Die Grauen in Louisas Landschaft - Manfred Jelinski - E-Book

Die Grauen in Louisas Landschaft E-Book

Manfred Jelinski

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Beschreibung

Der Albtraum beginnt, als die Nachricht vom Flugzeugabsturz eintrifft. Louisa Lohmann, eben noch in froher Zuversicht auf ein erfolgreiches Leben nach abgeschlossenem Studium, muss nun nach New York, um die Leichen ihrer Eltern zu identifizieren. Sie bemerkt, wie sie beobachtet wird. Selbst in ihrem Geist nistet sich etwas ein, das sie nicht beschreiben kann. Es riecht grün und erschreckt sie zutiefst. Als sie herausfindet, womit sich ihr Vater beschäftigt hat, ist sie bereits verzweifelt auf der Flucht. Manchmal glaubt sie, entkommen zu sein, aber als ihr Geliebter von einem dunklen Objekt entführt wird, begreift sie, dass sie nicht einmal in ihren intimsten Momenten allein waren. Um ihn zu retten, lässt sie sich auf die Erkenntnisse ihres Vaters ein, probiert die ersten Schritte in der Matrix und landet in einem gespenstischen Szenario, dessen Spielregeln ihr völlig unbekannt sind. Aber sie findet Verbündete. Sie erkennt, dass es anderen noch schlimmer ergangen ist und alle, die mit dieser fremden Macht zu tun hatten, nur noch einen Wunsch haben: Rache! Die Feststellung, dass selbst schreckliche körperliche Verletzungen noch das kleinere Übel sind, bringt sie fast um den Verstand. Furchtbarer noch ist der Eingriff in die Innenwelten der Seele. Die Grauen sind bereit, alles zu benutzen, denn auch Gefühle sind für sie nur ein Mittel zum Zweck. Das ist ihr größter Fehler, gleichzeitig aber auch die einzige Hoffnung für Louisa. Der erste Remote Viewing-Thriller aus Deutschland

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Die Grauen in Louisas Landschaft

Da draußen ist etwas. Wie kommen wir dorthin?Und warum sollten wir?

Marianne Lohmann

Über den Autor

Manfred Jelinski, geboren 1948 in Berlin, studierte Psychologie und Maschinenbau. Er arbeitete viele Jahre als Filmproduzent und -regisseur und betrieb eine weltweit bekannte Firma für Independent-Filmservice sowie ein eigenes Kino.

Sein literarisches Interesse galt seit seiner Jugend der Science Fiction, weil es früher die einzige Literaturgattung war, in der man vorausdenken durfte. Nachdem er 1996 „zufällig“ mit dem Thema Remote Viewing konfrontiert wurde, ließ es ihn nicht mehr los.

Er ist mittlerweile einer der führenden Ausbilder auf diesem Gebiet und verfasste die bekannte grundlegende vierteilige Lehrbuchreihe sowie weitere Sachbücher.

Im AHEAD AND AMAZING Verlag, den er zusammen mit seiner Frau führt, veröffentlichte er neben regionaler Literatur, Sachbüchern und Storysammlungen anderer Autoren auch seine beiden Wahrscheinlichkeitsromanzyklen DIE BÜCHER MÜHLHEIM und DIE HÜTER DER WAHRSCHEINLICHKEIT.

Der Autor lebt heute mit seiner Familie zwischen den Meeren in Nordfriesland.

MANFRED JELINSKI

DIE GRAUENinLouisasLandschaft

Manfred JelinskiDie Grauen in Louisas Landschaft1. Auflage 2012, Global Street Edition

© Ahead and Amazing Verlag, Ostenfeld 2012

Alle Rechte vorbehalten.Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelseite:Gestaltung: Indigo Kid

Layout: Indigo Kid

Printed in Germany

ISBN: 978-3-933305-84-8Auch als E-Book erhältlich. ISBN(Epub): 978-3-933305-94-7

Ahead and Amazing Verlag, Jelinski GbR,Magnussenstr. 8, 25872 Ostenfeld

www.aheadandamazing.dewww.remoteviewing.de

DIE GRAUEN IN LOUISAS LANDSCHAFT

Inhalt

Vorwort

1. Über die See

2. Durch die Landschaft

3. In das Geheimnis

4. Am Feld

5. Aus der Nähe

6. In der Ferne

7. Hinter dem Tor

8. Unter der Oberfläche

9. Zwischen den Fronten

10. In den Katakomben

11. Mit der Erinnerung

12. Aus der Wüste

13. Vor der Entscheidung

14. In der Zone

15. Gegen die Zeit

16. In den Gärten

17. Unter freiem Himmel

18. Im Angesicht der Erde

Anhang: Was ist Remote Viewing?

Vorwort

Es gibt sehr merkwürdige Menschen. Ich habe einige kennengelernt. Sie wissen um verborgene Dinge, hören, was andere Leute denken, kennen die Zukunft, bevor sie eintrifft und oft genug sind sie nicht allein in ihrem Kopf.

Nicht selten sind sie ihren Fähigkeiten ausgeliefert, werden von fremden Gedankeninhalten „übernommen“. Eine kontrollierte Anwendung von „Hellsichtigkeiten“ ist für sie schwierig. Ich hielt solche Konflikte lange Zeit meines Lebens nicht für mein Problem. Bis ich erfuhr, dass jeder Mensch „übersinnliche“ Fähigkeiten hat und man sie gezielt abrufen kann. An amerikanischen Universitäten wurde mit Staatsgeldern eine Methode entwickelt, die das menschliche Gehirn „umschaltet“, wenn auch nur für den begrenzten Zeitraum von ungefähr einer Stunde. Man nannte diesen Prozess „Remote Viewing“.1

Es war für mich keine Frage, diese Methode selbst zu erlernen. Nebenbei interessierte ich mich noch für UFOs und alles, was es an Ungereimtheiten (aus wissenschaftlicher Sicht) auf dieser Welt gab. So erging es auch vielen anderen. Inzwischen haben sich einige hundert dieser „Remote Viewer“ mit solchen Dingen beschäftigt. Mit UFOs, unerklärlichen Entführungsfällen und den Anomalien auf dem Mond. Es gibt unüberschaubar viele Berichte dazu. Sie haben mich auf diese Geschichte gebracht.

Vielleicht sind alle einem AUL nachgejagt … einer analytischen Überlagerung, einem Phantasiegebilde. UFO-Forscher sowieso, und die Viewer haben sich nur in deren Informationsfeld umgeschaut.

