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Die Buchvorlage zum ARD-TV-Highlight »DIE GETRIEBENEN«: ein Insider-Report aus dem Innern der Macht.
Die Grenzöffnung für Flüchtlinge im Herbst 2015 hat das Land gespalten – die einen preisen Angela Merkels moralische Haltung, die andern geißeln die Preisgabe von Souveränität. Doch was als planvolles Handeln erscheint, ist in Wahrheit eine Politik des Durchwurstelns, des Taktierens und Lavierens, befeuert von hehren Idealen und Opportunismus. Robin Alexander zeigt, dass die politischen Akteure Getriebene sind, zerrieben zwischen selbst auferlegten Zwängen und den sich überschlagenden Ereignissen.
Robin Alexander blickt als Korrespondent der »Welt am Sonntag« seit Jahren hinter die Kulissen des Kanzleramtes - in seinem Buch, das auf Recherchen in Berlin, Brüssel, Wien, Budapest und der Türkei basiert, rekonstruiert er minutiös die Schlüsselentscheidungen von sechs Schicksalsmonaten - und erzählt am Beispiel des wohl dramatischsten Kapitels der jüngeren deutschen Geschichte davon, wie heute Politik gemacht wird.
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Seitenzahl: 413
180 Tage, die Deutschland verändert haben: Merkels Grenzöffnung für Flüchtlinge im September 2015 war der Beginn eines dramatischen Kapitels deutscher Geschichte, das erst mit der Schließung der Balkanroute vorerst beendet wurde. Wie aber sind die folgenreichen Entscheidungen zustande gekommen? Was hat Merkel, Seehofer & Co. dabei wirklich angetrieben? Robin Alexander, der als Reporter der »Welt am Sonntag« seit Jahren hinter die Kulissen des Kanzleramts blickt, rekonstruiert in seinem Buch die Schlüsselentscheidungen von sechs Schicksalsmonaten – und zeigt, dass die politischen Akteure Getriebene sind, zerrieben zwischen selbst auferlegten Zwängen und den sich überschlagenden Ereignissen.
Der Autor
Robin Alexander, geboren 1975, hat sich als Reporter und Kolumnist im politischen Berlin einen Namen gemacht. Seit 2008 verfolgt er als Hauptstadtkorrespondent der »Welt am Sonntag« die Politik Angela Merkels aus der Nähe. 2013 wurde er mit dem renommierten Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Er ist regelmäßig im ARD-Presseclub und im ZDF-Morgenmagazin zu Gast und war im Bundestagswahlkampf 2013 Experte und Co-Moderator der Wahlsendung »Absolute Mehrheit« auf Pro7. Robin Alexander lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Berlin.
ROBIN ALEXANDER
DIE GETRIEBENEN
Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht
Siedler
Inhalt
Vorbemerkung
1 18 Uhr: Grenzschließung
2 Flüchtlingskanzlerin wider Willen
3 Die Nacht, die Deutschland veränderte
4 Deutscher Rausch
5 Mama Merkel
6 Die nukleare Option
7 Verdammte Pflicht
8 Altmaier und die Flüchtlingsmanager
9 Schäubles Sonderauftrag
10 Die drei Rollen des Horst Seehofer
11 »Wir sehen uns zu diesem Thema wieder!«
12 Ausgerechnet Erdoğan
13 Unterwerfung
14 Wettlauf mit dem Wunderwuzzi
15 Merkels Seestreitmacht
16 Idomeni
17 Der Deal
Ein Jahr danach
Dank
Personenregister
Vorbemerkung
Dies ist ein Buch über 180 Tage in der deutschen Politik. Am 13. September 2015 wurde ein bereits fertiger Befehl, Asylbewerber an der deutschen Grenze abzuweisen, in letzter Minute geändert. Aus der Ausnahme einer Grenzöffnung für einige tausend Flüchtlinge wurde ein sechsmonatiger Ausnahmezustand, Hunderttausende kamen nach Deutschland. Am 9. März 2016 wurde der Andrang gestoppt – als Mazedonien an seiner Grenze keine Flüchtlinge mehr passieren ließ und so die Balkanroute gegen den erklärten Willen der Bundeskanzlerin schloss.
Diese 180 Tage haben Deutschland verändert. Aus einer entpolitisierten Gesellschaft ist ein Land geworden, in dem viele ein neues Selbstbewusstsein daraus ziehen, für Flüchtlinge ihr Herz, ihr Portemonnaie oder ihren Kleiderschrank geöffnet zu haben. Aber das Land ist auch gespalten. Viele Bürger fürchten sich vor islamistischem Terror, und ein erstarkter Rechtspopulismus fordert die Demokratie heraus.
Angela Merkel, die zuvor in zehn Jahren Kanzlerschaft wenig Profil zeigte, polarisiert jetzt wie keiner ihrer Vorgänger. Ihre Bewunderer loben ihre Führungsstärke in historischer Stunde, allein und gegen viele Widerstände habe sie das ethisch Gebotene durchgesetzt. Ihre Verächter halten sie schlicht für überfordert – sie habe in großer Naivität und das Recht missachtend die Souveränität Deutschlands preisgegeben. Die Anhänger beider Sichtweisen werden von diesem Buch enttäuscht sein. Es erzählt weder eine Heiligengeschichte noch ein Schurkenstück.
Dieses Buch schildert das wohl dramatischste Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte aus einer besonderen Perspektive, nämlich die der politisch Handelnden. Natürlich ist das nur ein Ausschnitt des Geschehens. Das Schicksal der Menschen, die in Deutschland ankamen, die Gründe für das Verlassen ihrer Heimat, die tragischen Umstände ihrer Flucht – all diese Geschichten sind es wert, aufgeschrieben zu werden. Aber dies ist kein Buch über Flüchtlinge.
Ich möchte vielmehr zeigen, unter welchen Umständen und in welchen Zwängen die politisch Verantwortlichen handelten, zuallererst Angela Merkel. Aber auch die anderen führenden Akteure: der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel, Finanzminister Wolfgang Schäuble, Kanzleramtschef Peter Altmaier und Innenminister Thomas de Maizière. Regieren hieß im Ausnahmezustand der deutschen Flüchtlingskrise Entscheidungen von enormer Tragweite treffen – unter großem Druck, in sehr kurzer Zeit, auf Grundlage unvollständiger Informationen. Manchmal haben die Akteure gemeinsam gehandelt, öfter haben sie miteinander gerungen und erstaunlich häufig gegeneinander gearbeitet.
Als Reporter berichte ich über Angela Merkel seit acht Jahren, begleite sie auf Auslandsreisen und auf europäische Gipfel in Brüssel. In der Flüchtlingskrise flog ich in der Delegation der Kanzlerin in Länder auf der Balkanroute und nach Istanbul zu Recep Tayyip Erdoğan. Die Nachricht vom Rücktritt ihres einstigen Hauptverbündeten, des österreichischen Bundeskanzlers Werner Faymann, erreichte die Kanzlerin, während sie einigen Kollegen und mir im Kanzleramt ihre Sicht auf das EU-Türkei-Abkommen und die Schließung der Balkanroute erläuterte.
Für dieses Buch habe ich im Sommer und Herbst 2016 noch einmal das Gespräch mit allen Akteuren in der Flüchtlingskrise gesucht. Die Interviews fanden in Berlin und München statt, in Wien, Budapest und Brüssel. Eine Reise nach Ankara verhinderte der Putsch im Juli 2016, trotzdem kam es zu Gesprächen mit türkischen Insidern. Einige meiner Gesprächspartner bestanden auf Vertraulichkeit. Um Rückschlüsse zu vermeiden, nenne ich grundsätzlich keinen Informanten. Angela Merkel war zu einem rückblickenden Gespräch über ihre Rolle in der Flüchtlingskrise für dieses Buch nicht bereit.
Ein Jahr nach den Ereignissen, von denen ich in diesem Buch berichte, scheint die Flüchtlingskrise schon Geschichte. Nur noch wenige Asylbewerber kommen nach Deutschland, die Erstaufnahmeeinrichtungen und Heime leeren sich. Aber Deutschland hat das Problem nur an die Grenzen Europas ausgelagert. Zu einem hohen Preis.
