Die gestohlenen Kristalle Geysirenlands - Birgit Gürtler - E-Book

Die gestohlenen Kristalle Geysirenlands E-Book

Birgit Gürtler

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Beschreibung

In Island werden Häuser und Straßen so errichtet, dass Feen, Elfen und Trolle nicht gestört werden. Aber gibt es diese Wesen wirklich? Lebt tatsächlich ein Stamm namens Huldufólk unsichtbar unter den Menschen?Eric hat keine Ahnung von all dem, denn er lebt isoliert von der Außenwelt bei seinem Onkel, bis ihm eines Tages ein Rabe berichtet, dass dort seine Heimat sei und nur er die Welten retten kann.Zusammen mit zwei Gnomen macht sich Eric auf in ein gefährliches Abenteuer.

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Birgit Gürtler

Die gestohlenen Kristalle Geysirenlands

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Die gestohlenen Kristalle Geysirenlands

Birgit Gürtler

 

In Island werden Häuser und Straßen so errichtet, dass Feen, Elfen und Trolle nicht gestört werden. Aber gibt es diese Wesen wirklich? Lebt tatsächlich ein Stamm namens Huldufólk unsichtbar unter den Menschen?

Eric hat keine Ahnung von all dem, denn er lebt isoliert von der Außenwelt bei seinem Onkel, bis ihm eines Tages ein Rabe berichtet, dass dort seine Heimat sei und nur er die Welten retten kann.

Zusammen mit zwei Gnomen macht sich Eric auf in ein gefährliches Abenteuer.

 

Copyright: © Birgit Gürtler - publiziert von telegonos-publishing

Cover: © Kutscher-Design

Lektorat: Nathalie C. Kutscher - Kutscher-Lektoratsservice

 

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der Website)

Kontakt zum Autor: www.birgitguertler.de

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

Kapitel 1

 

Eric stand am Fenster des einsam stehenden Schlosses und blickte auf die hügelige Landschaft, deren Gräser alles in ein dunkles Grün tauchten.

Er war einen Tag zuvor zehn Jahre alt geworden. Ein Alter, in dem man anfing, Dinge zu hinterfragen. Und über eine Sache dachte er besonders viel nach.

Noch nie im Leben hatte er die Mauern seines Zuhauses verlassen. Niemals den Duft der Welt da draußen gerochen. Der einzige Mensch, mit dem er je gesprochen hatte, war sein Onkel. Ein strenger Mann, der sich immer in einen hellbraunen Anzug kleidete und eine Weste über dem weißen Hemd trug, aus deren Tasche die silberne Kette einer Taschenuhr hing. Den rötlichen Bart hatte er an den Enden spitz zusammengezwirbelt.

„Du wirst sehr krank werden, oder sogar sterben, solltest du das Schloss auch nur für einen kurzen Moment verlassen!“, mahnte der Onkel regelmäßig. Er blickte dabei so düster, dass Eric Angst und bange wurde.

Die Fenster waren vorsorglich mit Schlössern versehen. Niemand kam in je besuchen. Aber mit Menschen rechnete Eric in dieser abgelegenen Gegend von Island sowieso nicht. Weit und breit war kein Haus zu sehen, noch ein Zeichen von Leben wahrzunehmen. Als ob er der einzige Junge auf der ganzen Welt sei.

Eric wollte gerade wiederholt darüber grübeln, was es noch für einen Grund geben könnte, dass er hier eingesperrt und isoliert lebte, denn krank fühlte er sich ganz und gar nicht, als der Vogel wieder auftauchte.

Es war ein schwarzer Rabe und sein einziger Freund. Seit einem halben Jahr kam er regelmäßig ans Fenster geflogen. Anfangs dachte Eric, er würde kleine Kunststücke vorführen, doch von Tag zu Tag wurde seine Vermutung stärker, dass der Vogel ihm etwas sagen wollte.

Spätestens, als er seinem Onkel von dem Raben berichtet hatte, war Eric überzeugt, dass es sich um mehr als einen gewöhnlichen Vogel handeln musste. Denn er hatte beobachtet, wie sein Onkel auf der Lauer gelegen hatte, um den Vogel zu fangen.

Seitdem tat Eric so, als hätte er den Raben nicht mehr wieder gesehen.

Wie immer pickte der Rabe zur Begrüßung fünf Mal gegen das dicke Glas, durch das sonst nie Geräusche von außen drangen. Er richtete abwechselnd seine Flügel in den Himmel, reckte den Schnabel in die Höhe und flatterte etwas nach oben, um dann auf das Fensterbrett zurückzukehren. Bevor er Eric wieder verließ, schüttelte er den Kopf, als wäre er enttäuscht.

