Die Geschichte Jesu für das Verständnis der Gegenwart dargestellt - Prof. Michael Baumgarten - E-Book

Die Geschichte Jesu für das Verständnis der Gegenwart dargestellt E-Book

Prof. Michael Baumgarten

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Beschreibung

Professor Michael Baumgarten versucht in diesem Werk, das aus 27 Vorträgen besteht, die Geschichte Jesu herauszuarbeiten und einen Bezug zur Gegenwart darzustellen. Dabei beleuchtet er nicht nur das Wirken des Erlösers, sondern vor allem auch die letze Woche in Jerusalem, einschließlich des Abendmahls, der Passion, der Kreuzigung und der Auferstehung.

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Seitenzahl: 787

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Die Geschichte Jesu

 

Für das Verständnis der Gegenwart dargestellt

 

MICHAEL BAUMGARTEN

 

 

 

 

 

 

Die Geschichte Jesu, M. Baumgarten

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849662103

 

Der Originaltext dieses Werkes entstammt dem Online-Repositorium www.glaubensstimme.de, die diesen und weitere gemeinfreie Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Wir danken den Machern für diese Arbeit und die Erlaubnis, diese Texte frei zu nutzen. Der Text dieses Werkes folgt der Ausgabe des Jahres 1859.

 

Cover Design : Cropped, 27310 Oudenaarde Sint-Walburgakerk 82 by Paul M.R. Maeyaert - 2011 - PMRMaeyaert, Belgium - CC BY-SA.

https://www.europeana.eu/en/item/2058612/PMRMaeyaert_26e5a0b367ed2a0f0538537312dbf536e67cf268

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Erster Vortrag. - Die Aufgabe.1

Zweiter Vortrag - Stoff und Methode.15

Dritter Vortrag - Der Herold.24

Vierter Vortrag. - Die Weihe.34

Fünfter Vortrag. - Kampf und  Sieg gegen den Widersacher.44

Sechster Vortrag - Die erste Gemeinschaft.59

Siebenter Vortrag. - Das erste Wunderzeichen.75

Achter Vortrag. Das Panier auf dem Berge.87

Neunter Vortrag. Die Seinen nehmen ihn nicht auf.98

Zehnter Vortrag. Die Samariter.109

Elfter Vortrag. Anfang der Feindschaft.120

Zwölfter Vortrag. Der Prophet in Galiläa.131

Dreizehnter Vortrag. Die Wunder.145

Vierzehnter Vortrag. Die zwölf Apostel.159

Fünfzehnter Vortrag. Erfolg  der galiläischen Thätigkeit.174

Sechzehnter Vortrag. Die Kämpfe in Jerusalem.194

Siebenzehnter Vortrag.  Berührung mit den Heiden.208

Achtzehnter Vortrag.  Die letzte Reise nach Jerusalem.221

Neunzehnter Vortrag.  Der Anbruch der letzten Woche.242

Zwanzigster Vortrag. - Einzug in  Jerusalem und Abschied vom Volke.253

Einundzwanzigster Vortrag.  Letztes Passa und Abendmahl.277

Zweiundzwanzigster Vortrag.  Letzte Stunden Jesu mit den Seinen.292

Dreiundzwanzigster Vortrag.  Anfang der Passion.307

Vierundzwanzigster Vortrag.  Vor Pontius Pilatus.324

Fünfundzwanzigster Vortrag. Das Kreuz.338

Sechsundzwanzigster Vortrag. Tod und Grab.362

Siebenundzwanzigster Vortrag.  Der Auferstandene.370

Erster Vortrag. - Die Aufgabe.

Zuvörderst fühle ich mich verpflichtet, Ihnen darüber Rechenschaft zu geben, verehrte Männer und Frauen, wie ich dazu komme, den angekündigten Gegenstand, die Geschichte Jesu, Ihnen vorzutragen. In der Thai ist es ein Wagnis, daß ich als ein Fremdling in Ihrer Mitte mit diesem Gegenstand aufzutreten mich unterfange, denn unleugbar ist dieser Gegenstand, das höchste Problem für den menschlichen Geist. Die versprochene Rechenschaft werde ich Ihnen nun so zu geben suchen, daß ich Ihnen zeige, wie ich einerseits die Schwierigkeiten, die unsere Aufgabe umgeben und ihrer Lösung entgegenstehen, sehr wohl kenne und, ohne mich Selbsttäuschungen hinzugeben, erwogen habe, wie ich aber auch andererseits mit dem vertraut bin, was uns zu Gebote steht, um die uns entgegenstehenden Schwierigkeiten zu überwinden. Mit einem Worte, indem ich Sie in die innere Entstehung dieser Vorlesungen einführe, indem ich, absehend von allen Äußerlichkeiten, die für die Geistesarbeit immer nur zufällig sind, Sie in das Ringen meines eigenen Geistes mit dem erwählten Gegenstand hineinschauen lasse, gebe ich Ihnen auf dein kürzesten Wege die Rechenschaft, die Sie an der Schwelle dieser unserer Gemeinschaft von mir erwarten dürfen, und zugleich die zweckmäßigste Einführung in den Gegenstand selbst, der vor uns liegt.

Der Gegenstand dieser Vorlesungen, sagte ich, sei für den menschlichen Geist das höchste Problem. Davon können wir uns leicht überzeugen. Die Geschichte Jesu zu erfassen und für den Gedanken verständlich zu machen, darnach ringen die erleuchtetsten Männer der Wissenschaft seit Jahrhunderten und auch diejenigen, die im dunklen Drange nach der höchsten Wahrheit trachten, ohne ihr Ziel klar vor Augen zu haben, meinen im letzten Grunde nichts Anderes, als das Geheimnis dieser Geschichte. Die Kunst, seit sie aus ihrem Schlummer während der Verwirrung der Völkerwelt wieder erwacht ist, ist in ihren begabtesten und begeistertsten Meistern unablässig bemüht gewesen, vorzugsweise diese Geschichte zur Anschauung zu bringen. Und die Andacht der ganzen christlichen Welt, die Inbrunst des Glaubens und der Liebe, diese reinste Flamme in dem Heiligthum der Menschheit, wem anders gilt sie, als dem heiligen Namen, der in der evangelischen Geschichte offenbaret ist? In der That, das Höchste und Tiefste, das Gewaltigste und das Zarteste, was die Menschheit aus ihrem innersten und eigensten Wesen hervorgebracht, es ist nichts Anderes, als der Kranz, der sich um diesen heiligen Namen und seine Geschichte windet. Und fragen wir nun, haben die Gedanken der Wissenschaft die Grenzen des Gegenstandes umspannt und begriffen, so daß derselbe nun in dem Verständnis der Menschheit für immer eine allgemein gültige und correcte Bezeichnung gefunden hätte? Hat die Kunst den letzten Punkt ihres höchsten Ideals erreicht, so daß sie nach ihrem vollendeten Tagewerk nun Sabbat halten könnte? Hat die Innigkeit der Liebe und die Kraft des Glaubens, die sich an diesem Namen entzündet, sich selber jemals befriedigt und genug gethan? Wir wissen, daß dies Alles nicht der Fall ist. Bei jedem weiteren Vordringen der forschenden Gedanken thun sich neue Tiefen und Geheimnisse auf, bei jedem Fortschritt, den die Kunst auf ihrem Wege macht, wächst zugleich die Einsicht in die Unerreichbarkeit des Ideals; und blicken wir hinein in die geheimen Kammern der Andacht und Liebesglut und in die verborgene Werkstatt der Glaubensarbeit, da sehen wir erst vollends, wie jede Höhe, die erreicht ist, nur dazu dient und führt, in immer tieferer und bewußterer Demuth sich zu beugen vor dem Namen, der über alle Namen ist im Himmel und auf Erden. Soll ich Ihnen ein Bild vorführen, so verweise ich Sie auf das Himmelsgewölbe, das Bild der räumlichen Unendlichkeit. Je mehr wir uns in den Anblick der Himmel versenken und vertiefen, desto weiter entzieht sich uns die Vorstellung einer Schranke und Grenze. Wir schauen durch das künstliche Rohr, wir vernehmen die ungeheuren Zahlen der berechnenden Wissenschaft, die Vorstellung der räumlichen Unendlichkeit gewinnt dadurch mehr Gestalt und Fülle, aber dies Alles dient nur dazu, daß wir das Ziel, diese Vorstellung, diesen Gedanken wirklich zu vollziehen, nur weiter entrückt finden. Ebenso ist es mit der Unendlichkeit in der Geschichte Jesu. Indessen ist dies Bild nur zur Hälfte richtig, denn wäre es ganz entsprechend, so würde ich wenigstens nicht den Muth finden, Ihnen diesen Gegenstand vorzutragen. Die Vorstellung der unendlichen Räumlichkeit hat allerdings eine gewisse Wahrheit für unseren Verstand, wir würden sonst nicht einmal den Namen dafür haben, es hat diese Vorstellung für uns auch eine Anschaulichkeit und zwar in der Gestalt der erhabenen und erhebenden Schönheit des Himmels und seines Heeres. Allein die Wahrheit dieser Vorstellung, die Bedeutung dieser Anschauung bleibt uns immer mit einer gewissen Ferne, Fremdheit und Kälte behaftet, denn die Wirklichkeit, die unser ganzes Leben umschließt und die uns innerlich als eine nothwendige und unser Wesen bedingende zum Bewußtsein kommt, ist eine andere und entgegengesetzte. Fassen wir die Wirklichkeit unseres Lebens scharf ins Auge, so ist die Basis unserer ganzen Existenz zunächst die Leiblichkeit und diese ist wesentlich mit Gebundenheit, Beschränktheit und Gehemmtheit behaftet, und erweitern wir dieses Bewußtsein, so ist die äußerste Peripherie die Gesamtheit der Erde, die aber von dem Himmel durch eine unübersteigbare Kluft geschieden ist. Diesem einfachsten und allgemeinsten Grundbewußtsein unserer Wirklichkeit gegenüber ist die Vorstellung und Anschauung der räumlichen Unendlichkeit eben so niederdrückend wie erhebend, ja eben so vernichtend wie belebend, das Selbstbewußtsein unserer leiblichen und irdischen Beschränktheit kommt mit dem Gedanken der räumlichen Unendlichkeit in eine peinliche und tödtliche Spannung. Wäre demnach die Unendlichkeit in der Geschichte Jesu von derselben Art, so müßte man nothwendig nach einem Höheren sich umsehen, welches die beiden Seiten dieses Gegensatzes zu überwinden und zu einigen vermöchte. Aber von dieser Seite betrachtet ist die Unendlichkeit in dem Leben Jesu eine ganz verschiedene. Schon der äußere Anblick ist wesentlich anders, denn hier ist Alles beschlossen in dem Raum einer irdischen und menschlichen Leiblichkeit, wie die bekannte apostolische Aussage: „das Wort ward Fleisch“ dieses auf das Bestimmteste und Unzweideutigste zusammenfaßt. Dieses Zeugnis des heiligen Johannes besagt nämlich, daß die Unendlichkeit, welche er als den vorweltlichen und göttlichen Grund aller Dinge beschreibt, in die Basis unserer irdisch-leiblichen Wirklichkeit eingegangen sei und sich mit derselben identifiziert habe. Ist nun dem wirklich so, so werden wir uns nicht zu verwundern haben, daß die göttliche Unendlichkeit wiederum aus dieser Stäte des Fleisches hervorleuchtet und ausstrahlet; aber zugleich wissen wir nun, daß das Fleisch nicht bloß der Ort und die Gelegenheit dieser Offenbarung der göttlichen Unendlichkeit ist, sondern recht eigentlich das Organ und Werkzeug dieser Offenbarung. Hier ist also Himmlisches und Irdisches, Göttliches und Menschliches, Unendliches und Endliches, Ewiges und Zeitliches in einander und der Boden der Ausgleichung dieser Gegensätze ist eben diese unsere irdische Leiblichkeit und eben darum ist diese Ausgleichung der Gegensätze nicht etwa eine bloß logische und gedankenmäßige, sondern vielmehr eine wirkliche und thatsächliche und hat diese Ausgleichung einen realen. Vorgang oder ein wirkliches Geschehen und ist demnach selber eine Geschichte, nämlich die Geschichte Jesu. Darin ist uns aber zugleich klar, daß die Vergegenwärtigung der Unendlichkeit in der Aufgabe, die wir uns gestellt haben, nichts Abschreckendes für uns haben kann. Diese Unendlichkeit nämlich, weil sie in unsere eigene Endlichkeit und Beschränktheit eingegangen ist, gewährt so zu sagen in allen ihren Erscheinungen und Stufen für uns einen Ruhepunkt der höchsten Genüge und Befriedigung. Es hat demnach diese uns bedrohende Schwierigkeit nur auf den ersten Anblick etwas Abschreckendes, näher betrachtet dagegen liegt in ihr eine anspannende Kraft.

