Dano Mahoney halt. Am Kino war er von einem Mann gestört worden, der sein Fahrrad bemerkt hatte und hereingekommen war, um ihm zu sagen, dass er sich dort nicht aufhalten dürfe. Der Mann hatte auf ein Schild gezeigt, und Florian hatte erwidert, er habe es nicht gesehen, was nicht der Wahrheit entsprach. »Sie brauchen eine Genehmigung«, hatte der Mann ihn verärgert informiert. Als er die beiden Vorhängeschlösser einrasten ließ, die den Eingang sicherten, räumte er ein, dass sie gar nicht hätten offen sein dürfen. »Fragen Sie Miss O’Keeffe auf dem Kohlenlagerplatz«, riet er. »Wenn sie es für richtig hält, bekommen Sie die Genehmigung.« Als sich Florian jedoch nach dem Kohlenlagerplatz erkundigte, wurde ihm beschieden, der sei als Zeichen des Respekts heute geschlossen. »Die Beerdigung dürfte Ihnen nicht entgangen sein«, sagte der Mann.

In der Bar setzte Florian sich mit einem Glas Wein in eine Ecke und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte seine Reise umsonst angetreten, und die einzige Entschädigung war das unerwartete Begräbnis. Er versuchte sich die Bilder ins Gedächtnis zurückzurufen, die er aufgenommen hatte. Die Trauergäste, darunter ein Priester und mehrere Nonnen, hatten sich in Zweier- oder Dreiergrüppchen miteinander unterhalten. Ein paar, die allein gekommen waren, stahlen sich bereits davon, andere standen unschlüssig herum, als hätten sie das Gefühl, länger ausharren zu müssen. Die Szene war ihm vertraut gewesen: Auch früher schon hatte er Beisetzungen fotografiert, ein-, zweimal hatte man ihn aufgefordert, es zu unterlassen. Mitunter hatte es dramatische Momente gegeben, Ausbrüche unbändiger Trauer, aber davon hatte er heute nichts bemerkt.

Andererseits wirkte das wenige, das er im Kino zu sehen bekommen hatte, vielversprechend. Hinter einer zerbrochenen Glasscheibe warb noch immer ein Plakat für Idiot’s Delight, Norma Shearers Gesicht war zerschlitzt und entstellt. Er hatte es gerade genauer betrachtet, als der Mann ihn anbrüllte, aber dergleichen hatte ihn schon immer kaltgelassen. Das Kino hieß Coliseum, ein Tonsystem von Western Electric war neu installiert worden.

Ein Geruch nach gebratenem Speck zog in die Schankstube, Stimmen von einem Radio. Die Wände waren mit Sporthelden geschmückt – Ringern, Boxern, Jockeys, Hurlingspielern –, mit Windhunden und Hindernisrennpferden. Der Wirt war, wie ein gerahmter Zeitungsartikel verkündete, selbst einmal Berufsboxer gewesen und hatte fünf Runden gegen Jack Doyle überstanden; die Handschuhe, die er getragen hatte, hingen an einem Regal hinter dem Tresen.

»Klopfen Sie einfach auf die Theke, wenn Sie Nachschub brauchen«, forderte er ihn auf, als ihn eine Frau zum Essen rief. Aber Florian erwiderte, ein Glas reiche ihm. Er blieb eine Weile sitzen und rauchte eine zweite Zigarette zu Ende, dann trug er sein leeres Glas zum Tresen. Eine Stimme rief ihm ein Auf Wiedersehen zu und lud ihn ein, wiederzukommen. Er versprach es.

Draußen verharrte er, den Rücken gegen eine der Eingangssäulen gelehnt, ein paar Minuten mit halbgeschlossenen Augen im warmen Nachmittagssonnenschein. Danach setzte er seine Fahrt in gemächlichem Tempo fort. Er lebte allein. Er hatte es nicht eilig.

