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Dies ist die Geschichte eines Pinguins, der ein Zuhause bei einem Jungen findet. Der Junge heißt Emanuel. Der Pinguin heißt Aptenodytes Pennantii. Die Geschichte hat mehrere Enden. Ein schlechtes (das aber keiner lesen will). Ein gutes (das jedoch nicht glaubwürdig ist). Und ein wahres: Zu dem tragen außer dem Pinguin auch eine gefräßige Nachbarskatze, eine sommersprossige Aushilfslehrerin und ein mit Fischen gefüllter Seerosenteich bei, und außerdem die Liebe, denn die geht bekanntlich durch den Magen! Christine Nöstlingers augenzwinkernder Klassiker für Groß und Klein, mit vielen Illustrationen von Barbara Jung
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Seitenzahl: 105
Christine Nöstlinger
Die Geschichten von der Geschichte vom Pinguin
Mit Bildern von Barbara Jung
FISCHER E-Books
Es wird einmal ein Pinguin sein, der wird nicht wissen, dass er ein Pinguin ist.
In zwei oder drei Jahren wird das sein. Ganz sicher. Das Leben hat alles daraufhin angelegt. Neun Anzeichen gibt es dafür, und neun Anzeichen sind immer genug, um etwas voraussagen zu können.
Die neun Anzeichen sind:
Emanuel liebt Pinguine.
Emanuels Vater liebt Emanuel.
Die Großtante Alexa sagt zu allem, was an sie herankommt: »Mir soll es recht sein!«
Der zoologische Assistent Schestak hat an seinen Freund Smetana einen Brief geschrieben. (Der Smetana lebt im südlichen Eismeer und forscht dort.) In dem Brief hat der zoologische Assistent Schestak den Freund um Zusendung eines erstklassigen Pinguineies gebeten, weil er es ausbrüten will und seine Bruterfahrungen in der Habilitationsschrift niederschreiben will. (Eine Habilitationsschrift macht aus dem »Herrn Doktor« den »Herrn Dozenten«.)
Der zoologische Assistent Schestak wohnt in Untermiete bei der Frau Siebenbürger, und die ist die Nachbarin von Emanuel, seinem Vater und der Großtante Alexa.
Diese Frau Siebenbürger ist eine verfrorene Person. Nicht nur, dass sie stets drei Paar Wollsocken und dicke Filzpatschen trägt; sie heizt dauernd sieben Öfen. Bei ihr ist es so heiß wie in der Wüste Sahara zu Mittag.
Das zoologische Institut, wo der Assistent Schestak angestellt ist, hat wenig Geld. So wenig Geld, dass die Schlangen zum Nachtmahlessen nur eine halbe Portion Hase bekommen. Demnächst, hat der zoologische Direktor gesagt, wird er einen seiner Assistenten kündigen müssen.
Emanuel liebt Pinguine.
Emanuels Vater liebt Emanuel.
(Die Anzeichen 8 und 9 hatten wir schon am Anfang. Doch die Anzeichen 8 und 9 – oder auch 1 und 2 – sind so wichtig, dass man sie unbedingt doppelt aufzählen muss.)
Die Geschichte vom Pinguin, der nicht wissen wird, dass er ein Pinguin ist, ist also schon so gewiss, dass man nicht mehr zwei oder drei Jahre zuwarten muss, man kann sie gleich jetzt aufschreiben.
Es wird an einem lauwarmen, strahlend blauen Frühlingstag sein. Emanuel wird mit seinem Vater beim Frühstück sitzen. Die Großtante Alexa hat schon vorher gefrühstückt, weil sie immer sehr zeitig aufsteht. Jetzt ist sie gerade beim offenen Fenster und gießt Blumen. Einen Pelargonienstock und einen Maiglöckchenstock. Beide haben noch keine Blüten. Da schreit jemand: »Mein Herr, nicht bei mir! Mein Herr, das geht zu weit! Aber ganz entschieden zu weit! Ich verbitte mir das!«
Eine Frauenstimme ist es, die da schreit. Und die Stimme kommt aus dem Nachbarhaus. Es muss die Stimme der Frau Siebenbürger sein. Aber ganz genau kann man das nicht sagen, denn wenn die Leute schreien, dann verändert sich die Stimme. Und die Frau Siebenbürger hat bisher noch nie laut geschrien. Man kennt ihre Schrei-Stimme also noch nicht.