1 18 Uhr: Grenzschließung
»Es ist so weit!« Mit diesen knappen Worten meldet sich Dieter Romann, Präsident des Bundespolizeipräsidiums und damit Deutschlands oberster Grenzschützer, bei seinen führenden Beamten. Es ist Samstag, der 12. September 2015, am frühen Abend, als der Befehl ergeht, die Grenzschließung für Flüchtlinge vorzubereiten. Keine 24 Stunden später, am Sonntag um 18 Uhr, sollen an den Übergängen von Österreich nach Bayern Polizeikellen hochgehen. Alle Reisenden werden kontrolliert. Wer keinen Pass hat oder kein Visum, wird abgewiesen. Deutschland macht dicht, die Willkommenskultur ist Geschichte – nur eine Woche, nachdem Angela Merkel die Grenze für Flüchtlinge geöffnet hat.
So erscheint es jedenfalls in dieser Nacht, als sämtliche Einheiten der Bundespolizei in Alarmbereitschaft versetzt werden und sich 21 Hundertschaften auf den Weg an die deutsch-österreichische Grenze machen. Mit Bussen werden die Beamten aus ganz Deutschland herangefahren. Dieses Großmanöver ist sorgfältig geplant. Romann nutzt dazu einen Vorwand: In Hamburg, also am anderen Ende der Republik, sind an diesem Samstag viele seiner Beamten im Einsatz, sie helfen dort, den Nazi-Aufmarsch »Tag der Patrioten« und potenziell gewaltbereite Gegendemonstranten unter Kontrolle zu halten. Aber in der Nähe ist auch ein provisorischer Hubschrauberlandeplatz eingerichtet. Als Samstagabend der Befehl kommt, werden Hunderte von Polizisten in Wellen von Hamburg an die Grenze in den Alpen geflogen.
Um eine Grenze, an der Wachhäuser und Schlagbäume schon vor Jahren abgebaut wurden, über Nacht wieder scharf zu stellen, braucht man nicht nur sehr viele Beamte, sondern auch jede Menge schweres Material: Container, Zelte, Lichtmasten, Pionierzeug. Das aber ist größtenteils schon vor Ort. Ohne Wissen der Politik hat der Chef der Bundespolizei dafür gesorgt, dass eine kurzfristige Grenzschließung jederzeit möglich ist. Auch dafür hat er einen Trick gefunden: Erst im Juni fand in der gleichen Gegend der G-7-Gipfel von Elmau statt – der größte Polizeieinsatz des Jahres. Romann hat danach einen Großteil des Materials einfach vor Ort einlagern lassen.
Als am Sonntag um 17.30 Uhr tatsächlich Einsatzbereitschaft gemeldet wird, fehlt zur Grenzschließung nur noch ein allerletzter Befehl. Auch der ist bereits geschrieben. Er umfasst dreißig DIN-A-4 Seiten, aber entscheidend sind nur fünf Wörter: Wer nicht einreiseberechtigt ist, soll auch im Falle eines Asylgesuches zurückgewiesen werden.
Dieter Romann spricht nicht öffentlich über den Herbst 2015. Aber es ist möglich, seine Rolle in jenen Wochen in Gesprächen mit Polizisten und Ministerialbeamten zu rekonstruieren. Der Polizeichef ist promovierter Verwaltungsjurist und war als Beamter im Innenministerium Referatsleiter für die Themen Ausländerterrorismus und Ausländerextremismus. Schon aus dieser Erfahrung ist seine Einstellung zur »Willkommenskultur« eher nüchtern. Im Büro raucht er selbstgedrehte Zigaretten und spricht, obwohl er lange Ministerialbeamter war, eher die Sprache seiner Polizisten als die von Ministern und Abgeordneten.
Vielleicht ist das der Grund, warum er glaubt, die Politiker mit einem Video aufrütteln zu müssen: Im Frühjahr und Frühsommer 2015 zieht Romann mit einer selbstgebrannten DVD durch das politische Berlin, es gibt persönliche Vorführungen im Innenministerium, im Kanzleramt und bei SPD-Chef Sigmar Gabriel. Es sind Aufnahmen von Flüchtlingen auf der Balkanroute, sie stammen von Bundespolizisten, die zur Amtshilfe nach Serbien entsandt worden waren.
Dramatischer Höhepunkt des kurzen Films ist eine Kamerafahrt, die eine schier endlose Menschenkolonne an der serbisch-mazedonischen Grenze zeigt. Romann berichtet den Politikern von fallenden Schlepperpreisen für die einzelnen Etappen auf der Balkanroute, er beschreibt, wie Kriminelle und staatliche Stellen dort zunehmend Hand in Hand arbeiten. Und er erzählt eine Anekdote, die später die Runde macht: Die mazedonische Staatsbahn habe sich eigens zusätzliche Züge ausgeliehen, um alle Migranten in Richtung Deutschland weiterbefördern zu können – und damit das erste positive Betriebsergebnis ihrer Geschichte erwirtschaftet. Romanns Botschaft: Es sind zu viele Flüchtlinge. Sie werden gezielt zu uns geschickt. Wir müssen sie an der Grenze abweisen.
Schnell folgen die Einwände: Ist das durchführbar, erfordert das Asylrecht nicht die individuelle Prüfung jedes einzelnen Antrages? Romann kontert jedes Mal mit Artikel 16 des Grundgesetzes. Zwar heißt es dort »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, doch schon der zweite Absatz schränkt ein: »Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften oder einem anderen Drittstaat einreist« – wenn in diesem die Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten wird. Das gilt für alle Nachbarländer Deutschlands. Aber wurden Grenzkontrollen innerhalb Europas nicht abgeschafft, seit 1995 das Schengener Abkommen in Kraft trat? Ist die Grenzschließung juristisch und praktisch also überhaupt möglich?
Das soll bald bewiesen werden. Für den G-7-Gipfel, der im Juni in Deutschland stattfinden wird, hat die Bundespolizei beim Innenministerium beantragt, aus Sicherheitsgründen temporäre Grenzkontrollen einzuführen. Die letzten Kontrollen dieser Art gab es in Deutschland neun Jahre zuvor, ebenfalls bei einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs, damals in Heiligendamm. Doch 2015 zögert die Bundesregierung mit der Genehmigung. Will das Kanzleramt zeigen, dass man einen Besuch von Barack Obama und anderen Führern der westlichen Welt, der die allerhöchste Sicherheitsstufe auslöst, sogar bei offenen Grenzen meistern kann?
Ausgerechnet militante Linksradikale aus Italien kommen der Bundespolizei zu Hilfe. Sie reisen am 18. März nach Frankfurt und verwandeln dort eine Demonstration gegen die Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank in eine Straßenschlacht. Polizisten werden schwer verletzt, Polizeiwagen brennen vollständig aus. Die Fernsehbilder zeigen Rauchschwaden, die über Frankfurts Skyline ziehen.
Rauchschwaden über »ihrem« G-7-Gipfel will die Kanzlerin nicht riskieren – wenige Tage nach der Frankfurter Randale bekommt die Bundespolizei die beantragten Kontrollen für den Gipfel genehmigt. Zum angestrebten Beweis, dass Grenzkontrollen sehr wohl möglich und sinnvoll sind, könnte der Ort gar nicht günstiger gelegen sein. Die Staats- und Regierungschefs tagen in Schloss Elmau, einem Fünfsternehotel in den Alpen. Es liegt im Landkreis Garmisch-Partenkirchen, in Oberbayern, direkt an der Grenze zu Österreich. Hier genau treffen die beiden Hauptmigrationswege in Europa aufeinander, die Balkanroute und die Mittelmeerroute: Wenn man hier die Grenze für Flüchtlinge dicht machen kann, funktioniert es überall.
Der Elmauer Gipfel wird ein Erfolg. Die Führer der westlichen Welt beschließen, die globale Wirtschaft so umzubauen, dass bis zum Jahr 2100 kein Kohlenstoffdioxid mehr freigesetzt wird. Merkel kann ihr mittlerweile verblasstes Image als »Klimakanzlerin« aufpolieren. Und die schönen Fotos von der Kanzlerin mit Barack Obama in einem bayerischen Biergarten lösen im Kanzleramt Wohlgefallen aus.
Auch für die Bundespolizei hätte Elmau kaum besser laufen können. Denn ihre »mobilen Grenzkontrollen« bringen das erwünschte Ergebnis: 13800 Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht werden registriert, 1200 Fahndungserfolge und 151 Vollstreckungen offener Haftbefehle kann Romann wenige Tage später dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages präsentieren. »Wir haben nur einmal kurz das Licht angeknipst«, erklärt er in der nichtöffentlichen Sitzung. Gemeint ist: Wir haben gezeigt, dass die Zustände an den offenen Grenzen unhaltbar sind. Die wichtigste Zahl aber ist eine andere: 1030 »Zurückweisungen« hat die Bundespolizei im Umfeld des Gipfels vorgenommen. Für Romann der Beweis: Auch im Jahr 2015 ist Deutschland in der Lage, an seinen Grenzen Menschen abzuweisen. Nach dem Elmauer Gipfel wurden die Grenzkontrollen allerdings wieder eingestellt.