Und plötzlich meinte Eric zu wissen, was er all die Monate nicht verstanden hatte. Hektisch klopfte er gegen das Glas, in der Hoffnung, dass der Rabe wiederkommen würde. Dieser machte einen Bogen, blickte zum Fenster und kam zurückgeflogen.

Erics Herz raste in seiner Brust, als er fünf Mal klopfte und den Finger nach oben richtete.

Der Vogel riss die Augen auf, nickte mit dem Kopf und flog aufwärts. Eric sprang zur Tür seines Zimmers, öffnete einen Spalt, um sich zu vergewissern, dass Onkel Theodor nichts mitbekam.

Der Flur lag wie immer menschenleer vor ihm. Eric schlich an der Sammlung von Ritterrüstungen vorbei, die drohend ihre Schwerter hielten, entlang an Gemälden, auf denen Tiere des Waldes und Frauen in bunten Kleidern gemalt waren. Er erreichte die Treppen aus weißem Marmor und rannte einen Stock höher.

Wenn er sich nicht total irrte, dachte er bei sich, würde der Rabe exakt an dem Fenster sitzen, das über seinem Zimmer lag. Eric kannte jeden Zentimeter dieses Schlossteils. Er wusste genau, wo er nachsehen musste.

Mit angehaltenem Atem drückte er die metallene Klinke der Holztür und blickte an das Fenster. Tatsächlich! Der Rabe saß dort und hüpfte auf dem Fensterbrett, als er Eric erblickte. Er vollführte abermals die gleichen Bewegungen und flog nach oben.

Wo wollte der Vogel ihn hinlocken? Eric verließ den Raum und rannte die weißen Treppen weiter hinauf in den letzten Stock. Wieder traf er den Vogel am Fenster an. Das war aufregend! Außer Atem beobachtete er, wie der Vogel mit seinem Flügel nach rechts deutete, so folgte ihm Eric von Zimmer zu Zimmer. Langsam wurde ihm mulmig zumute. Das nächste Fenster befand sich in einem der verbotenen Räume. Es war Onkel Theodor vorbehalten. Natürlich hatte Eric bereits seine Nase hineingesteckt, doch aus Angst erwischt zu werden, sich nur kurz darin aufgehalten. Manchmal hatte er sich heimlich die Bücher aus dem Regal stibitzt, um sie nachts zu lesen.

Erics Herz raste, sodass es ihm in den Ohren rauschte, als er den Raum betrat. Staub tanzte im Sonnenstrahl, der durch das Fenster schien. Ausgestopfte Tiere standen verteilt am Boden oder waren an den Wänden befestigt. Ein Bär entblößte furchteinflößende Zähne. Die scharfen Krallen hielt er drohend vor sich. Eric war es unheimlich unter all den Augen, die ihn zu beobachten schienen, und hastete an das Fenster, wo der Rabe bereits wartete.

Eric sog die Luft ein.

„Das gibt`s doch nicht“, murmelte er und starrte auf den Fenstergriff. Kein Schloss!

Der Rabe pickte gegen das Glas. Was sollte er jetzt tun? Was, wenn es stimmte und er todkrank werden würde, wenn er die Luft da draußen einatmete? Die Sporen und Keime, vor denen Theodor immer mahnte? Doch Eric wollte unbedingt wissen, was es mit dem Vogel auf sich hatte.

Der Rabe blickte ungeduldig und pickte erneut gegen das Fenster.

Eric hatte richtig Angst, als seine Hand den Fenstergriff umschloss. Was, wenn er einfach die Luft anhielt?

Mit angehaltenem Atem öffnete Eric. Der Wind wehte durch sein blondes Haar, kitzelte ihm im Gesicht. Er meinte zu träumen, als er den Raben sprechen hörte.

„Mensch Junge! Jetzt flieg ich schon monatelang Tag für Tag an dein Fenster und du kapierst erst heute, was ich von dir will? Mein Name ist Bo.“ Der Vogel schaute erwartungsvoll. „Was ist? Wieso sagst du nichts? Hat es dir die Sprache verschlagen, weil du mich reden hörst?“

Eric schüttelte den Kopf. Dann nickte er. Er wusste überhaupt nicht, wo ihm der Kopf stand, so aufgeregt war er.

„Ich darf den Wind nicht einatmen, sonst muss ich sterben“, presste er mit letzter Kraft hervor. Er konnte es kaum noch aushalten, die Luft anzuhalten.