In Rathmoye nahm der Tag seinen Lauf. Vorübergehend aufgestört vom Tod, wandte sich die Stadt wieder ihren üblichen Geschäften zu. Nachdem hundert Trauergäste der Einladung zu einer Erfrischung nachgekommen waren, wurde in The Square Nummer 4 aufgeräumt. Von dem geräumigen Wohnzimmer im ersten Geschoss wurden Tabletts mit Tassen und Untertassen in die Küche getragen, die überall verstreuten Gläser wurden eingesammelt, Fenster aufgestoßen, Aschenbecher geleert. Als die Treppe gesaugt, die Haushaltshilfe nach Hause geschickt und die Geschirrtücher zum Trocknen aufgehängt worden waren, war es bereits Abend.

Mrs Connultys Tochter, die das erste Mal seit dem Todesfall allein im Haus war, ließ das Geschmeide durch ihre Finger gleiten, das jetzt ihr gehörte: Halsketten aus Lapislazuli und Jade, Granat und Bernstein, die Saphirohrringe, den Türkis, die Perlen, die Opale, die Halbfingerringe mit den Diamanten, den Verlobungsring mit dem Rubin, die drei Kameen. Auch einen Rosenkranz gab es, aber der gehörte eigentlich nicht dazu, war er doch, verglichen mit den kostbaren Edelsteinen, von geringem Wert.

Miss Connulty war mittleren Alters und in Rathmoye unter keinem anderen, persönlicheren Namen bekannt – die förmliche Anrede war ihr aufgezwungen worden, als ihre Mutter zwanzig Jahre zuvor aufgehört hatte, sie mit einem der Heiligennamen anzusprechen, die sie ihr nach ihrer Geburt gegeben hatte. Ihr Bruder war dem Beispiel unwillkürlich gefolgt, und als ihr Vater starb, blieb sie im Haus namenlos. Inzwischen war sie in der ganzen Stadt als »Miss Connulty« bekannt, was viel natürlicher schien, als sie mit ihrem früheren Namen anzureden.

Sie zählte zweiunddreißig Schmuckstücke, keines davon war ihr unvertraut, und sie würde sie tragen, und zwar oft, so wie ihre Mutter. Diese Überlegung erfolgte kühl, ohne jede Emotion. Einige der Juwelen würden ihr stehen, andere nicht.

»Was tust du da, Kind?«, hatte ihre Mutter vor langer Zeit in scharfem Ton gefragt, als sie unerwartet in ebendieses Zimmer getreten war, ohne dass ihre Füße in den Pantoffeln ein Geräusch gemacht hätten. Ihr Kind hatte sich ein Granatcollier um den Hals gehängt, es hinten aber nicht eingehakt, vielmehr hielt sie die Schließe zwischen Daumen und Zeigefinger. Klirrend fiel es auf die Frisierkommode, und Mrs Connulty, hochgewachsen und stämmig gebaut, erklärte, sie müsse die Polizei rufen.

»Nicht die Polizei! Nein, nein!« Der Schreckensruf ihrer Kindheit stieg in Miss Connulty auf, und in ihrem Magen regte sich kalt die Angst. »Hol einen Polizisten, Kitty«, rief die Mutter von der Treppe aus einem bestürzten Dienstmädchen zu und befahl ihrer Tochter, das Collier zurückzulegen. Sie zählte die Granatsteine durch, um zu prüfen, ob noch alle vorhanden waren. Bald darauf stand ein Polizist in der Eingangshalle, und ihre Mutter forderte sie auf, ihm Bericht zu erstatten. Als sie es tat, schüttelte er den Kopf über sie.

