11,99 €
Mystische Erzählungen voller Weisheit und Tiefe
Mit dichterischem Einfühlungsvermögen erzählt Martin Buber in dieser Auswahl einige der bedeutendsten Geschichten des Rabbi Nachman (1772-1810), einem der letzten großen Vertreter des Chassidismus. Seine Geschichten erzählen vom Ringen der Seele, aufgespannt zwischen irdischer Befangenheit und himmlischer Sehnsucht. Voller Humor und leiser Ironie entfalten sie die zeitlos gültige Weisheit jüdischer Mystik.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 197
Die Geschichten des Rabbi Nachman
Nacherzählt von Martin Buber
Gütersloher Verlagshaus
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
Copyright © 2015 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House GmbH, weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-12988-0
www.gtvh.de
Meinem Großvater Salomon Buber,
dem letzten Meister der alten Haskala,
bringe ich dieses Werk der Chassidut dar
in Ehrfurcht und Liebe.
Inhalt
Vorbemerkung
Rabbi Nachman und die jüdische Mystik
Die jüdische Mystik
Rabbi Nachman von Bratzlaw
Worte des Rabbi Nachman
Die Erzählungen
Die Geschichten des Rabbi Nachman
Die Geschichte von dem Stier und dem Widder
Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohn
Die Geschichte von dem Klugen und dem Einfältigen
Die Geschichte von dem Königssohn und dem Sohn der Magd
Die Geschichte vom Meister des Gebets
Die Geschichte von den sieben Bettlern
Vorbemerkung
Ich habe die Geschichten des Rabbi Nachman nicht übersetzt, sondern ihm nacherzählt, in aller Freiheit, aber aus seinem Geist, wie er mir gegenwärtig ist.
Die Geschichten sind uns in einer Schülerniederschrift erhalten, die die ursprüngliche Erzählung offenbar maßlos entstellt und verzerrt hat. Wie sie uns vorliegen, sind sie verworren, weitschweifig und von unedler Form. Ich war bemüht, alle Elemente der originalen Fabel, die sich mir durch ihre Kraft und Farbigkeit als solche erwiesen, unberührt zu erhalten.
In dem einleitenden Teil habe ich versucht, die Atmosphäre des Buches darzustellen. Der Abschnitt, den ich »Die jüdische Mystik« überschrieben habe, ist demgemäß nur als eine erste und allgemeinste Einführung anzusehen.
S. Dubnow, dem Historiker des Chassidismus, möchte ich auch hier für seine biographischen und bibliographischen Mitteilungen, und M.J. Berdyczewski, dem Erforscher der chassidischen Seele, für seine mannigfachen Anregungen danken.
Martin Buber
Rabbi Nachman und die jüdische Mystik
Die jüdische Mystik
Rabbi Nachman von Bratzlaw, der 1772 geboren wurde und 1810 starb, ist vielleicht der letzte jüdische Mystiker. Er steht am Ende einer ununterbrochenen Überlieferung, deren Anfang wir nicht kennen. Man hat diese Überlieferung lange Zeit zu leugnen gesucht; sie kann heute nicht mehr angezweifelt werden. Man hat nachgewiesen, dass sie von persischen, dann von spätgriechischen, dann von albigensischen Quellen gespeist wurde; sie hat die Kraft des eigenen Stromes behauptet, der allen Zufluss aufnehmen konnte, ohne von ihm bezwungen zu werden. Freilich werden wir sie nicht mehr so ansehen dürfen, wie ihre alten Meister und Jünger es taten: als »Kabbala«, das heißt: als Übergabe der Lehre von Mund zu Ohr und wieder von Mund zu Ohr, in solcher Weise, dass jedes Geschlecht sie empfinge, aber jedes in einer weiteren und reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am Ende der Zeiten die restlose Wahrheit verkündet würde; doch werden wir ihre Einheit, ihre Besonderheit und ihre starke Bedingtheit durch die Art und das Schicksal des Volkes, aus dem sie heraufwuchs, anerkennen müssen.