„Papperlapapp“, krächzte der Vogel. „Eine böse Lüge. Du sollst nicht erfahren, wer du wirklich bist. Jetzt sei kein Weichei. Atme!“

„Weichei?“, beschwerte sich Eric und holte tief Luft, ohne dass er es gewollt hatte.

„Und? Lebst du noch?“, fragte der Rabe. Er rollte mit den Augen, als er Eric dabei beobachtete, wie er sich erschrocken an der Brust herumtastete.

„Mein Onkel sagt, dass ich von dem Schmutz in der Luft krank werde und sogar sterben könnte.“

„Unfug. Er ist nicht einmal dein richtiger Onkel. Er hat dich gestohlen aus dem Geysirenland. Es ist jetzt nicht der passende Moment, um dir alles zu erklären. Du musst mich unbedingt begleiten. Wir treffen uns am Geysirentor.“

Eric runzelte die Stirn. „Woher soll ich wissen, wo das Geysirentor ist? Ich habe noch nie das Schloss verlassen.“

„Man kann nie wissen, wo sich das Tor herumtreibt. Dein Onkel hat einen silbernen Kompass, der zeigt dir den Weg.“

„Na toll. Mein Onkel. Wie soll ich denn da drankommen?“

„Bist du ein Kerl oder ein Bübchen? Lass dir gefälligst etwas einfallen.“

Plötzlich hallten laute Schritte auf den Holzdielen des Flurs. Der Rabe huschte vom Fensterbrett. Eric schloss hastig das Fenster und verkroch sich neben einem Stapel Holzkisten, die hinter dem wuchtigen Schreibtisch aufgestapelt waren.

Die Tür sprang auf. Erics Herz raste. Onkel Theodor betrat mit ausladenden Schritten das Zimmer und ließ sich in seinen Ohrensessel fallen, der am Schreibtisch stand.

Eric spähte zwischen den Holzlatten der Kisten hindurch. Er beobachtete, wie Theodor an der silbernen Kette seiner Weste zog und einen Deckel an dem silbernen Gehäuse öffnete. Theodor blickte auf zwei rote Nadeln, die Eric aus seinem Versteck gut sehen konnte. Sie tanzten unruhig hin und her, bis der Deckel wieder zuschnappte.

„Hinterlistiges Tor. Ich werde dich schon noch überlisten. Alles wird mir gehören. Mir allein“, hörte ihn Eric in seinen Bart grummeln.

Eric riss die Augen auf. Die Taschenuhr war gar keine Uhr. War das der Kompass, von dem Bo gesprochen hatte?

Kurz darauf zog sein Onkel einen der Gegenstände aus der Hosentasche, die Eric genau so krank machen würden, wie die Sporen und Keime der Luft: ein elektronisches Gerät. Eric wusste aus seinen Büchern, dass man damit mit anderen sprechen konnte, egal wie weit entfernt sie voneinander waren.

Eric mahlte die Zähne aufeinander und verengte die Augen. Ob tatsächlich alles eine große Lüge war? Seine Eltern vielleicht gar nicht tot sind? Was wusste Bo alles über ihn? Eric blickte wütend durch die Holzlatten. Er hatte schon immer geahnt, dass Theodor ihn nicht mochte, doch dass er als Kind von ihm entführt wurde, das hätte sich Eric in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Er musste Bo an diesem komischen Tor treffen, wenn er mehr erfahren wollte. Eine ziemlich verflixte Sache war das. Theodor trug den Kompass stets an seiner Weste. Wie sollte er da dran kommen?

Eric lauschte dem Telefonat, das Theodor führte.

„Nein, der Kompass spielt noch immer verrückt. Ist mir egal, was ihr mit dem Jungen anstellt. Wir brauchen ihn nicht mehr. Ja, ja, ich bereite alles für die Exkursion vor. Nahrung, Wasser, Zelte und was wir sonst noch benötigen, steht schon dort, wo ich das Tor bald erwarte. Woher ich das weiß?“ Theodor lachte. „Das hat mir eine schwarze Elfe verraten. Lass das mal mein Problem sein.“ Theodor beendete das Gespräch und schnaufte. Etwas schien ihn zu ärgern.

Eric ahnte, dass er Bo gerade rechtzeitig kennengelernt hatte.