Mag sein, denn UFOs sind das eindringlichste Target für Viewer, das es gibt. Einmal formuliert, gerät man unrettbar in diese Geschichten. Vielleicht also ist alles eine Schimäre.

Aber die Geschichte ist gut, dachte ich. Man könnte sie erzählen. Und deshalb vielen Dank an alle, die durch ihre Sessions an diesem Buch „mitgeschrieben“ haben, Phantasie hin oder her, denn die muss es auch geben.

Die Geschichte habe ich im Jahr 2000 begonnen. Warum hat es so lange gedauert, sie zu beenden? Keine Ahnung, vielleicht, weil immer „Wichtigeres“ dazwischen kam. Kann man ja auch mal „nachschauen“.

Manfred Jelinski, September 2012

1 Mehr dazu am Ende des Buches im Anhang

1 ÜBER DIE SEE

Der Schmerz überfiel sie mit einer derartigen Heftigkeit, dass sie augenblicklich einknickte und in den Sessel fiel. Ihre Hände versuchten verzweifelt, das Messer zu umfassen, das sich in ihren Oberbauch gebohrt hatte und sie langsam nach oben aufschnitt. Aber es gab natürlich kein Messer. Es waren beides nur Reflexe, der Schmerz und der Versuch, sich zu wehren.

Obwohl der Raum sich plötzlich ins Millionenfache ausgedehnt zu haben schien, vernahm sie die Stimme des Nachrichtensprechers klar und deutlich. Auch die Bilder der Verkehrsmaschine, oder jedenfalls von dem, was von ihr übriggeblieben war, standen mit unnatürlicher Schärfe direkt vor ihr mitten im Raum. Es war ihr unmöglich, die Hände vor das Gesicht zu schlagen; und es hätte die Bilder auch nicht verscheucht.

Als Louisa heute Morgen in den Tag hineingefühlt hatte, so, wie sie es jeden Tag tat, war da dieser schwarze Fleck gewesen. Normalerweise konnte sie ziemlich genau bestimmen, was der Tag ihr bringen würde. Freude, Ärger, Begegnungen, gute oder weniger gute Aufregungen, alles lag in gewissen Grenzen übersichtlich vor ihr und darauf hatte sie auch immer gebaut.

Aber heute war dieser schwarze Fleck dagewesen, der höhnisch und auf hässlichste Weise ihre innere Landschaft beschmutzt hatte. Und dessen Inhalt ihr unergründlich war. Jetzt war er da, sie stand mitten darin und sie fühlte, wie seine Schwärze langsam um sie herum aufstieg und über ihr zusammenschlug.

Wie war das gewesen, heute Vormittag, als sie ihre Eltern zum Flugplatz brachte?

„Lou“, hatte ihr Vater gesagt, (ihre Mutter nannte sie immer Lisa, wirklich komisch!) „Lou, meine Liebe, du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Nächste Woche sind wir wieder da und dann haben wir wahrscheinlich etwas sehr Interessantes zu erzählen oder wir haben es sowieso zu den Akten gelegt. Dann ist erst mal Ruhe. Dann können wir uns auch um deine Wohnung kümmern. Nur noch ein ganz klein wenig Geduld.“

Und Lou und Lisa hatten beide das sichere Gefühl, dass ihre Eltern nicht fliegen sollten, jedenfalls nicht heute. Aber wie hätte sie ihnen die Sache mit dem schwarzen Fleck auf der Tageslandschaft erklären sollen? Louisa fühlte ein leises Kribbeln an den unteren Halswirbeln, als ihre Eltern hinter der Abfertigung verschwanden.

Das Schreiben der Fluggesellschaft, das zwei Tage später im Briefkasten steckte, fühlte sich eisig an. Louisa hatte die Zeit wie in einer Art Koma verbracht; mechanisch handelnd, erfüllt von völliger Leere. Da waren Telefongespräche gewesen, Versicherungsgesellschaften, Anwälte, Freunde, aber auch Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. All das war mit ihr passiert, aber sie konnte sich nicht erinnern. Eine Zeitung lag auf dem Tisch, ungelesen. Sie musste sie irgendwann gekauft haben.

Ihre Finger waren halb erfroren, als sie die Wohnungstür wieder schloss. Sie riss den Umschlag auf und erwarte fast, dass er sich in Eissplitter auflöste. Aber er blieb Papier, und der Brief war kurz und hart. Natürlich bedauerte man diesen Absturz. Alles würde getan werden. (Was war „alles“?) Die Hinterbliebenen sollten sich des Mitgefühls versichert sehen.

Die Kälte zwischen ihren Fingern verhöhnte die Worte, aber sie fuhr in ihre neue, noch unfertige Wohnung, um ihren Koffer zu holen. Hinterher wunderte sie sich, dass sie tatsächlich alles eingepackt hatte, was sie brauchte. Louisas Flug zu der Trauerfeier entführte sie noch am selben Abend und Lisa spürte wenigstens bei der einen Stewardess das ehrliche Bemühen, ihr etwas beizustehen. Lou war und blieb apathisch während jeder einzelnen Minute der langen vierzehn Stunden, bis die Maschine auf dem Kennedy-Flugplatz in New York ausrollte.

Wenn es noch etwas Gutes gab, dann war es die Befreiung von der üblichen Abfertigung. Sie war sozusagen VIP und brauchte nicht die unsäglichen Fragen der Immigrationsbehörde über sich ergehen lassen. „Was wollen Sie hier? Haben sie hier Freunde? Wo wohnen Sie?“ Alle diese unfreundlichen Angrabungen galten nur jenen, denen gegenüber man kein Schuldgefühl hatte. Auch das Hotel war bestellt und das Yellow Cab, und von ihrem Zimmer konnte sie sogar beides sehen, das Empire State und das World Trade Center. Es musste ein teures Zimmer sein. Der Telefonhörer lag daneben und sie nahm an, dass sie selbst das getan hatte.

Als sie in der Kirche wieder zu sich kam, nahm sie erstaunt wahr, wie wenig Menschen zugegen waren. In der Maschine hatten sich über zweihundert Personen befunden. Da konnte man das Doppelte an Teilnehmern erwarten, oder etwa nicht? Waren die gut hundert Anwesenden die, die tatsächlich trauerten? Oder waren es die, die die ganze Prozedur noch aushielten? Oder waren sie gar von der Fluggesellschaft bestellt, weil sonst zu wenig gekommen wären? Waren auch Offizielle zugegen? Die Orgel setzte vollmundig ein, es klang unerträglich aufgesetzt, aber so klang es eigentlich immer in der Kirche. Louisa sah sich vorsichtig um.