Als dann in jener Nacht zum 5. September die Grenze geöffnet wird, erfährt die Führung der Bundespolizei davon erst aus den Medien und fragt im Innenministerium nach: Sind das nicht alles unerlaubte Grenzübertritte? Machen sich unsere Beamten nicht sogar strafbar, wenn sie diese geschehen lassen?
Zwar beschließt die Große Koalition als Sofortmaßnahme unmittelbar nach der Grenzöffnung dreitausend neue Stellen für die Bundespolizei. Doch Merkel sendet durch Selfies mit Flüchtlingen und öffentliche Äußerungen nicht gerade Signale in Richtung Grenzschließung. »Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze«, erklärt sie in einem Zeitungsinterview, das am Freitag, dem 11. September, erscheint.
Am gleichen Tag melden allerdings vierzehn Bundesländer dem Bundesinnenministerium, dass sie zurzeit keine neuen Flüchtlinge mehr aufnehmen können. Obwohl von der Turnhalle bis zur Kaserne jedes mögliche Gebäude als Unterkunft erschlossen wird, gibt es an diesem Tag in ganz Deutschland nur noch 850 als frei gemeldete Plätze. Dem stehen 40000 neue Flüchtlinge gegenüber, die an diesem Wochenende nach Schätzung des Außenministeriums erwartet werden. Inzwischen lässt sich nicht mehr leugnen, dass die Bilder der deutschen Willkommenskultur vielerorts die Massenbewegung noch zusätzlich befeuert haben. Siebentausend Migranten treffen von Griechenland aus in Mazedonien ein – pro Tag.
Innenstaatssekretärin Emily Haber warnt intern, Österreich habe die Kontrolle über den Weitertransport verloren und winke nur noch durch in Richtung Deutschland. Die deutsche Botschaft in Afghanistan berichtet, die Regierung in Kabul habe eine Million Reisepässe gedruckt – wer sich um einen solchen bemühe, wolle zumeist nach Deutschland. Eine geplante Übung von Bund und Ländern mit LÜKEX, dem gemeinsamen System für den Katastrophenschutz, wird abgesagt, weil alle Ressourcen gebunden sind. Auch die Bundeswehr lässt Reservistenübungen ausfallen. Die Absage des gemeinsamen Herbstempfangs von Bundesnachrichtendienst (BND), Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt (BKA) und Bundespolizei ist aber ein politisches Signal: Die Verantwortlichen für die Sicherheit der Republik wollen in dieser Lage nicht miteinander anstoßen.
Hinter verschlossenen Türen wird der Ton schärfer. Zwischen Donnerstagabend und Freitagmittag lassen die Landesinnenminister ihrem Ärger gegenüber der Bundesregierung in gleich fünf Telefonkonferenzen freien Lauf. »Wir befinden uns im Flugzeug, dessen Sprit ausgeht, und wissen nicht, was wir tun sollen«, wird anschließend ein Sitzungsteilnehmer zitiert. Ein anderer bringt die Diskussion auf den Punkt: »Sind wir uns einig, dass wir am Limit sind und bald keine Flüchtlinge mehr aufnehmen können?« Die von der Union gestellten Innenminister fordern von ihrem Parteifreund Thomas de Maizière am Freitagmittag explizit die Einführung von Grenzkontrollen – und die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich. De Maizière, der gerade an einer verschleppten Bronchitis laboriert, kann oder will keinen Widerstand mehr leisten. Seine Antwort: Merkel muss entscheiden.
Die Unions-Innenpolitiker drängen Merkel bewusst nur intern, die Grenzöffnung rückgängig zu machen. Sie wissen, dass öffentlicher Druck auf die Kanzlerin kaum weiterhilft. Ihren Kurs würde Merkel wohl nur dann korrigieren, wenn es so aussähe, als sei dies ihre eigene Entscheidung. Noch besteht dazu die Möglichkeit. Merkel hatte die Grenzöffnung ja selbst als »Ausnahme« begründet. Sie könnte also ein Zurück zur Normalität verkünden, ohne zugleich einen Fehler einzugestehen.
Aber genau den will ein ehemaliger Innenminister in die Welt posaunen. Hans-Peter Friedrich hat mit der Kanzlerin noch eine Rechnung offen, seit sie ihn 2014 als Innenminister entließ. Friedrich hatte damals den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vertraulich darüber informiert, dass der Name des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy im Zusammenhang mit Ermittlungen zu einem Kinderporno-Versandhandel aufgetaucht sei. Als dies herauskam, wurden nicht etwa die Genossen bestraft, die Edathy gewarnt hatten – sondern ausgerechnet der unbescholtene CSU-Mann Friedrich. Sein Zorn darüber ist nie verraucht.
Jetzt kommt die Gelegenheit zur Rache. Friedrich hat schon Anfang der Woche beim »Spiegel« angerufen und gefragt, ob man ihn nicht mit einer harschen Merkel-Kritik zu Wort kommen lassen wolle. Doch das Nachrichtenmagazin hat schon ein Gespräch mit der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen geführt, die Merkels Grenzöffnung in höchsten Tönen lobt. Man will die Leser nicht verwirren. Frustriert wendet sich Friedrich nun an die Lokalzeitung in seinem Wahlkreis, schon am Donnerstag zitieren alle Nachrichtenagenturen die deftigsten Sätze: »Eine beispiellose politische Fehlleistung« sei es gewesen, die Flüchtlinge ins Land zu lassen, die »verheerende Spätfolgen« haben werde. »Völlig unverantwortlich« sei es, Zigtausende aufzunehmen, darunter vielleicht »IS-Kämpfer oder islamistische Schläfer«, schimpft Friedrich: »Kein anderes Land der Welt« würde sich »so naiv und blauäugig« in Gefahr begeben. Aus Sicherheitsgründen werde man »schon bald Grenzkontrollen wieder einführen müssen«.
Friedrich zielt auf Merkel, aber die Salve trifft Horst Seehofer. Der sitzt als CSU-Chef weit weniger fest im Sattel als Merkel in ihrer Partei. Seehofer fürchtet, vom innerparteilichen Zorn über die Grenzöffnung weggespült zu werden – wenn er sich nicht selbst an die Spitze der Kritiker stellt. Deshalb glaubt er, Friedrich übertrumpfen zu müssen. Am Freitag lässt Seehofer bekannt werden, dass seine CSU den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zur nächsten Klausurtagung ihrer Landtagsfraktion eingeladen hat. Damit stellt sich die Schwesterpartei offen auf die Seite des europäischen Hauptgegners der Kanzlerin – nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Die Grenzöffnung nennt Seehofer jetzt öffentlich einen »Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird«. Der Beifall an der CSU-Basis ist gewaltig. Doch die Innenpolitiker sind entgeistert. Seehofer verbaut Merkel damit die Möglichkeit, die Grenzöffnung ohne Gesichtsverlust zu revidieren.
Am gleichen Tag schlagen sogar die Anhänger der Willkommenskultur erstmals Alarm. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, bisher Verfechter der offenen Grenzen, hat jetzt genug: Es sei die Aufgabe der Bundeskanzlerin, »mehr zu tun«, schimpft er. Tatsächlich droht der bayerischen Landeshauptstadt schon am Freitag der Kollaps. Reiter hat die lokalen Brauereien gebeten, ihm mit Bierzelten auszuhelfen, und die Bevölkerung aufgerufen, Luftmatratzen und Isomatten zu spenden. Auch der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz aus Rheinland-Pfalz, wie Reiter ein Sozialdemokrat, kritisiert Merkel erstmals öffentlich im Namen seiner Kollegen: »Die Länder sind völlig überrascht worden von der Einreiseerlaubnis der Kanzlerin. Wir hätten Zeit für Vorbereitungen gebraucht. Und wir hätten vorher davon wissen müssen.« Nun sei man »in großer Not«. An diesem Samstag werden mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen als jemals zuvor und danach an einem einzigen Tag: rund 13000 Menschen. Zum Vergleich: Zwei Tage zuvor hat US-Präsident Obama angekündigt, die Vereinigten Staaten würden 10000 syrische Flüchtlinge aufnehmen – im ganzen folgenden Jahr.