Die jüdische Mystik mag recht ungleichmäßig erscheinen, oft trübe, zuweilen kleinlich, wenn wir sie an Eckhart, an Plotinos, an Laotse messen; sie wird ihre Brüchigkeit nicht verbergen können, wenn man sie gar neben den Upanischaden betrachten wollte. Sie bleibt die wunderbare Blüte eines uralten Baumes, deren Farbe fast allzu grell, deren Duft fast allzu üppig wirkt, und die doch eines der wenigen Gewächse innerer Seelenweisheit und gesammelter Ekstase ist.
Die mystische Anlage ist den Juden von Urzeiten her eigen, und ihre Äußerungen sind nicht, wie es gewöhnlich geschieht, als eine zeitweilig auftretende bewusste Reaktion gegen die Herrschaft der Verstandesordnung aufzufassen. Es ist eine bedeutsame Eigentümlichkeit des Juden, die sich in den Jahrtausenden kaum gewandelt zu haben scheint, dass sich die Extreme bei ihm aneinander entzünden, schneller und mächtiger, als bei irgendeinem anderen Menschen. So geschieht es, dass mitten in einem unsäglich begrenzten Dasein, ja gerade aus seiner Begrenztheit heraus plötzlich mit einer Gewalt, die nichts zu bändigen versucht, das Schrankenlose hervorbricht und nun die widerstandslos hingegebene Seele regiert. Für diese Macht des Unbegreiflichen in enger Stille mag uns die Gottesvision Elijahus ein Sinnbild sein.
Ein Anderes, Wesentlicheres kam hinzu. Wenn jede Seele sich ihre natürliche Substanz aus den kräftigen, wertbetonten Bildern formt, die sie mit ihren Sinnen aufgenommen und mit ihrem Gefühl gefasst hat, so scheint die arme Seele des Juden dieser natürlichen Substanz arm zu sein. Unvergleichlich mehr motorisch als sensorisch veranlagt, reagiert er auch in seinem ganz innerlichen geistigen Leben sehr viel intensiver, als er empfängt. Er gestaltet das Empfangene mehr zu Wortgedanken, Begriffen, als zu Bildgedanken, Vorstellungen, aus. Den vom Subjekt unabhängigen Gegenständen unendlich fremd, nur für die den Funktionen des Subjektes unterworfenen Gegenstände verständnisvoll (sogar für Spinoza ist die Natur more geometrico darlegbar), existiert der Jude weniger in Substanz als in Relation. Er hat den höchsten Sinn für die allgemeinen und offenbaren, wie für die heimlichen und besonderen Beziehungen des Kosmos und der Psyche und weiß sie in mathematischen Formeln und in logischen Definitionen festzulegen oder in Rhythmen und Melodien auf das Meer der Ewigkeit auszuschicken. Aber er hat einen geringen Sinn für die ganze Wirklichkeit eines Baumes, eines Vogels, eines Menschen, der für sich ein absolutes, unerschöpflich reiches, so geartetes Dasein einschließt. Und sehr selten vermag er schaffend Dinge, Gegenstände, Gestalten sichtbar, greifbar, fühlbar hinzustellen. Und so verläuft auch sein Leben selbst mehr in der Beziehung als in dem Wesen: er opfert sich dem Nutzen hin, wenn er eine enge, er bringt sich einer Idee dar, wenn er eine weite Seele hat; niemals aber oder fast niemals lebt er mit den Dingen, sie geruhig pflegend und fördernd, liebreich zu der Welt und sicher in seinem Bestande.