Nachdem Theodor das Zimmer verlassen hatte, wartete Eric, bis die Schritte im Flur verhallten, ehe er aus seinem Versteck hervorkroch. Er blickte sich genauer um. Bücher über Island standen in den Regalen. Märchen und Sagen aus der Region. Viele davon hatte er schon gelesen. Es ging um Kobolde und Zwerge, die nachts in Island umherstreifen. Um Feen und das unsichtbare Volk. Eric zog die Schubladen auf, doch darin lagen nur lose Blätter, auf einigen waren Notizen gekritzelt.

Eric stöhnte. Er war noch nie im anderen Teil des Schlosses gewesen. Wie sollte er so den Kompass finden?

 

Es war bereits Nacht, doch der Himmel war noch immer in einen rötlichen Schimmer gehüllt, den die Mitternachtssonne ausstrahlte. In Island ging im Sommer die Sonne nie ganz unter. Dann waren die Schatten am längsten, und das Sonnenlicht fiel so flach auf das Land, dass alle Farben seltsam zu leuchten begannen. Im Winter dagegen gab es nur vier Stunden Tageslicht. Nachts tanzten dann die Nordlichter am Firmament. Geheimnisvoll zogen Schleier, Bögen und Formen in verschiedenen Farben am Himmel vorüber.

Eric stand am Fenster seines Zimmers und grübelte. Mit geschlossenen Augen dachte er an den Wind, wie er ihm über die Haut gefahren war. Wie frisch und klar er gerochen hatte. Eric atmete tief ein. Tat ihm etwas weh? Er schürzte die Lippen, tastete seinen Körper entlang, aber alles war normal. Er fühlte sich genau so gesund wie noch am Morgen.

Plötzlich sprang die Tür zu seinem Zimmer auf. Eric fuhr herum. Es war Theodor, der, wie meist spät am Abend, vorbeikam, um nach dem Rechten zu sehen.

„Na, hast du schon alle Bücher gelesen?“, fragte er und ließ seinen Blick über das Buchregal an der Wand gleiten.

Am liebsten las Eric Reiseführer und sah sich Bildbände über andere Länder und deren Bewohner an.

Eric nickte. „Klar. Alle schon durch.“

Theodor setzte sich auf einen der Stühle, der an einem runden Tischchen stand und zog mit seinem Finger die Mosaiksteine der Tischplattenverzierung nach.

„Hör mal. Ich muss für eine Zeit verreisen. Ich habe eine Klinik gefunden, in der ich dich unterbringe. Möglich, dass sie dir dort mit einem neuen Medikament helfen können.“

Eric blickte misstrauisch in die strengen grauen Augen. Seitdem er Bo kennengelernt hatte, vertraute er Theodor nicht mehr.

„Aber du hast doch gesagt, dass ich die Luft außerhalb des Schlosses nicht einatmen darf. Ich sonst sterben könnte.“

„Willst du, dass es dir besser geht, oder nicht? Ich muss mich jetzt um meine Geschäfte kümmern“, brummte er. „Pack zwei Koffer mit dem, was du brauchst. Morgen früh wirst du abgeholt.“ Ohne ein weiteres Wort stand er auf, zog aus dem Flur zwei Koffer ins Zimmer und verschwand.

Eric ballte die Hände zu Fäusten. Theodor hatte etwas vor. Etwas Gemeines, davon war er überzeugt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als noch heute Bo und das Geysirentor zu finden. Er hatte auch schon eine Idee. Hastig kramte er seine Taschenlampe aus dem Schrank und stürmte zur Tür. Er sah Theodor gerade noch um die Ecke biegen und huschte hinterher. Er folgte ihm die Marmortreppen ins Parterre hinunter und wartete ab, bis die Tür zufiel, die in den unbekannten Teil des Schlosses führte, wo Theodor wohnte. Spätestens in einer Stunde würden sich alle Türen und Fenster automatisch verschließen. Eric hatte als Erklärung bekommen, dass es zu seiner eigenen Sicherheit sei. Damit niemand ohne Befugnis den sterilen Teil des Schlosses betreten konnte. Sein Herz klopfte, als er die Tür einen Spalt öffnete. Theodor war bereits außer Sichtweite. Der Geruch von frischen Bratkartoffeln lag in der Luft, aus der Ferne erklang das Geklapper von Geschirr. Er fasste allen Mut zusammen, ging durch die Tür und verschloss sie hinter sich. Andächtig sah er an sich hinunter. Seine Füße standen das erste Mal auf fremdem Boden. Er fand, dass es eine coole Sache war, hier herumzuschleichen, doch die Angst, dass Theodor recht hatte und er bald krank werden würde, wollte sich nicht abschütteln lassen.