Die CSU-Attacken haben Merkel trotzig gemacht, aber die Warnungen der Kommunal- und Landespolitiker bringen sie ins Grübeln. Kurz nach 13 Uhr erreicht sie eine SMS von Horst Seehofer: »Ich kann dich nur dringend bitten, dem Ernst der Lage Rechnung zu tragen.« Um 14 Uhr tritt Merkel im Berliner »Tempodrom« an ein Mikrophon, die CDU veranstaltet ausgerechnet an diesem Tag den »ersten offenen Mitgliederkongress« ihrer Parteigeschichte. Das Besondere daran: Nicht nur Delegierte, sondern jedes einfache Mitglied und jeder interessierte Gast dürfen mitdiskutieren. Allerdings nicht zum Thema der Stunde, Flüchtlingspolitik, sondern zur Digitalisierung.
Zu Anfang ihrer Rede verteidigt die Kanzlerin die Grenzöffnung »vor einer Woche in einer Notlage«, erklärt aber kurz darauf: »Wir brauchen eine Unterscheidung. Schutz bekommen die, die schutzbedürftig sind« – wer aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland komme, könne nicht bleiben. Die meisten Teilnehmer überhören diesen Akzent, denn die Kanzlerin widmet sich rasch dem nächsten Thema.
Während der CDU-Kongress noch tagt, fährt Merkel zurück ins Kanzleramt und bittet um 15 Uhr die fünf wichtigsten Politiker Deutschlands, in den kommenden Stunden telefonisch erreichbar zu sein: Horst Seehofer und Sigmar Gabriel als Parteivorsitzende der beiden Koalitionspartner, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Innenminister Thomas de Maizière und Kanzleramtschef Peter Altmaier. Alle fünf fragen sich: Schließt Merkel die Grenze? Zuerst führt sie Einzelgespräche. Um 17.30 Uhr lässt sie alle zusammenschalten.
In dieser Telefonkonferenz schlägt de Maizière vor, dass angesichts der Überforderung der Bundesländer bei der Versorgung der Flüchtlinge zeitlich befristet wieder Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze eingeführt werden sollen. Niemand aus der Runde widerspricht. Dann geht es darum, ob nicht nur kontrolliert, sondern auch Menschen ohne notwendige Papiere an der Einreise gehindert werden sollen. De Maizière ist dafür. Auch Seehofer. Die beiden Sozialdemokraten legen sich zunächst nicht fest, ebenso wenig Merkel und Altmaier. Die Rechtslage wird erörtert. Dann malt sich die Runde Szenarien aus: Was passiert, wenn die Migranten an der deutschen Grenze gestoppt werden? Stauen sie sich in Österreich? Versuchen sie gar, die Grenze zu stürmen? Am Ende wird de Maizières Vorschlag angenommen.
Es soll wieder Grenzkontrollen geben. Parallel dazu soll der Zugverkehr von Österreich nach Deutschland für zwanzig Stunden unterbrochen werden. Und – der springende Punkt: Flüchtlinge sollen an der Grenze zurückgewiesen werden. Jetzt entscheiden sich die führenden Politiker der Großen Koalition also genau für das, was Angela Merkel wenig später öffentlich für unmöglich erklären wird. In der Telefonschaltkonferenz stimmt sie jedenfalls noch explizit zu.
In einer Hinsicht gehen die Erinnerungen der Beteiligten auseinander: Sollten alle Flüchtlinge abgewiesen werden oder nur diejenigen aus sicheren Herkunftsländern? Das waren zu diesem Zeitpunkt sämtliche Länder der Europäischen Union sowie Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien. Noch im August stammten fast die Hälfte der neu in Deutschland ankommenden Geflüchteten vom Balkan, nicht aus Syrien. Ihre Asylverfahren sind fast aussichtslos. Im Sinne einer Beschränkung auf wirklich Schutzbedürftige, wie sie von Merkel am Nachmittag im Tempodrom öffentlich angemahnt worden war, ergäbe die gezielte Abweisung von Migranten ohne Bleibeperspektive durchaus Sinn. Und zumindest die Syrer wären noch immer willkommen gewesen.
Ein Teilnehmer der Telefonkonferenz erinnert sich im vertraulichen Gespräch dezidiert: Es sei damals um die Zurückweisung von allen Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten gegangen, an der österreichischen Grenze also de facto von allen Flüchtlingen. Für diese Version spricht einiges, denn nur schwer vorstellbar ist ein Szenario, bei dem eine Bundespolizei, die es in diesen Tagen nicht einmal schafft, die Namen aller Ankommenden zu notieren, auch noch deren Identität rechtssicher prüft.
Nach der Telefonkonferenz ruft de Maizière sofort den Chef der Bundespolizei an. Und der lässt unverzüglich die lange vorbereitete Aktion anrollen. In dem Einsatzbefehl, den er längst fertig hat und in der Nacht nur aktualisiert, steht nichts von einer Beschränkung auf »sichere Herkunftsländer«. So bezieht die Bundespolizei in dieser Nacht Stellung, um am nächsten Tag ab 18 Uhr die Grenze für sämtliche Flüchtlinge zu schließen. Horst Seehofer telefoniert mit Parteifreund Hans-Peter Friedrich und ruft ihm zu: »Du hast gewonnen! Wir führen Grenzkontrollen ein!« Aber noch ist der Befehl nicht unterzeichnet.
Während die Polizisten mit Helikoptern herangeflogen werden, sind weiterhin Tausende Migranten von der anderen Seite auf dem Weg zur Grenze unterwegs – in Bussen, in Zügen, manche auch zu Fuß. Es ist ein ungleiches Wettrennen, denn die Flüchtlinge vertrauen auf die Bilder der Kanzlerin und der jubelnden Münchner und ahnen nicht, dass sie nur noch wenige Stunden lang willkommen sind.
Am Sonntagmorgen könnten sie es erfahren. Die Nachricht von den bevorstehenden Grenzkontrollen ist »durchgestochen« worden – so nennt man es im politischen Berlin, wenn ein Politiker einen Reporter anruft, um einen vertraulichen Vorgang in die Öffentlichkeit zu tragen und damit einem politischen Konkurrenten zu schaden. In diesem Fall droht allerdings eine Katastrophe: Wenn die Nachrichtenseiten von »Spiegel«, »Welt« oder »Bild« jetzt die geplanten Grenzkontrollen melden und internationale Medien sofort nachziehen, erfahren auch die Migranten in Minutenschnelle davon. Es droht ein gnadenloser Schlussspurt nach Deutschland, in dem die Stärkeren die Schwächeren überrennen und Sicherheitskräfte die letzte Kontrolle verlieren, wie man im Innenministerium fürchtet. Was die Grenzöffnung in der Woche zuvor verhindern sollte, droht jetzt umso mehr: Gewalt an der deutschen Grenze und politisches Chaos auf dem Balkan.
Um dies zu vermeiden, entschließt man sich im Innenministerium zu einem gewagten Schritt. Johannes Dimroth, der Chefsprecher, bestätigt die Information, bittet aber, von einer sofortigen Veröffentlichung abzusehen. Nur in seltenen Fällen wird so entschieden. Da die Bundesregierung keine Nachrichtensperre anordnen kann, bittet sie in extremen Lagen die Redaktionen zu freiwilligem Verzicht aus übergeordnetem Interesse. Dies geschah etwa zu Zeiten des RAF-Terrors, um das Leben von Geiseln nicht zu gefährden, aber auch während der Finanzkrise 2008. Damals bat die Bundesregierung darum, einen Bericht über einen sich abzeichnenden »Bank Run«, also eine Massenabhebung von Geldeinlagen, nicht zu veröffentlichen, bevor die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister eine Garantie aller Sparguthaben ausgesprochen hatten.
Ist eine solche Selbstbeschränkung auch im Netzzeitalter möglich? Die Redaktionen haben ihr Monopol, Nachrichten zu prüfen und den Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung zu kontrollieren, doch ohnehin längst verloren, ein einzelner Tweet oder Facebook-Eintrag kann den Ansturm auslösen, der unbedingt vermieden werden soll.
Tatsächlich gibt es seit den Mittagsstunden Andeutungen in den sozialen Netzwerken, die Einführung von Grenzkontrollen stehe kurz bevor. Aber sie gehen unter neben Tausenden Meinungsbeiträgen, Halbwahrheiten und Falschmeldungen, dem Grundrauschen im Netz. Anders als bei den Selfies der Kanzlerin drei Tage zuvor, entgleitet der Regierung diesmal die Kommunikation nicht. »Spiegel Online« meldet schließlich um 16.05 Uhr die Grenzkontrollen, fast zeitgleich, gegen 16.12 Uhr, verschickt das Ministerium die Einladung zur Pressekonferenz, und um 17.30 Uhr will de Maizière verkünden, dass ab 18 Uhr an der deutschen Grenze neue Regeln gelten.
