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Seit die Finanzkrise vor zehn Jahren ausbrach, geraten Reiche und Superreiche immer stärker ins Visier der Kritik. Wie oft in der Geschichte, werden sie zu Sündenböcken für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Dr. Dr. Rainer Zitelmann, promovierter Historiker und Soziologe, hat diese erste internationale Studie zu Vorurteilen über Reiche entwickelt. In Zusammenarbeit mit den renommierten Instituten Allensbach und Ipsos MORI wurden Amerikaner und Europäer über ihre Einstellung zu reichen Menschen befragt. Wodurch genau entsteht Sozialneid? Und wie unterscheiden sich Amerikaner, Deutsche, Briten und Franzosen in ihrer Einstellung zu Reichen? Rainer Zitelmann hat erstmals ausführlich untersucht, wie unsere Gesellschaft reiche Menschen sieht, und herausgearbeitet, wie unterschiedlich Reiche international wahrgenommen werden. Damit gelingt es ihm erneut, wissenschaftliche Erkenntnisse in verständlicher und unterhaltsamer Weise darzustellen.
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Seitenzahl: 640
RAINER ZITELMANN
RAINER ZITELMANN
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Für Fragen und Anregungen
1. Auflage 2019
© 2019 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
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Redaktion: Ansgar Graw
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München
Umschlagabbildung: shutterstock.com/Allgusak
Satz: Carsten Klein, Torgau
Druck: Firmengruppe APPL, aprinta Druck, Wemding
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-163-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-298-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-297-1
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Vorwort
Teil A Reiche und die Erforschung von Vorurteilen
1. Was sind Vorurteile und Stereotype?
Vorurteile über Vorurteile: Sie müssen nicht falsch, negativ oder vorschnell sein
Wie »abgewogen« und »faktenbasiert« sind unsere Urteile wirklich?
Sind Vorurteile falsch?
Wertfreie Definitionen von »Vorurteil« und »Stereotyp«
Offene und subtile Vorurteile – und das Problem der Messung
2. Was ist Klassismus?
Fokussierung der Forschung auf Rassismus und Sexismus
»Downward Classism« und »Upward Classism«
Klassismus in amerikanischen Medien
Klassismus als Verabsolutierung von Werten der Mittelschicht
3. »Warm« oder »kompetent«: Wie wir Fremdgruppen wahrnehmen
Das Stereotype Content Model
Exkurs: Der eiskalte Reiche im Krimi
Gruppen mit hohem Status sind gefährdet
4. Ergebnisse der wissenschaftlichen Neidforschung
Neid und das Gefühl der »Ungerechtigkeit«
Warum Neid geleugnet wird
Gibt es auch gutartigen Neid?
Neid und Schadenfreude
Neid als Motiv für die Unterstützung von Umverteilung
Führt mehr Gleichheit zu weniger Neid?
5. Nullsummenglaube: Was der eine gewinnt, verliert der andere
6. Wer eignet sich als Sündenbock?
7. Warum wir überlegene Gruppen schlechtreden
Bewahrung des Selbstwertgefühls – die Kompensationstheorie
8. Erklärungsversuche für Erfolg: Äußere Umstände oder persönliche Fähigkeiten?
Untersuchungen in den USA
Untersuchungen in Deutschland
Untersuchungen in Großbritannien, Australien und Hongkong
9. Die Reichen – eine Minderheit zwischen Bewunderung und Argwohn
Wer ist überhaupt reich?
Wie viele Amerikaner träumen davon, reich zu werden – und wie viele erwarten es?
Intelligent und fleißig – aber auch unehrlich und gierig
Ungerechtfertigte Vorteile für die Reichen
Teil B Was die Bevölkerung über Reiche denkt (Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien)
10. So sehen die Deutschen Reiche
Reiche im Urteil der Gesamtbevölkerung
Wie denken Neider und Nichtneider?
Nullsummendenken und Sozialneid
Die Sündenbockgläubigen
Wie sehen Gut- und Geringverdiener Reiche?
Wie sehen Jüngere und Ältere Reiche?
Wie sehen Männer und Frauen Reiche?
Wie sehen Gebildete und weniger Gebildete Reiche?
Wie sehen die Anhänger unterschiedlicher politischer Gesinnungen Reiche?
Wie sehen Deutsche mit Migrationshintergrund Reiche?
11. So sehen Amerikaner Reiche
Wie neidisch sind Amerikaner auf Reiche?
Wie Nullsummengläubige Reiche sehen
Junge Amerikaner sehen Reiche skeptischer
Wie denken Gering- und Gutverdiener über Reiche?
Wie denkt die Gesamtbevölkerung in den USA über Reiche?
12. So sehen Franzosen Reiche: Ambivalenz von Bewunderung und Sozialneid
Reiche, die es aus eigener Kraft geschafft haben, sind Vorbilder
Welche Persönlichkeitsmerkmale haben Reiche aus Sicht der Franzosen?
Nur jeder vierte Franzose ist nicht neidisch
Nullsummengläubige sehen Reiche generell negativ
Franzosen wollen Reiche stark besteuern
Auch viele Besserverdiener kritisieren hohe Managergehälter
Wie sehen Geringverdiener und Besserverdiener in Frankreich Reiche?
Junge Franzosen sehen Reiche positiver als ältere
13. So sehen Briten Reiche
Briten ähneln Amerikanern stärker als Deutschen und Franzosen
Wie stehen Labour- und Conservatives-Wähler zu Reichen?
Wie stehen jüngere und ältere Briten zu Reichen?
Wie denken Gut- und Geringverdiener?
Nullsummengläubige sehen die Welt anders
14. Vier Nationen im Vergleich: So sehen Deutsche, Amerikaner, Franzosen und Briten die Reichen
Der Sozialneidkoeffizient
Deutsche und Neider sind anfälliger für Sündenbocktheorien
Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren in den vier Ländern
Unterschiede zwischen Männern und Frauen
Unterschiede nach Bildung
Wem man Reichtum gönnt – und wem nicht
Reiche sind rücksichtslos und überheblich, aber auch fleißig, intelligent und mutig
So sehen Neider Reiche: Egoistisch, rücksichtslos, materialistisch, gierig, überheblich und gefühlskalt
So sehen Nichtneider Reiche: Fleißig, materialistisch, intelligent und wagemutig
Arbeitseinsatz oder Angebot und Nachfrage: Was bestimmt das Einkommen von Managern?
Teil C Reiche in den Medien
15. Reiche in Medien: Managergehälter, Banker-Boni und die »Schere zwischen Arm und Reich«
Medieninhaltsanalyse von mct
»Exzesse« bei Managergehältern und -abfindungen
Der »gierige Banker«
Die Oxfam-Berichte
Ungleichheit oder: »Die Schere zwischen Arm und Reich«
»Giving Pledge«: Die Spenden der Superreichen
16. »Zur Hölle mit den Reichen«: Die Panama und Paradise Papers
Die Panama Papers: Die Recherche
Steuertricksereien: Bei Reichen die Regel, bei Nichtreichen die Ausnahme?
Medieninhaltsanalyse (mct)
Die Paradise Papers
Pauschalisierungen: »Die Reichen und die Superreichen«
17. Reiche in der deutschen Yellow Press
Luxuskonsum als Schwerpunkt
Reiche, die nicht mit Geld umgehen können
18. Kommentare über Reiche im Internet
Gästebucheinträge zu einer Talkshow über Reiche
Kommentare zu Beiträgen in zwei Onlinemedien
19. Reiche in Hollywoodfilmen
Methode der Analyse von 43 Filmen
Illustration: Acht Filme aus 50 Jahren
Frames über Reiche in den Filmen
Moralische Werte und Kompetenzwerte
Geschlechterverteilung und Berufe
Schlussbetrachtung
Danksagung
Der Fragebogen
Literatur
Der Autor
In Berlin, wo ich wohne, zogen am 30. April 2018 Demonstranten durch den Bezirk Mitte mit Plakaten, auf denen »Kill your Landlord« zu lesen war: »Töte deinen Vermieter.« Die Demonstration richtete sich gegen steigende Mieten und Gentrifizierung. Als ich davon hörte und später Videos der Demonstration sah, fragte ich mich, wie die öffentlichen Reaktionen ausgefallen wären, wenn rechtsextreme Demonstranten mit Plakaten »Tötet Türken« durch Berlin gezogen wären. Ich bin sicher, die Empörung wäre – zu Recht – groß gewesen. Sie wäre sicherlich auch groß gewesen, wenn in einem anerkannten und führenden Medium ein Artikel mit der Überschrift »Zur Hölle mit den Moslems« erschienen wäre. Das ist zum Glück nicht denkbar. Aber eine Kolumne mit der Überschrift »Zur Hölle mit den Reichen«, wie sie im deutschen Nachrichtenmagazin »Spiegel« veröffentlicht wurde, wird offenbar nicht als annähernd so verwerflich empfunden und provoziert kaum Widerspruch.1
Für dieses Buch haben die renommierten Meinungsforschungsinstitute Allensbach und Ipsos MORI in Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA Umfragen zur Einstellung zu Reichen durchgeführt. Die erste Frage sollte ermitteln, in welchem Maß es gesellschaftlich toleriert wird, wenn man öffentlich negativ über Reiche spricht. Den Befragten wurde eine Liste vorgelegt, auf denen verschiedene Minderheiten genannt wurden: Muslime, Ausländer, Juden, Schwarze, Homosexuelle, Behinderte, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose – und Reiche. Darüber hinaus standen auch Frauen und Christen auf der Liste. Auf welche Gruppen, so wurde gefragt, trifft es zu, dass man mit öffentlicher Kritik besonders vorsichtig sein muss? In den vier Ländern waren die Menschen der Meinung, bei Reichen sei es am unproblematischsten, öffentlich schlecht über sie zu sprechen.2 Dagegen meinten in Deutschland und Frankreich 67 Prozent der Befragten, bei öffentlicher Kritik an Muslimen sei Vorsicht geboten – in Großbritannien sagten das 59 Prozent und in den USA 56 Prozent.