In den meisten Familien ist es ja so, dass die Großtanten die Neugierigen sind. Oder die Leute, die so alt sind wie Emanuel. Aber in dieser Familie ist das anders: Die Großtante Alexa goss weiter Blumen, und Emanuel stopfte sich weiter Perlzwiebeln in den Mund. (Er aß zum Frühstück immer eine Tasse voll Perlzwiebeln, mit Senf verrührt.) Bloß Emanuels Vater wurde neugierig. Er legte die Honigsemmel weg, stellte die Kakaotasse ab, horchte, stand auf, ging zum Fenster und horchte weiter und fragte: »Was geht der alten Siebenbürger zu weit, was verbittet sie sich?«
Die Großtante Alexa und Emanuel wussten das natürlich nicht. Und weil die Stimme jetzt schon wieder brüllte – »Unerhört, unerhört«, brüllte sie –, so ging Emanuels Vater in den Garten hinaus. Er ging zum Gartenzaun zwischen dem Siebenbürgerhaus und dem seinen. Er bückte sich und stocherte ein bisschen in der Erde herum. So als ob er nach den Tulpenzwiebeln fühlen wollte. Ob die auch garantiert noch in der Erde steckten. Ob sie nicht jemand heimlich in der Nacht ausgegraben hatte. Und da hörte er dann alles viel besser. Es war die Stimme der Frau Siebenbürger! Und sie sagte gerade: »Entweder kommt er noch heute aus dem Haus oder Sie sind fristlos gekündigt!« Und: »Sie können mir doch nicht zumuten, dass ich erfriere, meine Finger sind jetzt schon steif!« Und: »Außerdem stinkt er!«
Zwischendurch konnte Emanuels Vater auch die Stimme vom zoologischen Assistenten Schestak hören, doch die war so leise, dass er kein Wort verstand. Und dann hörte er noch ein Geschnatter; das war noch leiser.
Emanuels Vater lauschte so angestrengt, dass er gar nicht hörte, wie Emanuel zu ihm kam. Emanuel musste ihm drei kleine Schubser geben, damit er auf ihn aufmerksam wurde.
Emanuel hatte viel Verständnis für seinen Vater. Auch für das Neugierigsein. »Komm, Papa«, sagte Emanuel, »komm mit mir!« Er zog seinen Vater zum Gartentor, durch das Gartentor auf die Straße und beim Gartentor der Frau Siebenbürger hinein.
»Aber das geht doch nicht!«, sagte Emanuels Vater erschrocken, »wie schaut denn das aus! Wir können doch nicht einfach hineingehen und nachfragen, worüber sie sich streiten, so etwas ist ganz unmöglich!«
»Die Frau Siebenbürger hat gestern zu mir gesagt, ich soll heute zu ihr kommen. Sie hat einen ganzen Karton voll mit leeren Zündholzschachteln für mich gesammelt!« Alle Leute in der Gegend sammelten Zündholzschachteln für Emanuel. Er baute daraus Wolkenkratzer und Bungalows und Züge und Schwimmbäder und Turnhallen und ganze Städte.
»Meinst du wirklich, dass das geht?«, fragte Emanuels Vater, und weil Emanuel nickte, so ließ er sich weiterziehen. Doch knapp vor der offenen Haustür der Frau Siebenbürger bekam er wieder Bedenken. »Und wieso bin ich dabei?«, fragte er.
»Sonst komme ich doch nie mit, wenn du die Zündholzschachteln abholst.«
»Du hilfst mir tragen!«, sagte Emanuel.
Und dann sagte Emanuel noch, dass der Vater bloß nicht so umständlich sein solle. Wenn einer neugierig ist, sagte Emanuel, dann ist er eben neugierig und dann muss er halt auch ein paar Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen.