Nicht ganz so groß wie ihre Mutter und überhaupt nicht stämmig, hatte sich Miss Connulty im Gesicht eine Spur jener Schönheit bewahrt, die sie als Mädchen beflügelt hatte. Ihr Haar war von grauen Strähnen durchzogen, weshalb das Blond weniger kräftig war, doch wies ihr Gesicht kaum Falten auf, die es hätten älter erscheinen lassen. Dennoch kam sie sich oft alt vor und ärgerte sich, daran erinnert zu werden, dass sie nun, da sie ihr mittleres Lebensalter erreicht, ja fast schon hinter sich gebracht hatte, zu viele Möglichkeiten verpasst hatte. Sie verstaute den Schmuck wieder in der obersten Schublade der Frisierkommode, die ihrer Mutter gehört hatte und die jetzt ihr gehörte. Nur das Granatcollier behielt sie in der Hand und bewunderte es vor der düsteren Farbe ihrer Trauerkleidung.

Joseph Paul Connulty war ein hoch aufgeschossener Mann mit einem Wieselgesicht und zurückgekämmten grauen Haaren, die dank der regelmäßigen Verwendung von Brylcreem stark glänzten. An einem Leinenband um seinen Hals hing eine Brille, die auf den dunklen Stoff seines Anzugs fiel. In seiner Brusttasche klemmten zwei Kugelschreiber. Am linken Revers trug er gut sichtbar das Emblem der Abstinenzlerbewegung.

Nachdem er noch einmal zum Friedhof gegangen war, um allein an dem zugeschütteten Grab zu verweilen, wusste er nichts mit sich anzufangen und ging zum Kohlenlagerplatz. Die Schuppen waren verschlossen, am Büroeingang hing ein Zettel; Säcke, die seinen Namen trugen und auf Zustellung warteten, waren auf einem Lastwagen senkrecht nebeneinandergestapelt. Hier fühlte er sich zu Hause, sein ganzes Leben hatte er die Kohlengrushalden gekannt, die Stallungen, in die früher Pferde eingestellt waren, das mit Wellblech verkleidete hohe Tor, von dem die rote Farbe abblätterte. Hier hatte er als Kind gespielt, nur in den Pub hatte er nicht gedurft, der ihm – als Abstinenzler – selbst jetzt noch fremd erschien, obwohl er den Großteil eines jeden Tages dort verbrachte. Er hatte gehofft, Priester zu werden, doch dann war ihm die innere Berufung abhandengekommen, und er war von dem Gewicht der Zweifel seiner Mutter erdrückt worden, die nicht glaubte, dass er imstande wäre, ein erfolgreiches religiöses Leben zu führen. Am Ende hatte er sich ihre Zweifel zu eigen gemacht.

Als er ging, sperrte er das hohe Tor hinter sich ab. Mit dem Heimweg zu The Square Nummer 4 ließ er sich Zeit. Er passierte den Pub, der ebenfalls geschlossen war. Er fand es angenehm, dass der Pub wie ausgestorben war, denn normalerweise drangen Musik und Stimmengewirr bis auf die Straße. Auch in der Eingangshalle des Hauses, in dem er, der Junggeselle, seine Mahlzeiten einnahm und in dem er schlief, in dem er sein ganzes Leben verbracht hatte, war es still.

»Jemand hat mir einen Garten des Gedenkens vorgeschlagen«, warf er seiner Schwester zu, als sie sich auf dem Flur im Obergeschoss begegneten.

Obwohl sie mehr als nur Bruder und Schwester waren – sie waren wenige Minuten nacheinander zur Welt gekommen –, hatten sie nie auch nur die geringste Ähnlichkeit gehabt. Als Kinder waren sie enge Spielgefährten gewesen, jetzt aber redeten sie oft wochenlang nicht miteinander, weniger, weil sie nicht miteinander sprechen wollten, sondern weil sie sich nichts zu sagen hatten.

»Ihr Ansehen in der Stadt«, fuhr Joseph Paul fort, um die Frage seiner Schwester zu beantworten, weshalb es einen solchen Garten des Gedenkens brauche. »Ihre Verbindung mit der Kirche. Das Geld, das sie gespendet hat, und vieles mehr.«

Die anderen Vorschläge zu einem passenden Denkmal, die man ihm bei seinem Gang durch die Stadt unterbreitet hatte, verriet er ihr nicht, da keiner davon für seine Schwester akzeptabler gewesen wäre und er selbst einen Garten bevorzugte. »Wie sie war«, sagte er stattdessen.