Seit Jahren kommt es immer wieder in diesen und anderen Ländern zu Terroranschlägen mit islamistischem Hintergrund. Nach solchen Anschlägen wurde von Politikern und Journalisten regelmäßig und eindringlich davor gewarnt, Muslime unter »Generalverdacht« zu stellen. »Nicht jeder Moslem ist ein Terrorist«, betonten die Medien. Die Mehrheit der Muslime seien gesetzestreue und friedliche Menschen. Wenn es dagegen Skandale gab, weil Manager versagten und dennoch hohe Abfindungen kassierten, weil Banker mit hohen Boni belohnt wurden, obwohl sie riskante Geschäfte machten, oder wenn aufgedeckt wurde, dass manche Reiche sich legal oder illegal vor Steuerzahlungen drücken, fanden sich in den Medien fast nie warnende Hinweise, dass man nicht verallgemeinern und Reiche, Manager oder Banker »nicht unter Generalverdacht« stellen dürfe. Im Gegenteil: Oft wurden solche Fälle generalisiert und pauschalisiert, wie die Medienanalyse in Teil B dieses Buches belegt.
Selbst die öffentliche Artikulation von ausgesprochenem Reichenhass hat selten negative Konsequenzen für den, der sich so äußert. Eines der wenigen Gegenbeispiele ist der Fall von Professor Chris Knight, einem anerkannten Anthropologen an der Universität von London. Er gab im März 2009 ein Radiointerview, nachdem das Haus und der Mercedes 600 des früheren Vorstandes der Royal Bank of Scotland, Sir Fred Goodwin, angegriffen worden waren. Eine für den Anschlag verantwortliche Gruppe erklärte: »Wir sind wütend, dass reiche Leute wie er sich Unmengen von Geld zuschanzen und in Luxus leben, während normale Menschen arbeitslos, mittellos und obdachlos gemacht werden.«3 Professor Knight meinte in dem Interview zu dem Opfer des Anschlags und zu einer angekündigten Demonstration: »Wir werden eine Menge Leute wie Fred the Shred [Sir Fred Goodwin] am 1. April an den Laternenmasten aufhängen und ich kann nur sagen: Hoffentlich werden es nur Puppen sein.« Er fügte hinzu: »Um ehrlich zu sein, wenn er uns weiter auf die Palme treibt, fürchte ich, dass echte Banker an den Laternen hängen werden. Man kann nur hoffen, dass es nicht wirklich dazu kommt.« Und: »Sie [die Banker] sollten endlich merken, wie viel Wut und Hass ihnen entgegenschlägt, und schnell handeln, denn, ganz ehrlich, Spaß kann rasch in Ernst umschlagen.«4
In einem anderen Zeitungsbericht hieß es: »Knights Garten ist voll mit selbst gefertigten Requisiten, darunter blutige Abbilder toter Banker. Die sollen an den Laternen aufgehängt werden, wenn die Demonstranten am 1. April an der ›Höhle des Löwen‹, der Bank of England, zusammenkommen.«5 Der Professor wurde daraufhin suspendiert. Er hatte eine Grenze überschritten. Heute lehrt er allerdings wieder – am University College London.
Weniger martialisch, aber durchaus radikal argumentierte der deutsche Philosoph Christian Neuhäuser, dessen Buch »Reichtum als moralisches Problem« (2018) viel beachtet und auch in bürgerlichen Zeitungen wohlwollend besprochen6 wurde. Reichtum, so die zentrale These des Philosophen, sollte eigentlich verboten werden. Reich sei jemand, »wenn er über deutlich mehr Geld verfügt, als man üblicherweise benötigt, um auf angemessene Weise auf sich selbst achtgeben und sich selbst als gleichrangigen Menschen respektieren zu können«.7 Da diese Formulierung etwas abstrakt ist, machte Neuhäuser klar, dass er keineswegs nur Millionäre oder Milliardäre meint, sondern »wirklich alle Menschen, die über mehr als 200 oder 300 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen«.8 Denn seiner Meinung nach hat jeder, der so viel verdient, deutlich mehr Geld, als er für seine Selbstachtung benötigt.
Moralisch problematisch sei Reichtum schon deshalb, weil er dem Reichen potenziell Macht über andere Menschen verleihe. Der Autor macht dies am Beispiel des Gründers von Microsoft deutlich: »Wenn ich einen sehr reichen Akteur, vielleicht Bill Gates, in seinem Stolz verletzt habe, kann er mich mit seinem Geld auf die grausamste Weise traktieren, ohne dass ich dagegen etwas tun könnte. Er kann mich mit endlos vielen Rechtsanwälten belästigen. Er kann das Unternehmen, für das ich arbeite, einfach kaufen und meinen Arbeitsplatz wegrationalisieren. Er kann mein ganzes Wohnviertel kaufen und nach Belieben verschandeln. Dasselbe kann er bei allen Menschen tun, die mir lieb sind. Immer wenn ich irgendwohin in den Urlaub fahre, kann er genau an diesem Ort eine nervtötende Veranstaltung organisieren. Er kann sich noch viel mehr Ärger für mich ausdenken.«9
Der Philosophieprofessor will Bill Gates dies nicht unterstellen, aber er will damit zeigen, dass Reiche allein durch ihren Reichtum eine Bedrohung für andere Menschen darstellen, weil sie ihren Reichtum ja theoretisch dafür nutzen könnten, solcherlei fiese Dinge zu unternehmen. Moralisch bedenklich ist Reichtum, folgt man der Logik des Autors, eigentlich immer. Denn er sei nicht nur dann ein Problem, wenn er sich ausnutzen lasse, um die Selbstachtung anderer Menschen zu verletzen. »Reichtum wird zweitens auch dann zu einem moralischen Problem, wenn sich das überzählige Geld leicht nutzen ließe, um Menschen mit einer verletzten Selbstachtung zu einem Leben in Selbstachtung zu verhelfen, dies aber nicht geschieht.«10 Neuhäuser hängt dem »Nullsummenglauben« an, wonach Reichtum nur gerechter verteilt werden müsse, damit es allen besser geht. Angesichts der Armut in der Welt erscheint somit jedweder Reichtum als moralisch problematisch, denn die Reichen könnten ihr Geld ja den Armen geben, um ihnen damit zu einem »Leben in Selbstachtung zu verhelfen«. Tun sie das nicht, so bedeutet das aus seiner Sicht eine unterlassene Hilfeleistung – und damit zeige sich, dass Reichtum moralisch bedenklich sei und daher verboten gehöre.
Meist werden Ressentiments gegen Reiche weder so aggressiv vorgetragen wie von dem britischen Anthropologen noch so ausführlich begründet wie von dem deutschen Philosophen. Aber Vorurteile über Reiche sind in allen Schichten der Gesellschaften verbreitet, wie in diesem Buch gezeigt wird.
Es gibt heute mehrere Tausend wissenschaftliche Bücher und Aufsätze zu Stereotypen und Vorurteilen. Allein das Literaturverzeichnis des Buches »Psychology of Prejudice and Discrimination«11 enthält etwa 2.400 Titel zur Vorurteilsforschung. Und eine bereits 1986 erschienene Bibliografie über »Stereotype, Vorurteile, Völkerbilder«12 enthält etwa 5.500 Titel. Die meisten Arbeiten erschienen zu Vorurteilen über Minderheiten (z. B. Schwarze, Homosexuelle, Juden), über Frauen und über andere Nationen. In den vergangenen Jahren gab es zunehmend auch Studien zu Vorurteilen und Stereotypen über arme Menschen.13 Über Stereotype und Vorurteile zu Reichen gibt es dagegen nur vereinzelt Forschungen, beispielsweise im Zusammenhang mit Arbeiten zu »Klassismus« (vgl. Kapitel 2) oder zum »Stereotype Content Model« (vgl. Kapitel 3). Eine große wissenschaftliche Studie zu diesem Thema gibt es dagegen bislang nicht – dieses Buch soll die Lücke füllen. Es besteht aus drei Teilen:
Im Teil A werden Methoden und Ergebnisse der Forschung zu Vorurteilen und Stereotypen dargestellt und es wird untersucht, welche dieser Methoden für die Erforschung von Vorurteilen über Reiche relevant sein könnten.
Teil B stellt die Ergebnisse der oben bereits erwähnten Umfragen in Deutschland, den USA, Großbritannien und Frankreich dar. Für diese Studie wurde die erste international vergleichende Befragung zur Einstellung der Bevölkerung über Reiche durchgeführt.
Teil C beschäftigt sich mit den Medien. Die meisten Menschen kennen persönlich keine Millionäre oder gar Milliardäre, so dass Medien für die Meinungsbildung eine besonders wichtige Rolle spielen. Dieser Teil untersucht das Bild von Reichen in Zeitungen, Zeitschriften und populären Kinofilmen.
Leser, die sich weniger für wissenschaftliche Definitionen und Forschungsdebatten interessieren, können das erste Kapitel überspringen, ohne dass sie fürchten müssen, dann nicht mehr folgen zu können. Im ersten Kapitel geht es um Definitionen und unterschiedliche Vorurteilsbegriffe, was nicht jedermanns Sache ist. Aber insgesamt habe ich dieses Buch – trotz des wissenschaftlichen Anspruchs – so geschrieben, dass es für ein breiteres Publikum verständlich und gut lesbar ist. Daher wurden auch die vielen Zitate aus englischsprachigen Fachzeitschriften und Büchern ins Deutsche übersetzt.
Als ich begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, fragten manche zweifelnd, ob sich das überhaupt lohne. Ich finde, grundsätzlich lohnt es sich immer, unser Wissen über bislang kaum erforschte Sachverhalte zu erweitern; und dazu gehört das Thema der Einstellungen gegenüber reichen Menschen. In der skeptischen Frage, warum man sich überhaupt mit Vorurteilen über Reiche befassen solle, schwingt manchmal jedoch – ausgesprochen oder unausgesprochen – die Haltung mit: »Selbst wenn es negative Vorurteile über Reiche gibt, dann können die doch ganz gut damit leben. Schließlich geht es ihnen viel besser als den meisten anderen Minderheiten.« In einer öffentlichen Diskussion hielt mir eine Politikerin der Partei »Die Linke« entgegen, als Reicher hätte ich ja mein Los selbst gewählt und – anders als etwa Schwarze – die Möglichkeit, mich des Problems zu entledigen, indem ich meinen Reichtum abgebe. Das schien mir ebenso verfehlt, wie es das Argument wäre, kein Moslem brauche sich über Vorurteile aufzuregen, denn er könne ja zum Christentum konvertieren.