Aber welche Regeln genau? Das ist zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht von den Grenzkontrollen um die Welt geht, noch immer umstritten. Seit 14 Uhr wird im Lagezentrum des Innenministeriums darum gerungen. In diesem Konferenzraum, der mit großen Bildschirmen und neuester Kommunikationselektronik vollgepackt ist, haben sich der Minister, sämtliche Staatsekretäre, die Führung der Bundespolizei, sowie vier Abteilungsleiter und einige Unterabteilungsleiter und Referatsleiter versammelt. Aus Bonn telefonisch zugeschaltet ist der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Manfred Schmidt. Die Mehrheit der Anwesenden sind Beamte aus der Abteilung M wie Migration, die anderen kümmern sich vor allem um polizeiliche Aufgaben.
Außer de Maizière weiß keiner der Anwesenden von der Telefonkonferenz der Spitzenpolitiker, die das Ergebnis dieser Sitzung eigentlich schon vorgegeben hat. Der Minister eröffnet die Besprechung mit der Feststellung, man habe entschieden, Grenzkontrollen einzuführen. Dann aber stellt er die entscheidende Frage: Können wir zurückweisen oder nicht?
Die Runde ist in dieser Frage gespalten. Die für Sicherheit zuständigen Beamten argumentieren pro Zurückweisung und erhalten Unterstützung von de Maizières parlamentarischen Staatssekretären, den beiden CDU-Politikern Günter Krings und Ole Schröder. Doch die für die Regelung von Zuwanderung zuständigen Beamten am Tisch sind skeptisch. Denn während das deutsche Asylverfahrensgesetz Zurückweisungen von Asylsuchenden aus einem sicheren Drittstaat ermöglicht, kennen die europäischen Regeln das »Zuständigkeitsbestimmungsverfahren«. Deutschland kann nicht einfach abweisen, sondern muss erst prüfen, welches Land für das Verfahren zuständig ist, bevor es die Menschen dorthin zurückschickt.
Am Ende, so die Beamten, hänge alles an der Frage, ob die sogenannte Dublin-Verordnung noch in Kraft sei oder nicht. Sie legt fest, dass ein Flüchtling seinen Asylantrag im ersten EU-Land, das er betritt, stellen muss und nicht zu einem Land seiner Wahl weiterreisen darf. Das ist ein heikles Thema, denn während die Bundesregierung diese europäischen Regeln de facto mit der Grenzöffnung ausgesetzt hat, beharrt sie offiziell immer noch auf deren Gültigkeit. Der junge Staatssekretär Schröder platzt heraus, es sei »denklogisch doch Unsinn«, weiter zu behaupten, Dublin gelte noch. Zurückweisungen müssten möglich sein. Aber die Beamten bringen immer neue rechtliche Bedenken vor. Irgendwann verliert der Chef der Bundespolizei die Geduld: Beim G-7-Gipfel in Elmau seien Zurückweisungen doch auch möglich gewesen, wie könne der wortgleiche Einsatzbefehl nun rechtlich problematisch sein?
Der Minister verfolgt die Debatte – und berichtet zugleich an höherer Stelle darüber. Dreimal wird de Maizière in dieser Sitzung telefonieren. Beim ersten Mal zieht er sich nur mit seinem Handy in eine Ecke des Raumes zurück, beim zweiten und dritten Mal verlässt er für mehrere Minuten das Lagezentrum. Er spricht es nicht aus, aber allen Anwesenden ist klar: Er telefoniert mit der Kanzlerin.
Es sind die entscheidenden Telefonate der Flüchtlingskrise, sie werden größere Konsequenzen haben als die Grenzöffnung eine Woche zuvor. Denn die war als Ausnahme geplant und wäre auch eine Ausnahme geblieben, wenn de Maizière nun die Grenzschließung angeordnet hätte. Mit seinen Anrufen setzt er die politische Meinungsbildung, die eigentlich schon abgeschlossen war, noch einmal neu in Gang. Und diesmal sagt Merkel weder ja noch nein. Sie äußert Bedenken.
Nach seinen Telefonaten richtet de Maizière eine Frage an die Runde: Was machen wir eigentlich, wenn sich die Migranten nicht zurückweisen lassen? Es gehöre zum Wesen des Rechtsstaats, das Recht auch durchzusetzen, wird ihm geantwortet. Ja, argumentiert de Maizière, aber der Rechtsstaat dürfe sich auf keinen Fall lächerlich machen, indem er daran scheitere, das Recht durchzusetzen. Die eigentliche Frage laute deshalb: Halten wir die entsprechenden Bilder aus? De Maizière wendet sich konkret an Romann: Was geschieht, wenn 500 Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm auf die Bundespolizisten zulaufen? Der oberste Bundespolizist wirkt überrumpelt. Das, erwidert er schließlich, entscheiden die Polizeiführer vor Ort.
De Maizière fragt, ob man sich darauf verlassen könne, einen »Dominoeffekt« auszulösen. Wie ein Dominostein den nächsten zum Kippen bringt, so soll die deutsche Grenzschließung weitere Grenzschließungen auslösen. Denn wenn Deutschland dicht macht, fürchtet die Wiener Regierung, dass sich die Migranten in Österreich stauen, und weist sie deshalb ebenfalls schon an seiner Grenze zu Slowenien zurück. So geht es über Slowenien, Ungarn oder Kroatien bis nach Serbien, Mazedonien und schließlich nach Griechenland. Wenn die Flüchtlinge dort festsitzen, machen sich keine neuen mehr auf den Weg – zumindest nach der Dominotheorie. Der Innenminister will wissen, wie lange Deutschland an der Grenze Flüchtlinge zurückweisen müsse, bis dieser »Dominoeffekt« ausgelöst werde? »Vielleicht drei Tage«, lautet die Antwort. Aber de Maizière entscheidet immer noch nicht. Stattdessen verlässt er erneut den Raum, um zu telefonieren.
Jetzt geht es um die Position der SPD. Als Parteivorsitzender hatte Sigmar Gabriel der Grenzschließung ja bereits am Vortag in der Telefonkonferenz zugestimmt. Aber in der Zwischenzeit sind de Maizière Bedenken aus der SPD übermittelt worden, ob man wirklich Flüchtlinge abweisen könne. Hat Merkel ihrem Innenminister erklärt, sie sei unter den neuen rechtlichen Bedenken nur bereit, der Grenzschließung zuzustimmen, wenn auch die SPD diese mittrage? Gabriel hat in den Wochen nach der Grenzöffnung mehrfach gegenüber Vertrauten die Versuche Merkels beklagt, Verantwortung abzuwälzen. Damals sind die offenen Grenzen noch populär und in der SPD kursiert rasch die Parole: »Wir haben schon die Agenda 2010 gemacht, wir können für die CDU nicht auch noch die Grenze schließen.«
Nach diesem Telefonat, dem letzten, das er aus der Sitzung heraus führt, ordnet de Maizière an, dass der Einsatzbefehl umgeschrieben wird. Romann muss genau jene fünf Wörter streichen, auf die es ankam. Statt Zurückweisungen »auch im Falle eines Asylgesuches« werden die Polizeidirektionen jetzt angewiesen, dass »Drittstaatsangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten ist«. Es wird zwar kontrolliert, aber jeder, der Asyl sagt, wird hineingelassen – egal ob er aus einem sicheren Drittstaat oder einem sicheren Herkunftsland kommt. Die Polizisten an der Grenze können es kaum glauben: dafür der ganze Aufwand!?
Kurioserweise gehen auch viele Flüchtlinge zunächst irrtümlich davon aus, nicht mehr nach Deutschland durchkommen zu können. Da de Maizière sich nach der Sitzung vor der Presse bewusst kurz fasst und Nachfragen, was denn mit »Grenzkontrollen« genau gemeint sei, nicht zulässt, verbreitet sich auch in vielen deutschen und internationalen Medien zuerst die Falschmeldung, ab jetzt brauche man wieder Einreisedokumente, um nach Deutschland zu gelangen. Niemand aus der Bundesregierung dementiert, und tatsächlich geht in der kommenden Woche die Zahl der Ankünfte an der bayerischen Grenze zunächst zurück. Aber mehr als eine Atempause für die überforderten Länder und Kommunen ist das nicht: Die Schleuser in den Herkunftsländern klären schnell auf, dass keine Flüchtlinge zurückgewiesen werden. Auf der Balkanroute verbreiten auch staatliche Behörden diese Nachricht, damit die Migranten weiterziehen. Schnell steigen die Zahlen wieder an.
