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Nachhaltigkeit ist zu einem Leitbegriff des gesellschaftlichen Wandels geworden, mit dem sich unterschiedliche Zielvorstellungen verbinden - sei es ein grüner Kapitalismus, der auf ökologischer Modernisierung beruht, oder eine sozial-ökologische Transformation, die eine postkapitalistische Ära einläuten könnte. In dieser Programmschrift von Sighard Neckel und seinem Hamburger Forschungsteam werden die gesellschaftlichen Dimensionen von Nachhaltigkeit aufgezeigt, aber auch die Paradoxien, die mit einer nachhaltigen Entwicklung im globalen Kapitalismus verbunden sind. Grundlegende soziologische Perspektiven auf Nachhaltigkeit sind ebenso Thema wie Ausblicke in konkrete Felder einer kritisch-reflexiven Sozialforschung zu den gesellschaftlichen Konflikten um Nachhaltigkeit.
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Seitenzahl: 166
SIGHARD NECKEL, NATALIA BESEDOVSKY, MORITZ BODDENBERG, MARTINA HASENFRATZ, SARAH MIRIAM PRITZ, TIMO WIEGAND
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit
Umrisse eines Forschungsprogramms
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Vorwort
Die Gesellschaft der NachhaltigkeitSoziologische Perspektiven
Sighard Neckel
Finanzialisierung von Nachhaltigkeit
Natalia Besedovsky
Zertifizierung und PrämierungKlassifikationen von Nachhaltigkeit
Timo Wiegand
Ökologische DistinktionSoziale Grenzziehung im Zeichen von Nachhaltigkeit
Sighard Neckel
Subjektivierung von Nachhaltigkeit
Sarah Miriam Pritz
Die Nachhaltigkeit der DingePraktiken, Artefakte, Affekte
Martina Hasenfratz
Nachhaltigkeit als TransformationsprojektPraktiken einer transkapitalistischen Gesellschaft
Moritz Boddenberg
Autorinnen und Autoren
Nachhaltigkeit ist zu einem Leitbegriff des gesellschaftlichen Wandels geworden, mit dem sich gleichwohl sehr unterschiedliche Zielvorstellungen verbinden – sei es ein grüner Kapitalismus, der auf ökologischer Modernisierung beruht, oder eine radikale sozial-ökologische Transformation, die eine postkapitalistische Ära einläuten könnte. In diesem Buch wird den verschiedenen Facetten von Nachhaltigkeit aus soziologischer Sicht nachgespürt. Angelegt ist es als eine Programmschrift, welche die Felder ausleuchten will, in denen eine sozialwissenschaftliche Forschung zu den gesellschaftlichen Dimensionen von Nachhaltigkeit Erkenntnisse nicht nur über die Hintergründe ökologischer Krisen verspricht, sondern auch über den gegenwärtigen Gesellschaftswandel im Ganzen. Und so fächern die nachfolgenden Beiträge ein breites Spektrum sozialer Prozesse unter dem Vorzeichen von Nachhaltigkeit auf. Dieses Spektrum umfasst neue Ausdrucksformen sozialer Ungleichheit, die sich ökologischer Distinktionen bedienen, ebenso wie das starke Interesse, das Finanzunternehmen neuerdings an sustainable investments zeigen; es reicht von der Subjektivierung von Nachhaltigkeit, die sich in Begriffen wie Achtsamkeit, Wellness oder Resilienz dokumentiert, bis zu den Labels und Zertifikaten, die Nachhaltigkeit anzeigen sollen und die sich heute zahlreich in der Geschäftswelt und auf den Konsummärkten finden; es bringt die Nachhaltigkeit der Dinge zur Sprache und die affektive Beziehung, die wir zu ökologisch korrekten, aber gerade auch zu umweltschädlichen Objekten und Gegenständen empfinden; und es verhilft jenen sozialen Bewegungen und alternativen Praktiken zur soziologischen Aufmerksamkeit, die unter dem Vorzeichen einer nachhaltigen Lebensführung grundlegende gesellschaftliche Veränderungen anstreben.