Ich gebe zu, dass ich das auch deshalb anders sehe, weil ich zu den Reichen gehöre. Es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Menschen, die selbst von Vorurteilen betroffen sind, sich für deren Erforschung interessieren: Juden haben entscheidende Beiträge zur Erforschung des Antisemitismus geleistet und Frauen dominieren in der Gender-Forschung. Das ist für sich genommen völlig legitim. Doch persönliche Betroffenheit und ein verständliches Engagement in der eigenen Sache sollten gezügelt werden durch das für die Wissenschaft charakteristische Bemühen um Objektivität und Offenheit in der Forschung. Die empirischen Analysen für dieses Buch – Umfragen, Medienanalysen usw. – wurden allesamt von Wissenschaftlern durchgeführt, die keineswegs reich sind.
Das Thema bewegt mich als Historiker und Soziologe auch deshalb, weil wir aus der Geschichte wissen, dass negative Vorurteile und Stereotype die Basis dafür sind, dass in gesellschaftlichen Krisensituationen Minderheiten als Sündenböcke ausgegrenzt, vertrieben, verfolgt und ermordet werden. Das 20. Jahrhundert ist voll von Beispielen, in denen reiche Menschen (»Kapitalisten«, »Kulaken« und andere Gruppen) Opfer von Verfolgungen wurden. In der russischen Oktoberrevolution lautete eine der ersten Anweisungen des Chefs der Tscheka (der sowjetischen politischen Polizei): »Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus. Suchen Sie bei den Ermittlungen nicht nach Dokumenten oder Beweisen für das, was der Angeklagte in Worten oder Taten gegen die Sowjetmacht getan hat. Die erste Frage, die Sie ihm stellen müssen, lautet, welcher Klasse er angehört, was seine Herkunft, sein Bildungsstand, seine Schulbildung, sein Beruf ist.«14 Ende der 20er-Jahre führte die GPU (so die neue Bezeichnung der Tscheka) dann ein Quotensystem ein: Jede Region, jeder Bezirk musste einen bestimmten Prozentsatz von Personen verhaften, deportieren oder erschießen, die »feindlichen« Gesellschaftsschichten angehörten. In den 30er-Jahren wurden Hunderttausende »Kulaken« nur deshalb deportiert oder ermordet, weil sie wohlhabend waren.15
Hitler erklärte 1933, wenn er sich gegen den Kommunismus gewandt habe, »dann nicht wegen der 100.000 Bourgeois – das konnte gleichgültig sein, ob die zugrunde gehen oder nicht«. Er bewunderte Stalin für seine revolutionäre Konsequenz und äußerte laut den Berichten eines Vertrauten sein Verständnis dafür, »dass der Bolschewismus diese Kreaturen einfach beseitigt hat. Denn sie waren wertlos für die Menschheit, nur Belastung für ihr Volk. Auch die Bienen stechen die Drohnen ab, wenn sie dem Bienenstaat nichts mehr leisten können. Der bolschewistische Vorgang ist also ganz natürlich.«16
In den 1970er-Jahren brachten die Roten Khmer in Kambodscha Hunderttausende oder vielleicht sogar mehrere Millionen Menschen um (die genaue Zahl der Opfer ist unklar)17, wobei als Regel galt: »Je höher die Klasse vor der Revolution in der Sozialstruktur gelegen war, desto schneller galten die Menschen als Feinde der Revolution.«18 Menschen aus höheren sozialen Schichten bekamen so geringe Essensrationen, dass viele im Verlauf der Revolution an Unterernährung starben.19 Wer zu den oberen Wirtschafts- und Bildungsklassen gehörte, fiel dem Regime bereits bei allerkleinsten Vergehen oder Zeichen des Unmuts über die neue Ordnung zum Opfer.20 Die Verfolgung erfasste aber – wie auch in der Sowjetunion oder China – bald zahlreiche weitere gesellschaftliche Gruppen und beschränkte sich keineswegs auf die wirtschaftlich Bessergestellten. Am Anfang stand jedoch stets der Wille, die »Bourgeoisie« und andere »Reiche« zu vernichten; entweder ökonomisch oder auch physisch.
Vorurteile und Stereotype über gesellschaftliche Gruppen führen nur in Ausnahmesituationen zu solch dramatischen Konsequenzen, aber sie schaden auch in einer moderaten Form der Gesellschaft und keineswegs bloß den Reichen selbst. Das zeigt das Beispiel der Finanzkrise, die im Jahr 2008 ausbrach. Wenn die tatsächlichen, sehr komplexen Ursachen einer solch dramatischen Krise21 nicht zutreffend analysiert werden, sondern Politik und Medien sich damit begnügen, Sündenböcke (Reiche, gierige Banker und Manager) an den Pranger zu stellen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die wirklichen Probleme ungelöst bleiben. Ressentiments gegen Reiche haben auch in demokratischen Staaten oft zu wirtschaftlich negativen Konsequenzen geführt, wie etwa das Beispiel von Schweden und Großbritannien in den 70er-Jahren zeigt, wo eine extreme Hochsteuerpolitik und Verstaatlichungen zu massiven Wohlstandsverlusten führten.22
Vorurteile müssen jedoch keineswegs immer negativer Natur sein, wie im ersten Kapitel dieses Buches gezeigt. Auch Menschen, die Reiche positiv sehen, haben häufig Vorurteile. So denken beispielsweise viele Menschen, Reiche seien besonders fleißig, was zwar im Allgemeinen zutrifft, aber mit Sicherheit nicht der entscheidende Grund dafür ist, warum es ein Mensch zu Reichtum bringt. Auch jene Medienberichte, in denen Reiche positiv dargestellt werden, zeichnen häufig – wie in Kapitel 18 gezeigt wird – ein Zerrbild über das Leben der Reichen. Die meisten Menschen, gleichgültig ob sie Reiche positiv oder negativ sehen, haben Vorstellungen darüber, warum Menschen reich werden und wie die Reichen leben, die von Vorurteilen und Stereotypen geleitet sind. Sie treffen manchmal zu, oft aber nicht.
Für Reiche gilt ebenso wie für andere Minderheiten: Negative Vorurteile und Stereotype wirken sich in der Regel verhängnisvoller aus als positive Vorurteile und Stereotype. Bevor wir mit dem eigentlichen Thema beginnen, lohnt es sich, ausführlicher der Frage nachzugehen, was überhaupt Vorurteile und Stereotype sind.
Vorurteile kann man über vieles haben, aber meist wird der Begriff heute in Verbindung mit Urteilen über Gruppen von Menschen gebraucht. Oft geht es um die Beurteilung von Minderheiten. Wenn wir im Alltagssprachgebrauch sagen, jemand habe ein Vorurteil über eine Gruppe von Menschen, dann schwingt dabei meist nicht nur ein Vorwurf mit, sondern eine Reihe von Vorwürfen. Wohl selten gebrauchen wir den Begriff, wenn jemand eine positive Meinung über eine Gruppe von Menschen hat. Und wir gebrauchen den Begriff umgangssprachlich auch nicht, wenn wir die Meinung des anderen teilen bzw. als richtig ansehen. Indem wir den anderen als Träger eines Vorurteils bezichtigen, wollen wir sagen: »Du hast eine negative Meinung über eine Gruppe von Menschen und diese Meinung ist falsch.«
Diese alltägliche Verwendung des Wortes ist problematisch. Denn es stecken unausgesprochene Annahmen darin, die überprüfungsbedürftig sind.
Die erste Annahme lautet: Ein Vorurteil ist eine falsche, irrtümliche Meinung.
Die zweite Annahme lautet: Ein Vorurteil ist eine negative Meinung oder Einstellung.
Die dritte Annahme lautet: Hätte sich der Mensch, den wir des Vorurteils bezichtigen, nur eingehender informiert, dann wäre er zu einer anderen, positiveren Meinung gelangt.
So verwendet ist »Vorurteil« jedoch kein wissenschaftlicher Begriff, sondern eher ein rhetorischer Kampfbegriff. Und so wird er auch meist in der Alltagssprache verwendet. Wenn beispielsweise jemand über einen anderen sagt: »Der hat Vorurteile gegen Migranten«, dann will er damit sagen, der andere habe negative Meinungen und Gefühle über Migranten, diese Ansichten seien jedoch irrtümlich bzw. ungerechtfertigt, und der Irrtum sei dadurch zustande gekommen, dass sich der andere nicht gründlicher über Migranten informiert habe.
Wissenschaftler, die sich mit dem Begriff und seiner Bedeutung intensiv befasst haben, stellen vieles von dem, was im Alltagssprachgebrauch mitschwingt, infrage. Viele Wissenschaftler bestreiten, dass ein Vorurteil unbedingt falsch sein muss. Manche bestreiten auch, dass es unbedingt negativ sein muss. Auf beide Punkte werde ich später zu sprechen kommen.
Ich möchte mit der kompliziertesten Frage beginnen, nämlich damit, ob ein Vorurteil dadurch charakterisiert ist, dass sich jemand nicht intensiv, nicht ausführlich genug mit einem Thema – bzw. mit einer Gruppe von Menschen – befasst hat. Die Wortbedeutung legt dies nahe, denn das Präfix »Vor«, das vor dem Urteil steht, bedeutet ja, dass jemand ein Urteil gefällt hat, bevor er sich intensiver mit etwas befasst hat. Diese allgemeine Verwendung des Wortes kommt auch in der Definition der deutschen
Wikipedia-Version zum Ausdruck: »Vorurteil heißt ein Urteil, das einer Person, einer Gruppe, einem Sachverhalt oder einer Situation vor einer gründlichen und umfassenden Untersuchung, Abklärung und Abwägung zuteil wird, ohne dass die zum Zeitpunkt der Beurteilung zur Verfügung stehenden Fakten verwendet werden.«23 In eine ähnliche Richtung weist die Definition im Chambers English Dictionary (1988). Prejudice wird dort definiert als »ein Urteil oder eine Meinung, die vorschnell oder ohne angemessene Überprüfung formuliert wird«.24
Diese Definitionen lassen viele Fragen offen, wenn man genauer darüber nachdenkt. Wer verwendet vor der Urteilsbildung wirklich »die zum Zeitpunkt der Beurteilung zur Verfügung stehenden Fakten«? Ist es nicht eine Illusion, dass die Mehrheit der Menschen bei den meisten Dingen, über die sie urteilen, sämtliche Fakten kennt bzw. berücksichtigt und sich ein Urteil nur nach einer »umfassenden Untersuchung, Abklärung oder Abwägung« bildet? Diese Ausweitung des Vorurteilsbegriffs macht sämtliche Urteile, die nicht von spezialisierten Wissenschaftlern getroffen werden, zu Vorurteilen.