Mehr noch als die ungeplante Grenzöffnung eine Woche zuvor waren diese beiden Tage für die Politik der deutschen Regierung in der Flüchtlingskrise entscheidend. Die Bundespolizei stand für Zurückweisungen bereit. Der Innenminister hielt sie für richtig. Die Kanzlerin und beide Koalitionspartner hatten zumindest für bestimmte Zurückweisungen schon ihre Zustimmung gegeben. Warum wurden sie dann doch nicht angeordnet?
Im Innenministerium und bei den Sicherheitsbehörden schiebt man rückwirkend alle Schuld auf Merkel, die angeblich de Maizière im letzten Moment in den Arm gefallen sei. Im Kanzleramt zeigt man hingegen auf den Minister: De Maizière habe den Beschluss der Koalitionsspitzen aus der Telefonkonferenz nicht umgesetzt, weil er sich nicht über rechtliche Bedenken einiger Beamter hinwegsetzen wollte. Bedenken, die übrigens unbegründet waren. Einige Wochen später kommen das Innen- und das Justizministerium zur »gemeinsame Rechtsauffassung«: Zurückweisungen an der Grenze seien damals rechtlich zwar nicht zwingend, aber doch möglich gewesen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bestätigt diese Einschätzung in einem Gutachten.
An diesem entscheidenden Wochenende war das allerdings noch nicht klar. Und keiner der Beteiligten wollte in dieser Lage eine so rechtlich umstrittene wie unpopuläre Entscheidung treffen. Deshalb fragte der Innenminister noch einmal bei seiner Kanzlerin nach, statt in eigener Ressortverantwortung Zurückweisungen anzuordnen. Und deshalb entschied auch die Kanzlerin weder dafür noch dagegen, sondern erbat von de Maizière Zusicherungen, die er nicht geben konnte. Er konnte nicht versprechen, dass die Entscheidung später vor Gerichten Bestand haben würde. Und er konnte nicht versprechen, dass es keine unpopulären Bilder geben würde.
So bleibt die deutsche Grenze an diesem Wochenende für alle offen. Aus der »Ausnahme« der Grenzöffnung wird ein monatelanger Ausnahmezustand, weil keiner die politische Kraft aufbringt, die Ausnahme wie geplant zu beenden. Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will.
2 Flüchtlingskanzlerin wider Willen
Ausgerechnet die Frau, die als Flüchtlingskanzlerin in die deutsche Geschichte eingehen wird, hat in ihrer Kanzlerschaft kaum jemanden so lange und so konsequent gemieden wie Flüchtlinge. Im Spätsommer 2015 ist Angela Merkel schon fast zehn Jahre im Amt, auf ihren Reisen durchs Land hat sie Kitas und Krankenhäuser, Handwerksbetriebe und Großkonzerne, Fischmärkte und Fleischfabriken, Konzerthäuser und Fußballstadien und sonst auch so ziemlich alles besucht, was in Deutschland zu begutachten ist. Nur eines nie: ein Flüchtlingsheim.
Ein Zufall ist das nicht, sondern Kalkül. Flüchtlinge sind politisch kein Gewinnerthema, glaubt Merkel. Ohnehin schaffen es in ihrer Amtszeit sehr lange nur wenige Asylbewerber nach Deutschland. Im Jahr 2006, im ersten Jahr der Kanzlerschaft, wurden rund 30000 Asylanträge in Deutschland gestellt, der niedrigste Wert seit der Wiedervereinigung. Unter Merkel sinken die Zahlen zunächst noch weiter – bis 2014 über 200000 Menschen Asyl beantragen. Diese Zahl wiederum ist 2015 bereits im Sommer erreicht. Die Flüchtlinge müssen jetzt monatelang auf einen Termin warten, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu dürfen. Kommunalpolitiker suchen im ganzen Land händeringend nach Möglichkeiten, sie unterzubringen.
Eigentlich höchste Zeit für die Kanzlerin, um deutlich zu machen, dass sie die Sorgen teilt. Aber Merkel, die Vorsichtige, meidet nicht nur offensichtlich kontroverse Themen. Sondern schon solche, die allein das Potenzial hätten, kontrovers zu sein. Und das gilt bei Flüchtlingen gerade für das CDU-Stammklientel. Während sich Unionsanhänger, die in ihrer Kirchengemeinde engagiert sind, mit der Hilfe für Schutzsuchende geradezu identifizieren, empfinden andere ein Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft als Zumutung. Flüchtlinge polarisieren. Polarisierung aber ist in Merkels Politikstil nicht vorgesehen. Sie will mit ihren öffentlichen Auftritten nicht nur positive Assoziationen wecken, sondern vor allem negative vermeiden. So wird der politischen Konkurrenz die Chance geraubt, sich in der Ablehnung zu sammeln. »Asymmetrische Demobilisierung« heißt das Konzept in Wahlkampfzeiten, das Merkels Beratern auch im Regierungsalltag in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Ein Beispiel, um die Methode zu verdeutlichen: Angela Merkel ist erstaunlich sparsam mit Truppenbesuchen bei der Bundeswehr. Denn es ist demoskopisch gut belegt, dass viele Deutsche ihr Militär zwar nicht ablehnend, aber noch immer emotional distanziert betrachten, nicht so wie die Bürger anderer westlicher Länder. Zwei verlorene Weltkriege haben nicht nur im Gedächtnis, sondern vor allem im Seelenleben der Nation Spuren hinterlassen. Wenn die Kanzlerin dann doch die Bundeswehr besucht, was zuweilen unvermeidbar ist, entstehen Fotos, auf denen sie mit anspruchsvoller Technik oder beim Essen mit Soldaten zu sehen ist, aber möglichst nicht mit Kriegsgerät. In ihren Ansprachen dankt sie »Soldaten und Polizisten« gerne im selben Atemzug, oder sie lädt die Familien von beiden Berufsgruppen gemeinsam ins Kanzleramt ein. So betont sie die ordnungs- und friedenserhaltende Funktion der Bundeswehr und meidet Assoziationen zur eigentlichen militärischen Aufgabe der Truppe.
Mit der gleichen kommunikativen Logik wird das Flüchtlingsthema bearbeitet. Wenn es sich öffentlich nicht vermeiden lässt, wird ein Umgang damit inszeniert, der harmlose Randaspekte in den Vordergrund rückt und den kontroversen Kern überdeckt. Deshalb besucht die Kanzlerin im Jahr 2013 das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Merkel begegnet dort deutschen Beamten, die entscheiden, ob ein Asylantrag begründet ist. Asylbewerber trifft die Kanzlerin nicht.
Sich nicht mit Flüchtlingen sehen zu lassen, ist eine politische Entscheidung. Was aber denkt und fühlt Merkel ganz persönlich, wenn es um Flüchtlinge geht? Die Kanzlerin hält ihr Innerstes verschlossener als alle ihre Vorgänger. Doch es gibt einen Moment in ihrer zehnjährigen Kanzlerschaft, als Merkel in fast familiärer Umgebung über Flüchtlinge spricht.
Am 31. Oktober 2014, dem Reformationstag, besucht Merkel die Maria-Magdalenen-Kirche im brandenburgischen Templin. Das schlichte Gotteshaus im spätgotischen Stil ist ihr von Kindheit an vertraut: Hier besuchte sie den Gottesdienst und ging allwöchentlich zur Christenlehre, hier wurde sie 1970 konfirmiert. Ihr Vater, ein evangelischer Pfarrer, leitete damals den nahe gelegenen Waldhof, eine Bildungseinrichtung, in der Behinderte betreut und Pastoren ausgebildet wurden. Sein Grab liegt in der Nähe. Merkels Mutter wohnt noch hier. Nicht weit entfernt steht Merkels »Datsche«, ihr kleines Wochenendhäuschen.
Dorthin wird Merkel gleich weiterfahren, es ist schon Freitagabend, aber vorher redet sie in der Kirche über »Reformation und Politik«. Pfarrer Ralf-Günther Schein, der ihren Vater zu Grabe trug und ihre Mutter regelmäßig besucht, hat Merkel eingeladen. Es ist kein gewöhnlicher Politikertermin für sie. Die Kanzel meidet sie bewusst, denn sie will nicht predigen, an einem schlichten Pult spricht sie »von der Freiheit eines Christenmenschen«. Es geht um ethisch besonders heikle Entscheidungen in der Politik, um Kriegseinsätze, Sterbehilfe und die Frage, ob sie als Regierungschefin das Recht habe, den Regierungschef eines anderen Landes zu kritisieren. »Der christliche Glaube verlangt nicht, dass wir auf jede Frage die gleiche Antwort finden«, schließt Merkel nach zwanzig Minuten.