Das Knarren einer Tür ließ ihn zusammenfahren. Schnell huschte er hinter einen dunkelblauen Vorhang, der wie an allen Fenstern bis zum Boden reichte.

Ein Mann und eine Frau betraten den Korridor. Eric kombinierte, dass es sich um Bedienstete handelte, da beide mit einer Uniform bekleidet waren. Mit angehaltenem Atem lauschte er ihren Worten.

„Ich bereite Master Theodor noch einen Snack zu, während Sie das Badewasser vorbereiten. Und denken Sie daran, dass es exakt vierzig Grad heiß sein muss.“

Die Frau nickte und entfernte sich. Ihre Absätze hallten hektisch vom Holzboden wieder.

Was sollte er jetzt machen? Der Frau folgen? Dem Mann? Was, wenn sie ihn bemerkten? Eric verließ sein Versteck und folgte dem Klacken der Absätze.

An den Wänden hingen Ölgemälde, auf denen verschiedene Landschaftsbilder gemalt waren. Alle drei Meter reichte ein Fenster bis fast zum Boden. Eric huschte zügig vorbei, um nicht aus den schräg gegenüberliegenden Fenstern entdeckt zu werden. Ihm fiel auf, dass die Tür-und Fenstergriffe keine automatischen Schließvorrichtungen besaßen. Wut stieg in ihm hoch. Warum hatte er all die Jahre nicht bemerkt, ein Gefangener zu sein? Er musste diesen verflixten Kompass kriegen.

Wie in Erics Teil des Gebäudes verbanden links und rechts der Korridore weiße Marmortreppen die Stockwerke. Die Geräusche der Absätze entfernten sich nach oben. Eric drückte sich nah an die Wand, die mit langweiligen Tapeten in goldener Farbe und grünem Blattmuster beklebt waren. Durch kleine Fenster schien das rote Leuchten des Nachthimmels herein und brachte die Farben zum Glänzen.

Ab und zu wagte er einen Blick hinaus, um nach Bo Ausschau zu halten, doch es war keine Spur von ihm zu sehen.

Ein Pfeifen! Eric hielt inne. Es war die Melodie, die Theodor immer pfiff. Er musste ganz in der Nähe sein. Eric ging in die Hocke und spähte in den Korridor, der nach links abging. Er beobachtete, wie die Frau in eines der fünf Zimmer verschwand. Das war sicher das Bad. Eric kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Hier gab es nirgends eine Möglichkeit sich zu verstecken, sollte jemand aus den Zimmern kommen. Er musste es riskieren. Jetzt oder nie. Er war kein Bübchen, das würde er Bo beweisen. Er schlich über die Dielen, die unter seinen Füßen knarrten.

Die erste Tür. Ihm klopfte das Herz, als er durch das Schlüsselloch spähte. Ein Lesezimmer, schlussfolgerte Eric. Der Blickwinkel gab das Bild eines grünen Ohrensessels preis, vor dem ein rundes Tischchen stand. Ein Stapel Bücher lag darauf. Zügig lief Eric zur nächsten Tür. Tatsächlich. Hier war das Badezimmer. Die Frau kniete vor einer Wanne und hielt ein Thermometer in den Wasserstrahl, der die Wanne langsam füllte. Im nächsten Zimmer standen verschiedene Flaschen und Gläser auf einem wuchtigen Holztisch. Eric befürchtete, dass sein Plan, das Umkleidezimmer Theodors ausfindig zu machen, scheitern würde. Wieso sollte es sich von vier Stockwerken ausgerechnet hier befinden? Eric schlich zum nächsten Schlüsselloch und guckte hindurch. Er zuckte zusammen, als er Theodor durch das Zimmer laufen sah. Er trug einen weißen Bademantel und kam auf die Tür zu geschlendert.

„Verflixt!“, entfuhr es Eric. Er rannte, so schnell er konnte an der letzten Tür vorbei, um in dem Treppenaufgang Schutz zu suchen.

In dem Moment, in dem er hinter der Wand verschwand, erklang das Geräusch, wenn eine Klinke gedrückt wird, begleitet vom Quietschen der Scharniere. Eric traute sich nicht, um die Ecke zu sehen. Angespannt achtete er auf jedes Geräusch. Leise Schritte und dann ein weiteres Öffnen einer Tür. Wasser rauschte und verstummte kurz darauf.