Anders als der Kohlenlagerplatz und der Pub hatte The Square Nummer 4 einen Wandel erlebt, der das unterschiedliche Geschäftsgebaren zweier Generationen widerspiegelte. Urspünglich hatte man Dauergäste bewirtet, denen man drei Mahlzeiten am Tag bot, dann wurde aus dem Haus ein Bed & Breakfast, eine Bleibe für Handlungsreisende. Die jetzige Generation konnte sich noch, wenn auch nur schwach, an die Bankangestellten und Ladenverkäufer erinnern, die mittäglich in den Speisesaal zurückkehrten, sich abends dieselbe Tageszeitung teilten und um dasselbe offene Kohlenfeuer saßen. Zu ihrer Zeit waren McNamara, der Straßenvermesser, Hauptkommissar Fee, Miss Neely, die Laienlehrerin an der Klosterschule, und andere so lange Hausgäste geblieben, bis eine Heirat oder eine Beförderung eine Veränderung in ihrem Leben herbeiführten. Jedem von ihnen war ein eigener Serviettenring zugewiesen worden, Miss Neele bekam ihre Eisentabletten, McNamara seinen Stout, für den ein Aufschlag erhoben wurde. Inzwischen war Gohery, der Metallverarbeitung unterrichtete und zurzeit in den Sommerferien weilte, der einzige Dauermieter in der Nummer 4; doch der Ruf des Hauses in Sachen Sauberkeit und Speisen sorgte dafür, dass nur selten ein Zimmer frei war. Ein Schild in einem der Fenster im Erdgeschoss führte die Übernachtungspreise auf, und das Preis-Leistungs-Verhältnis sorgte für regen Betrieb, ob innerhalb oder außerhalb der Saison.

Was diese Dinge betraf, sah Joseph Paul nur wenige Änderungen voraus, höchstens, dass seine Schwester das Haus jetzt allein führen würde. Schon immer war eine Frau oder ein Mädchen gekommen, um zu putzen und abzuwaschen, auf die konnte man nicht verzichten. Seine Schwester würde es auch gar nicht wollen.

»Es ist nur, weil ich darauf angesprochen wurde«, sagte er. »Ein Garten.«

Auf dem Lagerplatz hatten sie mit Kohlenstückchen gespielt, jeder hatte fünf Stück, die eine vorgeschriebene Bahn entlanggekickt werden mussten: zum Säckeschuppen, dann zu den Regentonnen, zu den Kohlengrushalden, über das Kopfsteinpflaster zu den Karren, dahinter zur Pumpe und zur roten Klöntür, und wieder von vorn. In der Stadt hatten sie an Haustüren geklopft und waren davongerannt. Sie hatten Hühnerhäuser entriegelt und die Hühner herausgelassen, um sie zu jagen. Sie waren durch die Straßen gestreunt, ihr Vater nachsichtig, ihre Mutter mit dem Haushalt befasst. Der um Minuten jüngere Joseph Paul war auch der Kleinere gewesen, aber das hatte er nie als Nachteil aufgefasst.

»Was ist mit dem Grabstein?« Von einer der Fensterbänke im Flur griff Miss Connulty nach einem abgebrannten Streichholz, das die Haushaltshilfe übersehen hatte. Joseph Paul beobachtete, wie sie es in den bestückten Kamin im großen Vorderzimmer warf, und zwar so geschickt, dass keine Spur mehr davon zu sehen war. Er sagte:

»Für den gehen wir zu Hegarty.«

»Es wird Gerede darüber geben, wie sie ihn haben wollte.«

Ihre Mutter hatte verfügt, dass ihr Name nicht auf den Grabstein ihres Mannes eingemeißelt werden dürfe, vielmehr wünsche sie ein eigenes Grab mit einem eigenen Grabstein.

»Ein eigenes Grab steht ihr zu«, entgegnete Joseph Paul.