Flüchtlinge kommen nicht vor, als Merkel in ihrer Heimatkirche über christliche Politik spricht. Darüber wundert sich auch die Gemeinde. In der anschließenden Diskussion fragen die Templiner Kirchgänger nach. Einer will wissen, ob die Abschiebung von Familien, die gut integriert sind, wirklich nötig sei. Merkels Antwort folgt ohne Zögern, und im Kontext der Flüchtlingspolitik im Herbst 2015 sind die deutlichen Worte bemerkenswert: Abschiebung in sichere Herkunftsländer, so die Kanzlerin, »sei auf den ersten Blick vielleicht nicht christlich, aber es ist vielleicht noch weniger christlich, wenn wir zu viele aufnehmen und dann keinen Platz mehr finden für die, die wirklich verfolgt sind.« Was immer Merkel später als Motiv für ihre Politik der offenen Grenzen zugeschrieben wird, ihre Worte in Templin lassen jedenfalls nicht darauf schließen, dass es in erster Linie ein Gefühl christlicher Nächstenliebe war.
Bald nach der Templiner Rede werden die Plätze für die Verfolgten tatsächlich knapp. Anfang 2015 kommen immer mehr Flüchtlinge. Und je mehr Unterkünfte überall in Deutschland entstehen, desto mehr fällt Beobachtern auf, dass die Kanzlerin dort nie zu sehen ist. Zumal es der erste Mann im Staat ganz anders hält: Joachim Gauck hat seit Beginn seiner Amtszeit als Bundespräsident immer wieder Flüchtlinge getroffen und fordert im Sommer 2015 in einer Rede zum Weltflüchtlingstag mehr Großherzigkeit. Auch einzelne Mitglieder der Bundesregierung wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Arbeitsministerin Andrea Nahles melden sich in diesem Sinne zu Wort. Nur Merkel schweigt.
Der Zorn darüber wächst. Die linksliberale »Süddeutsche Zeitung« hat Merkel schon im April 2015 im Leitartikel »Was Merkel meidet« explizit aufgefordert, endlich in ein Flüchtlingsheim zu gehen. Im Sommer wird Merkel sogar von CDU/CSU-Abgeordneten dazu gedrängt. Doch noch bleibt sie stur. »Als Bundeskanzlerin bin ich dafür gewählt, Probleme zu lösen. Wenn ich komme, muss ich eine Lösung haben«, begründet sie dies gegenüber Vertrauten.
Aber dann wird die Kanzlerin auf überraschende Weise mit dem Problem konfrontiert. Sie trifft vor laufender Kamera auf ein Flüchtlingsmädchen, dort, wo sie es am wenigsten erwartet hat: in ihrer Veranstaltungsreihe »Bürgerdialog«. Eva Christiansen hat sich dieses Format ausgedacht – die 46-Jährige hat Merkel vor fast zwanzig Jahren als junge Mitarbeiterin der CDU-Parteizentrale kennengelernt und folgt ihr seitdem in allen Funktionen. Christiansen gehörte bereits zum legendären »Girls Camp«, wie in den ersten Jahren von Merkels Kanzlerschaft ihr innerster Beraterkreis genannt wurde, in dem nur Frauen das Wort führten. Heute leitet sie im Kanzleramt sowohl den Stab »Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben« als auch das Referat »Medienberatung«: Journalisten können bei ihr vertraulich erfahren, was sie von der Politik der Kanzlerin halten sollen.
Christiansen versucht die Bürger auch ohne zwischengeschaltete Medien direkt zu erreichen. Sie hat Mitte 2014 eigens drei Verhaltenspsychologen eingestellt, die für die Regierung herausfinden sollen, wie man das Verhalten der Bürger zu ihrem eigenen Vorteil manipuliert. Nudging – »Anstupsen« – heißt dieses Verfahren, mit dem Steuerhinterziehern durch Appelle ans Gemeinwohl ein schlechtes Gewissen und Übergewichtigen durch positive Beispiele aus dem Kollegenkreis Lust auf Sport gemacht wird. Christiansens »Bürgerdialog« verströmt schon mit seinem Wohlfühl-Motto »Gut leben in Deutschland« die Aura eines achtsamen Stuhlkreises. Es ist ein Nudge-Großversuch, mit dem Merkel überall im Land als die dem Parteienstreit enthobene Bundeskümmerin inszeniert wird, die sich auch die kleinsten Sorgen und Nöte ihres Volkes anhört. Auf dass der auf diese Weise bekümmerte Bürger sich sodann mit dem Großen und Ganzen identifizieren möge – und mit Merkel gleich dazu.
Am 15. Juli 2015 gastiert der Wanderzirkus in Rostock, in der Paul-Friedrich-Scheel-Förderschule, die auch von behinderten Kindern besucht wird, unter ihnen die 14-jährige Reem Sahwil. Vor laufenden Kameras erzählt das Mädchen der Kanzlerin nicht von ihrer Gehbehinderung, sondern von ihrer Angst, nicht in Deutschland studieren zu können, weil sie das Land verlassen muss. Sie ist in einem palästinensischen Flüchtlingslager geboren, ihre Familie hat in Deutschland kein Bleiberecht. Reem bricht in Tränen aus. Nudging trifft auf harte Politik.
Als Kümmerin müsste Merkel jetzt helfen. Als Kanzlerin im Rechtsstaat kann sie sich über Behördenentscheidungen und Gerichtsurteile nicht hinwegsetzen. Merkel geht auf Reem zu, streichelt das Mädchen. Doch schwankend zwischen ihren beiden Rollen, misslingt Merkel die Geste, weil sie allzu zaghaft wirkt, fast linkisch, wie auch die Worte, die Merkel dazu spricht, unpassend klingen: »Wenn wir jetzt sagen ›Ihr könnt alle kommen, und ihr könnt alle aus Afrika kommen‹, das, das können wir auch nicht schaffen.« Dem vermeintlichen Kernsatz der Flüchtlingskanzlerin – »Wir schaffen das« – geht also nur einen Monat zuvor die Feststellung des Gegenteils voraus.
Der Bürgerdialog wird anschließend normal fortgesetzt und Merkel erhält den üblichen warmen Schlussapplaus. Noch ist eigentlich nichts passiert. Die Mädchentränen sind nur dem Regionalfernsehen am Abend einen kurzen Beitrag wert, in dem der längere Dialog auf den Gefühlsausbruch und Merkels unbeholfene Reaktion verkürzt wird. Ein Kommunikationsereignis wird daraus erst, als jemand das Filmchen am nächsten Tag ins Netz stellt. Es wird viral wie zuvor kein anderer politischer Inhalt in Deutschland. Auf Twitter entsteht sogar der Hashtag #merkelstreichelt. Merkel sei »kalt«, heißt es nun tausendfach, »kühl«, »emotionslos«, »empathieunfähig«, ja »unmenschlich«.
Merkels Sprecher Steffen Seibert ist bemüht, dagegenzuhalten, indem er die Szene vollständig ins Netz stellt, die im Kontext harmloser wirkt. Aber es ist zu spät. Am nächsten Tag thematisieren alle deutschen Zeitungen und News-Seiten, viele Radio- und Fernsehsender und sogar internationale Medien die Szene und damit die vermeintliche Gefühlskälte der Kanzlerin.
Das sorgsam gepflegte Merkel-Bild der Deutschen droht zu wanken. Seit Jahren wird sie als patente Problemlöserin inszeniert, als wandelnder Sachzwang, fleischgewordene Verlässlichkeit bürokratischer Abläufe, die den Deutschen in stürmischen Zeiten vermittelt, dass alles in geordneten Bahnen verläuft. Doch an dieses vertraute Bild schließt auch die vermeintliche Gefühlskälte aus dem Video an, das macht es ja so plausibel und damit gefährlich: »Die Eiskönigin« hatte der »Stern« sie ausgerechnet in dieser Woche auf dem Titelbild genannt, wegen ihrer Rolle in der Griechenland-Krise.