Als Programmschrift versteht sich Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit aber nicht allein, weil sie die Umrisse wichtiger Lebensbereiche skizziert, in denen soziologische Forschungen interessante Einblicke in den Gesellschaftswandel versprechen. Vielmehr wird auch ein Vorschlag formuliert, in welcher grundlegenden analytischen Perspektive die Soziologie Nachhaltigkeit als gesellschaftliches Phänomen verhandeln sollte. Eingeleitet wird unser Buch daher mit einem Beitrag zu den kategorialen und gesellschaftstheoretischen Fragen einer Soziologie der Nachhaltigkeit. Hierbei wird die Sichtweise einer kritisch-reflexiven Sozialforschung zu den gesellschaftlichen Problemen und Konflikten von Nachhaltigkeit begründet, die auch jene Widersprüche und Paradoxien nicht ausspart, die mit einer nachhaltigen Entwicklung im globalen Kapitalismus verbunden sind.
Entstanden ist dieses Buch, nachdem an der Universität Hamburg im Februar 2016 ein neuer Lehrstuhl für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel eingerichtet wurde. Er war Teil einer Berufung von mehreren Professuren, die sich künftig der Forschung zu gesellschaftlichen Dimensionen von Nachhaltigkeit widmen sollen. Rasch entwickelte sich am Lehrstuhl ein intellektuell munterer Arbeitszusammenhang, in dem die Aufgaben und Probleme debattiert wurden, die sich einer kritischen Soziologie der Nachhaltigkeit heute stellen. Die Beiträge sind denn auch das Ergebnis eines längeren Diskussionsprozesses, bei dem die offenen Fragen eines Forschungsprogramms immer wieder hin und her gewendet wurden. Als Gemeinschaftswerk, als das wir unser Buch verstehen, ist es das Dokument einer kooperativen Reflexion, die bei Weitem nicht abgeschlossen ist. Doch werden uns die hier notierten soziologischen Umrisse begleiten, wenn in einem nächsten Schritt umfangreichere materiale Untersuchungen zur Gesellschaft der Nachhaltigkeit entstehen. Hierbei soll sich die Neugier und Diskussionsfreude bewähren, die unsere Arbeit am vorliegenden Buch gekennzeichnet hat. Tatkräftig unterstützt wurden wir von Manuela Pires, Andrea Roedig und Philip Schelling, denen wir herzlich danken.
Sighard NeckelHamburg, im Oktober 2017
Sighard Neckel
Nachhaltigkeit ist von unbestreitbarer gesellschaftlicher Relevanz und in ihrer Bedeutung und Genese längst zu einem eigenen Gegenstand der Sozialwissenschaften geworden. Seit sich der Begriff Ende der 1980er Jahre öffentlich verbreitete, wird mit ihm auf Krisenerfahrungen und globale Risiken reagiert, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ins allgemeine Bewusstsein getreten sind (Meadows et al. 1972; Beck 1986). Diese Risiken sind wesentlich darin begründet, dass die Gesellschaften der Gegenwart mit der Vernutzung für sie grundlegender Ressourcen konfrontiert sind – seien es die natürlichen Ressourcen des Ökosystems, die ökonomischen Ressourcen gesellschaftlichen Wohlstands, die sozialen Ressourcen von Sorge, Fürsorge und Solidarität oder die subjektiven Ressourcen von beruflicher Leistungsfähigkeit und privater Lebensführung (vgl. Neckel/Wagner 2013; Neckel et al. 2017), die heute bisweilen nicht weniger erschöpft zu sein scheinen als die ökologischen Vorräte des Planeten.