„In einer Stunde möchte ich mein Essen serviert bekommen“, brummte Theodor, worauf das Klacken der Absätze erklang. Entsetzt fiel Eric auf, dass sich die Schritte in seine Richtung bewegten. Was nun? Er musste hier weg, und zwar schnell. Hoch oder runter? Erics Herz raste. Er hetzte die Stufen einen Stock höher. Er war sicher, die Küche konnte nur eine Etage tiefer sein, von wo der Geruch frischer Bratkartoffeln hochzog.

Die Schritte entfernten sich tatsächlich nach unten, wo das Geklirre von Tellern und Töpfen lauter wurde. Eric hatte richtig Bammel, als er wieder zurück schlich und zur Tür eilte, hinter der er Theodor gesehen hatte. Eric lugte durch das Schlüsselloch, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein war. Er drückte die Klinke. Das Ächzen der Scharniere bereitete ihm eine Gänsehaut. Das Zimmer lag im Dunkeln. Er schaltete die Taschenlampe ein und hoffte, dass niemanden der Lichtschein auffallen würde. Hastig blickte er sich um. Ein Sofa stand an der Wand, sonst gab es außer den Einbauschränken und einem Spiegel keine Möbelstücke im Raum. Wo hatte Theodor seineKlamotten hingelegt? Vielleicht in den Schrank gehängt? Mit zitternden Händen schob er die Türen auf. Hemden über Hemden und identische Westen. Theodor hatte immer den gleichen Kram an, fiel ihm auf, doch in welcher Weste steckte der Kompass? Da war sie! Die silberne Kette hing noch aus der Tasche.

Erics Hand umschloss das kalte Metall. Mit der Taschenlampe im Mund leuchtete er, um die Kette vom Kompass zu lösen, und klappte den Deckel auf. Die zwei roten Nadeln beruhigten sich schnell, sie zeigten Richtung Süden. Als er den Deckel wieder zuschnappen ließ, war ihm, als hätte er von irgendwo etwas gehört. Eric konnte nicht einmal genau sagen, was es gewesen war. Wie versteinert stand er im Raum, den Blick auf die Tür gerichtet. Hatte ihn jemand bemerkt? Er nahm allen Mut zusammen und schlich zur Tür. In dem Moment, als er den Lichtschein der Taschenlampe löschte, sprang die Tür auf. Eine große Hand packte ihn. Wie ein Schraubstock griffen Finger an seinen Jackenkragen, der ihm die Luft zuschnürte.

Eric wurde in den Flur gezerrt. Es war einer der Bediensteten. Seine dunklen Augen waren verengt und funkelten zornig. Wie der Schnabel eines Geiers prangte eine Hakennase in dessen Gesicht.

„Master Theodor! Master Theodor! Wir haben einen Dieb im Schloss!“, rief er aufgebracht.

Eric konnte das Geplätscher von Wasser hören. Jeden Moment würde Theodor erscheinen. Eric zappelte und wand sich, doch der Griff des Bediensteten wurde fester, sodass Eric bereits nach Luft japste. Aus dem Augenwinkel erkannte er Bo, der am Fensterbrett saß. Hektisch schlug er mit den Flügeln.

Eric fasste an seinen Jackenkragen, um sich Luft zu verschaffen. Instinktiv öffnete er den Reisverschluss, bekam wieder Bewegungsfreiheit. Er kämpfte gegen die starken Hände an, die sich in den Stoff der Jacke gruben. Der Reißverschluss sprang endgültig auf, sodass Eric aus der Jacke schlüpfte. Er rannte, so schnell er konnte, zu dem Treppenaufgang und hetzte die Stufen hinab. Das Gepolter von Türen erklang und das Geschrei Theodors, der bemerkt haben musste, dass der Kompass nicht mehr an seiner Weste hing.

Kapitel 2

Eric irrte durch das Untergeschoss auf der Suche nach einem Ausgang. Theodors wütende Schreie hallten ihm hinterher. Eine der Türen sprang auf, die er gerade passieren wollte. Die Frau stürmte heraus. Mit weit auseinandergestreckten Armen versuchte sie, ihm den Weg zu versperren.

Eric wetzte hin und her. Links, rechts. Der Flur war zwar breit, doch die Frau flink. Ihr Haarknoten auf dem Kopf wackelte mit jedem weiteren Versuch, sie zu überlisten. An einigen Stellen lösten sich bereits graue Haarsträhnen, die ihr wirr im Gesicht hingen.

„Du kleine Rotznase. Du entkommst mir nicht“, drohte sie fies grinsend.