Eine unausgesprochen in vielen Vorurteilsbegriffen enthaltene Fehlannahme besteht darin, dass eine intensive Beschäftigung mit einem Thema und genaue Kenntnisse automatisch vor negativen Vorurteilen bewahren. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil Werturteile eben generell nicht aus Tatsachenfeststellungen oder -abwägungen ableitbar sind. Hat jemand tief sitzende negative Gefühle gegenüber einer Gruppe von Menschen, dann wird ihn oftmals auch eine intensive Beschäftigung mit dieser Gruppe von Menschen nicht zu einer positiveren Einstellung bringen. Ohne dass ihm dies bewusst ist, nimmt er stärker das zur Kenntnis, was ihn in seiner negativen Einstellung bestärkt. Gegenläufige Informationen nimmt er möglicherweise sogar zur Kenntnis, aber er interpretiert sie um: »Das ist ja nur die Ausnahme, welche die Regel bestätigt.« Es ist eher eine Frage der Bildung und der sprachlichen Fähigkeit, ob jemand seine negative Einstellung mit vielen Fakten und in einer sachlich anmutenden Sprache begründet oder ob er seinen negativen Emotionen einfach in Form abfälliger Äußerungen ihren Lauf lässt.
Es gibt sogar Wissenschaftler, die ihr ganzes Leben damit verbringen, Fakten zu sammeln, die ihr ursprüngliches Ressentiment über ein Thema bestärken. Man kann zu Recht einwenden, diese Wissenschaftler seien gar keine, weil ein solches Vorgehen nicht den Kriterien der Wissenschaft genüge. Aber sie werden als solche angesehen, sind zum Teil Professoren an angesehenen Universitäten und verwenden Methoden, Argumentationsstrategien und die Sprache der Wissenschaft. Man kann ihnen viel vorwerfen, aber sicherlich nicht, dass sie sich nicht ausreichend mit einem Thema befasst hätten.
Wie kompliziert die Sache bei genauerem Nachdenken ist, zeigt sich daran, dass die Zahl der Definitionen des Begriffs Vorurteil fast so groß ist wie die Zahl der Autoren, die darüber schreiben. Einige dieser Definitionen will ich im Folgenden darstellen und diskutieren, um dann zu erklären, wie ich den Begriff Vorurteil in diesem Buch verwende.
Allport nannte in seinem Klassiker »The Nature of Prejudice« als kürzeste Definition von Vorurteil: »Von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken.«25 Er fügte hinzu, diese erste Annäherung an den Begriff sei unzulänglich, und schrieb, »dass wir Vorurteil auch so definieren könnten: eine ablehnende oder feindselige Haltung gegen eine Person, die zu einer Gruppe gehört, einfach deswegen, weil sie zu dieser Gruppe gehört und deshalb dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man dieser Gruppe zuschreibt.«26
Nicht jede negative Generalisierung sei jedoch ein Vorurteil, sondern Allport hält den Begriff nur dann für gerechtfertigt, wenn die Person nicht bereit ist, ihr Urteil angesichts abweichender Informationen zu ändern. »Voreingenommenheiten sind nur dann Vorurteile, wenn sie angesichts neuer Informationen nicht geändert werden können.«27
Nun wissen wir jedoch, dass ein Vorurteil nicht in jedem Fall unabänderlich ist und dass Menschen oder ganze Gesellschaften die Einstellung zu anderen Gruppen von Menschen ändern können. Letzteres kann manchmal schon in wenigen Jahrzehnten geschehen, wie die Änderung der Einstellung in vielen westlichen Gesellschaften zu Homo-sexuellen zeigt.
Etwas genauer scheint daher – allerdings nur mit Blick auf die Frage der Unabänderlichkeit und Starrheit – die Definition, die Davis 1964 vorschlug. Er behauptet nicht, dass Vorurteile irreversibel seien, sondern sagt, dass sie sich nur schwer korrigieren ließen, was den Sachverhalt genauer trifft: »Vorurteile sind negative oder ablehnende Einstellungen einem Menschen oder einer Menschengruppe gegenüber, wobei dieser Gruppe infolge stereotyper Vorstellungen bestimmte Eigenschaften von vornherein zugeschrieben werden, die sich aufgrund von Starrheit und gefühlsmäßiger Ladung selbst bei widersprechender Erfahrung schwer korrigieren lassen.«28 Allerdings hat diese Definition andere Schwächen, weil sie Vorurteile generell auf negative Einstellungen verkürzt.
In der frühen Vorurteilsforschung wurden Vorurteile oft sogar als Krankheiten und als Ausdruck von Persönlichkeitsstörungen betrachtet. Demnach wären Vorurteile eher Ausnahmen als die Regel. Wolf hat 1969 zwischen der Ausnahme- und der Gleichheitsthese unterschieden. Nach der Gleichheitsthese handelt es sich bei der Entstehung von Vorurteilen um einen unvermeidlichen Prozess, der alle Menschen betrifft. »Niemand ist demnach vorurteilsfrei, nur müsse nach Intensität und Objekt des jeweiligen Vorurteils unterschieden werden.«29 Die Ausnahmehypothese geht dagegen von der Vorurteilsbehaftetheit als individuelle, persönlichkeitstypische Form des Verhaltens aus. Klassisch dafür ist das von Adorno und anderen entwickelte Konzept der »Autoritären Persönlichkeit«. Problematisch daran ist, dass derjenige, der bestimmte politische Meinungen der Forscher nicht teilte, allzu rasch als »vorurteilsbehafteter Mensch mit pathologischer Charakterstruktur« galt.30 So wurde in der sogenannten E-Skala, die diese Forscher entwickelten, eine Aussage wie »Patriotismus und Gesetzestreue sind die ersten und wichtigsten Erfordernisse für einen guten Staatsbürger« als Element des Ethnozentrismus bewertet.31 In diesen Definitionen schwang stets die Ansicht mit, ein Vorurteil sei unangemessen. Es werde der sozialen Gruppe nicht gerecht und sei falsch.
Ein wichtiges Kriterium des Vorurteils im allgemeinen Bewusstsein, so Estel, stelle die »sachliche Unangemessenheit, seine Falschheit« dar.32 Als überwiegend falsch oder zumindest als schief bzw. einseitig müsse es gelten, wenn
– »(1) die ihm zugrunde liegende (richtige) Informationsbasis zu schmal ist, um wirklich ein Urteil zu erlauben (›Vorausurteil‹), wenn
– (2) der Urteilende von den an sich zur Verfügung stehenden nur bestimmte Informationen seinem Urteil zugrunde legt (›Voreingenommenheit‹, ›Vorgefasstheit‹) oder wenn
– (3) er sich weigert, dem Urteil widersprechende (neue) Informationen zur Kenntnis zu nehmen (›Starrheit‹).«33
Diese Kriterien erscheinen fragwürdig, denn dann wären fast alle Urteile, die wir in Alltagssituationen fällen, Vorurteile: Wann ist eine Informationsbasis zu schmal und wann ist sie ausreichend, um nicht als Vorurteil zu gelten? Sind unmittelbare persönliche Erfahrungen mit dem zu beurteilenden Sachverhalt oder der zu beurteilenden sozialen Gruppe eine ausreichende Voraussetzung oder müssen diese ergänzt werden durch eingehende Recherchen oder gar durch quasiwissenschaftliche Informationsaufbereitung? Dies wird für jeden Menschen nur ausnahmsweise zu leisten sein. Auch das Kriterium, dass von den zur Verfügung stehenden Informationen nur bestimmte verwertet und dem Urteil zugrunde gelegt werden, trifft im strengen Sinne immer zu und dürfte auch im weiteren Sinne für die meisten Urteile zutreffen. Und dass wir häufig der Tendenz unterliegen, unseren Urteilen widersprechende Informationen weniger zur Kenntnis zu nehmen (selektive Wahrnehmung), ist bekannt.
Zudem wird es auch zwischen Menschen, die über vergleichbar umfangreiche Kenntnisse und Informationen verfügen, nicht unbedingt einen Konsens geben, wie diese zu gewichten und zu bewerten seien. Ansonsten müssten alle gleich gut informierten Personen beispielsweise eine ähnliche politische Gesinnung oder Weltanschauung haben. Das ist bekanntlich nicht der Fall. Selbst nach sehr umfangreicher und intensiver Befassung mit einem Thema werden Menschen zu unterschiedlichen Urteilen gelangen. Das gleiche Urteil kann aus Sicht des einen ein grobes Vorurteil sein, das auf einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit beruht, während es für den anderen eine Tatsachenfeststellung ist.