Vor dem Hintergrund solch krisenhafter Prozesse wurde Nachhaltigkeit zu einem zentralen Thema der Öffentlichkeit und zu einem allgegenwärtigen Leitbegriff gesellschaftlichen Wandels. Die 17 »Sustainable Development Goals« der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2016 sind hierfür ein Beispiel. Neben Umweltfragen werden verstärkt auch ökonomische und soziale Probleme unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit diskutiert. Die Debatten kreisen dabei um die Chancen zur Veränderung gesellschaftlicher Praktiken etwa der Ernährung, des Konsums (Stengel 2011) oder der Mobilität (Knaut 2015), um die Auseinandersetzung mit einer Wirtschaftsordnung, die strukturell auf Wachstum angewiesen ist (Binswanger 2009; Miegel 2011; Latouche 2015), und um die spezifischen Gerechtigkeitsvorstellungen, die mit Nachhaltigkeit verbunden sind. Sie bündeln sich in der normativen Leitidee, dass die Bedürfnisse der Gegenwart nicht auf Kosten derjenigen zu verwirklichen seien, die zukünftig ihre Bedürfnisse realisieren wollen (vgl. Birnbacher 1988). Dies kommt bereits in der Definition von Nachhaltigkeit im sogenannten Brundtland-Bericht von 1987 zum Ausdruck: »Sustainable development seeks to meet the needs and aspirations of the present without compromising the ability to meet those of the future.« (Vgl. WCED 1987) Deutlich wird, dass Nachhaltigkeit eine spezifische Temporalität aufweist: Es ist ein auf Zukunft gerichtetes Konzept, das in der Gegenwart wirksam werden soll. Nachhaltigkeit steht für ein gesellschaftliches Entwicklungsziel, das ein Gleichgewicht zwischen Ressourcenverbrauch und Ressourcenerhaltung anstrebt und damit der Vorsorge für die Zukunft dient. Im Zeithorizont der Gegenwart versteht sich Nachhaltigkeit als ein Handlungsmodus, mit dem die Vernutzung von Ressourcen eingedämmt und das Entwicklungsziel der Vorsorge erreicht werden soll.
Heute ist Nachhaltigkeit überall in den gesellschaftlichen Diskursen präsent. Zahlreiche Institutionen, Unternehmen, Organisationen und öffentliche Einrichtungen beziehen sich positiv auf Nachhaltigkeit als einen zentralen Wert und als eine Leitlinie des Handelns. Im Verlauf dieser Entwicklung hat sich das, was unter »Nachhaltigkeit« jeweils verstanden wird, mit recht unterschiedlichen Perspektiven und Interessen angereichert. Mitunter werden sehr gegensätzliche gesellschaftliche Vorstellungen mit demselben Begriff der Nachhaltigkeit belegt. So sehen etwa Vertreter einer Green Economy und »intelligenter« Wachstumsprogramme (Fücks 2013) in Nachhaltigkeit eine künftig unabdingbare Voraussetzung wirtschaftlichen Wachstums (Jänicke 2012), während Anhänger der Degrowth-Bewegung oder des Konvivialismus (Les Convivialistes 2014; Adloff/Heins 2015) gerade den Zwang zum ökonomischen Wachstum als gravierendes Hindernis einer nachhaltigen Entwicklung betrachten (vgl. Muraca 2014; Paech 2014; Fatheuer et al. 2015; Brand/Wissen 2017).
Schon allein dieser Bedeutungsvielfalt wegen kann es aus soziologischer Perspektive nicht darum gehen, Nachhaltigkeit als endlich gefundene Lösung aller ökologischen und gesellschaftlichen Probleme zu verstehen. Vielmehr sollte Nachhaltigkeit selbst als Problem begriffen werden, mit dem sich moderne Gesellschaften der Gegenwart auseinandersetzen müssen und für das sie Lösungen benötigen. Die soziologische Perspektive bezieht sich auf Nachhaltigkeit daher nicht als eine normative Leitidee, die per se schon etwas Wünschenswertes bezeichnet und für deren Umsetzung man allein die gesellschaftlichen Voraussetzungen und funktionalen Erfordernisse erforschen sollte, wie dies zumeist die Vorgehensweise der gängigen Nachhaltigkeitsforschung ist (zur Übersicht: www.futureearth.org). Stattdessen nimmt sie Nachhaltigkeit gegenüber eine problemorientierte und reflexive Position ein, die auch die Widersprüchlichkeiten, Dilemmata und Paradoxien von Nachhaltigkeit nicht ausspart.