Aber wir dürfen auf diesem Wege noch einen Schritt weiter gehen. Der unendliche Inhalt in der Geschichte Jesu bietet nicht bloß für unser Verständnis die Möglichkeit der Aufschließung dar, sondern es besteht sogar eine sittliche Nothwendigkeit für uns, diesen Inhalt in uns aufzunehmen. Die unendliche Lebensfülle, welche in der Geschichte Jesu beschlossen ist, hat zu der Menschheit sowohl eine universale als eine centrale Beziehung, und zwar, da die Menschheit nicht eine Masse von Einzelnen ist, sondern ein einheitlicher Organismus, so schließt die erste Beziehung die zweite in sich und ebenso umgekehrt. Wenn wir nämlich die Menschheit als ein Ganzes betrachten, so findet sich in ihr eine leere Stäte, diese Stäte ist der Ort des Thrones der Menschheit. Es gibt zwar in der natürlichen Menschheit einen Ort, der ursprünglich für diesen Thron angelegt und bestimmt ist, dieser Ort ist die eigenthümliche Stellung und Würde des ersten Menschen, und allerdings beruht die Einheit des menschlichen Geschlechts in allen seinen Gliedern auf dem natürlichen Zusammenhang mit dem ersten Menschen und es bildet dieser demnach wirklich das Haupt der gesamten natürlichen Menschheit. Aber es bedarf nur einer geringen Beobachtung, um zu erkennen, daß das Natürliche die Einheit des Menschengeschlechtes nicht vollenden kann, mithin für die wahre Beherrschung die Basis des Ganzen nicht bilden kann, weil das Natürliche, so lange es in sich bleibt, wie es denn wirklich in Adam für sich geblieben ist, und anstatt aufwärts sich zu erheben vielmehr niederwärts gegangen ist, nur eine vorübergehende Verbindung zwischen den Menschen begründen kann, schließlich aber recht eigentlich zum Princip der Trennung wird. Die Menschheit also in Adam angeschaut hat zwar die Bestimmung zur Einheit, in Wirklichkeit aber fällt sie auseinander und es bleibt also für die zusammenhaltende und beherrschende Macht innerhalb ihrer eine leere Stätte. Diese leere Stätte der gesamten Menschheit ist für Jesus und Jesus ist für diesen Thron des menschlichen Geschlechts. Alles also, was in der Menschheit nach Einheit strebt, und das ist eben das wahrhaft Menschliche, dieses Alles ist auf Jesum angelegt und Jesus ist es, der sich als das Ziel dieses menschheitlichen Suchens und Strebens erweist. Es gibt demnach eine Prädestination der Menschheit auf Jesum und eben diese Prädestination ist die wesentliche Bestimmung der Menschheit, und gleicherweise ist Jesus die Erfüllung und Verwirklichung dieser Prädestination und außerdem ist er Nichts und will er Nichts sein. Die Menschheit und Jesus treffen demnach auf allen Punkten zusammen und können sich nimmer verfehlen. Das nennen wir die universale Beziehung der Menschheit zu Jesu und darin liegt nicht bloß die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit des Verständnisses der Geschichte Jesu. Daß dieses Universale in Jesu aber zugleich central ist, erweist sich in der Beziehung Jesu zu dem einzelnen Menschen. Während wir das Universale am anschaulichsten erkennen aus der Geschichte der Völker, wird uns das Centrale aus dem Selbstbewußtsein des Einzelnen am deutlichsten. In jeder Seele gibt es einen Ort, der für den Namen Jesu bereitet ist, und ebenso gewiß als dieser Ort der tiefste und geheimnisvollste Mittelpunkt alles Seelenlebens ist, ebenso gewiß kann derselbe durch nichts Anderes erfüllet werden. Bleibt die Seele von diesem Namen geschieden, so ist das Gefühl der peinlichen und tödtlichen Leerheit unvermeidlich, nimmt dagegen die Seele diesen Namen auf, so zieht in sie ein das Bewußtsein der ewigen Lebensfülle. Diese centrale Beziehung des menschlichen Herzens zu Jesu prägt sich am unmittelbarsten und allgemein verständlichsten aus bei den Kindern. Kinder haben bekanntlich eine große Vorliebe für Märchen, diese seltsame Zwittergestalt zwischen Wirklichkeit und Unmöglichkeit

Sollen wir nun sagen, die Kinder lieben diese Erzählungen, weil sie noch nicht unterscheiden und auch das Unmögliche für Wirklichkeit hinnehmen? Diese Erklärung würde höchstens ein etwaiges Hindernis dieser Vorliebe der Kinder beseitigen, die Vorliebe selber würde sie nicht deutlich machen. Diese Vorliebe kann wohl nicht leicht auf etwas Anderem beruhen, als weil die Kinder ein großes Verlangen haben, Etwas zu hören und zu sehen, was nicht gebunden ist an die Weise und Art der gewöhnlichen Wirklichkeit und doch sich mit diesen irdischen Dingen recht intim einläßt und befaßt; während die Seele der Erwachsenen sich nur allzu häufig und allzu willig in das Joch der irdischen Wirklichkeit und Plattheit einfangen läßt, so daß sie sich kaum mehr zu etwas Anderem als Greifbarem und Sichtbarem erheben kann, steht der Kindersinn der Schwelle, wo Himmlisches und Irdisches, Göttliches und Menschliches sich scheidet, näher, er athmet noch in der Morgenluft eines überirdischen Geheimnisses und deshalb wird ihm wohl, wenn man ihm Gebilde vorhält, die aus irdischen und himmlischen Elementen frei und wundersam zusammengewoben sind. Nun ist aber das Märchen so zu sagen der Traum der heiligen Geschichte, was im Märchen regellos mit Hülfe der Phantasie durch einander spielt, ist in der heiligen Geschichte durch Gottes Hand in den festen Grenzen einer wunderbaren Wirklichkeit zusammengefaßt. Daher meint die Vorliebe der Kinder für das Märchen im letzten Grunde und eigentlich die heilige Geschichte und diejenigen verstehen und behandeln diesen Sinn richtig, welche ihn vornehmlich durch das Vorführen der heiligen Geschichte zu befriedigen suchen. Mittelpunkt und Licht der heiligen Geschichte ist aber die Geschichte Jesu. Eben dies bewährt sich an den Kindern immerfort auf die unverkennbarste Weise. Wenn man ihnen die Geschichte Jesu richtig, d. h. eben als Geschichte vorträgt, so gibt es schlechterdings Nichts, was sich so tief und fest der Seele einsenkt, wie eben dieser Inhalt.

So mag es denn immerhin sein, daß wir in der Geschichte Jesu unter lauter Geheimnissen wandeln, deren Höhe und Tiefe, deren Länge und Breite unermeßlich ist, diese Geheimnisse sind nicht schreckende Abgründe und in kalter Ferne und Fremdheit abgeschlossene Höhen, sondern diese Geheimnisse thun ihre ewigen Tiefen auf und hauchen uns an mit wunderbarer Zuthunlichkeit und Heimlichkeit, mit göttlicher, heiliger Lebenskraft. Auf diese göttliche Anziehungskraft, auf diese wunderbare Unvermeidlichkeit und Unentfliehbarkeit, auf diese universale und centrale Macht des heiligen Namens, dessen Geschichte ich Ihnen erzählen will, baue ich meinen Entschluß.