Estel kritisierte die Fixierung auf die »Unhaltbarkeit« des Vorurteils: »Die Psychologisierung muss als eine Forschungsstrategie begriffen werden, die angesichts der wirklichen oder hypostasierten Unhaltbarkeit des ›Vorurteils‹ die Wahrheitsintentionen des Urteilenden, die Urteilsgenese, wie sie sich in seinem Bewusstsein darstellt, und mithin seine Erfahrungen übergeht. Bildhaft gesprochen, stellt die Erklärung der Vorurteile die Verurteilung des Individuums in einem Prozess dar, in dem es nicht angehört wird und es keinen Verteidiger gibt.«34
Wolf gibt folgende Definition: »Als Vorurteil bezeichnen wir eine verbindliche Stellungnahme über einen Gegenstand, ohne dass dem Stellungnehmenden die empirische Sachstruktur ausreichend objektiv bekannt ist oder von ihm berücksichtigt wird. […] Die Definition enthält ein Haupt- und zwei Nebenkriterien, die letzten beiden schließen sich gegenseitig aus: a) Die Verbindlichkeit (Hauptkriterium), b) Die nicht vorhandene, ausreichend objektive Kenntnis, c) Die Nichtberücksichtigung dieser Kenntnis; Vorurteile sind somit durch die Kriterien a+b oder a+c definiert.«35
Die Schwäche dieser Definition liegt u. a. in der Unklarheit, was denn eine »ausreichend objektive Kenntnis« ist, damit ein Urteil nicht als Vorurteil gilt. Wann ist meine Kenntnis ausreichend? Und: Fast jede Meinung, die von einem Menschen vertreten wird, dem »die empirische Sachstruktur (nicht) ausreichend objektiv bekannt« ist, wird auch von Menschen vertreten, die sich als Spezialisten intensiv mit dem Thema befasst haben. Große Sachkenntnis führt also keineswegs automatisch zu einem ganz bestimmten Urteil und nicht vorhandene Sachkenntnis führt nicht zwingend zu einem falschen Urteil. Beispiel: Bei vielen Aktientransaktionen haben Verkäufer und Käufer die gleichen Informationen, haben sich gleich intensiv mit den Fakten auseinandergesetzt und kommen dennoch zu entgegengesetzten Urteilen, weshalb der eine kauft und der andere verkauft.
Haben wir vielleicht Vorurteile über Vorurteile? Von amerikanischen Forschern wurde kritisiert, dass Vorurteile oder Stereotype selbst stereotypisiert worden seien, indem ihnen immer wieder Eigenschaften wie »ungenau«, »nicht gerechtfertigt«, »übertrieben«, »nicht empirisch belegt« zugeschrieben worden seien, ohne dabei eine empirische Prüfung dieser »Eigenschaften« vorzunehmen.36
Manche Wissenschaftler haben sich bemüht herauszufinden, ob ein als Vorurteil bezeichnetes Urteil sachlich richtig oder falsch sei. So haben sie Versuchspersonen schätzen lassen, wie häufig ein Verhalten auftrete, das nach einem verbreiteten Stereotyp schwarzen Amerikanern zugeschrieben wird. Für jeden Versuchsteilnehmer wurde ein »diagnostisches Verhältnis« ermittelt, indem der von ihm geschätzte Prozentsatz, zu dem Schwarze das Verhalten zeigten, dividiert wurde durch den Prozentsatz aller Amerikaner, die das gleiche Verhalten zeigten. Dies wurde mit Daten aus der offiziellen US-Bevölkerungsstatistik verglichen.37
Bei einem anderen Versuch wurden die Teilnehmer gebeten, die Noten von kanadischen Highschool-Studenten aus neun unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu schätzen. Danach wurde das Ranking, das sich aus diesen Schätzungen ergab, mit dem tatsächlichen Ranking verglichen. In beiden Fällen erwiesen sich die Schätzungen als ziemlich gut.38
Jussim führt zahlreiche Studien auf, in denen Wissenschaftler versuchten, mit statistischen Vergleichen zu prüfen, ob und in welchem Maße Stereotype richtig oder falsch sind.39 Hier stellen sich zahlreiche Fragen, so etwa, wann ein Stereotyp zutrifft und wann nicht: Ab welcher Abweichung zwischen dem vermuteten und dem tatsächlichen Befund muss man davon sprechen, dass das Stereotyp falsch ist? Jussim nimmt als allgemeinen Richtwert, dass ein Stereotyp dann als richtig gelten könne, wenn es statistisch gesehen eine Korrelation von mindestens .4 zwischen dem Stereotyp und der Realität gebe.40
Manche Wissenschaftler wandten gegen solche Untersuchungen zur Richtigkeit von Stereotypen ein: Selbst wenn sich entsprechende Korrelationen zwischen dem Stereotyp und den realen Gegebenheiten nachweisen ließen, dann sei es dennoch unzulässig, von den stereotypisierten Eigenschaften auf ein einzelnes Mitglied der Gruppe zu schließen. Dies ist jedoch kein ernstzunehmender Einwand gegen die Durchführung solcher Untersuchungen, denn es gehört nicht zum Wesen eines Stereotyps, dass es für jede einzelne Person der Gruppe zutreffen muss. »Die Richtigkeit einer Ansicht über Asiaten im Allgemeinen lässt sich nicht dadurch überprüfen, dass man die Eigenschaften meines Freundes Hong als Kriterium anlegt.«41
Gegen die Prüfung von Vorurteilen durch Tests wie die oben beschriebenen gibt es aus meiner Sicht berechtigte und unberechtigte Kritik. Zu der unberechtigten Kritik zähle ich Argumente volkspädagogischer Natur, die darauf hinauslaufen, dass eine Überprüfung von Vorurteilen zu unerwünschten, »gefährlichen« Ergebnissen führen könne: »Als Wissenschaftler, die an einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse interessiert sind, müssen wir misstrauisch gegenüber allen Argumenten sein, die zur Rechtfertigung von Stereotypen genutzt werden könnten.«42 Eine solche volkspädagogische Argumentation, die dem Motto folgt, »dass nicht sein kann, was nicht sein darf«, ist wenig überzeugend.
Es gibt jedoch auch berechtigte Zweifel an den Verfahren, welche die Richtigkeit oder Falschheit von Vorurteilen prüfen sollen. In manchen Fällen wird es durchaus möglich sein, auf diese Weise zu prüfen, ob ein Stereotyp zutrifft oder nicht. Ein Problem besteht indes darin, dass viele Vorurteile und Stereotype nicht – wie in den oben genannten Beispielen – überprüfbare demografische oder andere Eigenschaften betreffen, sondern abstrakte Attribute wie etwa »freundlich« oder »faul«, die naturgemäß schwerer überprüfbar sind.43
Brown wendet sich zu Recht gegen die in vielen Vorurteilsdefinitionen explizit oder implizit enthaltene Annahme, ein Vorurteil sei falsch oder irrational bzw. beruhe auf einer unzulässigen Generalisierung. Diese Definition gehe von der Annahme aus, dass wir feststellen könnten, ob ein Urteil richtig oder falsch sei. Dies sei jedoch schon deshalb oft nicht möglich, weil Vorurteile häufig in einer mehrdeutigen und vagen Art formuliert würden, was eine Überprüfung schwer mache. Wenn ein Vermieter sich dagegen wende, einem Farbigen eine Wohnung zu vermieten, weil diese oft »Probleme verursachten«, dann sei das eine Aussage, deren Tatsachengehalt schon wegen der wenig präzisen Formulierung schwer überprüfbar sei.44
Viele dieser Aussagen sind nur schwer überprüfbar, z. B. ob Italiener bessere Liebhaber seien als andere Menschen (ein positives Vorurteil) oder ob Amerikaner kulturlos seien. Dies liegt schon daran, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber geben mag, was ein guter Liebhaber ist und was als kulturlos gelten soll und was nicht. Und oft wird es keine empirischen Untersuchungen geben, die Hinweise auf den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen liefern könnten.
Hinzu kommt: In vielen Vorurteilen ist ein Kern Wahrheit enthalten, was auch Menschen einräumen würden, die dieses Vorurteil nicht teilen – und die lediglich die Generalisierung der Aussage infrage stellen. Dies wird von Anhängern der »Kernel of truth«-Theorie stark betont. Sie betonen, Stereotype enthielten oft einen wahren Kern und der Fehler bestehe lediglich in der unzulässigen Verallgemeinerung. Dies kritisieren wiederum »Konstruktivsten«, die eine Diskussion über den Wahrheits- bzw. Realitätsgehalt von Stereotypen für überflüssig halten, was ihre Grundauffassung reflektiert, wonach sich eine objektive Realität ohnehin nicht erkennen lasse, sondern es sich letztlich um Konstrukte handelt.45 Auch wenn man diese konstruktivistische Position nicht teilt, ist es aus den beschriebenen Gründen oft schwierig zu beurteilen, ob ein Vorurteil oder Stereotyp gänzlich oder überwiegend falsch ist, ob es einen Realitätsgehalt hat oder nicht.
Ein zusätzliches Problem entsteht dadurch, dass in der Alltagssprache anders formuliert wird als in der Wissenschaft. Wenn jemand sagt, »Reiche hinterziehen Steuern«, dann meint er vermutlich nicht, dass alle Reichen Steuern hinterziehen. Es wäre plump, denjenigen, der eine solche Aussage trifft, mit dem Hinweis widerlegen zu wollen, dass die Aussage bestimmt nicht auf alle Reichen zutrifft. Im strengen Sinne wäre ja die Aussage »Reiche hinterziehen Steuern« (wenn sie im Sinne von »alle« verstanden wird) schon widerlegt, wenn man einen einzigen Reichen benennen würde, der keine Steuern hinterzieht. Damit würde man es sich aber zu einfach machen, denn mit der Aussage »Reiche hinterziehen Steuern« ist vermutlich gemeint, dass Reiche häufiger Steuern hinterziehen als der Durchschnitt der Bevölkerung bzw. als Geringverdiener.
Aber auch eine solche Aussage ist in dieser Form kaum zu überprüfen. Erstens ist nicht klar, was mit »Reiche« gemeint ist. Umfragen belegen, dass die Vorstellungen in der Bevölkerung darüber, wer reich ist, sehr weit auseinandergehen: Für manche beginnt der Reichtum schon mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 3.000 Euro, für andere erst bei einem Vermögen von mehreren Milliarden. Selbst wenn man sich darüber verständigen könnte, was ein Reicher ist, wäre die Aussage dennoch kaum überprüfbar. Ist damit gemeint, dass es unter Reichen mehr Steuerhinterzieher gibt als in anderen Bevölkerungsgruppen? Aufgrund der hohen Dunkelziffer bei diesem Delikt ist das schwer zu überprüfen. Zudem müsste man berücksichtigen, dass Laien sprachlich nicht zwischen Steuerhinterziehung im rechtlichen Sinn und exzessiven Steuergestaltungen (legale Steuervermeidungsstrategien) unterscheiden.