Es gibt jedoch ein Element, das all dies in gewisser Weise ersetzt, indem es der Seele des Juden einen Kern, eine Sicherheit, eine Substanz gibt, allerdings keine sensorische, objektive, sondern eine motorische, subjektive. Das ist das Pathos. Ich vermag es nicht zu analysieren, noch auch in eine Definition zu fassen. Es ist ein eingeborenes Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des Stammes aus dessen Orte und dessen Geschicke heraus gebildet hat. Will man es immerhin umschreiben, so darf man es vielleicht als das Wollen des Unmöglichen bezeichnen. Es streckt die Arme aus, das Schrankenlose zu umfangen. Es trägt eine schlechthin unerfüllbare Forderung, wie das Pathos Mose und der Propheten die Forderung der absoluten Gerechtigkeit, wie das Pathos Jesu und Pauli die Forderung der absoluten Liebe, oder eine schlechthin unerfüllbare Absicht, wie das Pathos Spinozas die Absicht, das Sein zu formulieren, oder ein schlechthin unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons und der Kabbala das Verlangen nach der Vermählung mit Gott, die im Sohar »Siwwug« genannt wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Dingen keinen Boden finden kann, von ihrer Leere und Unfruchtbarkeit erlöst, indem sie in dem Unmöglichen Wurzel schlägt.
Kommt demnach die Kraft der jüdischen Mystik aus einer ursprünglichen Eigenschaft des Volkes, das sie erzeugt hat, so hat sich ihr des weiteren auch das Schicksal dieses Volkes eingeprägt. Das Wandern und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen immer wieder in die Schwingungen der letzten Verzweiflung versetzt, aus denen so leicht der Blitz der Ekstase erwacht. Zugleich aber haben sie sie gehindert, den reinen Ausdruck der Ekstase auszubauen, und sie verleitet, Notwendiges, Erlebtes mit Überflüssigem, Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem Gefühle, das Eigene vor Pein nicht sagen zu können, am Fremden geschwätzig zu werden. So sind Schriften wie der »Sohar«, das Buch des Glanzes, entstanden, die ein Entzücken und ein Abscheu sind. Mitten unter rohen Anthromorphismen, die durch die allegorische Ausdeutung nicht erträglicher werden, mitten unter öden und farblosen Spekulationen, die in einer verdunkelten, gespreizten Sprache einherstelzen, leuchten wieder und wieder Blicke der verschwiegenen Seelentiefen auf.
Das Pathos erniedrigt sich oft genug zur Rhetorik; diesem Sündenfall waren die Juden von jeher ausgesetzt, und nicht immer bloß die mittelmäßigen. Aber immer wieder macht sich das Pathos frei und ist reiner und größer als zuvor. Am größten, wenn es die Gefahr erkennt, die ihm vom Worte droht. Sich mitteilend, weil es nicht anders kann, fühlt es doch die Unzulänglichkeit aller Mitteilung, fühlt die Unaussprechlichkeit des Erlebnisses, und glüht auf in Angst, von der eigenen Rede geschändet zu werden. »Komm und schau!« heißt es im »Sohar«; »Denken ist der Anfang von allem, was ist; aber also seiend ist es in sich beschlossen und unbekannt … Das wirkliche Denken ist mit dem Nichts verbunden und löst sich nicht von ihm.« Und als ein fremder Greis den Jüngern Simons ben Jochai, des legendären Urmeisters der Kabbala, die Unvergänglichkeit der Energie verkündet – »Nichts fällt ins Leere, auch nicht die Worte und die Stimme des Menschen; alles hat seinen Ort und seine Bestimmung« –, da fahren sie vor ihm zurück, aber sie fürchten nicht für sich, sondern für ihn, der gesprochen hat; sie reden zu ihm: »O Greis, was hast du getan? Hätte es nicht besser getaugt, das Schweigen zu bewahren? Denn nun bist du davongetragen, ohne Segel und Mast, auf einem ungeheuern Meer. Wenn du aufsteigen wolltest, könntest du es nicht mehr, und im Niedersinken findest du den Abgrund ohne Boden.«