Das Getrampel von Schuhen kam näher und wurde lauter. Er musste sich etwas einfallen lassen, wollte er nicht gleich von Theodor geschnappt werden. Eric machte einige Schritte zurück. Er täuschte vor, links an der Bediensteten vorbeirennen zu wollen und machte abrupt einen Haken, um die rechte Seite zu wählen. Die Frau schien sein Manöver in Betracht gezogen zu haben. Sie änderte genauso schnell die Richtung wie Eric. Ihre dünnen Finger griffen bereits nach ihm, als ein dunkler Schatten auftauchte. Er sprang der Bediensteten von hinten auf den Rücken. Die Frau kreischte und drehte sich wild im Kreis bei dem Versuch, eine schwarze Katze, die den Rest ihrer Frisur zerzauste, abzuschütteln.

Eric stürmte los. Ein großer Saal tauchte vor ihm auf, der vom Kerzenschein in ein schummriges Licht gehüllt wurde. Eine Flügeltüre lag am Ende des Saals. Durch die kleinen Glasscheiben darin konnte er das Rot der Sonne erkennen. Dort musste es hinaus ins Freie gehen. Auf dem Weg dorthin raste die schwarze Katze an ihm vorbei und wartete bereits an der Tür, als Eric sie schnaufend erreichte.

Eric hielt den Atem an, als er den Türgriff drückte. Es war offen. Er huschte zusammen mit dem Tier hindurch und hastete über die weiten Wiesen, bis er nicht mehr konnte und nach Luft japsend an einem einsam stehenden Baum innehielt.

Flügelschläge ließen ihn aufblicken.

„Bo! Ich habe den Kompass.“ Triumphierend hielt Eric das silberne Schmuckstück in die Höhe.

„Und ich dachte schon, du bist ein großes Weichei und wirst nie und nimmer da rauskommen“, krächzte Bo. Aufgebracht schlug er mit den Flügeln.

Eine weitere Stimme ließ Eric zusammenfahren.

„Ein Weichei nicht, aber ein bisschen dümmlich ist er wohl. Rennt und rennt, ohne ein einziges Mal auf den Kompass zu schauen.“ Die schwarze Katze blickte ihn aus ihren grünen Augen an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

Eric schürzte die Lippen.

„Entweder bin ich bereits sehr krank, dass ich Tiere schwatzen höre, oder das ist eine richtig coole Sache. Was machen wir jetzt?“, fragte er abenteuerlustig.

Die Katze kicherte.

„Ich sag‘s doch, er ist etwas dümmlich, aber das werden wir ihm schon noch austreiben.“ Sie sprang auf einen Ast und blickte Eric fordernd an. „Denk nach Junge. Was ist jetzt zu tun?“

Eric grinste.

„Für eine Katze bist du ziemlich neunmalklug. Wir werden natürlich nach dem Geysirentor suchen.“ Eric klappte den Deckel des Kompasses auf und beobachtete die roten Nadeln, die Richtung Osten zeigten. Er richtete den Finger in besagte Route. „Dort entlang.“

Nachdem sie einige Meter gelaufen waren, begann Eric zu frieren. Der Wind fegte ihm unter den dünnen Pullover und das feuchte Gras durchnässte seine Hosenbeine. Alle paar Minuten schaute er auf den Kompass, doch von einem Tor war weit und breit nichts zu sehen.

„Sag mal Bo, du wolltest, dass wir uns am Tor treffen. Woher hättest du gewusst, wo es ist?“, rief Eric hinauf zu dem Vogel, der über ihm flog.

„Ich kann spüren, wo es sich befindet“, krächzte er.

Eric blickte konfus.

„Und wieso schaue ich dann ständig auf den Kompass, wenn du eh den Weg kennst?“

Der Rabe landete auf Erics Schulter.

„Hm“, machte er. „Das ist eine interessante Frage.“

Die Katze kicherte.

„Wir werden es ihm schon noch austreiben.“

Eric blickte verärgert zu ihr hinunter.

„Ich bin ganz und gar nicht dümmlich“, beschwerte er sich, doch die Katze schien sich nicht für seine Worte zu interessieren und fokussierte einen bestimmten Punkt vor ihnen.

„Was steht dort vorne?“, wollte Eric wissen, der nun sah, was die Katze so interessierte.

„Das sind alles Dinge, die Theodor bereitgestellt hat. Er scheint auch ohne Kompass genau zu wissen, wo das Geysirentor erscheint. Das ist nicht gut.“

„Nein, das ist nicht gut“, pflichtete der Rabe bei.

Eric hoffte, dass es hinter dem Geysirentor wärmer sein würde. Er war es nicht gewohnt, dass kalter Wind ihm unter die Kleidung fuhr, die Schuhe bestanden nur aus dünnem Stoff und die Jacke hatte er bei seiner Flucht verloren.