Menschen treffen ihre Aussagen eben naturgemäß meist nicht in einer Form, in der Wissenschaftler Aussagen treffen – und schon allein deshalb ist es schwer zu überprüfen, ob die Aussage über eine andere Gruppe von Menschen zutrifft oder nicht. Das zeigt folgendes Gedankenexperiment: Wenn die oben beschriebenen Aussagen (Vorurteile) von einem Studenten als wissenschaftlich zu überprüfende Hypothesen formuliert würden, dann würde er mit Sicherheit von seinem Professor darauf hingewiesen, dass die Aussagen viel zu unbestimmt seien und dass man sie anders formulieren müsse, um sie überprüfen zu können.
Wir dürfen aber Anforderungen, die in der Wissenschaft selbstverständlich sind, nicht an die Alltagssprache von Menschen stellen. Niemand sagt in der Alltagskonversation: »Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund bei Gesetzesverstößen ist signifikant höher als der entsprechende Anteil bei Deutschen ohne Migrationshintergrund.« Nur eine solche Aussage könnte man überprüfen, wobei man selbst dann vor dem Problem stünde, dass manche Wissenschaftler fordern, man dürfe – um nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen – nur zwischen sozial identisch zusammengesetzten Personengruppen vergleichen, also z. B. zwischen jungen Männern ohne Schulabschluss und mit Migrationshintergrund mit jungen Männern ohne Schulabschluss und ohne Migrationshintergrund. Manche Wissenschaftler meinen, dass man spezifische Delikte (wie etwa Verstoß gegen Aufenthaltsbestimmungen), die nur von Ausländern begangen werden können, bei einem solchen Vergleich herausrechnen müsse. Andere Wissenschaftler werden bestreiten, dass zur Überprüfung der oben getroffenen Aussage diese Unterscheidungen und Bereinigungen zwingend seien. Am Ende kommen zwei Wissenschaftler, die überprüfen wollten, ob die oben beschriebene Aussage richtig oder falsch ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Schon die Tatsache, dass vielfach kein Konsens darüber zu erzielen sein wird, ob ein Vorurteil richtig oder falsch ist, spricht dafür, dies nicht zum Kriterium dafür zu machen, ob es sich um ein Vorurteil handelt.
Brown definiert Vorurteile als »jegliche Haltung, Emotion oder Verhaltensweise gegenüber Angehörigen einer Gruppe, die eine direkte oder indirekte negative Einstellung oder Antipathie gegenüber dieser Gruppe impliziert«.46 Gegen diese Definition spricht, dass nur negative Einstellungen zu einer Gruppe als Vorurteil angesehen werden, obwohl Brown selbst einräumt, dass es auch positive Vorurteile über Gruppen von Menschen gibt. Dovidio u. a. vertreten dagegen eine Definition, die auch positive Einstellungen umfasst: »Vorurteile sind (subjektiv sowohl positive als auch negative) individuelle Einstellungen gegenüber Gruppen und ihren Angehörigen, die hierarchische Beziehungen zwischen den Gruppen schaffen oder verfestigen.«47
In der Tat spricht nichts dafür, nur Vorurteile mit negativem Vorzeichen als solche zu bezeichnen. Die Annahme, ein Vorurteil sei erstens ein falsches und zweitens ein negatives Urteil, führt logisch zu dem Schluss, dass das »richtige« Urteil über eine Gruppe stets ein positives sein müsse. Dies entspricht dem optimistischen Menschenbild der Aufklärung, ist jedoch selbst ein Vorurteil.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer beschreibt, anders als viele Definitionen, die bislang vorgestellt wurden, das Vorurteil im Sinne von zu erweiternder Vor-Meinung wertfrei als Vor-Stufe der Erkenntnis. Er beharrt darauf, dass das Vor-Urteil in seiner ursprünglichen und in seiner juristischen Bedeutung als »prae judicum« nicht etwa schon ein positives oder negatives Urteil vorwegnahm. »Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung. […] Erst durch die Aufklärung [findet] der Begriff des Vorurteils die uns gewohnte negative Akzentuierung.«48
Dieser wertfreien Sichtweise näher kommt eine jüngere Definition, wonach das Vorurteil als Assoziation zwischen der Gedächtnisrepräsentation der sozialen Gruppe und einer negativen (ggf. auch positiven) Bewertung verstanden wird, die quasi automatisch aktiviert wird, wenn Hinweise auf das Einstellungsobjekt präsent sind.49
Nicht ganz eindeutig ist die Abgrenzung zwischen dem Begriff »Stereotyp« und »Vorurteil«. Je nachdem, welche Definition man zugrunde legt, bezeichnen beide Begriffe sogar das Gleiche. In einem Standardlehrbuch von Kite und Whitley wird Vorurteil, in Anlehnung an Brewer und Braun, wie folgt definiert: »Ein Vorurteil ist eine Haltung gegenüber Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. […] Als Haltung gilt die Bewertung von oder emotionale Reaktion auf soziale Gruppen oder einzelne Personen, die ihr angehören.«50 Stereotyp wird wie folgt definiert: »Stereotype sind Ansichten und Meinungen über Merkmale, Eigenschaften und Verhaltensweisen von Angehörigen verschiedener Gruppen.«51
Thiele konstatiert in ihrem Forschungsüberblick: »Klischee und Stereotyp stehen in engem Zusammenhang mit dem Begriff Vorurteil, der als Verfestigung stereotypen, klischeehaften Denkens beschrieben wird. […] Nicht ganz eindeutig ist die Abgrenzung des Vorurteils vom ebenfalls überwiegend negativ konnotierten Stereotyp. Beide folgen Kategorisierungen. Sie sind aber nicht dasselbe. Vielmehr setzen sich Vorurteile aus verschiedenen Stereotypen zusammen, sind so etwas wie zu Einstellungen und Überzeugungen verfestigte Stereotypenbündel. Beide aber, Stereotype wie Vorurteile, sind ohne Zuschreibungen von positiven wie negativen Eigenschaften nicht denkbar.« Dies unterscheide sie vom neutralen Begriff der »Kategorie«.52 Manche Forscher sehen den Unterschied zwischen Vorurteil und Stereotyp darin, dass Stereotype stärker mit Wahrnehmungs- und Denkprozessen in Verbindung gebracht werden, Vorurteile außerdem mit (negativen) Gefühlen und Bewertungen.53
Die Unterscheidung zwischen Stereotyp und Vorurteil ist jedoch aus meiner Sicht nicht von großem Erkenntniswert. Beide Begriffe werden unterschiedlich definiert und oft überlappen sich die Definitionen. Wenn es am Ende darauf hinausläuft, dass Vorurteile »Stereotypenbündel« darstellen und noch stärker mit Gefühlen verbunden sind, dann mag dies als Unterscheidung genügen.
Zwar wird auch der Begriff Stereotyp oft mit einem negativen Beiklang verwendet, jedoch hat er aus meiner Sicht gegenüber dem Begriff Vorurteil wenigstens den Vorzug, dass bei Vorurteil schon in der Wortbedeutung die These mitschwingt, es handle sich um ein vorschnelles Urteil oder um ein Urteil, das sich jemand gebildet habe, bevor er sich intensiver mit dem Thema befasst hat.
Stereotype werden wertneutral als »wahrgenommene Korrelationen zwischen der Gruppenzugehörigkeit einerseits und einer Merkmals- oder Verhaltensdimension andererseits« definiert.54 Stereotype sind daher »kognitive Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Angehörigen sozialer Kategorien enthalten«.55
Nach der Theorie der Selbstkategorisierung sind Stereotype eine Folge der Kategorisierung. Demnach handelt es sich um einen normalen Prozess der Generierung von Bedeutung in einem gegebenen sozialen Kontext. Nach diesem Verständnis sind Stereotype weder kognitive Verzerrungen oder irrational noch starr oder schablonenhaft, wie es in anderen Definitionen nahegelegt wird.56
Thiele beobachtet jedoch eine normative Tendenz in der Verwendung des Stereotyp- begriffs: »Betrachtet man die Entwicklung der Begriffsdefinitionen über diesen längeren Zeitraum, zeichnet sich eine normative Tendenz ab, wonach Stereotype als Fehlwahrnehmungen konzeptualisiert wurden und daher per se ›schlecht‹ und zu bekämpfen waren.«57 Ob die Tendenz wirklich dahin geht, den Begriff des Stereotyps normativ zu verwenden, kann man indes bezweifeln. Jussim kritisiert in Abschnitt VI seines 2012 erschienenen Buches »Social Perception and Social Reality« mit überzeugenden Argumenten die verbreitete Vorstellung, Stereotype seien notwendigerweise falsch. Im allgemeinen Sprachgebrauch, so Jussim, sei die Vorhaltung, der andere folge in der
Betrachtung einer Gruppe einem Stereotyp, gleichbedeutend mit dem Vorwurf, dieser liege falsch. Ausgesprochen oder unausgesprochen sei damit die Behauptung verbunden: »Meine Überzeugungen sind vernünftig, rational und angemessen; deine sind, zumindest wenn sie von den meinen abweichen, bloß Stereotype.«58
Von den modernen Definitionen bezeichnet Jussim die von Ashmore und Del Boca als die überzeugendste: »[…] Ein Stereotyp ist ein Raster von Überzeugungen zu den persönlichen Eigenschaften einer sozialen Gruppe.«59 Diese Definition sei deshalb treffend, weil sie Dinge offenlasse, die in anderen Definitionen unterstellt würden:
»Stereotypen können oder können nicht
1) zutreffend und rational sein,
2) weit verbreitet sein,
3) bewusst getroffen werden,
4) hartnäckig sein,
5) Unterschiede zwischen Gruppen übertreiben,
6) unterstellen, dass Unterschiede zwischen Gruppe grundsätzlicher Natur sind oder biologisch vorgegeben werden,
7) Vorurteile reflektieren oder erzeugen,
8) zu Urteilsverzerrungen oder sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führen.«60
Stereotype, so zeigt Jussim, können manchmal zutreffend und rational sein, manchmal unzutreffend und irrational. Er kritisiert den negativen Beiklang, den es häufig hat, wenn erklärt wird, dass Stereotype mentale Abkürzungen und Verallgemeinerungen seien. »Gleichwohl kann Generalisierung als eine außergewöhnliche kognitive und intellektuelle Errungenschaft angesehen werden, die eine der zentralen Stärken des Menschen ausmacht und keineswegs für Denkfaulheit oder Simplizität steht. Wer unfähig ist zu Generalisierungen und Abstraktionen, ist kognitiv ernsthaft beeinträchtigt. Auch wissenschaftliche Theorien erfordern häufig enorme Sprünge von spezifischen Beobachtungen zu generellen Prinzipien. […] Ohne die Fähigkeit zur Generalisierung hätte der Homo sapiens mutmaßlich nicht seine derzeitige Position als mächtigste Spezies auf Erden errungen.«61
Vielleicht sollten wir es uns etwas einfacher machen: Was geschieht im Kopf eines Menschen, der Vorurteile gegen eine Gruppe von Menschen hegt?