»Wer hat den Garten denn vorgeschlagen?«

»Madge Shea bei Feeney’s.«

Einen Garten hatte es in der Nummer 4 nie gegeben, und die Leute erinnerten sich daran, dass ihre Mutter oft davon gesprochen hatte. »Eine Stätte der Besinnlichkeit«, fuhr Joseph Paul fort, »die Gelegenheit, einem Menschenleben Dank zu sagen.« Auch daran hatten die Leute gedacht, nun da die Zeit gekommen war. Hinter der Kirche, zwischen Kirche und Friedhof, war genug Platz für einen Garten.

»Reicht es nicht, dass wir uns mit dieser seltsamen Grabregelung herumschlagen müssen?«, widersprach seine Schwester. »Es ist üblich, dass eine Frau ihre letzte Ruhestätte neben ihrem Mann findet. Es ist üblich, dass Mann und Frau sich einen Grabstein teilen.«

Das konnte er nicht leugnen, und streiten wollte er nicht. Die Bestattungsmodalitäten waren mit Father Millane abgestimmt und den letzten Wünschen der Toten entsprechend ausgeführt worden. Ebenso würde Hegarty, der Steinmetz, instruiert werden, wenn es so weit war. Einen Garten des Gedenkens würde es geben, weil die Bewohner der Stadt es so wollten.

»Ich habe gehört, dass ein Mann bei der Beerdigung war, der fotografiert hat«, sagte seine Schwester.

»Ich hab nichts gesehen.«

»Es sind Bemerkungen darüber gefallen, hier im Haus. Man hat sich gefragt, ob wir Fotos wollten.«

»Ich hab keinen Mann gesehen.«

»Ich sage dir ja nur, was ich gehört habe.«

Ohne ein weiteres Wort ging sie davon und nahm eine Tasse und Untertasse mit, die hinter einer Vase übersehen worden waren. Joseph Paul begab sich in das große Vorderzimmer, wo den ganzen Tag über die Abendleuchten gebrannt hatten. An den beiden hohen Fenstern waren die Rollos herabgelassen worden, um die in rostbraunem Ton gehaltenen Samtvorhänge waren quastenbesetzte Zurückhalter geschlungen. Bei Tage boten die dichten Netzgardinen Schutz vor neugierigen Blicken. Auf den Tischen und auf einem Hocker vor dem Kamin lagen Illustrierte aus. Über den weißen, bernsteingeäderten Marmor des Kaminsimses stampften Zierelefanten mit ihren Jungen, darüber hing in einem elfenbeinernen Rahmen ein Porträt von Daniel O’Connell.

Ihm war deshalb von den Fotos erzählt worden, weil er sich sorgen würde, wenn er es hörte, denn es handelte sich um mangelnden Respekt; ein fotografiertes Begräbnis käme einer Volksbelustigung gleich. Er fragte sich, ob sie sich das Ganze vielleicht nur ausgedacht hatte; sie dachte sich oft Dinge aus.

Er blätterte die Ausgabe des Nationalist durch, die einer der Übernachtungsgäste in der Vorwoche zurückgelassen hatte. Dann überflog er ebenso teilnahmslos die Seiten einer alten Nummer der Dublin Opinion. Es war nicht leicht mit ihr. Im Lauf der Jahre hatte er zusehen müssen, wie sie arglistig wurde, und gehofft – einige Male sogar im Gebet darum gefleht –, dass ihre Unzufriedenheit mit der Zeit nachlassen würde. Als sie noch Kinder waren, hatte ihre Mutter die Tochter gern in der Küche um sich gehabt, und er war allein zum Spielen weggeschickt worden. Wenn die Küchentür nicht ganz geschlossen war, und das war meistens der Fall, hatte er durch den Spalt gelugt. Er hatte beobachtet, wie man ihr beibrachte, Fett und Sehnen zu entfernen und das Fleisch zu tranchieren, wie man die Fleischstücke mit Mehl bestreute – niemals zu dick. Ihre Mutter hatte sie angeleitet, wie lange man es sieden musste, wann man die Klöße dazugab, die Bratensoße. Dann kam der Tag, als sie ihren ersten Kloß kneten durfte, ein anderer Tag, da sie die Äpfel für den gedeckten Apfelkuchen schälte, wieder ein anderer, als sie die Vanillesoße umrührte und Kartoffeln zerdrückte. Die Küche war ihrer beider Wirkungsstätte, sie waren die Frauen des Hauses – sie und das Dienstmädchen, egal ob es sich um ein Mädchen vom Land handelte oder eine Witwe aus der Stadt, die auf das Geld angewiesen war.