Doch es änderte sich eigentlich rein gar nichts an der Umgebung.

Verwirrt blickte er zu seinen zwei tierischen Begleitern. „Verflixt, wer seid ihr denn?“

Ein Mädchen kicherte. Das war eindeutig die neunmalkluge Stimme der Katze. Zu seiner rechten lief ein Junge, der ihn an Figuren aus Theodors Büchern erinnerte.

„Ich bin Elana und das ist Bo. Wir sind Gnome und damit beauftragt, dich aus dem Schloss zu befreien.“

„Befreien?“, wiederholte Eric überrascht, denn unter einer Befreiungstruppe hätte er sich etwas anderes vorgestellt. „Gnome?“, fragte er noch überraschter, denn Gnome gab es doch nur in Märchen. Das hatte er sich zumindest so gedacht.

„Viele haben bereits das Wagnis, dich zu befreien, auf sich genommen, doch Theodor Helgusson ist schwer zu überlisten. Aber gegen uns Gnome hat er keine Chance.“

Eric blickte verwirrt in ein hübsches Gesicht, in dem zwei jadegrüne Augen funkelten und rote Lippen leuchteten. Ihre spitzen Ohren waren ziemlich groß und lugten durch das schwarze, lange Haar hindurch. Sie trug ein wollenes Kleid in dunkelroter Farbe, Fellstiefel und eine Umhängetasche. Eric hoffte für sie, dass die Schuhe zu groß waren, ansonsten wären die Füße eindeutig zu gewaltig für ihre zarte Gestalt.

„Was glotzt du so auf meine Ohren?“ Elana verengte missmutig die Augen.

„Du warst bis vor wenigen Minuten noch eine Katze. Da wird man doch mal schauen dürfen.“ Eric spürte, dass er rot wurde, denn er hatte tatsächlich auf ihre Ohren gestarrt. Um von seiner misslichen Lage abzulenken blickte er zu Bo.

„Haben wirklich schon viele versucht, mich hier rauszuholen? Und wer bin ich, dass man mich befreien will?“

Bo nickte. Seine Augen schimmerten in einem helleren Grün, als das von Elana. Die Ohren waren kleiner, dafür prangte eine knollenartige Nase in seinem Gesicht, übersät mit Sommersprossen. Das blonde Haar stand in alle Himmelsrichtungen. Er trug eine Latzhose, einen grünen Wollpullover und Fellstiefel, die, wie Elanas, eine beträchtliche Größe aufwiesen. Bo und Elana waren einen halben Kopf kleiner als Eric.

„Ja, wirklich. Vom Huldufólk sind einige Wagemutige hierher gekommen. Man hat sie nie wieder gesehen.“

„Das unsichtbare Volk?“, fragte Eric verblüfft. „Ich dachte, das alles seien nur Märchen. Gnome, Kobolde und das Volk, das unsichtbar unter den Menschen lebt. Und sie sind nie wieder aufgetaucht? Wegen mir?“ Eric schüttelte betroffen den Kopf. „Das tut mir leid“, murmelte er.

„Das sollte es auch!“, schimpfte Elana. „Doch ich bin sicher, dass du es wieder gut machen wirst.“

„Wie?“

Bo klopfte Eric auf die Schulter. „Lass dir von Elana nichts einreden. Du hast keine Schuld. Man hat dich als kleinen Jungen entführt, um das Huldufólk zu erpressen. Aber jetzt wird alles wieder gut.“ Um seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, spuckte Bo drei Mal vor Erics Füße aus.

Eric wollte sich gerade darüber beschweren, dass Spucke seinen Schuh getroffen hatte, als plötzlich eine Staubwolke entstand. Elana und Bo blieben abrupt stehen und griffen Eric erschrocken an die Arme.

Der Staub nahm eine dunkle Farbe an und formatierte sich zu der Form eines Trichters, der immer größer wurde.

Eric zog die Gnome nach links, dann nach rechts, doch die mittlerweile tiefschwarze Staubwolke versperrte ihnen den Weg.

„Was ist das?“ Eric blickte in besorgte Gesichter.

„Sicher eine schwarze Elfe. Das ist nicht gut“, flüsterte Elana.

Eric hatte keine Ahnung von Elfen. Er machte einen Schritt nach vorn.

„Was willst du von uns?“, schrie er in die rotierende Staubmasse.

Elana und Bo griffen Eric wieder an den Armen und zogen ihn zurück.