In der Zeit des Talmuds war die mystische Lehre noch ein Geheimnis, das man nur einem »Meister in Künsten und kundig des Flüsterns« anvertrauen durfte, und von den Essäern wissen wir aus Josephus, wie sorgsam sie das Mysterium behüteten und die geheimen Schriften, die ihnen als uralt galten. Erst später greift die Lehre über das Gebiet der Sekte und der persönlichen Übergabe hinaus. Die erste uns erhaltene Schrift, das pythagoresierende »Buch der Schöpfung«, ist wahrscheinlich zwischen dem siebenten und dem neunten Jahrhundert entstanden, und der »Sohar« stammt – jedenfalls in seiner jetzigen Redaktion – aus dem Ende des dreizehnten; zwischen beiden liegt die Zeit der eigentlichen Entwicklung der Kabbala. Aber noch lange bleibt die Beschäftigung mit ihr auf enge Kreise beschränkt, mochte sie sich auch über Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland bis nach Ägypten und Palästina erstrecken. All die Zeit bleibt auch die Lehre selbst dem Leben fremd: sie ist Theorie im neoplatonischen Sinn, Gottschauen, und verlangt nichts von der Wirklichkeit menschlichen Daseins; sie fordert nicht, dass man ihr nachlebe, sie hat keine Fühlung mit dem Handeln, das Reich der Wahl, das der späteren jüdischen Mystik, dem Chassidismus, alles bedeutete, ist ihr nicht unmittelbar lebendig; sie ist außermenschlich und berührt sich nur in der Betrachtung der Ekstase mit der seelischen Realität. Sie steht zwei anderen Mächten im Judentum gegenüber, der harten, allem persönlichen Leben feindlichen, um das »Gesetz« besorgten Strenggläubigkeit und dem von Aristoteles bestimmten, naturfernen Rationalismus, aber sie setzt dem Ethos der einen und dem des anderen kein eignes entgegen, und so dringt ihr Sinn nicht ins Volk.
Erst in den letzten Zeiten dieser Epoche werden neue Kräfte offenbar. Die Vertreibung der Juden aus Spanien gab der Kabbala den großen messianischen Zug. Der einzige energische Versuch der Diaspora, im Exil eine kulturschaffende Gemeinschaft und eine Heimat im Geiste zu begründen, hatte in Trümmern und Verzweiflung geendet. Der alte Abgrund tat sich wieder auf, und aus ihm stieg wieder, wie immer, der alte Erlösungstraum empor, ragend und gebieterisch wie nie zuvor seit den Tagen der Römer. Die Sehnsucht brennt: das Absolute muss Wirklichkeit werden. Auch der Messianismus der Juden war von jeher ein Wollen des Unmöglichen. Die Kabbala konnte sich ihm nicht verschließen. Sie nannte das Reich Gottes auf Erden »die Welt der Vollendung«. Sie nahm die Inbrunst des Volkes in sich auf. Und als sie es tat, zog sie im Volk ein, wie der Messias selbst in seiner Stadt.
Die um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts beginnende neue Ära der jüdischen Mystik, die den ethisch-ekstatischen Akt des einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung verkündet, wird durch Isaak Lurja eröffnet. Er, der hundert Jahre vor Locke lehrte, alles Seiende bestehe aus Substanz und Erscheinung und es sei keine objektive Erkenntnis gegeben, war in seinen Gedanken über die Emanation der Welt aus Gott und die demiurgischen Zwischenpotenzen fast durchaus von der älteren Kabbala abhängig; aber in seiner Darstellung der unmittelbaren Wirkung der Menschenseele, die sich läutert und vollendet, auf Gott und Welterlösung gibt er den alten Weisheiten eine neue Gestalt und eine neue Folge.
Schon im Talmud heißt es, der Messias werde kommen, wenn alle Seelen in das leibliche Leben eingetreten sein würden. Die Kabbalisten des Mittelalters glaubten zu erkennen, ob die Seele eines Menschen, der vor ihnen stand, aus der Welt des Ungeborenen in ihn niedergestiegen oder mitten in ihrer Wanderung bei ihm eingekehrt sei. Der Sohar und die spätere Kabbala bauten die Lehre aus, die wir bei Lurja endgültig gefasst finden. Es gibt danach zwei Formen der Metamorphose: den Kreisgang oder die Wanderung, Gilgul, und den Überschwung oder die Schwängerung, Ibbur. Gilgul ist das Eintreten von Seelen, die auf der Fahrt sind, in einen Menschen im Augenblicke seiner Zeugung oder Geburt. Aber auch ein bereits mit einer Seele begabter Mensch kann in irgendeinem Moment seines Lebens eine oder mehrere Seelen empfangen, die sich mit seiner vereinigen, wenn sie mit ihr verwandt, das heißt, aus derselben Ausstrahlung des Urmenschen entstanden sind.