Er sieht den Angehörigen einer spezifischen Gruppe von Menschen. In seinem Kopf werden spontan Assoziationen aktiviert, weil er bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen mit dieser Gruppe von Menschen assoziiert, die er für charakteristisch hält. Diese Assoziationen sind mit wertenden Urteilen verknüpft (»kalt«, »faul«, »fleißig«, »intelligent«) und lösen ganz bestimmte Emotionen aus.
Unmaßgeblich ist meiner Ansicht nach, ob ein Mensch diese Assoziationen spontan in Form gefühlsbetonter Äußerungen artikuliert oder ob er versucht, die damit verbundenen Urteile und Emotionen zu rationalisieren und sprachlich anspruchsvoller zu formulieren.
Er überträgt diese Assoziationen auf die konkrete Person: Je nach Vorzeichen des Vorurteils gegen die Gruppe fällt das Urteil über die konkrete Person vorteilhafter oder unvorteilhafter aus, als es ohne diese gruppenbezogenen Assoziationen ausgefallen wäre.
Selbst dann, wenn es offensichtlich ist, dass diese Assoziationen nicht zu der konkreten Person passen, ändert sich nicht sein Urteil über die gesamte Gruppe, sondern er sieht diese Person als »Ausnahme, die die Regel bestätigt«. Da ein Vorurteil nicht ohne weiteres durch Kenntnis von Fakten oder Wahrnehmungen, die diesem widersprechen, korrigiert werden kann, ist es zäh.
Soziale Vorurteile sind daher Assoziationen (meist wertender Natur) zu Eigenschaften einer Gruppe von Menschen, die von einer anderen Gruppe von Menschen für charakteristisch gehalten werden. Diese Assoziationen werden jedoch in keinem Fall von allen Menschen geteilt, weil es sich nicht um unstrittig vorhandene bzw. charakteristische Eigenschaften der Gruppe handelt. Vielmehr sind es Zuschreibungen und Verallgemeinerungen, die aus Sicht des Vorurteilsträgers richtig sind, über deren Berechtigung es jedoch unterschiedliche Ansichten gibt, was besonders dann zu kontroversen Diskussionen führt, wenn die Assoziationen und Zuschreibungen ausgesprochen negativ sind.
Charakteristisch für das Vorurteil ist, dass der Vorurteilsträger die einzelne Person aufgrund der Assoziationen zur Gruppe – je nach Vorzeichen des Vorurteils – eben ausschließlich aufgrund der Gruppenzugehörigkeit in der Regel besser oder schlechter beurteilt. Eagly und Diekman schreiben: »Die negativere Beurteilung von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe konstituiert ein rolleninkongruentes Vorurteil.«62
Unmaßgeblich ist aus meiner Sicht, ob das Vorurteil richtig oder falsch ist und ob es positiv oder negativ ist. Positive Vorurteile sind beispielsweise Aussagen wie: »Italiener sind gute Liebhaber.« Aber selbst die Frage, ob ein Vorurteil positiv oder negativ ist, wird manchmal unterschiedlich beantwortet. So gibt es Wissenschaftler, die die Meinung, Frauen seien »hilfsbereit«, »warmherzig«, »verständnisvoll« nicht als positives Vorurteil betrachten, sondern sogar in solchen Zuschreibungen versteckt negative Vorurteile sehen.63
Wie gezeigt, ist es oft schwer oder sogar unmöglich festzustellen, ob ein Urteil richtig oder falsch ist. In diesem Buch werde ich nur ausnahmeweise auf die Frage eingehen, ob die Vorurteile und Stereotype über reiche Menschen zutreffen oder nicht. In manchen Fällen fiele das schon deshalb schwer, weil eine Messung auf Hindernisse stoßen würde: Wie will man beispielsweise messen, ob Reiche »kaltherzig« sind? In anderen Fällen wäre es zwar möglich festzustellen, ob ein Vorurteil richtig ist – ob beispielsweise reiche Menschen intelligenter sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Aber in vielen Fällen, wo dies grundsätzlich möglich wäre, gibt es einfach keine wissenschaftlichen Untersuchungen, sodass zumindest heute keine Aussage darüber getroffen werden kann, ob das Vorurteil zutrifft oder nicht.
Pettigrew und Meertens unterscheiden zwischen offenen Vorurteilen (blatant prejudice) und subtilen Vorurteilen (subtle prejudice). Diese Unterscheidung wird heute betont, da angesichts des Wertewandels und einer verbreiteten politischen Korrektheit Vorurteile gegen bestimmte Gruppen (z. B. Migranten) oft nicht mehr offen geäußert werden. Denn die Betreffenden realisieren, dass die Äußerung solcher Vorurteile sozial unerwünscht ist. Daher, so wird argumentiert, seien durch Befragungen, in denen direkt gefragt wird – den Befragten also offen negative Aussagen über Gruppen vorgelegt werden –, Vorurteile nicht mehr ohne Weiteres zu messen. So würden die wenigsten Menschen, die Vorbehalte gegen Juden haben, diese offen äußern, selbst wenn die Befragung anonym erfolgt. Daher sind Forscher dazu übergegangen, ergänzend zu direkten Fragen andere Analysemethoden zu entwickeln, die es erlauben, subtilere Formen von Vorurteilen zu erfassen. So wird beispielsweise mit Reaktionszeitverfahren gemessen, wie rasch bestimmte Begriffe assoziiert werden.64
Subtile Vorurteile zeichnen sich durch drei Komponenten aus:65 Die erste Komponente stelle die »Verteidigung traditioneller Werte« dar, wobei kritisch gesehen werde, dass sich Fremdgruppenmitglieder nicht gemäß diesen Werten verhielten. Die zweite Komponente stelle eine Überprononcierung kultureller Unterschiede dar, sodass die Differenzen zwischen der Eigen- und der Fremdgruppe stark betont würden. Die dritte Komponente bestehe in einer Abwesenheit jeglicher positiven Emotionen für Mitglieder der Fremdgruppe.
Einzuwenden ist, dass mit dem Begriff der »subtilen« Vorurteile eine Gefahr der Inflationierung des Begriffes einhergeht. So heißt es in einem Beitrag, der den Unterschied zwischen offenen und subtilen Vorurteilen erklärt, Personen mit subtilen Vorurteilen bekundeten, dass sie zwar nicht alle Einwanderer abschieben wollten, wohl aber solche, für die »sich ein nicht mit Vorurteilen assoziierter Grund finden lässt (z. B. Abschiebung nach Straftaten)«.66 Damit werden Personen, die dafür plädieren, Straftäter abzuschieben, als vorurteilsbehaftet bezeichnet, was aus meiner Sicht eine willkürliche Zuschreibung ist.
Ein anderes Beispiel: Als »symbolischer Rassismus« (dieser Begriff ist ähnlich dem des »subtilen Vorurteils«) wird beispielsweise folgende Einstellung bewertet: »eine Zurückhaltung gegenüber der besonderen Förderung von Schwarzen in Beruf, Bildung, Wohlfahrt etc.«67 Damit wird jeder, der gegen eine »positive Diskriminierung« (»affirmative action«) ist, als Träger von Vorurteilen gegen Schwarze bezeichnet. Dabei kann man zwar davon ausgehen, dass jeder, der Vorurteile gegen Schwarze hat, auch gegen »positive Diskriminierung« ist, aber keineswegs erscheint es gerechtfertigt, jeden, der gegen »positive Diskriminierung« ist, als Person einzuordnen, die Vorurteile gegen Schwarze hegt.
Ein drittes Beispiel: In einer Forschungsarbeit über islamfeindliche Stereotype werden auf einer Stufe offenkundige Ressentiments wie »Muslime sind Lügner und Heuchler« oder »Der Islam ist kulturlos sowie dem Westen unterlegen« mit Meinungen aufgeführt, die sicherlich nicht nur Islamfeinde teilen, wie z. B. »Der Islam ist homosexuellenfeindlich« oder »Der Islam stellt einen Antipoden der Moderne dar«.68
Pettigrew und Meertens unterscheiden zwischen den beiden Formen des »blatant« (offensichtlichen) und »subtle« (subtilen) Vorurteils. Von den beiden Forschern wird jedoch bereits die Tatsache, dass jemand traditionelle Werte als wichtig empfindet und konservativen Überzeugungen anhängt, als eine von mehreren Komponenten für subtile Vorurteile bewertet.69 Und selbst eine Aussage wie etwa jene, dass illegale oder kriminelle Migranten abgeschoben werden sollten, wird als Indiz für subtilen Rassismus angeführt.70 Wer etwa dafür plädiert, »Ausländer abzuschieben, wenn sie schwere Verbrechen begangen oder keinen gültigen Aufenthaltsstatus haben«71, wird als Träger subtiler Vorurteile betrachtet. Letztlich gelten in dieser Sicht nur jene Personen als nicht vorurteilsbehaftet, die einer extrem-egalitären Weltanschauung anhängen und die für eine bestimmte Art der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik eintreten. Damit wird der Begriff Vorurteil zu einem Kampfbegriff gegen politisch Andersdenkende – in diesem Fall gegen Konservative.