Nachhaltigkeit sollte – mit anderen Worten – soziologisch nicht aus der gesellschaftlichen Teilnehmerperspektive heraus untersucht werden, sondern als eine Beobachtungskategorie dienen, die Aufschluss darüber geben kann, welcher sozialökonomische Wandel sich vollzieht, welche neuartigen Konfliktlinien entstehen und welche Ungleichheiten und Hierarchien sich herausbilden, wenn Gesellschaften der Gegenwart zunehmend Kriterien von Nachhaltigkeit in ihre Institutionen, Funktionsbereiche und kulturellen Wertmuster integrieren. Aufmerksamkeit in der sozialwissenschaftlichen Forschung sollte vor allem finden, wie sich Nachhaltigkeit mit gesellschaftlichen Machtrelationen verbindet. Denn wie Nachhaltigkeit definiert wird und wer über Nachhaltigkeit bestimmt, ist ebenso eine Frage sozialer Rangordnungen wie die Konsequenzen von Nachhaltigkeit Probleme sozialer Ungleichheiten aufwerfen können. Was als »nachhaltig« gilt, muss als solches benannt, zertifiziert und am Ende praktisch durchgesetzt werden, um verbindlich werden zu können (siehe den Beitrag von Timo Wiegand). In diese Definitionsprozesse von Nachhaltigkeit geht die unterschiedliche »Benennungsmacht« (Bourdieu 1985: 23) von Akteursgruppen ein, bestimmte Zustände mit selbstgewählten Begriffen belegen zu können. Wer Vorteile von Nachhaltigkeit hat oder aber deren Kosten trägt, für wen Nachhaltigkeit ein Zugewinn sein könnte und wer mit Einschränkungen zu rechnen hat, ist zwischen Milieus und Lebensmustern unterschiedlich verteilt (siehe meinen Beitrag Ökologische Distinktion). Nachhaltigkeit wird damit zu einer sozial umkämpften Kategorie, auf deren konflikthafte Aushandlung sich das soziologische Interesse in besonderer Weise richtet.
Eine reflexiv-kritische Perspektive auf Nachhaltigkeit besteht zwar auf einer soziologischen Distanz zu ihrem Gegenstand, befindet sich damit aber nicht schon im Widerspruch zu den normativen Ansprüchen, die sich heute mit Nachhaltigkeit verbinden. Generell kann für moderne Gegenwartsgesellschaften gelten, dass auf Dauer in ihnen nur Wertmuster rechtfertigungsfähig sind, die sich selbst nicht absolut setzen, sondern sich dem öffentlichen Diskurs und dem Dissens aussetzen und hierbei überdacht werden können. Dies gilt auch für das Wertmuster der Nachhaltigkeit, das einer kritischen Reflexivität bedarf, um weltanschaulich oder interessenspolitisch nicht zu erstarren und dadurch wieder an Legitimität zu verlieren.
Dieser reflexiven Perspektive entspricht, Nachhaltigkeit nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten, unter denen sich eine nachhaltige Entwicklung vollziehen kann. Diese Bedingungen sind wesentlich durch die Strukturen eines globalen Kapitalismus charakterisiert, die nicht nur die ökonomischen Voraussetzungen von Nachhaltigkeit bestimmen und vielfältige soziale und politische Rückwirkungen haben, sondern auch die kulturellen Lebensformen, die Alltagspraktiken und Selbstverhältnisse prägen (vgl. Neckel 2005, 2008, 2010, 2014; Sachweh/Münnich 2016). In welchem Spannungsverhältnis Nachhaltigkeit und der Kapitalismus zueinander stehen, ob Nachhaltigkeit profitabel in Wert gesetzt werden kann oder den Ausstieg aus der Wachstumsökonomie zur Bedingung hat und wie sich globale Ökonomien durch Nachhaltigkeit verändern, sind zentrale Fragen einer nicht zuletzt kapitalismustheoretisch informierten Nachhaltigkeitsforschung.
Deren Bezugspunkte können heute nicht anders als global sein, da sich im Zeitalter des Anthropozän ökologische Krisen wie der Klimawandel, die Verschmutzung der Meere, der Verbrauch nicht regenerierbarer Ressourcen oder die Vergiftung der Böden in weltweiten Dimensionen dokumentieren. Gleichwohl sind davon die verschiedenen Regionen der Welt nicht in gleicher Weise betroffen. Obgleich der postkoloniale Aufstieg von Ländern wie China oder Indien heute selbst etwa zum weiterhin steigenden Verbrauch fossiler Brennstoffe beiträgt, sind die ärmeren Weltregionen vor allem des globalen Südens doch wesentlich stärker den Auswirkungen ökologischer Krisenprozesse ausgesetzt. Deren größere Verwundbarkeit liegt darin begründet, dass sie weit mehr von ihren lokalen Existenzbedingungen und Ressourcenströmen abhängig sind als die reicheren Gesellschaften des Nordens, die Zugriff auf globale Wertschöpfungsketten haben und überdies mächtig genug sind, die negativen Konsequenzen der eigenen Wirtschafts- und Lebensweise in den globalen Süden auslagern zu können (vgl. Lessenich 2016). Eine Folge des globalen Siegeszugs des Kapitalismus ist die Ausbreitung einer »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2017), welche die Ökonomie des raschen Ressourcenverbrauchs und der langfristigen ökologischen Schäden in vergleichsweise kurzer Zeit universalisiert hat.