Mit dem Gesagten habe ich Ihnen aber erst im Allgemeinen die Schwierigkeit, welche auf der Behandlung unseres Gegenstandes liegt, gezeigt, sowie auch nur im Allgemeinen auf die Möglichkeit einer Überwindung dieser Schwierigkeit hingewiesen. Wenn wir aber unsere Gegenwart, in der wir mit einander stehen, berücksichtigen, so stellen sich noch besondere Hemmungen heraus, die uns auf unserem Wege aufhalten. Auch über diese muß ich Ihnen Rechenschaft geben und zwar so, daß ich Sie zugleich auf die in unserer Zeit liegenden Forderungen aufmerksam mache, welche, wenn wir sie richtig gebrauchen, jenen Hemmungen das Gegengewicht halten. Zuerst treten uns entgegen zwei schlimme Feinde, die darum so stark sind, weil sie mit einander in einem inneren Bunde stehen: sie heißen Zerstreutheit des Lebens und Verwirrung des Sinnes. Das äußere Leben bietet gegenwärtig eine so bunte Mannigfaltigkeit, eine so rapide Abwechselung, eine so sich drängende Aufregung und Anspannung dar, wie niemals zuvor. In einer Weltstadt wie Hamburg versteht dies Jeder, der seinen Sinn offen hat, und gibt es willig zu. Diese Gestalt des Lebens finden wir vor, sie ist ohne uns und vor uns da, wir können Nichts davon und Nichts dazu thun. Wie schicken wir uns nun in diese zerstreuende Gestalt der uns umgebenden Welt? Das ist wohl einleuchtend, daß wenn die Einheit und der Zusammenhang unseres Lebens unter dieser unendlichen Mannigfaltigkeit von Anregungen zum Genießen wie zum Handeln nicht Schaden nehmen soll, so muß unser innerer Sinn in sich selber so fest und seiner selbst gewiß und mächtig sein, daß er durch die ganze bunte uns umwogende Mannigfaltigkeit hindurchgehen kann, ohne sich selber zu verlieren, dann würde er im Stande sein, aus Allem und dem Verschiedensten Förderung und Gewinn des eigenen Lebens zu ziehen, wie die Biene auch aus den Giftblumen ihren Honig saugt. Aber ach! wo finden wir diese Festigkeit und Sicherheit des inneren Sinnes? Achten wir auf die innere Welt der Gedanken und der Geister, so werden alle Tieferblickenden gestehen müssen, daß die innere Welt unserer Gegenwart ein noch verwirrteres Chaos darbietet, als die äußere Welt. Sehen wir von denen ab, die in Allem nur sich selber meinen und suchen, die daher auf irgendwelche geistige Bedeutung und Selbstständigkeit keinerlei Anspruch haben, sehen wir auf die Verständigeren und Besseren, so sind sie in kleinere und größere Parteien zerklüftet und diese Parteien stehen in leidenschaftlichem Antagonismus wider einander. Das ist aber noch nicht das Schlimmste, die eigenthümliche Signatur unserer geistigen Gegenwart besteht unter Anderem auch darin, daß die Parteien in ihrem eigensten Bereich nicht konsequent sind, es fehlt ihnen an festen Leitern und ausgeprägten Charakteren, daher begegnet es ihnen nicht selten, daß sie nicht bloß ihr Eigenes vertreten, sondern gelegentlich auch einmal das Entgegengesetzte. So fehlt es also in unseren Tagen an dem nöthigen und heilsamen Gegengewicht gegen die unendliche Zerstreutheit des äußeren Lebens, es herrscht vielmehr allgemein eine große Verwirrtheit des inneren Sinnes, es dringt daher die bunte Mannigfaltigkeit der Welt des sich überstürzenden Genießens und der ruhelosen Vielgeschäftigkeit immerdar mit Ungestüm in diese innere Verwirrung hinein und steigert dieselbe immer mehr. Andererseits besteht die Zerstreutheit unserer Gegenwart eben darin, daß das äußere Leben in weitem Umfange seine festen Marksteine und Schranken verloren hat und sich ebendeshalb die innere Verwirrung an dem äußeren Leben nur sehr schwer zu orientieren vermag; im Gegentheil tauchen aus den unheimlichen Tiefen der inneren Unruhe immer neue Mittel und Wege auf, auch die äußere Gestalt des menschlichen Gemeinschaftslebens immer mehr zu verwildern. Also ein wahrer Strudel innerer Verwirrtheit und äußerer Zerstreutheit ist es, worin wir uns gestellt erkennen müssen und nicht ohne Schrecken kann ich an das Wort des Dichters denken:

Im Sturm die Sonne spiegelt nicht

Im Meer ihr heilig Angesicht.

Denn der heilige Gegenstand, den ich Ihnen vorzutragen Willens bin, verlangt unerbittlich große Ruhe, innere Klarheit und Sammlung; er ist wie ein Meisterbild ohne Rahmen, welches nur für den sinnigen und kundigen Beobachter da ist, dagegen dem flüchtigen und zerstreuten Sinn seine Herrlichkeit beharrlich verschließt. Unser Gegenstand bietet nichts Pikantes und Interessantes, was auch die Zerstreutheit zur Aufmerksamkeit zu zwingen vermöchte, er verschmäht durchaus alle Reizmittel, welche geeignet sind, auch verstimmten Sinn zu fesseln. In der That ist dieses große Mißverhältnis unseres heiligen Gegenstandes zu der Unruhe und Zerstreutheit unserer Gegenwart ein mächtiges Hindernis auf dem Wege, den wir mit einander betreten wollen. Und leider ist dieses Hemmnis nicht das einzige, welches der Charakter unserer Zeit uns entgegensetzt.

Ein zweites großes Hemmnis ist der allgemein verbreitete Zweifel an der Geschichtlichkeit der evangelischen Berichte über Jesu Leben. Diesen Zweifel dürfen wir hier um so weniger außer Acht lassen, da derselbe, wie er sich in der Neuzeit entwickelt hat, hier in Hamburg seinen ersten und determiniertesten Ausdruck gefunden hat. Er ist seitdem groß gezogen und hat in einem bekannten neueren Werke eine Art von systematischer Ausbildung und Begründung erfahren. Nach dieser Lehre ist abgesehen von einem sehr dürftigen geschichtlichen Kern das Meiste und Wichtigste, was die Evangelien berichten, das Gebilde späterer Phantasie, nämlich Mythus, Legende oder Sage der christlichen Gemeinschaft in ihrer Urzeit. Von dieser mythischen Auffassung der evangelischen Erzählung ist nun Manches in die Kreise der Gebildeten unserer Zeit übergegangen und beherrscht die Gedanken mit einem mehr oder minder ausgebildeten Vorurtheil gegen die Wahrheit der evangelischen Urkunden. Es gibt nun einen Zweig der wissenschaftlichen Thätigkeit, der sich recht eigentlich mit der Würdigung dieser Zweifel und Vorurtheile beschäftigt. So wichtig und nothwendig aber diese theologische Arbeit ist, so erlaubt es uns weder Zeit noch Ort, in diese Arbeit einzutreten. Freilich stände es nun so, daß diese Bedenken und Vorurtheile, wie sie aus allgemein vernünftigen und geschichtlichen Gründen hervorgegangen, so auch, wenn sie überhaupt der Widerlegung benöthigt wären, mit allgemein vernünftigen und geschichtlichen Gründen besiegt werden müßten, so könnten wir allerdings in unseren Gegenstand gar nicht eintreten, ehe wir diese Vorarbeit mit einander überwunden und hinter uns gebracht hätten. Allein Lessing hat schon ganz richtig erkannt, daß die Wurzel dieser Zweifel durch allgemeine Gründe und historische Beweismittel überall nicht ausgerottet werden könne; ich füge hinzu, das ist darum unmöglich, weil diese Wurzel tiefer liegt, als diese Beweisführung reicht. Das Wesentliche dieser Irrthümer muß entweder vor dem Lichte des evangelischen Inhaltes selber verschwinden oder es ist ein Schatten, den die genannten Beweisthümer nicht zu beschwören vermögen. Demnach muß es eine Möglichkeit und eine Berechtigung geben, den Inhalt der Geschichte Jesu in sich selber darzustellen, ohne daß es nöthig ist, die erwähnte Vorarbeit jedesmal aufzunehmen. Um so weniger wir aber Gelegenheit haben, mit den Gründen und Gegengründen dieser Zweifel im Ganzen wie im Einzelnen uns eigens auseinanderzusetzen, um so mehr ist es Pflicht, hier im Vorwege der allgemein vorhandenen Thatsache dieses Zweifels ins Angesicht zu schauen. Obgleich der Zweifel so ziemlich eine und dieselbe Gestalt, ein und dasselbe Kleid hat, so ist doch seine innere Natur sehr verschieden. Es gibt einen Zweifel, der die Wahrheit liebt und sucht, und einen Zweifel, der die Wahrheit fürchtet und flieht; die Verschiedenheit dieser beiden Arten des Zweifels muß heraustreten, wenn dieselben der Offenbarung der Wahrheit gegenüber gestellt werden, in diesem Falle wird der wahrheitsuchende Zweifel die Wahrheit umfassen und sich selber in Gewißheit auflösen, dagegen wird der wahrheitsscheue Zweifel sich in sich selber verfesten und sich zum bewußten Haß der Wahrheit ausgestalten. Den ersten Zweifel weisen wir nicht ab, sondern laden ihn im Gegentheil zur strengen und gewissenhaften Prüfung ein; indem wir den Gegenstand der evangelischen Berichte in seinem eigenen Lichte hinstellen, eröffnen wir ihm damit die Möglichkeit, seiner eigenen Unruhe und Pein ledig zu werden. Diese Rücksicht auf den gewissenhaften Zweifel ist darum nicht ein Seitenweg für uns, sondern liegt recht eigentlich auf unserer Bahn, weil wir auch dem Glauben das Ansinnen stellen, sich nie und nirgends auf Vorausgesetztes und Angenommenes zurückzuziehen und auszuruhen, sondern in sich das Vermögen zu haben und zu wecken, mit immer neuer Kraft und immer gesteigerter Fähigkeit die Wahrheit immer völliger zu erfassen und immer tiefer in sich aufzunehmen. Auf diese Weise sind wir Alle, Glaubende und Zweifelnde, hier auf einem Wege und meine Rede kann trotz der Verschiedenheiten und Gegensätze unter uns ihren einheitlichen Ton und Charakter bewahren. Hätte nun der Zweifel in unserer Gegenwart überall den oben bezeichneten ernsten Charakter und wäre Alles, was sich an Vorurtheilen über die mythische und sagenhafte Natur der Evangelien in unserem Bewußtsein findet, dieser suchenden Art des Zweifels verwandt, so würde ich von dem Zweifel nicht viel Aufhebens machen und ihn keineswegs als ein mächtiges Hindernis auf unserem Wege bezeichnen. Aber sehr selten erscheint der ernste Zweifel in unseren Tagen in reiner Gestalt, in der Regel ist ihm jener andere Zweifel, der sceptische und wahrheitsflüchtige Zweifel beigemischt. Denn diese schlimme Art des Zweifels gehört recht eigentlich zu den Krankheitserscheinungen unserer Gegenwart; er ist im Grunde, während er sich gebärdet als eine große Kraft und hohe Bildung des Geistes, eine krankhafte Scheu und Flucht vor dem Ernst des Lebens und dieser Leichtsinn liegt in der geistigen Atmosphäre der Zeit. Je ernster nun der Gegenstand ist, dem man gegenübergestellt wird, desto mehr offenbart sich dieser leichtsinnige Zweifel. Das aber fühlt Jeder mehr oder weniger deutlich, daß in der Geschichte Jesu aller Ernst des Lebens seinen Höhepunkt hat. Es ist deshalb natürlich und nothwendig, daß diesem Gegenstande gegenüber jener Zweifel all seine Kraft und Kunst zusammenzunehmen sucht. Freilich wird aus dem hellen Haufen derer, denen von diesen Zweifeleien an aller Wahrheit des evangelischen Berichtes die ganze Seele angefüllt ist, nicht leicht Einer hier sein, denn diese lieben es nicht, in so ernster Umgebung zu sein, und so brauche ich mich allerdings nicht damit zu quälen, wie ich den offenbar und durch und durch Zweifelsüchtigen möge die Geschichte Jesu nahe bringen. Allein diese Seuche der Zweifelei ist in unserer Zeit so verbreitet und so tief gewurzelt, daß auch die Gläubigen davon ergriffen sind, ja es gibt nicht Wenige, welche sich selbst starkgläubig dünken und noch mehr Anderen diesen Eindruck ihrer Starkgläubigkeit beizubringen lieben und dessenungeachtet ganz innerlich, großentheils ohne selbst im Klaren darüber zu sein, von unzähligen Zweifeleien hin- und hergezerrt werden. Es ist dies nicht jener ernste Kampf des Glaubens mit seinen inneren Feinden, den unser Luther uns oft so ergreifend schildert: denn dieses Ringen mit dem ernsten Zweifel ist an sich schon der Zweifel eines mündigen Glaubens und weil er zum Siegen führt, ist er zugleich die Erneuerung des Glaubens aus einer Kraft zur anderen. Ganz anders ist es mit dem flatterhaften, leichtfertigen Wesen der Zweifelei, die in der gegenwärtigen Unfertigkeit unserer Gedanken liegt. Es ist nicht der Anfall von gewaltigen Geistern, die den Menschen zu Boden werfen sondern das Necken und Zerren von Gespenstern und Kobolden, welche jeden Ernst des Geistes verscheuchen wollen, und wir Weichlinge sind so schwachmüthig, daß wir uns jeden Augenblick unsere Gedanken durch diese kleinen Dämonen verwirren lassen. Je näher wir nun einem solchen heiligen und gewaltigen Ernst von Thatsachen, wie er in der Geschichte Jesu vorliegt, gerückt werden, desto geschäftiger sind diese kleinen Irrgeister, allerlei Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zweifels aufzuwühlen und gleichsam einen Wall zu bilden zwischen uns und diesen Thatsachen, damit uns nur ja Alles eher widerfahre, als von der Gewalt dieser Thatsachen überwunden und in den beseligenden Lebenskreis derselben versetzt zu werden. Da nun aber diese Vorträge keine andere Absicht haben, als jede Scheidewand zwischen uns und den evangelischen Thatsachen hinwegzuräumen, so daß unsere Gedanken mit denselben Eins werden und zusammenwachsen, so begreift es sich, daß diese Seuche und Schwächlichkeit unserer geistigen Stimmung mir als ein großes Hindernis entgegentritt.