Nicht alle der Anwesenden waren aufmerksam dabei. Jedenfalls nicht mit der Aufmerksamkeit bei der Musikeinlage. Und manche schienen aus ganz anderen Gründen hier zu sein. Louisa bemerkte rundherum verstreut ein gutes Dutzend Männer, deren Interesse das anwesende Publikum selbst war. Einer, nein, zwei sahen genau zu ihr herüber. Sie senkte die Augen. Sie meinen tatsächlich dich, erkannte Lisa und fühlte kurzzeitig nach, um sofort erschrocken wieder in sich zu kehren. Was wollten die von ihr? Es fühlte sich gefährlich an und es hing mit diesem schwarzen Fleck zusammen, der merkwürdigerweise immer noch präsent war, in einiger Entfernung, aber nicht kleiner und auch nicht blasser. Louisa bemerkte erstaunt, dass sie ihre Landschaft wieder ausrollen konnte. Die Büsche in der Nähe sahen verkümmert aus, aber das schien ihr so klar, wie sie immer ihre Wahrnehmungen erklären konnte. Weiter weg war es etwas heller, größere Bäume wuchsen am Wegesrand und sie hatte das sichere Gefühl, dass dahinter jemand auf sie wartete. Einer? Sie prüfte kurz. Nein, mehrere. ‚Komisch’, dachte sie, ‚so klar habe ich es noch nie gesehen.’ Sie sondierte noch einmal den Geruch der Informationen. Es waren zwei Parteien. Mindestens. Und mindestens eine roch überhaupt nicht gut.

Lou und Lisa schraken zurück, und als Louisa wieder aufschaute, waren die Blicke dieser beiden Männer dort drüben noch immer auf sie gerichtet. Louisa massierte sich das Genick.

Nach dem Schlusschoral ließ sie sich auf den Ausgang zutreiben. Die meisten Leute hatten es eilig, die Kirche zu verlassen; eine von diesen neuen, betonarmierten Architektenambitionen, die auch dadurch nicht feierlicher wurden, dass man ihnen buntes Glas in die Augenhöhlen presste. Ein blauer Lichtstrahl stand für Sekunden auf dem Kopf des einen Mannes, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte. Sie sah hoch. Es musste ein sonniger Tag draußen sein. Als sie einen Schritt weiter war, fiel das Licht durch ein grünes Butzenfenster. Der Mann sah krank aus, irgendwie schimmelig, und sie konnte ihn riechen, obwohl er mindestens fünf Meter entfernt stand. Er roch genauso grün wie dieses verweste Licht. Lou bemerkte, dass dieser Eindruck irgendwie nicht stimmte, aber andersherum, konnte man Grün riechen? Lisa versuchte, neu zu sortieren, aber da überschüttete sie der Tag bereits mit seinem Überfluss an Helligkeit. Louisa stand zögernd auf der obersten Stufe der Freitreppe, die zur Straße führte. Ein älterer Mann näherte sich ihr, sehr gepflegt, ruhig aber nicht bedächtig. Eher mit Bedacht.

„Miss Lohmann?“

Louisa schrak zusammen und starrte den Mann einen Moment verständnislos an, denn er sprach ihren Namen natürlich nicht wie ein Deutscher aus. Er sagte so etwas wie „Lowman“, obwohl er sich sichtlich bemühte, korrekt zu sein. Louisa nickte schließlich.

„Ich bin Vertreter der Fluggesellschaft. Darf ich Ihnen auch mein persönliches Mitgefühl aussprechen?“ („Mietgefuul“ sagte er und Louisa fragte sich, warum sie das so ärgerte.) „Wir hatten bisher nicht den Eindruck, Sie mit den Formalitäten belästigen zu können. Unser Empfangsbeauftragter sagte uns, Sie hätten erhebliche traumatisierte Reaktionen gezeigt.“ Louisa konnte sich nicht mehr an einen „Empfangsbeauftragten“ erinnern. „Wie fühlen Sie sich jetzt? Meinen Sie, dass wir Sie nachher in unserem Büro erwarten können? Und möglicherweise benötigen wir Sie auch, um Ihre Eltern zu identifizieren. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“

In Louisa schrie es auf. ‚Mama! Papa!’ Sie fühlte sich plötzlich wieder sehr klein, wollte hilfesuchend die Arme nach oben strecken. Lisa suchte das Gefühl der Mutter, aber da war nichts, es war weg, einfach weg. Leer, allein, niemand…

Der grauhaarige Mann mit den aufmerksamen Augen musterte sie eine Weile, wie sie so dastand und versuchte, ihre Fassung nicht wieder zu verlieren.

„Sie können sich gern noch etwas zurückziehen und frisch machen“, sagte er in die Leere hinein. „Wir schicken Ihnen ein Taxi, wenn Sie dann möchten.“

„Nein“, Lisa fühlte, wie ihre Kraft zurückkehrte. Tatsächlich plötzlich zurückkehrte, wie ein Fluss, der seinen Staudamm überwunden hat. „Ich möchte sofort mitkommen“, sagte Lou und Louisa richtete sich auf.

„Wie Sie wünschen.“ Der Mann nickte ihr professionell besorgt zu.

„Wir können meinen Wagen nehmen. Er steht nicht sehr weit.“ Er drehte sich um und ging voran. Am Auto angekommen, bemerkte Louisa, wie auch die beiden Männer aus der Kirche in einen Wagen stiegen. Sie sahen nicht herüber. Wenigstens jetzt nicht. Die Tür schlug zu und Louisa wurde abgelenkt.

„Wie bitte?“, fragte sie und wandte sich dem Vertreter der Fluggesellschaft zu.

„Wir haben das Gepäck Ihrer Eltern sichergestellt. Wenn Sie wünschen, können wir es Ihnen sofort aushändigen. Es ist noch in einem guten Zustand, da es nicht in der gleichen Maschine war. Ein Verteilungsproblem, das öfter auftritt. Dafür war ein Teil des Gepäcks des vorigen Fluges in der Unglücksmaschine. Das gibt eine Menge Mehrarbeit für uns.“

‚Das ist mir doch so egal’, dachte Louisa, ‚aber er versucht, mich abzulenken. Das Gepäck…Was soll ich damit?’ Hat es einen Erinnerungswert? Die Kleider von Mutter würde sie doch nicht tragen. Vielleicht wichtige Papiere? Louisa fiel ein, dass sie nichts, rein gar nichts über den Hintergrund des Fluges ihrer Eltern wusste. Vielleicht gab es im Gepäck etwas, das ihr Aufschluss darüber geben konnte. Vielleicht.