Der gemeinsame Ausgangspunkt von Konzepten wie »ambivalenter Rassismus« »symbolischer Rassismus«, »moderner Rassismus«, »aversiver Rassismus« usw. ist die These, dass sich »positive multikulturelle Einstellungen häufig als Lippenbekenntnisse [erwiesen], hinter denen sich Antipathien gegenüber ethnischen Minderheiten verbargen«.72 Ähnliches gilt für Konzepte wie das des »modernen Sexismus«, die davon ausgehen, dass Vorurteile und diskriminierende Verhaltensweisen gegenüber Frauen aufgrund der öffentlichen Diskussion um die gesellschaftliche Gleichstellung von Frau und Mann sozial unerwünschten Charakter erhalten haben und daher weniger offen und direkt geäußert werden, als es noch vor Jahren und Jahrzehnten der Fall war.73
Zwischen vorurteilsfreien Personen und solchen mit offenen und subtilen Vorurteilen wird wie folgt unterschieden: »Vorurteilsfreie Personen internalisieren die Norm, während Personen mit offenen Vorurteilen sie ignorieren oder zurückweisen. Personen mit subtilen Vorurteilen verhalten sich weitestgehend entsprechend der Norm […], zeigen aber entsprechend ihren subtil-ausländerfeindlichen Einstellungen ein ausländerfeindliches Verhalten, wenn sie sich in einem Umfeld befinden, das ein derartiges Verhalten akzeptiert, oder wenn sie zu diskriminierendem Verhalten von Personen in verantwortlicher Position aufgefordert werden und sie damit die Verantwortung für ihre Handlungen vermeintlich nicht selbst tragen.«74
Es scheint – gemäß der Theorie der Schweigespirale – zwar plausibel, dass sich Menschen nicht mehr trauen, als Vorurteil gebrandmarkte Einstellungen offen zu artikulieren, jedoch scheint es ebenso plausibel, dass sich Einstellungen z. B. zu Homosexuellen tatsächlich (und nicht nur oberflächlich oder vermeintlich) in den vergangenen 50 Jahren stark geändert haben. Und es besteht die Gefahr, dass bei indirekten Messungen Ansichten als rassistisch oder sexistisch klassifiziert werden, die auch Menschen teilen, die damit zu Unrecht als Rassisten oder Sexisten kategorisiert werden.
Aosved u. a. haben einen Fragebogen entwickelt, der Intoleranz messen soll. Menschen, die gegenüber einer Gruppe Vorurteile hegten und intolerant seien, seien dies häufig auch gegenüber anderen Gruppen. Der Test setzt sich aus Fragen zusammen, die Vorurteile gegenüber sechs Gruppen betreffen:
– Vorurteile aufgrund sexueller Orientierung (z. B. gegen Homosexuelle),
– »klassistische« Vorurteile (gegen Arme),
– sexistische Vorurteile (gegen Frauen),
– rassistische Vorurteile (z. B. gegen Schwarze),
– Ageism (Vorurteile gegen Alte),
– religiöse Intoleranz.
Die insgesamt 54 Fragen zeigen, wie problematisch die Messung von Vorurteilen ist. Einerseits ist es zwar zutreffend, dass man Vorurteile nicht einfach anhand direkt rassistischer, sexistischer Aussagen usw. messen kann, weil die Befragten wegen der hohen sozialen Unerwünschtheit beispielsweise nicht offen zugeben werden, wenn sie Schwarze oder Juden ablehnen. Andererseits ist es problematisch, wenn stattdessen Aussagen herangezogen werden, bei denen es sich um legitime politische Meinungsäußerungen handelt, die zwar auch von Menschen mit Vorurteilen gegen bestimmte Gruppen geäußert werden, aber eben keineswegs nur von solchen. Beispiele aus dem Fragebogen75:
»Ehen zwischen zwei Lesbierinnen sollten legal sein.« (umgekehrte Polung)
»Ich befürworte Gesetze, die es Angehörigen ethnischer Minderheiten erlauben, auch dann eine Immobilie zu mieten oder zu kaufen, wenn der Verkäufer oder Vermieter nicht an Minderheiten verkaufen oder vermieten will.« (umgekehrte Polung)
»Ethnische Minderheiten haben mehr Einfluss auf die Zusammensetzung von Schulen, als ihnen gebührt.«
»Ethnische Minderheiten treten in ihrer Forderung nach Gleichberechtigung allzu fordernd auf.«
»Die meisten alten Menschen können nerven, weil sie immer wieder die gleichen Geschichten erzählen.«
»Von meinem Steuergeld wird zu viel ausgegeben für Leute, die nicht für sich selbst sorgen wollen.«
»Im Gefängnis sitzen mehr Arme als Reiche, weil arme Leute mehr Verbrechen begehen.«
Wir haben gesehen, dass in der modernen Vorurteilsforschung zunehmend mit impliziten Messmethoden gearbeitet wird, um das Problem sozial erwünschter Antworten zu reduzieren. Dieses Problem stellt sich umso mehr, je stärker die öffentliche Artikulation offen rassistischer oder sexistischer Einstellungen tabuisiert ist. In diesen Fällen führt eine direkte Befragung nicht unbedingt dazu, Vorurteile zu ermitteln. Franco und Maass sind der Frage nachgegangen, wann Vorurteile mit expliziten und wann sie mit impliziten Methoden gemessen werden sollten.
Implizite Methoden sind u. a.:76
– Formulierung der Statements in einer Befragung in einer so »soften« Form, dass die Teilnehmer nicht befürchten müssen, bei Zustimmung als sexistisch oder rassistisch angesehen zu werden.
– Physiologische Messungen während des Kontaktes mit Minderheiten (Nähe, Augenkontakt etc.).
– Sprachliche Messungen: Wenn Personen über Fremdgruppen stärker abstrakt sprechen (»die Ausländer sind …«) als über die Eigengruppe, wird dies als Indiz für Vorurteile betrachtet.
– Reaktionszeitmessungen, bei denen sich die Versuchspersonen nicht darüber bewusst sind, dass ein Label für eine Gruppe oder Kategorie aktiviert wurde.
Da Befragungen einfacher durchzuführen sind als implizite Verfahren und Letztere die oben beschriebenen Probleme einer Inflationierung des Vorurteilsbegriffs begünstigen, ist eine Entscheidung darüber zu treffen, wann mit direkten Befragungen gearbeitet werden kann, ohne große Verzerrungen befürchten zu müssen. Die Autoren gehen davon aus, dass direkte Methoden umso unproblematischer sind, je schwächer die moralischen Normen gegen eine Diskriminierung der betreffenden Gruppe ausgeprägt sind.
Die Forscher stellten fest, in welchem Maße 13 soziale Gruppen durch Normen vor öffentlichen negativen Äußerungen geschützt sind. Auf einer Skala von 1 (» negative Äußerungen sind absolut inakzeptabel«) bis 9 (»negative Äußerungen sind absolut akzeptabel«) rangierten Juden bei 2,1 und islamische Fundamentalisten bei 7,1. In Italien galt es Ende der 90er-Jahre, dem Ort und Zeitpunkt dieser Studie, als sozial hochgradig unerwünscht, negative Äußerungen über Behinderte, Juden und Schwarze abzugeben. Die Gruppen am anderen Ende der Skala, also Gruppen, über die negativ gesprochen werden konnte, ohne dass dies sanktioniert wurde, waren Mafiosi, Skinheads und islamische Fundamentalisten. Etwa in der Mitte bewegten sich Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Hare-Krishna-Anhänger.77
Die Hypothese lautete, dass die Ergebnisse direkter und indirekter Messungen bei Gruppen, bei denen die Äußerung von Vorurteilen in hohem Grade als sozial unerwünscht gilt (z. B. Juden), stärker auseinanderfallen als bei Gruppen, bei denen es keine starken Normen gegen die Äußerung negativer Urteile gibt (z. B. islamische Fundamentalisten). Diese Hypothese konnte in mehreren Versuchen bestätigt werden.
In der vorliegenden Arbeit geht es um reiche Menschen: Meine Hypothese vor Beginn der Befragung lautete, dass Menschen in höherem Maße bereit sind, negative Äußerungen über Reiche zu artikulieren als über andere Minderheiten (wie etwa Schwarze oder Juden). Diese Hypothese wurde mit einer Frage in dem Fragebogen geprüft und bestätigt (vgl. dazu Seite 158 f.). Doch auch wenn es richtig ist, dass die Äußerung negativer Urteile über Reiche in weitaus höherem Maße »erlaubt« ist als die über andere Minderheiten, schien es dennoch bei der repräsentativen Befragung wichtig, darauf zu achten, dass die Fragen nicht zu apodiktisch formuliert werden, weil dadurch möglicherweise doch ein Reflex in Richtung sozialer Erwünschtheit ausgelöst würde (»man soll über andere nicht so schlecht und verallgemeinernd sprechen«). Dies trifft besonders für Fragen zu, die den Neid auf Reiche betreffen, da die Äußerung von Neid – ganz allgemein – als unerwünscht gilt und wir aus der psychologischen Forschung wissen, dass sich viele Menschen nicht einmal selbst bewusst sind, wenn sie Neid hegen (vgl. dazu Kapitel 4).
Seit vor etwa 100 Jahren Walter Lippmanns Klassiker »Public Opinion« erschien (1921), befasst sich die Wissenschaft mit Vorurteilen und Stereotypen, wobei die Forschung allein in den vergangenen Jahrzehnten Tausende Aufsätze und Bücher hervorgebracht hat. Es wurden vor allem folgende Vorurteile und Stereotype untersucht:78
– Räumliche Stereotype (z. B. über andere Länder oder Regionen),
– ethnische/»rassische« Stereotype (z. B. über Schwarze oder »Zigeuner«),
– geschlechtliche und sexuelle Stereotype (z. B. über Frauen, Homosexuelle),
– Altersstereotype,
– berufliche Stereotype,
– ökonomische und Klassenstereotype,
– Körperstereotype (z. B. über Übergewichtige).
Zu Recht wird nach einer Begründung dafür gefragt, »warum diese und nicht auch andere Stereotyparten untersucht werden«.79 Offensichtlich ist, dass »manchen Arten von Stereotypen mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wird als anderen«.80 Besonders intensiv wurden rassistische und sexistische Vorurteile untersucht. Dagegen spielt die Forschung zu Stereotypen über Berufe eine untergeordnete Rolle. Wenn Stereotype über Berufe erforscht wurden, dann dominierten Studien zu Journalisten, Politikern, Wissenschaftlern und Ärzten. Bevorzugt wurden diejenigen Berufsgruppen untersucht, die eine akademische Ausbildung verlangen, zumeist die klassischen Professionen.81