Ich könnte nun noch manches Andere aus unserer Gegenwart nennen, was mir im Wege liegt, aber ich will bei dem Erwähnten stehen bleiben und die beiden genannten Hemmnisse sind ausreichend, um mich zaghaft zu machen, und ich weiß es, dieses Gefühl der Schwierigkeit der Aufgabe wird mich im weiteren Verlauf noch oft überfallen. Wenn ich nun dennoch meine Aufgabe mit getrostem Muthe angreife, so bin ich schuldig zu sagen, was ich denn jenen Hindernissen entgegenzusetzen habe. Der ganzen Erwägung der Schwierigkeiten, die in unserer Gegenwart liegen, setze ich zunächst und zuerst immer das entgegen, daß Jesus der verlorenen Welt dereinst erschienen ist als der einige und ewige Retter und Heiland. Darin ist enthalten, daß so lange die Weltzeiten laufen, keine Zeit so versunken ist, daß ihr nicht könne durch diesen Namen aufgeholfen werden, und weiter, daß je rettungsloser eine Zeit in sich selber ist, sie um desto mehr dieses einzigen Retters und Heilandes bedürftig ist. Das aber, wodurch Jesus die Welt rettet, ist eben seine Selbstdarstellung, in welcher all sein Wirken und Leiden beschlossen ist, also die Geschichte, in welcher seine Persönlichkeit Anfang Mitte und Ende ist. Nichts ist daher einer in sich heillosen Zeit nöthiger und heilsamer, als die Vergegenwärtigung dieser Geschichte, in welcher für alle Zeiten das einige und ausreichende Heilmittel geschaffen ist. Es mag also unsere Gegenwart so verwirrt und so krank sein, als sie immer will, zuletzt darf uns dieses nicht abhalten und abschrecken, sondern muß uns im Gegentheil antreiben, Alles aufzubieten, um durch alle Vorhöfe und Vorhänge hindurchzudringen und in das Allerheiligste der Geschichte Jesu einzugehen.

Wer aber mit diesem Auge der Liebe, die Alles hofft und nie verzagt, in die Weltzeiten hineinschaut, dem wird es auch gegeben, nicht bloß die Hemmnisse, die in jeder Zeit dem Glauben entgegenstehen, zu entdecken, sondern auch die Anknüpfungspunkte, die gleichfalls in keiner Zeit gänzlich fehlen, um das in Christo beschlossene Heil der Welt zu erkennen und aufzunehmen. Diesem Auge der hoffenden Liebe zeigt sich auch, daß es in unserer Gegenwart dicht neben jenen Hemmnissen solche Forderungen gibt und eben diese mache ich zu meinen Bundesgenossen und biete sie gegen jene Feinde aus. Als solche Forderungen und Bundesgenossen, welche diese unsere Gegenwart in sich hat, mache ich zwei namhaft. Zuerst nenne ich den in unserer Zeit eigenthümlich ausgeprägten Sinn für das Kleine. Der Sinn für das Kleine liegt sehr nahe neben dem Kleinlichkeitssinn, ist aber durch eine scharfe Linie von ihm geschieden, wie das Kindliche sich von dem Kindischen und das Weibliche von dem Weibischen unterscheidet. Der Kleinlichkeitssinn, der allerdings auch eine Zeitkrankheit ist, schließt das Große aus und ist für alles Große schlechthin stumpf und unempfänglich. Dagegen ist der Sinn für das Kleine nur eine besondere Art des Sinnes für das Große, nämlich für das Große im Kleinen. In einem vollendeten Kunstwerk ist das Kleinste in dem Geist und Stil des Ganzen gearbeitet. Der richtige Sinn für das Kleine erkennt und erfaßt nun in dem kleinsten Theil immer das Ganze und Große. Daß dieser Sinn in unserer Zeit eigenthümlich ausgebildet ist, dafür will ich mich auf einige Erscheinungen des gegenwärtigen Geisteslebens berufen. Ich nenne zuvörderst einen Schriftsteller, der einen Leserkreis hat, wie vielleicht kein Zweiter in Europa, Charles Dickens. Ist es das Überraschende seines Witzes, womit er seine Leser fesselt? Ich glaube nicht, daß darin die Hauptstärke dieses Schriftstellers liegt, sondern der Kern seiner schriftstellerischen Virtuosität erscheint mir die eminente Begabtheit für die Erfassung, das Verständnis und die Darstellung des Kleinen im Menschenleben zu sein. Die feinfühlende Belauschung gerade der unscheinbarsten Züge des individuellen Lebens und die sichere und tactfeste Zurückführung dieser kleinen Dinge auf ihre geheimen Gründe und Zusammenhänge, eben dies scheint mir den eigentlichen Werth seiner Schilderungen und Darstellungen auszumachen. Ferner erinnere ich an die Nationalökonomie, eine Wissenschaft, die zu den jüngsten gehört und sich gegenwärtig einer besonderen Pflege und Blüte erfreut. Diese Wissenschaft beruht einem wesentlichen Theile nach auf dem Sinne für das Kleine und Unscheinbare in dem sozialen und nationalen Leben; ja sie ist eben deshalb so spät entstanden, weil sie in dem, was man seit lange gar nicht beachtete oder für völlig regellos hielt, durch verschärften Blick Gesetz und Ordnung entdeckte. Endlich berufe ich mich auf den gegenwärtigen Stand der Philosophie. Die Zeit des großartigen Systembaues ist einstweilen vorüber, aber zum Glück ist damit die Philosophie selbst noch nicht begraben. Diese ernste Werkstatt des strengen Denkens hat auch in unserer Zeit ihre Meister und Jünger. Auch in dieser Geistesthätigkeit unserer Gegenwart finde ich den Sinn für das Kleine, denn ein Hauptzug des gegenwärtigen Philosophierens scheint mir die mikroskopische Reflexion über die verborgenen Anfänge und Gesetze des Seins, des Denkens und Lebens zu sein. Genug es gibt in unserer Zeit einen sich deutlich kundgebenden Sinn für das Kleine. An diesen Sinn appelliere ich für die Darstellung des heiligen Gegenstandes, den ich mir erwählt habe. Alles, was ich Ihnen vorzutragen habe, ist von einem engen Raume umgrenzt und es macht gar keine Schwierigkeit, daran vorüberzugehen, ohne Kenntnis davon zu nehmen; wer zumal gewöhnt ist an die großen Dimensionen der Weltgeschichte, hat nicht geringe Mühe sich zu denken, daß hier überhaupt etwas Beachtenswerthes vorgehen kann. Der. Schauplatz, auf dem sich unsere Geschichte bewegt, ist ein abgelegener und ziemlich eingeschlossener Winkel der Erde, das Volk, in dessen Mitte unsere Geschichte sich begibt, spielt in dem großen Drama der Völkergeschichte keine Hauptrolle und ist zudem in der Zeit, die uns beschäftigt, längst von seiner Höhe und Blüte heruntergekommen. Und selbst auf diesem entlegenen Schauplatz, unter solch geringer Umgebung ist die Geschichte Jesu etwas so Unscheinbares und Geringes, daß der jüdische Geschichtsschreiber, der die Ereignisse der Gleichzeitigkeit ausführlich beschrieben hat, sich kaum veranlaßt gefunden hat, den Namen Jesu mit einigen Strichen in sein großes Geschichtswerk einzutragen. Wer also nichts Großes kennt, als was sich breit und hoch zu machen versteht, für den ist diese Geschichte verloren; wer dagegen auch in dem Kleinen das Große zu entdecken fähig ist, der hat hier nicht bloß Gelegenheit diesen Sinn zu üben, sondern findet hier eine Befriedigung, wie nirgends sonst. Denn hier ist auf allen Punkten das Geheimnis des Größesten und Höchsten in dem Kleinsten und Geringsten beschlossen und dieses Gesetz ist hier so durchwaltend, daß man sagen muß, der Sinn für das Kleine sei auch sonst und überall eine gute und heilsame Ausrüstung des menschlichen Geistes, in dem Verständnis der Geschichte Jesu aber finde er seine höchste und letzte Bestimmung. Darum sei unsere Zeit gesegnet, weil ihr dieser Sinn in so hohem Grade innewohnt. Wenn unsere Zeit diese ihre Gabe für die höchste Bestimmung derselben, für die, Betrachtung der Geschichte Jesu mit Ernst und Hingebung wollte gebrauchen, so könnte sie von ihrer heillosen Zerstreutheit und Verwirrung erlöst werden. Wenn wir mit aufgeschlossenem Sinn für das Kleine herantreten an die Geschichte Jesu und sie von Anfang bis Ende begleiten, so werden wir finden und erfahren, daß es wahr ist, was Jesus von sich bekennt: „ich bin der Weg und die Wahrheit.“ Dann finden wir für die Zerstreutheit und Zusammenhangslosigkeit unseres Lebens nicht bloß einen Weg, sondern den Weg, den einzig richtigen und geraden, der durch die ganze Welt der bunten und mannigfaltigen Dinge hindurchführt zu dem ewigen Ziele. Eben so finden wir in ihm die Wahrheit, den Angelpunkt und den Zusammenhalt, der alle Verwirrung des inneren Sinnes in eine klare und feste Einheit des geistigen Lebens aufhebt.