Nicht zuletzt diese globalen Krisenkonstellationen lassen Nachhaltigkeit heute zur nächsten Etappe einer ebenso unumgänglichen wie in sich umkämpften Modernisierung des gegenwärtigen Kapitalismus werden. Als Modernisierung dient Nachhaltigkeit einer Erneuerung kapitalistischer Ökonomie und ihrer Anpassungan veränderte Rahmenbedingungen, insbesondere in ökologischer Hinsicht. Die zentralen gesellschaftlichen Reproduktionsprobleme, die mit einer nachhaltigen Modernisierung des Kapitalismus bewältigt werden sollen, bestehen zum einen in der Sicherung der Regenerativität ökologischer, ökonomischer, sozialer und subjektiver Ressourcen, die gesellschaftliche Institutionen und Funktionsbereiche für ihren Bestand benötigen und für ihre Weiterentwicklung verwenden müssen. Immer dringlicher werden Formen des Einsatzes von Ressourcen, die sich bei ihrer Verwendung nicht restlos verbrauchen, sondern erneuerbar sind, weshalb Vernutzung der Gegenbegriff des regenerativen Prinzips der Nachhaltigkeit ist. Hier schließt als zweites gesellschaftliches Reproduktionsproblem von Nachhaltigkeit die Sicherung der Potentialität künftiger Entwicklungschancen an, die durch die Ressourcenprobleme der Gegenwart nicht zunichte gemacht oder erheblich eingeschränkt werden sollen. Nachhaltigkeit dient hier der Sicherung eines Vorrats an Handlungsmöglichkeiten, der in der Gegenwart nicht länger verknappt werden soll. Ihr Gegenbegriff ist Determination, die offene Zukünfte in geschlossene überführt. In beiden Dimensionen, Regenerativität und Potentialität, stellt Nachhaltigkeit den Versuch der Korrektur einer kapitalistischen Logik von Wertschöpfung dar, die aufgrund ihres Zwangs zur Gewinnsteigerung in sich nicht nachhaltig ist.
Indes versteht sich ökologische Modernisierung als eine gesellschaftspolitische Strategie, die Institutionen der modernen Gesellschaft und insbesondere deren Ökonomie für einen ökologischen Umbau in Dienst nimmt. Bestehende Strukturen der modernen Gesellschaft in Politik und Wirtschaft wie liberale Demokratie und kapitalistische Marktwirtschaft sowie zentrale Elemente der modernen Lebensführung wie Individualismus, Konsum, Wohlstandsorientierung und Mobilität sollen dabei nicht grundlegend verändert, sondern den ökologischen Restriktionen adaptiert werden. So werden Märkte und Wettbewerb nicht als Hemmnisse eines Wandels zur Nachhaltigkeit begriffen, sondern als effizienzsteigernde wirtschaftliche Einrichtungen, die für Praktiken der Nachhaltigkeit nutzbar gemacht werden können, wie der Emissionshandel als bekanntes Beispiel einer marktlichen »Lösung« von Nachhaltigkeitsproblemen dokumentiert (vgl. Engels 2006). Entsprechend gelten auch Finanzmärkte als effiziente Instrumente, um Investitionen in nachhaltig wirtschaftende Unternehmen zu steigern. Mittlerweile hat die Finanzialisierung von Nachhaltigkeit Ausdruck in Finanzmarktprodukten wie Green Bonds oder Impact Investing gefunden (siehe den Beitrag von Natalia Besedovsky; vgl. auch Feist/Fuchs 2014). Auch gehen Konzepte wie Green Growth oder Green New Deal davon aus, dass mit Hilfe des technischen Fortschritts das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch und den damit einhergehenden Emissionen abgekoppelt werden kann. Mittlerweile haben die OECD (2011), die Vereinten Nationen (UNEP 2011), die Weltbank (Hallegatte et al. 2011) und die Europäische Union (EU 2010) grüne Wachstumsstrategien explizit zu ihren künftigen Entwicklungspfaden erklärt.