Joseph Paul gewöhnte sich an diese Frauenwelt, und am Ende störte er sich nicht mehr daran. Im Schuppen hackte er Anzündholz – seiner Mutter zufolge eher Jungensache. Manchmal nahm sie ihn mit mit zum Einkaufen und nannte ihn ihren kleinen Buben. Er ärgere sie nie, sagte sie; es liege nicht in seiner Natur, sie zu ärgern. Jeden Morgen nach dem Frühstück hatten sie zusammen am Kamin gesessen, kaum einen Meter entfernt von der Stelle, wo er jetzt saß.

An diesem Abend hatte er das Zimmer für sich, da das Schild »Zimmer zu vermieten« vorübergehend abgehängt worden war. Er lauschte auf die vertrauten Geräusche, die von unten heraufdrangen: seine Schwester, die die Haustür verriegelte, im Speisesaal mit dem Besteck klapperte, die Schublade in die Anrichte zurückschob und die Fenster wieder schloss, die zum Lüften geöffnet worden waren. Immer wieder hatte die Aussicht bestanden, dass sie heiraten, dass die Vergangenheit, von der sie sich nie richtig erholt hatte, endlich vergessen sein würde, dass Gohery oder Hickey vom Uhrengeschäft, einer der Männer, die regelmäßig im Hause nächtigten, oder einer der älteren Junggesellen der Stadt Interesse an ihr zeigen würde. Sie war jung gewesen, als die Schwierigkeiten aufkamen. Nachdem sie ausgestanden waren, hatte sie sich nicht hergegeben. Und später auch nicht.

Auf der Treppe hörte er ihre leichten Schritte, Schritte, die ihm am vertrautesten waren, nun, da die seiner Mutter nicht mehr zu hören sein würden. Dass seine Schwester ihn verachtete, war lediglich eine Variante der üblichen Schuldzuweisungen; er war sich dessen bewusst, und dass er sich dessen bewusst war, erleichterte die Sache. Sie überquerte den Flur und blieb dicht vor seinem Sessel stehen.

»Die beiden hinteren Schlafzimmer müssen noch vor dem Winter neu gestrichen werden«, sagte sie, »mit der gleichen Farbe.«

Er nickte, blickte aber nicht hoch, weil er den Schmuck nicht sehen wollte, den sie trug, um ihn zu provozieren. Er werde sich um die Angelegenheit kümmern, antwortete er. Sie ging aus dem Zimmer.

2

Dillahan stand vor seiner Frau auf. Unten zog er die Luftklappe des Rayburn-Herdes heraus und lauschte auf die knisternden Flammen, bevor er Kohlen nachlegte. Er wartete darauf, dass der Wasserkessel kochte, dann brühte er Tee auf und rasierte sich an der Spüle. Als er die Hintertür zum Hof öffnete, kamen seine beiden Hütehunde tapsend aus dem Schuppen, in dem sie geschlafen hatten, und begrüßten ihn. Er murmelte ihnen Koseworte zu und kraulte ihnen mit einem Finger jeder Hand beiläufig den Kopf. Der Luft nach zu urteilen, würde es heute nicht regnen.