Als einen zweiten Bundesgenossen für unser gemeinsames Werk bezeichne ich den geschichtlichen Sinn, der unsere Gegenwart auszeichnet. Die französische Revolution versuchte nach dem Bankerott der bisherigen geschichtlichen Entwickelung einen Neubau mit Hülfe des abstrakten Gedankens. Dieser Bau stürzte und bedeckte Europa mit seinen Trümmern, und wir stehen noch unter der erschütternden Macht dieser Ereignisse. Seitdem ist für alle Verständigen die Macht des abstrakten Gedankens und der luftigen Phantasterei gebrochen und die bessere Menschheit besinnt sich seitdem wieder auf ihre Geschichte. Ich berufe mich auf die ausgezeichneten Leistungen der Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung in der neueren und neuesten Zeit. Ich meine damit an diesem Orte nicht sowohl den Fleiß, die Gelehrtenarbeit, die Tüchtigkeit und Kraft der Verstandesthätigkeit, die Reinheit und Schönheit des Stiles sondern vornehmlich den sittlichen Ernst, dem allein das Innere der Geschichte sich enthüllt. Der geschichtliche Sinn findet sich aber keineswegs bloß bei den Historikern von Fach, sondern er wird immer mehr ein Grundzug der gegenwärtigen Wissenschaft in allen Zweigen, ja der gesamten ernsteren und bewußteren Geistesbildung unserer Tage. Jeder, der sich ein wenig umsteht und über den Geist der Gegenwart orientiert, wird dies in immer anderen und neuen Zügen bestätigt finden. Diesen geschichtlichen Sinn und Ernst, der in allen besseren Geistern unserer Zeitgenossen Wurzel geschlagen, biete ich auf gegen jene kritisch sich gebärdende Zweifelsucht, welche die Zuversicht zu der evangelischen Geschichte, angefochten hat. Denn hier ist Geschichte, deren Thatsächlichkeit sich jedem ernsten und unbefangenen Geschichtssinn durch sich selber bewähren wird, ja hier ist mehr, hier ist diejenige Geschichte, welche je mehr der geschichtliche Sinn und das geschichtliche Verständnis einzudringen sucht, sich nicht nur als den Grund- und Eckstein aller Menschengeschichte, sondern auch als das Licht alles geschichtlichen Verständnisses immer deutlicher und unzweifelhafter ausweist. Wenn der Sinn für geschichtlichen Ernst sich vertieft in den Inhalt dieser heiligen Geschichte, welche das Thema dieser Vorträge ist, so wird zugleich jene krankhafte Zweifelsucht innerlich überwunden, indem das Leben dadurch einen völlig befriedigenden Inhalt erlangt, der jener müßigen und weichlichen Zweifeln Luft und Nahrung benimmt. Denn Jesus sagt nicht bloß: „ich bin der Weg und die Wahrheit“, sondern er sagt auch „ich bin das Leben.“ Somit kehrt die Erwägung der geistigen Beschaffenheit unserer Gegenwart in Ansehung unseres Gegenstandes in ihren Anfang zurück und schließt sich die Zeitbetrachtung, welche wir angestellt, mit unserer allgemeinen Betrachtung über die Bedingungen eines Verständnisses der Geschichte Jesu zusammen. Den Eindruck wollte ich durch diese vorläufigen Bemerkungen hervorgerufen haben, daß ich nicht unüberlegt in diese große und heilige Sache eintrete. Wenn ich nun dieses Vertrauen durch diese Einleitung, wie ich nicht zweifle, mir erworben habe, so darf ich hoffen, daß der weitere Fortgang dieser Vorträge solches Vertrauen durch sich selber bewähren werde.

 

 

Zweiter Vortrag - Stoff und Methode.

 

Nachdem wir zuvörderst eine Selbstbesinnung über unsere Aufgabe mit einander angestellt und uns die Schwierigkeiten, die vor uns liegen, sowie die Möglichkeit, dieselben zu überwinden, klar gemacht, wird für unseren Zweck zur weiteren Einleitung nichts Anderes nöthig sein, als daß wir uns über den Stoff und die Methode dieser unserer Aufgabe verständigen.

Diese vorläufige Verständigung über den Stoff, der vor uns liegt werden wir am einfachsten erreichen, wenn wir uns die Bezeichnung für den Inhalt dieser Vorlesungen klar machen. Für die zusammenfassende Behandlung des in unseren kanonischen Evangelien enthaltenen Geschichtsinhalts ist eine zwiefache Benennung gebräuchlich und herkömmlich: nämlich „Leben Jesu“ oder „Geschichte Jesu“. Der erstere Name hat aber in der neuesten Zeit im Sprachgebrauch den Vorrang gewonnen, seitdem Schleiermacher anfing, über die evangelische Geschichte Vorlesungen zu halten, und diese Vorlesungen Leben Jesu nannte. Ich entscheide mich gegen diese geläufigere Bezeichnung und wähle die seltenere, nicht Leben Jesu nenne ich diese Vorträge, sondern Geschichte Jesu. Ich unterscheide nämlich folgendermaßen: die Einzelgeschichte eines Mannes heißt Leben dieses oder jenes, wenn man in der Darstellung bei dem individuellen Gesichtspunkt stehen bleibt, entweder weil dieser Inhalt keinen nationalen und universalen Standpunkt zuläßt oder weil man von dieser Beziehung absehen will, dagegen nennt man denselben Inhalt Geschichte dieses oder jenes, wenn man den Genannten als ein integrierendes Moment seiner Zeitgeschichte betrachtet. Bei dieser Unterscheidung wird es sich nun so stellen, daß es geschichtliche Individuen gibt, bei denen man die Wahl hat, ob man den einen oder den anderen Standpunkt nehmen will, dagegen wird es andere geben, bei denen entweder nur der individuelle Gesichtspunkt oder auch nur der nationale und universale Gesichtspunkt zulässig erscheint. Ich weiß zwar sehr wohl, daß der Sprachgebrauch, sei es nun der antike oder der moderne, diese meine Unterscheidung keineswegs deckt, indessen gegen die Richtigkeit und Statthaftigkeit dieser Unterscheidung dürfte sich kaum etwas Wesentliches einwenden lassen und sodann schließt sich dieselbe ohne Zweifel an die Wortbedeutung der beiden Bezeichnungen sprachgemäß an, so daß man hoffen darf, es werde sich bei der gegenwärtigen Aufgewecktheit des geschichtlichen Sinnes der Sprachgebrauch allmählig fester und correcter gestalten. Also mit Bewußtsein und eben in dem genannten Sinne wähle ich die Bezeichnung „Geschichte Jesu“; ja ich gehe noch einen Schritt weiter: ich behaupte, der vorliegende Fall ist von der Art, daß nur die Benennung Geschichte statthaft, dagegen die andere Benennung Leben hier unanwendbar ist.

Wo Goethe einmal von dem erziehenden Einfluß der israelitischen Geschichte redet, macht er die Bemerkung, daß die Gestalt Jesu sich von dem Charakter der alttestamentlichen Geschichte strenge absondere, indem das Leben Jesu einen durchaus privatlichen und rein familiären Eindruck mache. Diese Bemerkung ist fein und auch in gewissem Maße richtig. Das ganze Gewicht dieser Bemerkung wird uns aber erst fühlbar, wenn wir uns den Charakter des antiken Lebens überhaupt klar machen.