In engem Zusammenhang mit der nachhaltigen Modernisierung des Kapitalismus steht, dass sich Nachhaltigkeit sukzessive als ein neues Rechtfertigungsmuster gesellschaftlicher Ordnung und Organisation herausgebildet hat. Folgt man den Untersuchungen von Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) zum »neuen Geist des Kapitalismus«, erneuert und reproduziert sich der Kapitalismus dadurch, dass er die gesellschaftlich jeweils relevanten Formen seiner Kritik in sich aufnimmt und »endogenisiert« (vgl. ebd.: 476ff.). Ein zentrales Kritikmuster am Kapitalismus der Gegenwart bündelt sich heute im Begriff der Nachhaltigkeit, der dazu verwendet wird, der kapitalistischen Wachstumsökonomie die schädlichen Auswirkungen auf die Ökosphäre und die natürlichen Lebensgrundlagen vorzuhalten. Gegenwärtige Wandlungsprozesse, die auf einen »grünen Kapitalismus« abzielen, können nicht zuletzt auf die Endogenisierung des Kritikmusters der Nachhaltigkeit zurückgeführt werden, das sich damit zu einer neuen Art von Rechtfertigung des heutigen Kapitalismus entwickelt. Hierfür spricht nicht zuletzt die Generalisierung von Nachhaltigkeit als normatives Kriterium gesellschaftlicher Organisation, die heute überall in dem Maße feststellbar ist, wie Nachhaltigkeit sich von der Ökologie auf andere Gesellschaftsbereiche ausbreitet. Als Rechtfertigungsmuster verstanden, könnte Nachhaltigkeit den grünen Kapitalismus der Zukunft mit der Imagination eines neuen Fortschrittsoptimismus ausstatten, der sich der vermeintlichen Lernfähigkeit der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verdankt.
In jeder Rechtfertigungsordnung sind zentrale Prinzipien enthalten, welche die Wertigkeiten von Praktiken, Objekten und Akteuren bestimmen. So stellt Boltanski und Chiapello zufolge etwa in der projektbezogenen Rechtfertigungsordnung des Netzwerkkapitalismus »Konnektivität« einen übergeordneten Leitwert dar (vgl. ebd.: 176ff.). In der Rechtfertigungsordnung der Nachhaltigkeit werden es mutmaßlich die Prinzipien der Regenerativität und der Potentialität sein, welche die Wertigkeiten bestimmen, womit die Frage aufgeworfen ist, wie sich die Sozialordnungen der Gegenwart verändern, wenn sie das Rechtfertigungsmuster der Nachhaltigkeit etablieren.
Erste Hinweise darauf geben die Tendenzen einer Subjektivierung von Nachhaltigkeit, die allenthalben zu beobachten sind (siehe den Beitrag von Sarah Miriam Pritz). Der Neoliberalismus hat mit seiner strikten Präferenz für Markterfolg und Wettbewerb das Leitbild des »unternehmerischen Selbst« hervorgebracht, das durch das Ethos von Effizienz und Optimierung gekennzeichnet ist. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Krisenerscheinungen wie Stress, Burnout und Depression gefunden haben, ist nur eines unter vielen Zeichen für den Wandel in den kulturellen Programmen der Selbststeuerung, die zunehmend Maximen wie Achtsamkeit, Empathie, Resilienz und Work-Life-Balance folgen. Derartige Topoi werden öffentlich bereits als Indikatoren einer »subjektiven Nachhaltigkeit« begriffen, die der Regenerativität und Potentialität individueller Ressourcen dienen sollen.