Als er den Hof durchquerte, schlossen die Hunde sich ihm an. Und als sie an der schlimmen Stelle vorbeikamen, schien ihnen das, im Gegensatz zu ihm, nichts auszumachen. Damals hatte es einen Hütehund gegeben, der immer einen kaum merklichen Bogen darum gemacht hatte, aber Dillahan wusste stets, weswegen der Hund unruhig war. Auf dem Pfad zur Flussweide bekam ein Kaninchen es mit der Angst zu tun und schoss ins Gehölz, dann ein zweites. Die Mutterschafe auf der Weide blieben gelassen.

Dillahan zählte sie, vierundsiebzig, alle vollzählig vorhanden. Er behielt sie eine Weile im Auge, indem er sich, die Hütehunde zu seinen Füßen, auf das eiserne Tor stützte. Dann ging er weiter und kletterte zu den Hügelweiden hinauf. Er rief die wenigen Kühe herbei, die er der Milch wegen hielt, und langsam kamen sie auf ihn zugetrottet.

Ellie schlug die Bettdecke auf der Seite ihres Mannes zurück, dann auf ihrer Seite. Nachdem sie sich in dem kleinen Badezimmer des Bauernhauses gewaschen hatte, streifte sie sich wieder ihr Nachthemd über, bevor sie den Flur überquerte, obwohl sie wusste, dass sie allein im Haus war. Sie kleidete sich an, kämmte und bürstete sich das Haar und ließ es fürs Erste dabei bewenden. Es war noch früh am Tag.

Um mehrere Jahre jünger als ihr vierschrötiger Mann, hatte sie sich ein gewisses kindliches Verhalten bewahrt. Doch mehr noch und auffälliger als ihre Kindlichkeit zeichnete sie eine anspruchslose Schönheit aus. Sie lag in dem Graublau ihrer Augen, die früher einmal bange geblickt hatten, in dem ruhigen Lächeln, das einmal zögerlich und unsicher gewesen war. Weiches blondes Haar, vordem kaum zu bändigen, war jetzt nach hinten gesteckt, diese Frisur stand ihr am besten. Aber im Bauernhaus, auf dem Hof und im Melkstall, im Holzapfelgarten und auf den Feldern blieb Ellie trotz des Liebreizes, den die Zeit ihr geschenkt hatte, so schüchtern wie einst, da sie als neues Dienstmädchen erstmals den Fuß auf den Hof gesetzt hatte.

Wie an jedem Morgen ließ sie auch an diesem gehärtetes Bratenfett, das sie aus der Schüssel gekratzt hatte, in der Pfanne schmelzen, während sie Messer und Gabeln deckte. Es dauerte noch zwanzig Minuten, bis sie ihren Mann im Hof hörte, bis der Riegel der Küchentür angehoben wurde und er die Milch hereinbrachte. Er sagte, der Bussard kreise wieder. An der Tür zog er seine Gummistiefel aus.

»Ich werd ’ne Weile unten auf der Flussweide sein.« Mit dieser Bemerkung durchbrach er das Schweigen, als sie zu Ende gefrühstückt hatten. Er hatte sich belegte Brote gemacht, die er mitnehmen wollte. Das tat er immer, wenn er vorhatte, den ganzen Tag auf den Feldern zu verbringen. Im Lauf seiner Jahre als Witwer hatte er sich daran gewöhnt, sich Brote zu schmieren – Käse, Tomaten, was es halt so gab. Ellie hatte seine Thermosflasche gefüllt.

»Danke«, sagte er und nahm sie an sich, während sie den Tisch abräumte.

Sie trug das Geschirr zur Spüle, ließ heißes Wasser einlaufen und weichte es ein. Dann rückte sie die Stühle vom Tisch ab, um den unebenen Fußboden besser fegen zu können. Sie stieß den Besen, so weit es ging, unter den Geschirrschrank, um an den Staub heranzukommen, der sich seit dem Vortag dort angesammelt hatte. Den Kehricht fügte sie zu dem Haufen hinzu, den sie vor dem Herd zusammengefegt hatte, dann schob sie alles auf die Schaufel. Obwohl sie ihrem Ehemann den Rücken zukehrte, wusste sie, dass er noch an der Tür stand, als wolle er etwas sagen, als zögere er deswegen. Aber er sagte lediglich:

»Ich werd den ganzen Tag brauchen.«

»Soll ich dir was zu trinken bringen?«

»Ja, später.«

»Gern.« Sie öffnete die obere Klappe des Herds und leerte die Schaufel auf die Kohlen.