Es besteht nämlich ein großer Unterschied und Gegensatz zwischen antikem und modernem Leben. Das müssen wir uns gegenwärtig halten, wenn wir den Boden der alten Geschichte betreten; wir gewinnen sonst nirgends eine klare Anschauung. Der Schwerpunkt der Neuzeit liegt in dem Individuum und im Hause, der Schwerpunkt der Altzeit in dem Volke und dem Staate. Dieser Unterschied gestaltet sich aber gegensätzlich: das Individuelle und Familiäre der Neuzeit wird zum Individualismus und Familiarismus, nämlich zur künstlichen und naturwidrigen Ausschließung und Versperrung des Nationalen und Politischen, und ebenso leidet das Alterthum an Nationalismus und Politicismus, nämlich an gewaltsamer Beeinträchtigung des Individuellen und Familiären. Dieser äußerste Kontrast ist allerdings die Spitze und die Höhe, aber von da aus will auch das Gewöhnliche und Allgemeine erfaßt und gewürdigt sein. Versuchen wir uns diesen Unterschied in einzelnen Zügen etwas näher zu bringen. Unter den Hellenen erreichte bekanntlich die Geistesbildung ihre höchste Vollendung und zwar innerhalb dieses Volkes vor Allem in Athen. Die Koryphäen der attischen Kunst und Wissenschaft sind uns Allen bekannt. Hier werden wir nun eingeführt in die geheime Werkstatt des inneren Denkens und Bildens. Und dennoch finden wir die Meisten auf diesem Gebiete des geheimen und in sich gekehrten Geisteslebens in einem thätigen und ernsthaften Verhältnis zum öffentlichen Gemeinwesen. Aischylos hielt den Ruhm, beim marathonischen Walde gegen die Meder gefochten zu haben, für höher als die Ehre des dreizehnmaligen Preises seiner Tragödie. Sokrates hat nicht bloß das Prytanenamt verwaltet, sondern auch in drei Feldzügen sich den Ruhm eines muthigen Kriegers erworben. Und als Platon für eine Besserung des heimischen Staatswesens keine Hülfe mehr sah, hat er nicht bloß den großartigen Entwurf eines idealen Staates ausgeführt, sondern sich auch mit auswärtigen Fürsten in ernsthafte Verhältnisse eingelassen, um die Schäden des Staatswesens praktisch zu bessern. Wir finden hier also das Denken und Dichten in thatsächlichem Einklang zum öffentlichen Leben. Denselben Eindruck erhalten wir auch, wenn wir das israelitische Alterthum ansehen. Die Heroen des Glaubens und Bekenntnisses sind Gesetzgeber, Heerführer, Richter, Könige, Volksredner, Staatsmänner, sie Alle haben einen öffentlichen Charakter, eine öffentliche Thätigkeit. Das israelitische Wesen aber unterscheidet sich von dem übrigen Alterthum darin, daß das Individuelle und Häusliche von dem Nationalen und Politischen nicht verdrängt und aufgehoben wird; freilich nicht so, daß für das Individuelle und Familiäre eine besondere Stäte neben und außer dem Gemeinwesen ausgeschieden würde, sondern so, daß es in dem Gemeinwesen erhalten, bewährt und vollendet wird. So ist wenigstens die Anlage des Ganzen gehalten. Dies wird ermöglicht durch die göttliche Stiftung und Führung des israelitischen Volks- und Reichswesens. Demosthenes und Cato Uticensis sahen, nachdem sie den Untergang ihres Staates und Volkes erlebt hatten, keine Möglichkeit einer individuellen Existenz. Die rechten Israeliten empfinden den Zusammenhang des individuellen Lebens mit dem nationalen nicht weniger tief und entschieden: auch Mose, Elia und Jona wünschen sich den Tod, sobald sie den Bestand ihres Volkes mit dem Untergang bedroht erblicken. Daß diese nicht Hand an sich legen, beruht nicht darauf, daß sie sich schließlich doch mit ihrer individuellen Existenz ohne Zusammenhang mit dem Gemeinwesen begnügt hätten, sondern lediglich darauf, daß die Hoffnung auf die Fortexistenz ihres Volkes auch wider Hoffnung in ihnen wieder lebendig gemacht wird.

Achten wir nun auf diesen nationalen und öffentlichen Charakter des Alterthums und namentlich auch des israelitischen, so werden wir jene Bemerkung Goethe s leicht verstehen. Der nächste Eindruck, den die Persönlichkeit Jesu auf uns macht, ist der eines Privatlebens oder höchstens des Familienlebens; es erscheint uns dieses Leben als ein stilles Heiligthum, welches gegen die Unruhe und das Getümmel des nationalen und öffentlichen Wesens abgeschlossen ist; allerdings sehen wir schließlich, daß ein Conflict von Seiten des öffentlichen Wesens eintritt, aber diese Wahrnehmung scheint uns in dieser unserer Auffassung nur bestärken zu können, denn dieser Conflict schlägt ja eben zur Zerstörung dieses stillen und abgeschlossenen Heiligthums aus und muß demnach wohl das öffentliche Wesen in einem radicalen Gegensatz zu diesem Leben stehen, mithin dieses Leben mit jenem auch gar Nichts gemein haben. Wir erinnern uns endlich daran, daß auch die einzelnen Reden und Handlungen Jesu vorzugsweise den einzelnen Menschen oder höchstens den häuslichen Kreis ins Auge fassen. Und dennoch sagen wir nicht: „Leben Jesu“, sondern „Geschichte Jesu“, und zwar darum, weil diese ganze Auffassung, so scheinbar, so verbreitet und eingewurzelt sie ist, dennoch in die Mitte und in das eigentliche Wesen der Sache nicht eindringt. Wir haben uns bei unserem Gegenstande von vornherein und alles Ernstes vor dem Augenschein zu hüten, nirgends täuscht der Schein so leicht und so sehr, wie auf diesem heiligsten Gebiete aller Geschichte, In der That hat jene Außenseite des Lebens Jesu eine ganz andere Innenseite, als man nach der oberflächlichen Auffassung von jener seiner äußeren Erscheinung anzunehmen pflegt. Dafür ist eben schon seine amtliche Bezeichnung hinlängliche Bürgschaft. Nach seinem amtlichen Charakter heißt Jesus der Christ und diese Bezeichnung ist von Anfang so innig und wesentlich mit seinem Namen verbunden, daß sie allein genügt, um ihn selbst zu unterscheiden und zu kennzeichnen. Es kann also diese Bezeichnung nicht etwa nur dieses und jenes an ihm aussprechen, sondern muß seine persönliche Individualität einschließen. Es muß demnach seine Amtlichkeit, die in jener Bezeichnung ausgesprochen ist, seine ganze Persönlichkeit durchdringen. Nun aber heißt er bekanntlich Christus, weil er der gesalbte König und das geweihte Haupt feines Volkes ist. Demnach muß die Beziehung zu dem israelitischen Volk und Reich in seinem ganzen Leben etwas Durchgreifendes und wesentlich Konstituierendes sein, und wer bei der Betrachtung seines Lebens davon absehen wollte, könnte dieses Leben in seinem Zusammenhange unmöglich verstehen. Um die Verborgenheit und Innerlichkeit des Lebens Jesu nicht als eine Abweisung und Verachtung des Nationalen und Öffentlichen zu fassen, brauchen wir nur einen Blick zu thun in die Weltlage, in welche das Leben Jesu eintritt. Es ist die Zeit, in welcher sich zeigt, daß alle Mittel und Wege des nationalen und öffentlichen Lebens verbraucht und abgenutzt sind, und zwar, weil sich allenthalben gezeigt hat, daß in den Einzelnen und namentlich in den Leitern des Gemeinwesens die reine göttliche Kraft nicht vorhanden war, welche allein im Stande ist, die allgemeine Verderbtheit zu brechen und, wie Platon einmal sagt, „ein Vorbild und einen Anfang der Gerechtigkeit“ wiederum aufzurichten. Der Abbruch des nationalen und politischen Wesens hat allenthalben in Israel nicht minder wie bei den Heiden bereits begonnen und die Zeichen des nahenden Untergangs brechen an allen Enden hervor. In diesen allgemeinen Ruin der Völkerwelt tritt Jesus hinein und er ist es, der diesen Zustand der Welt zu einer großen Zeitwende umschafft und zwar in sich selber und durch sich selber. Denn die vorhandenen Mittel und die gegebenen Dinge, auf denen die Ordnung und der Bestand des nationalen und gemeinen Wesens beruht hat, sind verderbt und unbrauchbar geworden, wer mit diesen noch einen neuen Versuch machen wollte, hätte das innere Wesen dieser Zeit nicht verstanden gehabt. Aber eben so wenig gibt Jesus in Verzagtheit und Selbstsucht das gemeine Wesen seines Volkes auf, wie es Philo und Josephus thaten und wie es bei den späteren Gelehrten und Schriftstellern der Heiden allgemein der Fall war. Sondern er verlegt den Schwerpunkt aller nationalen und politischen Dinge aus der Außenwelt in die Innenwelt, er verlegt ihn dahin wieder zurück, wohin er von Gott Ursprünglich gestellt ist. In der stillen Verborgenheit und Heimlichkeit seines Wirkens und Leidens schafft er ewige unvergängliche Kräfte zur Neubelebung und Neubildung der Völker und Staaten, schafft er die Möglichkeit einer Erneuerung von Zeit und Welt. Wir werden uns überzeugen, daß wir sein Leben und Wirken überall nur in der engsten und durchgreifendsten Beziehung zu dem Volks- und Reichswesen zu verstehen vermögen. Und darum, wenn es irgendwo eine Nöthigung gibt, das Leben eines Einzelnen im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte zu erfassen und dasselbe demnach als Geschichte dieses Einzelnen zu begreifen und zu bezeichnen, so ist diese Nöthigung hier vorhanden. Wir betonen deshalb diese Bezeichnung Geschichte Jesu von vornherein und wollen mit dieser Benennung unseres Gegenstandes von allem Anfange her einer irrigen Auffassung vorbeugen.