Die Eiskönigin zeigt dem Flüchtlingsmädchen die kalte Schulter – eine Image-Katastrophe, wie sie in Merkels zehnjähriger Kanzlerschaft noch nicht vorkam. Sogar in den USA wird sie registriert. Dort versucht eine andere Frau, die als ebenso klug wie unterkühlt gilt, aus Merkels Fehler zu lernen. Hillary Clinton, die demokratische Präsidentschaftskandidatin, inszeniert ein halbes Jahr später Merkels Begegnung mit dem Flüchtlingsmädchen vor Kameras noch einmal neu. In einem Werbe-Spot im US-Vorwahlkampf sieht man Clinton bei einem Treffen mit Frauen aus Lateinamerika. Der Clip zeigt ein junges Mädchen (wie Reem), das in Tränen ausbricht (wie Reem), als es erzählt, seine Eltern könnten bald abgeschoben werden (wie im Falle Reems). Doch Clinton tut im entscheidenden Moment das Gegenteil von Merkel. Sie nimmt das Kind fest in den Arm und sagt: »Ich verspreche dir, ich tue alles, was ich kann. Mach’ dir keine Sorgen. Ich werde mir die Sorgen für dich machen!« Mutterwärme statt kalte Paragraphen.
Die Kanzlerin kann ihre Szene nicht ungeschehen machen und muss fürchten, dass ihr Ruf weiter Schaden nimmt. Denn das Unverständnis in der Öffentlichkeit über ihre Distanz zu Flüchtlingen wächst täglich, auch weil es immer mehr gewalttätige Attacken auf Flüchtlingsheime gibt. 150 Angriffe zählt das BKA vom Jahresbeginn bis zum Sommer. Der Eindruck verfestigt sich, Merkel beziehe keine Position, wo dies dringend nötig sei. »Kanzlerin Merkel informiert sich über die humanitäre Katastrophe nur aus zweiter Hand«, kritisiert die »Bild am Sonntag«: »Ein Flüchtlingsheim hat sie bis heute nicht besucht.«
Die Abwesenheit der Kanzlerin wird zum Sommerlochthema. Promis mischen sich in die Debatte: »Frau Merkel, Herr Gabriel übernehmen Sie!«, postet der Schauspieler Til Schweiger auf Facebook zu einem Bericht über den Anschlag auf ein Flüchtlingsheim. Gabriel reagiert noch am gleichen Tag. »Bäm!!! Der Vizekanzler hat sich gemeldet!«, jubelt Schweiger. Für die »Bild«-Zeitung treffen sich beide noch zum gemeinsamen Foto. »Den Zorn von Til Schweiger kann ich gut verstehen«, erklärt der Vizekanzler. »Sigmar Gabriel ist ein gerader Mann«, lobt der Schauspieler.
Und Merkel? Selbst die Meinungsforscher machen die abwesende Kanzlerin jetzt zum Thema. Emnid fragt die Bundesbürger im Juli, ob Merkel »in naher Zukunft ein Asylbewerberheim besuchen« solle. 81 Prozent der Befragten bejahen das.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Merkel einknickt. Am 16. August ist es so weit, im ZDF-Sommerinterview. Dieses Fernsehgespräch wird einmal jährlich ausgestrahlt – eine journalistische Institution, die Merkel sehr ernst nimmt. Das Interview wird wenige Stunden vor der Sendung aufgezeichnet und ohne Schnitte gesendet. Deshalb lässt sich Merkel von Christiansen und Seibert auf mögliche Fragen vorbereiten. Man entscheidet, dass im Sommerinterview 2015 die unhaltbar gewordene Position, sich nicht mit Flüchtlingen zu zeigen, geräumt werden muss. Und so hat Merkel, als die Interviewerin Bettina Schausten die Kritik der Öffentlichkeit aufgreift, eine vorbereitete Exit-Strategie: »Ich werde sicherlich auch ein Flüchtlingsheim einmal besuchen.« Der Satz soll ihre Niederlage relativieren: Wenn Merkel schon zu etwas gezwungen wird, was sie eigentlich ablehnt, bestimmt sie wenigstens den Zeitpunkt selbst.
So lange will Deutschland nicht mehr warten. Am 24. August erscheint die »Abendzeitung«, Münchens Boulevardblatt, mit der Schlagzeile: »Und das sagt die Bundeskanzlerin«. Darunter sind vier große leere Zeitungsspalten zu sehen. Ein wütender Leitartikel hält ihr vor, zu den Ausschreitungen gegen Flüchtlinge zu schweigen: »Das Land hätte ihr zugehört, hätte nachgedacht, hätte diskutiert. Hätte, hätte, hätte. Leider nicht: hat. Um dieses Fehlen, diese Lücke zu dokumentieren, sie augenfällig zu machen, haben wir den oben abgebildeten Artikel leer gelassen. In der Hoffnung, dass Angela Merkel ihn in diesen Tagen füllt.«
Am selben Abend ist Kanzleramtschef Peter Altmaier in Düsseldorf zu Gast beim »Ständehaus Treff«, einer Veranstaltung der »Rheinischen Post«, und wird dort auf der Bühne interviewt. Die reiche rheinische Großstadt ist bürgerlich, das Blatt seriös und auch der Fragesteller, Chefredakteur Michael Bröcker, ist ein junger liberal-konservativer Journalist. Aber angestachelt von den Zuhörern treibt er den Kanzleramtsminister in die Enge mit der immer gleichen Frage: Warum besucht die Kanzlerin kein Flüchtlingsheim? Müsste sie als wichtigster deutscher Politiker dieses Zeichen nicht längst gegeben haben? Altmaier weiß keine Antwort, windet sich, aber das Publikum im Saal lässt keine Ausflucht gelten.
Ein lokales Ereignis, aber zumindest für diesen wichtigen Merkel-Vertrauten ein Schlüsselerlebnis, über das er in Berlin berichten wird. Auch in CDU-Hochburgen habe sich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen so sehr ins Positive gedreht, dass Merkel sich schnell anpassen müsse und das Thema nicht länger meiden dürfe.
Doch die Kanzlerin hat den günstigen Moment verpasst. Sie kann in dieser Frage nicht mehr die Initiative zurückgewinnen. Fährt sie, hat sie den Kritikern endlich nachgegeben und zeigt damit Schwäche. Fährt sie nicht, ist sie stur und macht sich weiter angreifbar. Die Not der einen ist in der Politik immer die Chance des anderen, in diesem Fall von Merkels Vizekanzler Sigmar Gabriel.
Sozialdemokraten erinnern in Interviews und O-Tönen fast täglich daran, dass Merkel noch nie Flüchtlinge besucht hat. Es gilt, die Wunde offen zu halten. Dann bietet sich eine Woche später unerwartet die Chance, sie weiter aufzureißen: in Heidenau, einem bis dahin fast unbekannten Städtchen in der Sächsischen Schweiz.
Dort erhält am 18. August, jenem Tag, als Merkel im ZDF-Interview klein beigeben musste, ihr Parteifreund Jürgen Opitz einen Anruf, der eine Kettenreaktion auslöst, die den Ruf seiner Gemeinde ruinieren und auch die Kanzlerin erschüttern wird – mit gravierenden Folgen für die deutsche und die europäische Flüchtlingspolitik. Das ahnt Opitz, der Bürgermeister von Heidenau ist, selbstverständlich nicht. Schockiert erfährt er am Telefon, dass er spontan die Unterbringung von Flüchtlingen organisieren muss, weil eine dafür eigens vorgesehene Zeltstadt in Chemnitz überfüllt ist. Die Asylbewerber kämen schon am nächsten Tag, erklären ihm die zuständigen Beamten. In der Not beschließt Opitz, einen leer stehenden Baumarkt an einer Durchgangsstraße herrichten zu lassen. So geht es zu in diesen Tagen, überall in Deutschland, wo die Behörden schon vor der Grenzöffnung an der Belastungsgrenze arbeiten. In der Woche zuvor hat sich Opitz noch bei der Landesregierung erkundigt, ob weitere Flüchtlinge nach Heidenau kämen. Nein, hieß es da noch. Jetzt plötzlich: morgen. Zwei Tage später sind sie dann wirklich da – 700 Menschen, davon 130 Frauen und 150 Kinder. So schnell, wie der CDU-Bürgermeister mit dem Roten Kreuz Feldbetten und provisorische Sanitäranlagen für den leeren Baumarkt beschafft hat, hat ein NPD-Stadtrat schon Gegendemonstrationen mobilisiert. Tausend Menschen belagern den Baumarkt. Vor dem Wohnhaus des Bürgermeisters sind »Volksverräter«-Rufe zu hören.