„Können Sie das Gepäck wieder nach Hamburg fliegen und in die Wohnung meiner Eltern bringen lassen? Ich habe keine Ahnung, wie ich es jetzt von Ihrer Ausgabestelle oder was Sie da betreiben, wegtragen soll.“

„Selbstverständlich. Kein Problem. Das ist doch das Geringste, was wir für Sie tun können.“

Tatsächlich. Ihre Kraft kehrte zurück. Ein bisschen war es so, als sei es nicht ganz ihre eigene, aber was machte das. Es war so nötig. Louisa hob die Schultern und streckte die Beine. Sie atmete tief ein und wieder aus.

„Gibt es schon Neues über die Ursache? Warum die Maschine plötzlich abstürzte? Alles, an das ich mich erinnern kann, war, dass eine Explosion stattfand. Man war sich nicht sicher, ob es ein technischer Defekt oder eine Bombe gewesen ist.“

„Zurzeit geht man verstärkt von der Möglichkeit aus, dass eine Bombe explodiert ist. Das wäre natürlich fatal.“ Der Mann blickte kurz in den Rückspiegel, erstarrte für einen Moment, was die Falten seines Gesichts wie auf einem Foto schärfer erscheinen ließ, dann entspannte er sich wieder.

„Aber es gibt kein Bekennerschreiben oder sonst etwas. Nun befindet sich eine Bombe auch meist im Gepäck oder in anderer Zuladung, also im Laderaum. Die Explosion fand jedoch an anderer Stelle statt, soviel wissen wir bereits. Und dort ist kein Laderaum. Dort sind nur Tanks. Eine Bombe müsste dann von jemandem platziert werden, der die Maschine wartet, oder sonst wie zum Personal gehört. Das ist relativ unwahrscheinlich. Aber warum sollte ein Tank explodieren, einfach so?“

„Vielleicht weil Benzin eben auch mal explodieren kann?“ Louisa zuckte die Schultern. Es erschreckte sie, wie durch die Banalität der Worte das Ereignis zu einer Zeitungsmeldung verkam. Und dass sie dieses unwürdige Spiel mitspielte.

Gleichzeitig wusste sie, dass das nicht alles war. Es schien ihr plötzlich, dass die Ursache des Absturzes für sie von enormer Wichtigkeit war. Bombe oder technischer Fehler, hallte es in ihr nach. Lisa spürte einen kalten Schatten. Da war eine dritte Möglichkeit, ganz kurz, ganz unscharf, wie von weit her.

„Vielleicht ist die Maschine auch abgeschossen worden?“

Der Mann blickte kurz herüber und seine Gesichtsmuskeln entzogen sich für einen Moment seiner Kontrolle. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße.

„Ich bitte Sie, wer soll denn das tun, so nahe bei New York, schon in der Dreimeilenzone? Da gibt es die Küstenwache und die NAVY, das geht nicht so einfach. Dazu braucht man schon ein größeres Schiff, und das bleibt nicht unbemerkt. Wer sollte das tun können? Und dass wir unsere Flugzeuge selbst abschießen, wird uns hoffentlich keiner unterstellen.“

‚Warum sagt er das?’, fragte sich Louisa und wollte zufassen. Aber die Information verschwand blitzschnell wie eine Kakerlake in der Dielenspalte.

„Ich würde doch gern einen Blick auf das Gepäck meiner Eltern werfen“, sagte Lisa, einem plötzlichen Impuls folgend. „Vielleicht enthält es Wertgegenstände. Und vielleicht geht es auf der Rückreise verloren. Man weiß ja nie.“

„Wie Sie wünschen. Gern. Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.“

‚Er meint das tatsächlich’, dachte Lisa überrascht, unter der Kruste der Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Direktiven meint er es ehrlich. Er bedauert die Umstände. Er bedauert, dass er diesen Job machen muss.

Louisa bemerkte, wie der Mann sie plötzlich scharf ansah. Hastig und verwirrt zog sich Lisa zurück, selbst erstaunt über die Vorgänge.

Der Wagen hielt vor einer Stahlglasfront. Louisa legte den Kopf in den Nacken. Das spiegelnde Schachbrett der Fassade verschwand irgendwo in der weißdurchwebten Bläue des frühen Nachmittags. ‚Sie kratzen tatsächlich an den Wolken’, dachte sie in kindlicher Überraschung.

„Wir müssen ein wenig laufen“, sagte der Mann entschuldigend, als sie die Eingangssektion der Drehtür betraten. „Die Sondernutzungsräume sind etwas abgelegen.“

Sie verließen die Drehtür und er dirigierte sie in einen nach rechts führenden Gang. Louisa warf einen Blick zurück in die Eingangshalle. Die kühle, selbstherrliche Innenarchitektur lächelte überheblich zurück. Louisa schauderte und rieb sich den Nacken. ‚Warum kribbelt es dort immer?’, dachte sie. Eine Nervenstörung? Dann bemerkte sie die beiden Männer, die an etwas, das eine Rezeption sein konnte, standen und nicht herüberblickten. Lisa versuchte plötzlich, sich so klein wie möglich zu machen. Fast ein wenig hastig drängte sie sich durch die Glastür, die sich vor ihnen viel zu zögerlich öffnete.

‚Sie suchen dich’, dachte Lisa.

‚Quatsch’, meinte Lou, ‚was soll das, weshalb denn?’

Sie mussten tatsächlich eine Weile laufen. Eine halbe Treppe, ein Fahrstuhl, plötzlich wurde der Baustil anders. Das Gebäude, in dem sie sich jetzt befanden, wirkte erheblich älter als die Glasfassade, durch die sie eingetreten waren.

‚Sie haben einen Neubau an die Front gesetzt’, dachte Louisa, ‚und manchmal bleibt hinten der alte Bau stehen. Jeder sein eigener Potemkin.’

Auch die Beleuchtung änderte sich. War es die etwas altmodische Bauweise der Leuchtstoffröhren oder ihre korrekte Ausrichtung in der Mitte der Decke, das diesen langen Flur so abweisend zweckbestimmt machte?

Louisa fühlte sich mit der Hilflosigkeit einer Karteikarte durch den Gang geschoben.

„Hier ist es, einen Moment bitte.“ Ihr grauhaariger Begleiter tippte eine Zahlenkombination in ein Tastenfeld. Erst jetzt bemerkte sie, dass es einige technische Aufrüstungen in diesem Altbau gegeben hatte.