Emanuels Vater hätte sich die Bedenken wegen des guten Tones und der richtigen Sitten sparen können. Die Frau Siebenbürger war richtig froh, jemanden zu haben, dem sie alles erzählen konnte.
»Herr Bierbauer, Herr Bierbauer, was sagen Sie nur dazu!«, kreischte sie, und dann drängte sie Emanuels Vater – das war der Herr Bierbauer – ins Wohnzimmer hinein und schloss die Tür. Emanuel ging nicht mit ihnen. Er blieb im Vorhaus stehen und starrte. Wie die Frau Siebenbürger »Was sagen Sie nur dazu?« gekreischt hatte, da hatte sie mit der ausgestreckten Hand zur Treppe in den ersten Stock gezeigt. Und auf dieser Treppe stand der Assistent Schestak. Der war ganz bleich im Gesicht und überhaupt sehr verstört. Er zitterte sogar ein bisschen. Und in den Armen hielt er ein Pinguinbaby. Ein ganz kleines, ganz junges, ungeheuer schönes Pinguinbaby. Zumindest kam das Emanuel so vor. Der liebte ja Pinguine.
An diesem lauwarmen, strahlend blauen Frühlingstag, an dem es dann so weit sein wird, dass aus allen neun Anzeichen neun gewaltig große Schwierigkeiten geworden sind, wird Emanuels Vater im Wohnzimmer von der Frau Siebenbürger eine lange Geschichte hören. Und Emanuel wird mit dem Assistenten Schestak auf der Treppe sitzen, den kleinen Pinguin wird er ganz vorsichtig streicheln, und auch er wird eine lange Geschichte hören.
Die Geschichte von der Frau Siebenbürger und die Geschichte vom Assistenten Schestak sollten eigentlich ein und dieselbe Geschichte sein. Beide erzählen sie von einem zoologischen Assistenten, der um ein Pinguinei schreibt, nach langem Hin und Her auch eines bekommt; in viel Holzwolle gewickelt, per Luftpost und zollfrei. Und dann brütet er das Pinguinei aus und ist sehr stolz darauf, weil noch kein Mensch so etwas zuwege gebracht hat. Und gerade als er so stolz ist und der Pinguin zum ersten Mal schnattert, da kündigt ihn der zoologische Direktor. Traurig schüttelt er ihm die Hand. »Tut mir leid, Kollege«, sagt er. Und den Pinguin will er auch nicht haben. Wegen Platzmangels. Und wegen der Futterkosten. Da nimmt der zoologische Assistent Schestak Abschied von seinem Arbeitsplatz und den Pinguin mit nach Hause zur Frau Siebenbürger. Dort ist es aber heiß. So heiß wie in der Wüste Sahara zu Mittag. Und das ist nicht die richtige Temperatur für einen kleinen Pinguin. Also dreht der Assistent Schestak zuerst den Ölofen in seinem Zimmer ab, dann die Elektroheizung im Treppenhaus. Und weil es dem kleinen Pinguin noch immer zu heiß ist, dreht der Assistent Schestak heimlich den Gaskonvektor im Wohnzimmer auf ganz klein. Auch den Strahler im Badezimmer und schließlich die Heizsonne im Klo. Und da friert die verfrorene Frau Siebenbürger ganz entsetzlich. Aber dem Pinguin ist noch immer zu heiß.
So geht die Geschichte!
Aber wenn Geschichten erzählt werden, gehen sie durch die Leute durch, die sie erzählen. Zuerst erleben die Leute was, und dabei spüren sie was und denken auch was, und das macht die Geschichten dünner oder dicker, härter oder weicher, leichter oder schwerer. Auf alle Fälle verändert sich die Geschichte. Emanuels Vater wird deshalb eine Geschichte hören, in der eine Frau seit sechzig Jahren friert, sogar auf Korfu friert sie, auf Korfu im August. Und dann kommt ein Untermieter daher, einer, der ohnehin viel zu wenig Miete zahlt, und der dreht ihr aus Bosheit alle Heizungen ab. In der Geschichte, die Emanuels Vater hören wird, wird sogar von Schafwollunterhosen die Rede sein. Und von heißen Fußbädern. Es wird eine erstklassige Geschichte über eine verfrorene Frau sein.