Es gibt aber noch einen anderen Grund, der freilich mit dem eben entwickelten zusammenhängt, aber doch auch abgesehen von diesem betrachtet werden kann, und dieser Grund ist auch in sich selbst angesehen schon ausreichend, um der gewöhnlichen Bezeichnung Leben Jesu die unsrige vorzuziehen. In der gewöhnlichen Bezeichnung nämlich wird das spezifische Moment des Todes Jesu ganz außer Acht gelassen und das ist ein nicht zu duldender Mangel. Sonst nämlich ist der Tod wie das Ende des Lebens so das Ende des Wirkens, hier dagegen ist der Tod die höchste Steigerung und Vollendung des Wirkens. Was ich oben den letzten Conflict nannte und lediglich nach seiner Außenseite als den tödtlichen Gegensatz des öffentlichen Wesens mit dem Leben Jesu bezeichnete, damit verhält es sich eigentlich so, daß das wahre und ewige Reichswesen, welches Jesus in sich selber herstellt und in seiner Rede offenbart, den Gegensatz des falschen und widergöttlichen Reiches in der Welt herausfordert und ans Licht bringt, und wenn das für Jesum einen tödtlichen Ausgang nimmt, so ist das nichts Anderes, als daß er den Willen seines Reiches behauptet und festhält auch gegen die höchste und letzte Gewalt des Weltreiches, damit aber eben seinen Willen durchsetzt, indem er eben damit sein Reich gründet mitten in der Welt und zwar an einem Ort, zu welchem die Gewalt des Weltreiches keinen Zugang hat. Sein Sterben ist demnach das Vollenden seiner Reichsstiftung und sein Tod bleibt die ewige Basis seines herrlichen Thrones. Also auch in diesem Betracht müssen wir unseren Gegenstand nicht Leben Jesu, sondern Geschichte Jesu nennen.

Indem wir nun somit die richtige Benennung unseres Gegenstandes begründet haben, haben wir zugleich den nöthigen Vorbegriff über unseren Stoff gewonnen. Und ebenso werden wir an der Hand dieser richtigen Benennung uns am leichtesten über die Methode der Behandlung orientieren. Die Methode ist nämlich wesentlich dadurch bedingt, daß wir strenge festhalten: das, was uns vorliegt, ist Geschichte im vollen und wahren Sinne des Wortes. In der gewöhnlichen Behandlung dieses Stoffes fehlt sowohl Einheit wie Bewegung, welches beides wesentlicher Charakter jeder wahren Geschichte ist. In dem Maße als eine Geschichte bedeutend ist, in demselben Maße erhebt sie alle Einzelheiten ihrer Umgebung in einen einheitlichen Punkt, in demselben Maße werden alle scheinbaren Zufälligkeiten in ihrem Bereich in das Licht eines abgeschlossenen Zusammenhangs gestellt. Hier handelt es sich nun um das wahre Centrum aller Geschichte, um den ewigen Eckstein des ganzen Baues der Menschheitsgeschichte. Es wird demnach die Aufgabe sein, alle in Betracht kommenden Einzelheiten und Zufälligkeiten als Bestandtheile des einheitlichen Ganzen zu erfassen. Insbesondere aber wird es nothwendig sein, eine solche Kluft, wie sie in der gewöhnlichen Auffassung zwischen dem Wirken und dem Leiden Jesu angenommen wird, so weit aufzuheben, daß wir in beiden den einheitlichen Willen erkennen, was nur so wird geschehen können, daß wir im Wirken nicht das Leiden und im Leiden nicht das Wirken übersehen. Eben so wesentlich aber als die Einheit der Geschichte, ganz eben so wesentlich ist ihr auch die Bewegung. Denn in dem Geschehen, welches ja eben die lebendige Seele der Geschichte ist, ist eine Veränderung des Seins und diese Veränderung ist nicht bloß kein Schein, also eine bloße Veränderung der Oberfläche, sondern eine innere wesenhafte Fortbewegung der Dinge. Ohne dieses würden wir gar in die Nothwendigkeit kommen, von Geschichte reden zu müssen. Was nun in dieser Beziehung von Geschichte überhaupt gilt, erreicht hier wiederum seine höchste Steigerung. Es ist anerkannt, daß diese Geschichte die ganze Welt aus den Angeln gehoben und in eine neue Bahn geleitet hat. Diese absolut bewegende Einwirkung dieser Geschichte auf den ganzen Bestand der Welt ist aber nicht ein mechanischer Stoß, sondern lediglich die Fortsetzung der Selbstbewegung, die in dieser Geschichte selber beschlossen ist. Es ist also wiederum der Mangel an geschichtlicher Methode, wenn die Bewegung, welche schlechterdings in aller Geschichte ohne Gleichen ist, in der Geschichte Jesu nicht zum Vorschein kommt. Entweder man betont einseitig das Göttliche in Jesu, dann haben wir das Ziel gleich am Anfange, oder man hält sich einseitig an das Menschliche, dann kommt man über den Anfang nicht hinaus und in beiden Fällen kommt es nicht zu einer wirklichen Bewegung. Geschichtliche Persönlichkeiten sind solche, welche ihre Umgebung von innen heraus in Bewegung setzen. Dies erreichen sie aber nur so, daß sie die Dimensionen, welche sich später äußerlich herausstellen, zuvor innerlich durchmessen. Diese ihre innere Selbstbewegung ist die Kraft und Ursache der Außenbewegung; je größer nun die Dimensionen der geschichtlich sich herausstellenden Bewegung sind und je tiefer das Gebiet liegt, auf welchem die Bewegung erfolgt, desto energischer muß die innere Spannkraft und die innere Selbstbewegung der geschichtlichen Persönlichkeiten gesetzt werden. Diese Spannkraft und Selbstbewegung in ihrer verborgenen Werkstatt erkennen, heißt die Geschichte in ihrer Bewegung verstehen. Da nun die Wirkung derjenigen Geschichte, welche wir betrachten, nicht bloß die tiefste und höchste ist, die wir überall kennen, sondern auch eine Steigerung dieser Wirkung von uns gar nicht einmal mehr gedacht werden kann, so müssen wir auch hier das absolut höchste Maß von innerer Kraft und Selbstbewegung voraussetzen und nur das kann die richtige und wahre Darstellung der Geschichte Jesu sein, welche uns dieses aufzeigt.

Das Ziel unserer Behandlung wird also sein, daß wir die Einheit in der Bewegung und die Bewegung in der Einheit erfassen müssen. Wie geschieht das? Erreichen wir das durch bloße Denkthätigkeit? In jeder Geschichte liegen allerdings Gedanken und darum kann ohne dieselben die Geschichte nicht verstanden werden, aber man hüte sich vor dem Wahne, durch ein bloßes Nachdenken über die in den Thatsachen enthaltenen Gedanken eine Geschichte erfaßt zu haben! Welcher Wahn übrigens in Bezug auf die heilige Geschichte und die Geschichte Jesu gar nicht selten ist. So wenig die Vorgedanken die That ersetzen können, ehe sie geschehen ist, so wenig reichen die Nachgedanken in die eigentliche Tiefe, aus welcher Geschichte hervorgeht. Zunächst sind die Gedanken der Geschichte nicht mehr bloß geistig, sondern sie sind greifbar und sichtbar, sie haben sich mit den Stoffen der Erde vermählt, sie wollen also schon aus diesem Grunde jedenfalls nicht bloß gedacht, sondern auch geschaut werden. Indessen die Gestalten der Geschichte sind nicht mehr gegenwärtig, sie sind überall meistens schon spurlos aus der Sichtbarkeit verschwunden, ihre Anschauung ist also vermittelst des leiblichen Auges nicht möglich, sondern beruht auf dem geistigen Anschauungsvermögen. Aber auch in Verbindung mit dem geistigen Anschauungsvermögen reicht die Denkthätigkeit noch nicht in den Grund der Geschichte. Daß Gedanke und Stoff zu geschichtlichen Gestalten verbunden sind, liegt zuletzt in dem Willen und sittlichen Wesen der handelnden Personen. Da nun in dem sittlichen Wesen der eigentliche Schwerpunkt des Menschen ruht und demnach eben in diesem Gebiete die eigentlichen und schneidenden Gegensätze der verschiedenen Menschen ihre Stäte haben, so ergibt sich daraus der Satz, daß das Verstehen und Erfassen der Geschichte auf sittlicher Homogenität oder auch auf sittlicher Überlegenheit beruht, so daß ein niederer sittlicher Standpunkt wohl von einem höheren begriffen wird, niemals aber umgekehrt. Wir müssen demnach die wahre Behauptung Goethe s: „Geschichte versteht nur, wer Geschichte erlebt hat,“ noch dahin verschärfen, daß das erkannte Subjekt mit dem geschichtlichen Objekt entweder auf demselben sittlichen Standpunkt oder auch auf einem höheren sich befinden muß, oder daß das geschichtliche Selbsterlebnis mit dem geschichtlichen Objekt in einer sittlichen Gleichartigkeit oder Überlegenheit stehen muß.

Es könnte aber scheinen, daß wir durch diese Grundsätze über das Verstehen der Geschichte die Aufgabe unserer Geschichte nur erschweren, ja die Lösung derselben eigentlich unmöglich machen. Denn wer will sich anmaßen, daß er mit Jesu auf dem gleichen sittlichen Boden stehe? Wer muß nicht wie dereinst Petrus vor ihm niederfallen und ausrufen: „Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch“? Beruht also das Verstehen der Geschichte auf der Gleichheit des sittlichen Standpunktes, so bliebe die Geschichte des Heiligen uns den Sündern auf immer verschlossen. Allerdings muß es uns so erscheinen und zwar nicht bloß einmal, sondern immer wieder aufs Neue, aber nicht damit wir diese Aufgabe liegen lassen, sondern damit wir sie richtig erfassen.