Die Tür öffnete sich automatisch und sie traten ein. Die hohen, sonst kahlen Räume waren mit Regalen zugestellt. Einige schienen eilig zusätzlich montiert zu sein, gerade soviel Platz lassend, dass Menschen mit dem Inhalt der Regale hindurch konnten. Aber diese überbordende Fülle an Koffern, Taschen und anderen Fracht- und Gepäckstücken stand überall hervor. Louisa gelang es nicht, ihren Metallecken und Ledersäumen auszuweichen, als sie sich durch mehrere Räume hindurch kämpften. Es war, als griffen all diese Dinge nach ihr.

„Das Büro ist an der anderen Seite des Lagers“, sagte ihr Begleiter, und es klang wie echtes Bedauern. „ Wir hätten sonst außen um den ganzen Komplex herumgehen müssen.“

Louisa nickte und stieß in diesem Moment an einen weit herausragenden Schrankkoffer, ein wirkliches Ungetüm. Im Moment der Berührung zuckte Lisa zusammen. ‚Die Kinder! Mein Gott, es waren drei Kinder gewesen.’ Sie sah all die kleinen Hosen und Hemden und Kleider und Blusen in dem Koffer, die Söckchen und Sandalen, deren Eigentümer vielleicht nie aus ihrem stählernen Sarg geborgen werden würden. Ein blondes Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, und zwei Jungen, nur wenige Jahre älter. Sie hatten fröhlich herumgealbert, als es passierte. „Gleich landen wir!“ Lisa hörte den Knall, roch Kerosin und verbranntes Plastik und fühlte den entsetzlichen Schlag. Die Dunkelheit, die Schreie, dann die Stille! Der Boden senkte sich vor ihr. Louisa stolperte. Fast ging ihre neue, brüchige Selbstbeherrschung verloren. Der Mann fasste sie mit einem schnellen Griff am Arm und hinter der nächsten Ecke lag glücklicherweise das Büro.

Als wäre sie schon angemeldet, standen an der einzigen freien Wand die Koffer, die sie so gut kannte. Wieder sprangen sie Einzelheiten an, Louisa kämpfte. Lisa verkroch sich in ihren hintersten Winkel, während Lou den Koffer ihrer Mutter öffnete. Alle diese bekannten Sachen! Zu jedem Kleidungsstück fiel ihr ein Anlass ein, zu dem Mutter es getragen hatte. Louisa zog ihre Hand aus der Wäsche zurück und klappte den Koffer zu. Wonach suchte sie eigentlich?

Vaters Koffer. Das komplizierte Systemschloss, das er ihr einmal erklärt hatte, als sie sich das teure Stück ausleihen musste. Der Mann mit den grauen Haaren und den grauen Augen sah ihr ruhig zu, wie sie mit unsicheren Fingern, aber trotzdem geübt, den Deckel öffnete.

Der Ordner lag obenauf. Es war eine dicke Mappe voller Schriftstücke, Dokumente, Abhandlungen, Zeichnungen, Listen und Tabellen. Louisa hatte keine Ahnung, worum es inhaltlich ging, aber Lisa war sicher, dass sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie schloss den Koffer und klemmte die Mappe unter den Arm.

„Would you please sign here, on this line?“

Louisa schrak auf und nahm erst jetzt den korrekt gekleideten Mann hinter dem niedrigen Tresen wahr, der ihr ein Formular entgegenhielt. Wenige Minuten später stand sie wieder auf der Straße.

2 DURCH DIE LANDSCHAFT

Sie fiel rückwärts, der Länge nach, auf die Couch, die mitten im Zimmer stand und starrte an die Decke. Hier sollte längst dieser wunderbare Leuchter hängen, dachte Louisa, und nicht diese nackte Glühlampe, die leicht schwankte und mit ihrem Kabel bizarre Schattenkrakel auf die untapezierte Wand warf. Sie hatte keine Lust, ihren Koffer auszupacken. Neben den Möbeln, die zum Renovieren des Zimmers in die Mitte gerückt worden waren, fiel er überhaupt nicht auf. Louisa registrierte die Kongruenz ihres Innern mit dem Zustand ihrer Wohnung.

Sie seufzte, griff nach einer Decke und hüllte sich, eigentlich eine ganz andere Wärme suchend, bis zum Hals ein.

Nach einer unruhigen, knappen Stunde befand sie, doch nicht schlafen zu können, stand auf und stieß in der Küche auf eine fast leere Tüte Kaffee. Während sich das heiße Wasser zischend und blubbernd in den Filter ergoss, versuchte sie den Ausgangspunkt ihrer Unruhe zu ergründen. Es war auf jeden Fall nicht der Zustand ihrer Wohnung. Der war zwar ärgerlich, aber nicht beunruhigend.

Louisa zog Kreise mit ihren Blicken. Der Gasherd? Nein, alles in Ordnung. Die offene Tür zum dunklen zweiten Zimmer? Blödsinn, da war nichts. Ihr Koffer? Nein, nicht genau…

‚Die Handtasche!’ Lisa war sich plötzlich sehr sicher.

Näher heran: die Tasche ihres Handgepäcks aus dem Flugzeug. Sie ging mit schnellen Schritten hinüber und zerrte den Reißverschluss auf. Die Papiere! Die Ordner, die sie dem Koffer ihres Vaters entnommen hatte. Sie fühlten sich anders an als ihre Umgebung. Bisher hatte sie keinen Blick darauf geworfen, doch jetzt drängten sich die vielen, dicht beschriebenen Blätter förmlich in ihre Hand. Neugierig, aber sehr vorsichtig, klappte sie sie auf.

Während des Rückfluges hatte sie meist nur stumpf vor sich hingestarrt, obwohl, das musste sie zugeben, Business Class schon etwas angenehmer war, als mitten in einer engen achtsitzigen Reihe ständig mit dem knapp bemessenen Stellplatz für Füße und Ellenbogen zu kämpfen. Natürlich gab es hier auch Leute, die einen anquatschten, und sie konnte sich undeutlich an bemühte Konversationsfragmente erinnern. Ansonsten hatte sie jedoch ihre geschlossene Tasche umkrampft und ein „Sprecht mich bloß nicht an!“ – Gesicht gemacht.

Erster Ordner. Die Blätter waren irgendwie warm, befand Lisa. „Praktische Anwendung von Fernwahrnehmung, Beispiele und Projektserien“ Louisa war schlau wie zuvor. Der zweite Ordner, in einem selbstzufriedenen Blau gehalten, fühlte sich ganz ähnlich an. „Fernwahrnehmung. Grundkurs und Aufbaustufen“

Louisa runzelte die Stirn. Was, zum Teufel, war „Fernwahrnehmung“?