»Pass auf, was du tust«, sagte er.

»Hab ich ganz vergessen.« Sie ärgerte sich über sich selbst. Nicht, dass sie vergessen hätte, dass er immer sagte, sie solle nicht die obere Klappe des Rayburn öffnen, vielmehr hatte sie vergessen, dass er noch in der Küche stand. Er bewegte sich stets auf leisen Sohlen: Sie hatte geglaubt, er sei schon im Begriff gewesen, zu gehen, als er sie bat, ihm später etwas zu trinken zu bringen.

»Tut mir leid«, sagte sie und wandte ihm das Gesicht zu.

»Ach, macht nichts. Wenn der Typ von der Versicherung kommt, nimm dir Geld aus dem Buch. Ich weiß nicht – hat er gesagt, an welchem Tag er kommt?«

»Mr Cauley ist immer am zweiten Donnerstag im Monat gekommen.«

»Richtig.« Das werde sich ändern, sagte er, ein Neuer werde sich seinen eigenen Tag aussuchen. »Wenn er heute vorbeischaut, wird er dir sagen, wann.«

»Wenn er es nicht sagt, dann frage ich ihn.«

»Man vermisst ihn, den alten Cauley.«

Die Tür zum Hof schloss sich hinter ihm. Sie hörte, wie der Traktor ansprang, dann fuhr er davon, und sie lauschte dem verhallenden Geräusch. Er war gut zu ihr, störte sich nicht daran, wenn sie Fehler machte, murrte nicht, wenn sie noch nicht alles wusste, da sie sich doch auf dem Bauernhof erst zurechtfinden musste. Das alles sagte sie sich, als sie die eiserne Ringplatte auf den Herd fallen ließ. Sie hängte die Kehrschaufel in den Schrank unter der Treppe, den Kehrbesen daneben. Wie jeden Morgen, selbst wenn es regnete, öffnete sie die beiden Schiebefenster, um kurz Luft hereinzulassen. Sie schob die Keile zwischen Fenster und Rahmen und rückte die Uhr auf dem Geschirrschrank gerade, nachdem sie sie gestellt hatte, weil sie seit gestern zwölf Minuten vorgegangen war. Dann stieg sie auf einen Stuhl, griff nach dem obersten Bord des Geschirrschranks und entnahm den Seiten eines veralteten Old Moore’s Almanac einen Fünfpfundschein für den Versicherungsmann, damit sie, falls er denn kam, nicht vor seinen Augen auf den Stuhl klettern musste.

Die Küche war nicht geräumig. Beherrscht wurde sie von den riesigen Abmessungen des grünen Geschirrschranks und von dem Eichentisch, an dem sämtliche Mahlzeiten eingenommen wurden. Die Küche hatte eine Balkendecke, dunkle Holzbalken mit weißgetünchter Füllung. Alle übrigen Holzarbeiten – Türen, Fensterrahmen und Scheuerleisten – waren in Grün gehalten, passend zum Geschirrschrank. Als Ellie die Küche vor fünf Jahren zum ersten Mal betreten hatte, gefiel sie ihr besser als jede andere Küche, die sie gesehen hatte, ebenso verhielt es sich mit dem gemütlichen engen Wohnzimmer im vorderen Teil des Bauernhauses, in dem zwei Lehnsessel mit Schonbezügen standen, ein Kaminvorsetzer aus Messing mitsamt Kaminbesteck, Zierrat und Fotografien; die Tapeten hatten Blümchenmuster und einen Schmuckfries.