Das ist nämlich überall das Erste, daß wir Jesum erkennen und anschauen auf dem Boden der allgemein menschlichen Natur und uns damit in die Gleichheit seines Lebens gestellt erfassen. Diese Gleichheit setzt sich aber sofort um in Ungleichheit; denn Jesum sehen wir in allen Momenten des Lebens gehorsam dem Willen des Vaters und dieser sein Gehorsam, diese seine Gerechtigkeit überführt uns unseres Ungehorsams und unserer Sünde; und zwar so, daß wir eben in dem Gebiete der Gleichheit diesen Gegensatz zwischen Jesu und uns inne werden, denn Jesu Gerechtigkeit und Gehorsam offenbart sich innerhalb des menschlich leiblichen Lebens und eben in diesen unseren leiblichen Gliedmaßen erkennen wir die Werkzeuge unseres sündigen Willens. Diese Gleichheit und Ungleichheit Jesu mit uns ist die Einheit seines Lebens, so erkennen und schauen wir ihn, ob er am See Genezareth steht oder auf Golgatha hängt, und zwar werden wir dieser seiner Einheit inne an dem Orte, wo die unterste Wurzel aller unserer Gewißheit ruht, in unserem eigenen Gewissen. Wir ersehen demnach die Möglichkeit, wie wir zur Auffassung der Einheit in der Geschichte Jesu gelangen können. Diese Einheit Jesu hat aber für uns eben so viel Abstoßendes wie Anziehendes, sie kann also für sich in uns Nichts bewirken und erzeugen. In der That ist sie aber auch niemals und nirgends allein, sondern stets und überall in Bewegung und erst in dieser Bewegung bildet sie die Geschichte Jesu. Die Bewegung durchdringt alle Momente des Lebens Jesu und ist die Kraft und Thätigkeit, die Ungleichheit, in welcher wir zu ihm stehen, zur Gleichheit zu erheben oder unsere sündige Natur, die er zu der seinigen gemacht, zu heiligen, und zwar ist dies nicht etwa nur ein Versuch, sondern dieses Werk vollzieht er in jedem Lebensmoment und vollendet es in seinem Sterben. Darum liegt aber in dieser seiner Sünde und Tod schlechthin übermögenden Selbstbewegung die Kraft der Selbstmittheilung an Alle, die innerhalb der Sünde und des Todes gebunden sind, und demnach die Möglichkeit für Alle, dieser Selbstbewegung Jesu nicht bloß mit ihrer Denkthätigkeit und Phantasie zu folgen, sondern dieselbe vermittelst ihres Willens in sich selbst zu erleben und sie in dieser Selbsterlebung zu verstehen und anzuschauen. So wird also die Ungleichheit, in die wir durch das Anschauen der Einheit Jesu versetzt werden, durch die Mittheilung der Selbstbewegung Jesu in uns selber zu einer Gleichheit hergestellt, wie Jesus zuvor die Welt der Sünde und des Todes auf sich genommen und sie durch den heiligen Willen seines Lebens und Sterbens aus der Gottesferne des Zornes in die Gottesgemeinschaft der Versöhnung und Gnade eingeführt hat. Das ist also das innere Wesen der richtigen Methode unserer Geschichte, daß wir unseren Willen der Kraft der Selbstmittheilung des Willens Jesu hingeben, dann verstehen wir seine Geschichte, zwar nicht auf Grund eines früheren Selbsterlebnisses, sondern auf Grund der durch die ewige Kraft dieser Geschichte augenblicklich und jedesmal erfolgenden Selbsterfahrung. Und auf diesem einzig und allein von der Selbstmacht der Geschichte Jesu gestifteten sittlichen Grunde der überwundenen Ungleichheit und der hergestellten Gleichheit stehend, wird unsere Denkthätigkeit und Phantasie befähigt, den der Geschichte innewohnenden Gedanken zu vollziehen und ihre äußere Gestaltung geistig anzuschauen. Das ist der Weg, die Einheit der Geschichte Jesu in ihrer Bewegung und die Bewegung in ihrer Einheit zu erfassen, und einen anderen Weg kann es nach der Natur der Sache nicht geben.

Auf diesem Wege werden wir auch Nichts gewahr von dem breiten Graben, über den einst Lessing so verzweiflungsvoll geklagt hat und der auch heute Vielen ein großes Hindernis ist. Lessing schreibt nämlich, daß wenn er endlich in Ansehung der evangelischen Geschichte zur Überzeugung gekommen wäre, so sehe er gar keinen Übergang und Zugang zu dem, was die Theologie als Glaubenssätze aufstelle. Und in der That ist es ganz gewöhnlich, daß das Historische und das Dogmatische so weit auseinander gehalten wird, daß streng genommen das Eine das Andere immer ausschließt. Geht man von dem Dogmatischen aus, so wird es mit dem Historischen niemals und nirgends rechter Ernst, geht man dagegen von dem Historischen aus, so gelangt man entweder gar nicht zu dem Dogmatischen oder erreicht es nur vermittelst eines Sprunges. Es ist eine falsche Theologie, welche diese Kluft gemacht und noch fortwährend erhalten hat. In der heiligen Geschichte selber liegt sie nicht, auch findet sie sich nicht in den apostolischen Schriften, noch in der ältesten Kirche, wie das apostolische Glaubensbekenntnis beweist. Dieser ältesten und allein sicheren Spur werden wir folgen und es wird sich uns zeigen, daß Alles, was wir von unserem Herrn Jesu Christo zu glauben haben, in seiner Geschichte enthalten ist, daß aber auch andererseits Alles, was in seiner Geschichte enthalten ist, wesentlich Gegenstand des Glaubens ist und bleiben muß und nimmermehr durch unsere Gedanken, Worte und Werke ersetzt werden kann.

 

 

Dritter Vortrag - Der Herold.

 

„Jesus ist das Licht der Welt.“ So hat er sich selbst genannt und so müssen wir ihn erkennen, sonst haben wir ihn sicher nicht verstanden. Darin liegt aber, daß er in sich selbst erkannt sein will, daß er nicht bloß keiner anderen Beleuchtung bedarf, sondern daß auch jeder Versuch, ihn von Außen her beleuchten zu wollen, zur Verdunkelung seiner Erkenntnis ausschlagen muß. Denn ist er das Licht der Welt, so ist die Welt ohne ihn finster, die Welt ohne ihn ist also in sich selber nicht durchsichtig und verständlich. Demnach ist alle Welterkenntnis in sich selber dunkel und somit im wahren Verstande Mangel an Erkenntnis, mithin völlig untauglich, den zu erleuchten, in dessen Licht die Welt erst in sich selber erkennbar wird. Aber Jesus ist nicht das Licht für die äußere Welt, sondern für die innere Welt, darum kann er die Welt nicht von Außen und von Oben beleuchten, wie die Sonne, sondern er muß in die Welt eintreten. Die innere Welt ist nämlich ein nach Außen abgeschlossenes Reich, in welchem eine Wirkung nur erfolgen kann, die von Innen her erfolgt. Darum kann in diese innere Welt Nichts eintreten und hier Einfluß gewinnen, außer wenn es sich den hier waltenden Gesetzen und Ordnungen unterstellt, und zwar, da dieses Reich fortwährend in Bewegung ist, kann der Eintritt nur erfolgen in strenger Gemäßheit zu der jedesmaligen Lage des Ganzen. In dieser Rücksicht ist eine Beleuchtung der Weltlage erforderlich, um den Eintritt Jesu zu verstehen, mittelst dessen er in die Welt eingeht, um ihr Licht zu sein. Für unseren Zweck genügt es, wenn wir uns Johannes den Täufer, diesen Vorläufer und Herold Jesu, vergegenwärtigen. Diese Persönlichkeit dürfen wir als den Leuchtthurm ansehen, von welchem wir uns über die Lage der Dinge in der Welt, in welche Jesus eintritt, um die Finsternis zu vertreiben, hinlänglich orientieren können.

Johannes ist durch einen himmlischen Boten angekündigt als ein göttliches Rüstzeug, um den Anbruch der endlichen Erfüllung aller Verheißungen Jehovas einzuleiten. Aber nicht bloß der Inhalt dieser göttlichen Botschaft, welche seiner Geburt voraufging, ist vielversprechend, . sondern eben so sehr der Zeitmoment innerhalb der israelitischen Volksgeschichte, in welchem diese Botschaft erfolgt. Diese Botschaft ist die erste himmlische Stimme nach vierhundertjährigem Schweigen Jehovas und sie läßt sich vernehmen in der Stunde, als das Volk während des täglichen Brandopfers und des priesterlichen Räucherns vor dem Heiligthum im Gebete versammelt ist (s. Luk. 1, 10). Es ist also die Ankündigung des Johannes die göttliche Antwort auf das Rufen und Flehen des Volkes in seiner Bedrängnis, welche die Verheißung einschließt, daß sich Jehova aufmacht, um sein Volk schließlich zu erlösen von allen seinen Sünden und Nöthen. Einer so unvergleichlich feierlichen und inhaltsvollen Ankündigung entspricht nun auch die Persönlichkeit und das Wirken Johannes des Täufers. Was seine äußere Erscheinung anlangt, so lebte er von früh an in der Wüste (s. Luk. 1,80), hier machte er sich heimisch von Jugend auf, und als er, in die Mannesreife eingetreten, sein Bußpredigeramt übernahm, war und blieb in der Wüste sein Standort. Und mit dem Charakter dieses Standortes war seine ganze Lebensweise zusammengewachsen: sein Kleid bestand aus Kamelhaaren und sein Gürtel war ein Thierfell, zur Nahrung dienten ihm Heuschrecken und Wildhonig. Dieses sein Eingelebtsein in das Wesen der Wüste ist das Bild seiner inneren Anschauung von dem Charakter seiner Gegenwart, auf welche zu wirken er berufen ist. Die geistige Gegenwart erscheint ihm als eine Wüstenei, in welcher alles Geistesleben auf die dürftigste und kümmerlichste Stufe heruntergekommen ist. Wenn sein Leib in der Wüste des jüdischen Landes seinen Standort hat, so hat seine Seele in der Wüste des jüdischen Volkes ihre Heimat aufgeschlagen. Darum beruht seine Bußpredigt nicht auf irgend welchem Vornehmen, sondern es ist dieselbe eine innere Nothwendigkeit des ganzen Mannes. Die Bußpredigt des Johannes gewinnt schnell, da sie gar nicht lange gewährt haben kann, eine so überwältigende Anziehungskraft, daß das ganze Volk dadurch in Bewegung gesetzt wird. Ganz Judäa, heißt es, und Jerusalem und das Land jenseits des Jordans macht sich auf und geht hinaus zu dem Wüstenprediger, und die Hinströmenden sind aus allen Classen und Ständen des Volkes, wir finden Pharisäer und Sadducäer, Soldaten und Zöllner und selbst Huren werden genannt (s. Matth. 21,32). Was ist es nun, das diese Schaaren aus ihren Häusern, Städten und Flecken in die Wüste führt? Sind es etwa Wunderzeichen? Es wird ausdrücklich bemerkt, daß obwohl Johannes in dem Geiste und in der Kraft des Elia einhergeht, er doch Wunder nicht verrichtet hat (s. Joh. 10, 41).