Sie holte ihren fertigen Kaffee, setzte sich im Lotussitz auf die Couch und begann zu blättern. Damit hatten sich ihre Eltern beschäftigt? Das hätte sie nie von ihrem Vater gedacht. Ihre Mutter, nun gut… Aber ihr Vater schien zu einer Art „Hellsehen“, wie das Vorwort es erklärte, keinerlei Bezug gehabt zu haben.

Fast ungläubig, aber interessiert las sie weiter. Was für eine merkwürdige Geschichte! Ob sie es auch konnte? Es hatte etwas von ihrem inneren Dialog zwischen Lou und Lisa, aber es war anders: kühler, technischer. Eine Anleitung für jedermann, der nicht noch jemanden in sich hatte. Was konnte man damit erreichen? Louisa blickte auf. Was hatte ihr Vater damit erreichen wollen? Ihre Eltern hatten nie darüber gesprochen, jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart.

Die Kaffeetasse war leer und kalt und Louisa stellte fest, dass ihr linkes Bein eingeschlafen war. Sie gab ihren Platz auf dem Sofa auf und setzte sich an ihren gähnend leeren Schreibtisch. Aus einem Umzugskarton fischte sie ein paar Blätter Papier und einen Stift und verbrachte die nächsten Stunden mit dem Aufzeichnen merkwürdiger Linien und Figuren. Sie kreiste mit dem Stift auf dem Papier. Es war, als ob sie ein Muster durchschritt, ein bisschen schien sich ihre Landkarte zu entrollen, aber nur ein wenig. Nein, es war völlig anders. Fasziniert probte sie immer neue Anläufe.

Plötzlich bemerkte sie, dass ein wirklich grauer Hamburger Morgen zum Fenster hereingekrochen war und sie zum Frösteln brachte. Wieder legte sie sich auf die Couch, zog die Decke bis ans Kinn und war sofort eingeschlafen. Und wie sie schlief, träumte sie, so farbig und wirklich, wie es ihr noch nie widerfahren war.

Sie schritt durch ihre Landschaft, gemächlich und entspannt und schaute sorgfältig nach jedem Ding und seinem Platz. Alles schien ruhig und geordnet. Auch der schwarze Fleck war ganz und gar verschwunden, weggespült von ihrer inneren Ordnung. Es war schön so. Und gerade, als sie sich zufrieden abwenden wollte, sah sie es, das Muster, direkt auf ihrem Weg vor sich liegend.

Die Linie begann kurz vor ihren Füßen, sie sah wie eingraviert aus, eingegrabene, dünne Furchen, manchmal parallel, manchmal ineinander verlaufend. Es bedeckte ungefähr die Fläche eines Hauses. Eines größeren Hauses, verbesserte sich Louisa. Sie versuchte, den Rand auszumachen.

Es war nicht so etwas wie Nebel, das sie an einer genauen Einschätzung hinderte. Es sah unscharf aus, wie der Hintergrund, wenn man mit einer Teleoptik nur auf den Vordergrund schaute. Es konnte sein, dass sich dort, am Ende, etwas bewegte, aber Louisa war sich nicht sicher.

Das war ein weiteres neues Gefühl in ihrer Landschaft. Erst der schwarze Fleck und dann war sie sich nicht sicher! Sie war sich immer sicher gewesen. Es war ihre Landschaft, sie war hier zu Hause. Da gab es keine Unschärfe, immer war ihr alles klar entgegengetreten. Verschwommenes gab es nicht. Entweder es war da oder nicht.

Wieder diese scheinbare Bewegung, schattenhaft, unwägbar. Farbig? Weit entfernt? Wenn sie es nur einschätzen könnte!

Sie konnte natürlich hinübergehen. Es war schließlich ihre Landschaft. Sie gehörte ihr, ihr allein. Sie musste nach dem Rechten schauen.

Als ihr Fuß die Fläche berührte, zuckte sie sofort zurück. Etwas, einem Stromschlag ähnlich, durchzuckte ihr Bein bis hoch zum Oberschenkel. Louisa staunte und sie begann, ärgerlich zu werden. So etwas hatte es noch nicht gegeben und so etwas hatte es hier auch nicht zu geben. Nichts war richtig.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte sie ihren Fuß auf den Anfang der Linie, wieder diesen unangenehmen Schlag erwartend. Aber er blieb aus. Nur ein leichtes Kribbeln war zu spüren, doch das konnte Einbildung sein. Entschlossen zog sie den anderen Fuß nach und stellte ihn weiter voran auf die Linie. Nichts geschah. Außer… das war wirklich dumm, sie hatte das Gefühl, etwas zu bekommen, wie ein Geschenk. Louisa schüttelte ein wenig den Kopf, es war, als würden Bilder wie Fliegen um ihren Kopf herumsummen. Sie zögerte, überlegte, ob sie diese Eindrücke verscheuchen sollte, wollte oder überhaupt konnte. Dann fasste sie sich und schritt voran. Es war ihre Landschaft und sie musste offenbar etwas tun, damit es ihre bliebe. Vor dem schwarzen Fleck war sie auch zurückgewichen. Sie wollte wissen, was sich drüben verbarg, drüben in dieser ungeheuerlichen Unschärfe. Diesmal würde sie nicht zurückweichen.

Es funktionierte. Etwas passierte. Sie kam der Wand aus Unschärfe näher. Manchmal schien sich etwas darin klar abzuzeichnen, dann wieder verschwand es. Louisa bemühte sich, immer auf der Gravur zu schreiten. Wich sie davon ab, rückte ihr Ziel plötzlich in weite Ferne, verschwand sogar fast. Kehrte sie auf die Linie zurück, war wieder alles da, vielleicht etwas näher als vorher.

Zunächst schien diese Linie sie direkt zu der Unschärfe hinzuführen, dann jedoch schlug sie einen Bogen, fast in die entgegengesetzte Richtung. Mal fiel es ihr leichter, einen Fuß vor den anderen zu setzen, mal schien sie wie durch etwas Flüssiges zu waten. Wasser? Dann wieder fühlten sich die Schritte hart und gänzlich unnatürlich an. Und schließlich schien es ihr, als ob sie über eine Wiese liefe.