Während sich die Untersuchung von Nachhaltigkeit als einer nächsten Etappe kapitalistischer Modernisierung grundlegend auf den Prozess bezieht, wie nachhaltige Entwicklung für den Kapitalismus der Gegenwart nutzbar gemacht werden kann, bieten die Auseinandersetzungen um Nachhaltigkeit aber auch zahlreiche Ansatzpunkte, die Möglichkeiten gesellschaftlicher Transformationen jenseits der kapitalistischen Wachstums- und Wettbewerbsordnung auszuloten. Nachhaltigkeit ist mithin nicht allein zu einem Modus der Erneuerung des Kapitalismus geworden, sondern wird in zahlreichen gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken auch als ein Instrument seiner Überwindung betrachtet (vgl. Wright 2017; Kaven 2015; Sommer/Welzer 2014). Sie fungiert als zentraler Begriff einer gesellschaftlichen Strömung des Postkapitalismus (Mason 2016), in dem sich das Bedürfnis artikuliert, neue Formen gemeinschaftlicher, kooperativer oder suffizienter Ökonomien und Lebensweisen zu erproben. Welches transformative Potential solche Diskurse und Praktiken haben und ob im Zuge neuer antikapitalistischer Tendenzen Freiheitsräume eines »demokratischen Experimentalismus« (vgl. Brunkhorst 1998) entstehen, welche auch einen Bruch mit dem ökonomischen Habitus des Kapitalismus herbeiführen könnten, stellt eine besonders interessante Frage soziologischer Nachhaltigkeitsforschung dar (siehe den Beitrag von Moritz Boddenberg).
So reagieren wachstumskritische soziale Bewegungen auf die Endogenisierung des Kritikmusters der Nachhaltigkeit ihrerseits mit einer Kritik an Nachhaltigkeit, die als begrifflich zu eng und als politisch zu instrumentell begriffen wird (vgl. Blühdorn 2016). In der Folge haben sich in den politischen Debatten des Postkapitalismus alternative Begriffe für Nachhaltigkeit etabliert, wie Gemeinwohlökonomie (Felber 2014), Commons (Helfrich/Bollier 2015) oder – in Aufnahme eines Begriffs von Karl Polanyi – Great Transformation/Große Transformation (WBGU 2011).
Indem soziologische Forschung nicht nur danach fragt, wie sich der gegenwärtige Kapitalismus transformiert, sondern ebenso, was den Kapitalismus selbst zu transformieren vermag, könnten postkapitalistische Diskurse und Praktiken zum konstitutiven Gegenstand einer transkapitalistischen Soziologie werden, die sich in neuartiger Weise für Sozialformen jenseits von Marktkonkurrenz und Profitdenken interessiert. Was postkapitalistische Organisationsformen für ökonomische Praktiken, moderne Lebensweisen und für die heutigen Selbstverhältnisse bedeuten, sind weitreichende Fragen, die sich einer solchen transkapitalistischen Soziologie in empirischer Hinsicht stellen. Konzeptionell eröffnen sie die Chance, die Soziologie selbst von einer neuen gesellschaftlichen Warte aus zu entwerfen. Gilt bis heute als ausgemacht, dass die Soziologie ein Kind des Kapitalismus ist und sich epistemisch anhand seiner Probleme herausbildete, dass sich, mit anderen Worten, kapitalistische Moderne und moderne Soziologie gegenseitig konstituiert haben, so begründen die Tendenzen einer postkapitalistischen Gesellschaft die Aussicht, Soziologie jenseits der Horizonte eines kapitalistischen Zeitalters zu betreiben.
Dies sind, zugegeben, recht ausgreifende Perspektiven, die soziologische Forschung nicht einfach so einholen kann. Aber wozu setzen wir uns mit Nachhaltigkeit in den gesellschaftlichen Umbrüchen unserer Zeit auseinander, wenn nicht in der Hoffnung, unsere Welt besser zu machen als sie heute noch ist?
Adloff, Frank/Heins, Volker M. (Hg.) (2015): Konvivialismus. Eine Debatte, Bielefeld: transcript.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Binswanger, Hans Christoph (2009): Die Wachstumsspirale, Marburg: Metropolis.
Birnbacher, Dieter (1988): Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart: Reclam.
Blühdorn, Ingolfur (2016): Sustainability – Post-sustainability – Unsustainability, in: Teena Gabrielson, Cheryl Hall, John M. Meyer und David Schlosberg (Hg.), The Oxford Handbook of Environmental Political Theory, Oxford: Oxford University Press, 259-273.
Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK.
Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und »Klassen«. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus, München: Oekom.