Die Seele eines Toten verbindet sich der eines Lebenden, um ein unvollendetes Werk, das sie im Sterben lassen musste, vollbringen zu können. Ein hoher abgeschiedener Geist steigt in ganzer Lichtfülle oder in einzelnen Strahlen zu einem unfertigen hinab, um bei ihm zu wohnen und ihm zur Vollendung beizustehen. So wird Prophetie geboren. Oder zwei unvollkommene Seelen vereinigen sich, um einander zu ergänzen und zu läutern. Kommt über eine dieser Seelen Schwäche und Hilflosigkeit, dann wird die andere ihre Mutter, trägt sie in ihrem Schoß und nährt sie mit dem eigenen Wesen. Auf allen diesen Wegen vollzieht sich die Reinigung der Seelen von der Urtrübung und die Erlösung der Welt aus der ersten Verwirrung. Ist dieses getan, haben alle die Wegreise vollzogen, dann erst zerbricht die Zeit, und das Gottesreich hebt an. Als letzte steigt die Seele des Messias ins Leben herab. Durch ihn geschieht die Vergöttlichung der Welt.
Lurjas eigentümliche Tat ist, dass er diesen Weltprozess auf die Haltung einiger Menschen stellen wollte. Er verkündete, eine unbedingte Lebensführung derer, die sich der Erlösung weihen, in Tauchbädern und Nachtwachen, in ekstatischer Betrachtung und absoluter Liebe gegen alles und alle, würde die Seelen gleichsam in einem Sturme läutern und das messianische Reich herbeirufen.
Das Grundgefühl, dessen ideelle Äußerung diese Lehre war, fand nahezu hundert Jahre später seinen elementaren Ausdruck in der großen messianischen Bewegung, die den Namen Sabbatai Zewis trägt. Sie war eine Entladung der unbekannten Volkskräfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirklichkeit der Volksseele. Die scheinbar unmittelbaren Werte, das heile Leben und der Besitz, waren plötzlich schal und nichtswürdig geworden, und die Menge vermochte es, diesen zu verlassen wie ein überflüssiges Gerät und jenes nur noch mit leichter Hand zu halten wie ein Gewand, das dem Laufenden entgleitet und das er, wenn es ihn allzusehr hemmt, die Finger öffnend fahren lässt, um nackt und frei das Ziel zu ereilen. Der vermeintlich von der Vernunft regierte Stamm entbrannte im Eifer um die Botschaft.
Auch diese Erhebung brach zusammen, jämmerlicher und entsetzlicher zugleich als irgendeine der früheren. Und nun verinnerlicht sich der Messianismus wieder. Das eigentliche Zeitalter der Mortifikation beginnt. Der Glaube, durch mystische Übung die oberen Welten zwingen zu können, dringt immer tiefer ins Volk ein. Um das Jahr 1700 vollzieht sich jener asketische Zug der Fünfzehnhundert in das heilige Land, der in Tod und Elend aufgeht. Aber auch einzelne bereiten sich in rücksichtsloser Entäußerung vor. In Polen namentlich reift in vielen der Wille, sich und die Welt zu entsühnen. Manche von ihnen ziehen, da keine einzelne Kasteiung ihnen genugtun kann, auf die Wanderung, »in die Verbannung«, wie sie es nennen, nehmen nirgends Speise oder Trank an, und wandern so, von ihrem Willen getragen, bis mit ihrer Kraft auch ihr Leben erlischt und sie an fremdem Ort unter Fremden tot hinfallen.