Louisa folgte dem verschlungenen Verlauf der Gravur, und mit jedem Meter und jeder Drehung schien sie tatsächlich ihrem Ziel näher zu kommen. Sie stellte fest, dass es dort Farben gab. Sie konnte sie jetzt deutlich sehen. Gelb und Rot, aber vor allem Gelb, Grün, verschiedene Töne und Schattierungen. Braun. Dunkelgrau. Sie bewegten sich. Dort war etwas Kleines, Rotes. Und dort etwas Dunkleres. Oben war alles blau, blau wie der Himmel. Und darin eine Struktur, etwas Hochaufragendes, mit einer Bewegung.

Sie war plötzlich am Rand der Gravur angekommen. Die Linie endete abrupt, so wie sie begonnen hatte. Fast stolperte sie, als sie die neue Ebene betrat.

Tatsächlich, um sie herum Gelb. Wie ein weites Feld gelber Blumen. Und da war wieder die hohe Struktur, künstlich, wie ein Mast. Glatte, runde Wände.

Louisa sog die Luft ein. Sie hatte diesen Geruch schon einmal wahrgenommen. Blumen? Und da war noch etwas, etwas Salziges. Sie konnte es sogar schmecken.

Wo kam der Wind her? Es war warm, aber der Wind kühlte wohltuend. Louisa fuhr zusammen. Dieses Brummen – hatte sie es schon vorher gehört? Sie war sich nicht sicher, aber jetzt war es da. Es kam von oben. Sie legte den Kopf in den Nacken. Tatsächlich, dort oben, an der Spitze des schlanken Turmes, das Brummen und eine kreisende Bewegung. Ein Propeller!, durchzuckte es sie. Ein Propeller mitten in einem blühenden Rapsfeld.

Sie schritt vorwärts, hinein in die sich weit ausdehnende Fläche gelber Blüten, links vorbei an der Windkraftanlage.

Windkraftanlage?

Der Begriff stand plötzlich mitten in ihrem Kopf und sie schaute noch einmal hoch. Eine Windmühle. Klar und scharf zu erkennen. Plötzlich war sie wieder in einer Landschaft, aber war es ihre? Louisa war unsicher, Lisa hielt sich zurück. Wo war sie hier? Sie drehte sich um.

Das Rapsfeld grenzte an eine Straße. Sie war vielleicht zwanzig Meter in das Feld hineingelaufen. An der Stelle, wo ihre Spur an der Straße begann, parkte ihr Auto.

Ihr Auto? Sie hatte kein Auto, jedenfalls noch nicht. Es war bestellt und sollte in zwei oder drei Wochen geliefert werden. Wenn ihre Wohnung fertig war. Wenn ihre Eltern zurückgekehrt sein sollten. Wenn…

Es war eindeutig ihr Wagen, genauso, wie sie ihn bestellt hatte, leuchtend rot und in der viertürigen Version, weil sie die komplizierten Besteigungs- und Beladungszeremonien von Zweitürern einfach satt hatte. Dahinter parkte ein zweiter Wagen. Louisa fuhr zusammen.

Nein, bei nochmaligem Hinfühlen konnte sie eigentlich keine Gefahr feststellen. Die dunkle Limousine (dunkelblau?) stand einige Meter hinter ihrem Wagen, und es sah so aus, als ob sie selbst als Zweite angekommen war. Sonst wäre der andere Wagen dichter aufgefahren. Also hatte sie angehalten, weil dieser Wagen dort stand. Das bedeutete… Louisa wandte sich wieder dem Feld zu. Warum war sie hier hineingelaufen? Gab es etwas Besonderes in diesem Feld?

„Willkommen in Phase 6!“, sagte eine Stimme, und der Inhaber kam hinter der Windmühle hervor. Sie erkannte ihn, obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte. Er würde ihr noch oft begegnen.

Was für ein Unsinn, dachte Lou für einen Moment, aber Lisa war sich ganz sicher. Für sie gab es keinen Widerspruch. Sie kannte ihn, sie würde ihm noch oft begegnen, aber sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie mochte ihn sehr.

Als sie auf ihn zuging, stieg eine angenehme Wärme in ihr auf, eine Vertrautheit, ein Gefühl von Sicherheit. Er lächelte. Sie liebte dieses Lächeln.

Es war ein Lächeln, das sich am intensivsten in seinen grau-grünen Augen abspielte. Louisa war sich keinen Moment unsicher, welche Farbe sie hatten. Sie wusste es einfach. Sie kannte jede der kleinen ironischen Falten seiner Augenwinkel. Sie wusste, wie ihm seine störrischen Haare in die Stirn fielen. Sie würde sie oft zur Seite streichen.

Er würde dann sagen, dass Frisur etwas für Schreibtischtäter sei. Und sie würde lächeln und insgeheim beten, dass sie heil aus dieser Geschichte herauskämen. Und er würde ihr sagen, dass genau das auch sein größter Wunsch sei. Und dann huschte ein Bild vorüber, so schnell, dass sie kaum Gelegenheit hatte, Einzelheiten zu erfassen. Sie standen beide auf dem staubigen Boden des Mondes und seine Stimme klang fremd in den Helmlautsprechern; aber diese Verständigung brauchten sie leider immernoch. Und wie sie hoch schaute, ging über dem Kraterrand die Erde auf.

Als Louisa erwachte, war es, als müsste sie das Bild ihrer Augen mit dem, was um sie herum existierte, erst übereinander bringen. Die Konturen verschoben sich immer wieder. Endlich konnte sie sich aufsetzen, ohne dass ihr schwindelig wurde.

‚Was war geschehen?’ Nein, das war die falsche Frage. ‚Was wird geschehen?’ Schon besser. Aber es war eigentlich keine Frage. Sie wusste es.

Lisa nickte zufrieden und Lou beschloss, sich auf den Weg zu machen.

Als Louisa die Treppe zur Wohnung ihrer Eltern hinaufstieg, wurde sie unruhig. Ihr fiel plötzlich ein, dass sie sich nicht erinnern konnte, nach ihrer letzten Anwesenheit den Herd und das Licht abgeschaltet zu haben. ‚Nein’, sagte sie sich, ‚das war es nicht. Es war etwas anderes’… Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Und schon auf dem letzten Absatz wusste sie es genau.

Die Wohnungstür war aufgebrochen worden. Man bemerkte es erst beim Aufschließen, denn Vaters teures Sicherheitsschloss knackte und klemmte, während der Schnapper lediglich eingeklinkt war. Vater hatte sie mit seinem Sicherheitsdenken derart gedrillt, dass sie nie vergaß, vernünftig abzuschließen. Und was das Schloss anging…

‚Dieser Bursche hat lange gebraucht und sich richtig geärgert!’, meldete sich Lisa.