Und die Geschichte, die auf der Treppe erzählt werden wird – während Emanuel den Pinguin streichelt –, wird eine erstklassige Geschichte von einem zoologischen Assistenten sein, dem ein zoologischer Direktor zum letzten Mal die Hand reicht. Freilich, sagt der Assistent in der Geschichte, verhungern wird er gewiss nicht müssen. Ganz im Gegenteil. Er hat schon drei Angebote für neue Stellen, für viel bessere Stellen, mit riesigen Chancen! Nach Zaïre, nach Delhi und nach Quito. Überallhin als erster Assistent! Aber Zaïre ist in Afrika und Delhi in Indien und Quito am Äquator. Und das sind keine Gegenden für einen Pinguin. Dorthin kann er den kleinen Kerl nicht mitnehmen. Außerdem wollte er ja bloß brüten. Mehr nicht. Wenn er sich ein Haustier halten wollte, sagt der Assistent, dann am liebsten einen silbergrauen Pudel. Pudel sind sehr klug und sehr treu, sagt er.
Die Geschichte auf der Treppe wird die Geschichte von einem zoologischen Assistenten sein, der sich zwischen drei Stellenangeboten entscheiden soll, einen Pinguin als Klotz am Bein hat und gern einen Pudel hätte.
Emanuel und dem Vater wird der Unterschied zwischen den Geschichten nichts ausmachen. Denn auch bei den Leuten, die zuhören, gehen die Geschichten durch. Was für sie nicht wichtig ist, fällt dabei weg. Für Emanuel und den Vater wird fast alles wegfallen: die Stellenangebote, der Pudel, das Frieren auf Korfu und die abgedrehten Heizungen. Überbleiben wird nur: Da ist ein Pinguin, den niemand haben will!
Und der Vater wird denken: Emanuel liebt Pinguine, und ich liebe Emanuel!
Dabei wird der Vater seufzen.
Und Emanuel wird denken: Der Vater liebt mich, und ich liebe Pinguine!
Dabei wird Emanuel lächeln.
Leute, die so lange miteinander leben wie Emanuel und sein Vater, kennen einander ziemlich gut. Da muss Emanuel nicht erst sagen: »Papa, ich möchte den Pinguin haben!«
Da kommt der Vater aus dem Wohnzimmer heraus, die keifende Frau Siebenbürger hinter ihm her, und der Vater schaut Emanuel an, und Emanuel schaut den Vater an. Lang schauen sie einander an. Emanuels Vater liebt Emanuel. Pinguine liebt er nicht. Und darum sagt er dann: »Unsere Tante Alexa wird dagegen sein!«
Emanuels Vater hofft, dass die Tante Alexa den Pinguin verbieten wird, dass sie auch »Das geht zu weit, entschieden zu weit!« rufen wird. Emanuels Vater liebt Emanuel so sehr, dass er ihm nichts verbieten kann, aber er hat nichts dagegen, wenn die Großtante Alexa Emanuel etwas verbietet.
Emanuel schreit: »Fein, fein, danke, Papa!«, und hüpft auf einem Bein die Treppe hinauf und wieder hinunter und wieder hinauf und noch einmal hinunter. Das tut er nur, wenn er sehr glücklich ist.
»Aber Kind, es ist doch noch gar nichts entschieden«, sagt der Vater. »Wenn die Tante Alexa –«, stottert der Vater. Doch Emanuel weiß über seine Großtante Bescheid. Er rennt aus dem Haus und brüllt zum offenen Fenster hinüber: »Großtante Alexa, da ist ein Pinguin! Ein ganz kleiner, ganz echter, richtiger, lebendiger! Den könnte ich haben! Und er kostet auch gar nichts!«
Und die Großtante Alexa streckt den Kopf zum Fenster heraus, nickt und ruft zurück: »Mir soll es recht sein!«