Das Chaos in der Wohnung ließ ihren Magen verkrampfen. Nicht nur, dass man sich keine Mühe gegeben hatte, die intensive Durchsuchung zu verheimlichen; der Ärger, das Gesuchte nichtgefunden zu haben, schrie aus jedem unglücklichen Gegenstand, der seinen rechtmäßigen Platz vermisste.

Louisa versuchte, sich zu bewegen. Nach einer scheinbar stundenlangen Starre brachte sie es fertig, Mutters klagend aufgerissene Handtasche in den Schrank zurückzulegen. Lisa flüchtete sich erschrocken in ihre hinterste Ecke. Lou nahm nur noch den Fetzen einer Information wahr. Einer der beiden Männer, denen sie schon in New York begegnet war, warf die Handtasche mit einem Fluch weit von sich.

‚Sie werden das Haus beobachten’, dachte Louisa plötzlich. Sie war sich ganz sicher über diesen Umstand. ‚Und dann werden sie deine eigene Wohnung auseinandernehmen und sie werden finden, was sie gesucht haben.’

Louisa erstarrte.

Dann ging sie langsam zum Fenster und versuchte, hinunter in die Straße zu schauen, ohne selbst gesehen zu werden. Plötzlich kam sie sich albern vor. Es war so typisch. Eine Standardszene. In wie vielen Filmen hatte sie diese Szene schon gesehen? So irrational, wie ihr die Situation vorkam, so gefährlich fühlte sie sich an. Sie war in keinem Film. Es war tatsächlich das, was ihr zugestoßen war. Und es machte keinen Spaß. In ihrem Nacken kribbelte es.

Sie brauchte gar nicht die Gardine zu Seite zu ziehen. Sie sah den Lieferwagen sofort. Er sah neu aus, oder mindestens ordentlich gewaschen und das passte überhaupt nicht zu ihm. Und er roch unangenehm.

Ohne sich weiter über die Unsinnigkeit dieser Empfindung zu wundern, versuchte sie, einen Plan zu machen. Sie musste weg hier, der Raum um sie herum begann plötzlich, unangenehm warm zu werden. Konnte man das Haus ungesehen verlassen? Und dann? Wohin?

‚Eins nach dem anderen’, sagte sich Lou.

‚Ich helfe dir’, sagte Lisa.

Gab es einen Hinterausgang? Ja, aber der führte nur wieder in ein Haus, nämlich das Hinterhaus. Und dahinter?

‚Ein Parkplatz’, meinte Lisa. ‚Dann eine Mauer. Die Mülltonnen. Vielleicht könnte man darüber…?’

‚Am helllichten Tag?’ Lou gefiel der Gedanke überhaupt nicht, die Mülltonnen zu ersteigen und sich dann über die Mauer zu schwingen.

‚Es wird uns keiner sehen’, beruhigte Lisa. ‚Und zum Hinterhaus können wir über den Boden gehen. Die Türen sind nicht abgeschlossen.’

Louisa verließ die Wohnung ihrer Eltern sofort. Sie räumte nichts mehr auf und sie nahm keinen Abschied von allen vertrauten Dingen, die sie vielleicht nie wieder sehen würde. Sie trat hinaus, in Eile aber nicht hastig.

‚Sie sind noch unten im Wagen’, meldete sich Lisa. ‚Aber sie passen auf.’

Die Treppe zum Dachboden war etwas schmaler. Louisa erinnerte sich plötzlich, wie sie einmal mitgeholfen hatte, einen Schrank ihrer Mutter hinaufzutragen. Er war alt und ließ sich nicht ausreichend zerlegen. Sie eckten überall an, aber Mutter wollte sich nicht davon trennen. Es war ein Schrank von ihrer Mutter, und er hatte in deren Kinderzimmer gestanden. Als Mutter noch jung war. Louisa Hand wischte eine Spinnwebe zur Seite, eine Geste, die ebenfalls dazu diente, die plötzlichen Erinnerungen zu verscheuchen.

Tatsächlich war die Bodentür nicht abgeschlossen und der alte Schrank stand immer noch hinter der Ecke, die einer der beiden Schornsteine bildete. Die verstaubten Glastüren starrten sie in einer hilflosen Verlassenheit an. Ihr Magen wurde zu einem dicken, verkrampften Klumpen.

‚Der eine Mann wird unruhig’, meldete sich Lisa. ‚Ich glaube nicht, dass er Verdacht geschöpft hat. Aber er wird unruhig.’

Lou riss sich los. Links entlang, vorbei an den Verschlägen der Nachbarn. Andere alte Schränke, Werkzeug, Kinderspielzeug, deprimierte Überlebende vergangener Sorgen. Nur nichts anfassen, keine Bilder aufnehmen, vorbei, vorbei.

Natürlich war die Lampe kaputt, aber Louisa kannte sich aus. Die hintere Bodentür klemmte etwas, und das Treppenhaus war schmutzig, aber leer. Louisa kannte die Hauswartsfrau flüchtig. Etwas zu dick, um sich gern zu bücken.

‚Sie verlassen jetzt doch den Wagen’, meldete sich Lisa wieder. Louisa betrat den hinteren Hausflur.

‚Und jetzt?’, fragte Lou, ‚sie werden uns sehen! Alle werden uns sehen, sie werden aus den Fenstern hängen. Alle.’

Aber Louisa wusste, dass es keinen anderen Weg gab. Die Mülltonnen wackelten bedenklich, die Mauerkrone bestand aus alten, ausgebrochenen Ziegeln und hätte kein Stück höher sein dürfen. Louisa rutschte etwas unglücklich auf der anderen Seite hinab, der Putz schürfte die Haut auf. Etwas an ihrer Jacke verursachte ein hässliches, reißendes Geräusch.

‚Sie sind jetzt in der Wohnung.’ Wenn Lisa eine Stimme gehabt hätte, würde diese jetzt besorgt klingen?

‚Sie bemerken, dass jemand da war. Der eine greift um sich. Es ist der Schimmelige. Er greift hierher! Und er riecht furchtbar!’

Lou und Lisa schüttelten sich. Sie versuchten, diesem unsichtbaren, geistigen Zugriff zu entgehen, aber sie hatten es mit jemandem zu tun, der stärker war. Und der ausgebildet war. Der genau wusste, wie man es tat.

Louisa stand jetzt auf der Straße. Noch bis zur Ecke, dort war die Hauptstraße. Ein Taxi?