Die Grenzen der Solidarität - Gret Haller - E-Book

Die Grenzen der Solidarität E-Book

Gret Haller

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Beschreibung

In internationalen Verhandlungen sind es immer wieder die Vereinigten Staaten, die sich gegen die Abgabe von Souveränität sträuben. Was die Europäer als Instrument der Freiheits- und Friedenssicherung schätzen, erzeugt jenseits des Atlantiks Angst vor Abhängigkeit und Machtverlust. Statt dessen setzt die amerikanische Regierung auf von der internationalen Gemeinschaft nicht getragene Feldzüge gegen feindliche Schurkenstaaten. Scheinbar unüberwindbare Differenzen, die für transatlantischen Zündstoff sorgen. Ein sinnvoller Umgang mit diesen Unterschieden ist möglich, setzt jedoch eine Auseinandersetzung mit ihren ideengeschichtlichen Ursachen voraus. Der Westfälische Frieden von 1648 begründete in Europa eine Entwicklung hin zu einem auf Souveränitätsverzicht beruhenden Nationalstaat. In der neuen Welt markierte indes eine dem Staat gegenüber dominierende Gesellschaft den Bruch mit den Traditionen der europäischen Mutterländer. Sollte das Recht des Stärkeren auch in Europa die "Stärke des Rechts" ablösen, gefährdet der alte Kontinent seine Zukunftsfähigkeit. Will man die bewährten Errungenschaften nicht preisgeben, kann eine Reflexion der Differenzen im Verständnis von Staat, Nation und Religion nicht ausbleiben. Die ideengeschichtlichen Wurzeln der transatlantischen Differenzen Nicht erst seit dem jüngsten Irakkrieg ist das amerikanische Bekehrertum weltweit in die Kritik geraten. Woher kommt dieser missionarische Übereifer und das Streben, die Welt in Gut und Böse zu teilen? Während ihrer fünfjährigen Tätigkeit als Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina bekam Gret Haller die Unterschiede im Verständnis von Politik, Staat und Recht zwischen Europäern und Amerikanern zu spüren. Unterschiede mit weitreichendem (ideen)geschichtlichem Ursprung, deren Kenntnis unverzichtbar für ein verantwortungsvolles europäisches Handeln ist. "Das wichtigste politische Buch des Jahres." Egon Bahr "... geschichtlich fundiert, gedanklich brillant und ohne eurozentristische Tendenz." Neue Westfälische

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Gret Haller

Die Grenzen der Solidarität

Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0418-9

ISBN PDF 978-3-8412-2418-7

ISBN Printausgabe 978-3-7466-8108-5

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2011

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2002 bei Aufbau; Aufbau ist eine Marke

der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über dasInternet.

Umschlaggestaltung Simone Leitenberger

unter Verwendungeines Fotos von Yasuhito Nakagawa, photonica

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Vorwort

1. Bosnien

Von Straßburg nach Sarajevo

Monolithische ethnische Identität

Die Alternative

Erstaunliche Beobachtungen

2. Transatlantische Unterschiede

Staat, Nation und Religion

Freiheit und Bindung

Recht und Moral

Angleichen oder Fremdbleiben?

3. Das Dreieck »Westeuropa / Mittelosteuropa / Vereinigte Staaten«

Bosnien im transatlantischen Spannungsfeld

Gemeinschaft und Staatlichkeit

Die Zukunft der Nation in Europa

Freiheit durch Souveränitätsverzicht

4. Westeuropa

Die Rolle der Staatlichkeit

Angelpunkt »Recht«

Die Französische Revolution geht weiter

Denkangebote, Sendungsbewußtsein und nationales Interesse

Nachwort

Literatur

Anmerkungen

Fußnote

|7|»Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«

Immanuel Kant, im Aufsatz

»Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«1

|9|Vorwort

Als am Nachmittag des 11. September 2001 das Radio die Nachricht von den Terroranschlägen in New York und Washington verbreitete, bestätigt später durch die grauenvollen Bilder des einstürzenden World Trade Centers, hatte ich eben die letzten Sätze eines Referates zum Thema »Deregulierung der Menschenrechte« geschrieben. Die Vorarbeiten zum vorliegenden Buch waren damals weitgehend abgeschlossen, und ich hatte einige Bemerkungen zu den transatlantischen Unterschieden im Verständnis von Staat und Nation aus dem Buchmanuskript ins Referat übernommen. Sogleich realisierte ich, daß die Darstellung der transatlantischen Differenzen in der gegebenen Aktualität so nicht präsentiert werden konnte, es wäre unvereinbar gewesen mit der Pietät den Opfern gegenüber. Ich schrieb den Text des Referates um und versuchte die rationale Analyse in eine Form zu bringen, die diese Pietät einschloß. Bald wurde mir klar, warum die Kommentatorinnen und Kommentatoren in den Medien jedenfalls kurzfristig recht hatten, wenn sie im Zusammenhang mit dem 11. September von einer Zeitenwende sprachen: Vieles ließ sich nicht mehr so formulieren wie bisher. Die Frage des Glaubens war so stark wie nie zuvor in den Vordergrund gerückt.

Zunächst hatte auch in mir das Bild des zusammenbrechenden Turmes im World Trade Center das ältere Bild der Turmruine der Zeitung »Oslobođenje« in Sarajevo verdrängt. Nach einigen Tagen begannen besonnene Kräfte öffentlich klarzustellen, daß es sich hier nicht um eine Konfrontation zwischen der islamischen und der christlichen Welt handelte. Hatte ich die Fragestellung, ob Islam und Moderne vereinbar seien, nicht bereits während Jahren mitdiskutiert, natürlich in bejahendem Sinne? Begann sich nun in mir die Zeit rückwärts |10|zu drehen? Als ich mich wieder der Arbeit am Buchmanuskript zuwandte, kam es mir zunächst so vor, als würde ich plötzlich Geschichte schreiben, nicht wie vorher Bericht erstatten über Erlebtes, das eine gewisse Aktualität hatte. Und doch war da ein innerer Zusammenhang. Schon nach einigen Wochen kamen in der medienöffentlichen Verarbeitung des Schreckens zwar nicht die gleichen konkreten Fragestellungen auf wie jene, die ich bearbeitete, aber vor allem die politische Analyse des Geschehenen führte je länger desto mehr auf ähnliche Denkmuster zurück. Immer deutlicher zeigte sich, daß in den Vereinigten Staaten und in Europa auf dieselben Dinge nicht genau gleich reagiert wurde. Und immer mehr Leute begannen Fragen zu stellen zu den transatlantischen Unterschieden. Sie betrafen auch jene Bereiche, zu denen bereits im Nachkriegs-Bosnien Wahrnehmungen gemacht werden konnten. Es wäre zu wünschen gewesen, diese Wahrnehmungen, die im folgenden beschrieben werden, hätten kein so schreckliches Umfeld erhalten, wie dies im September 2001 tatsächlich der Fall war. Es wäre zu wünschen gewesen, das Thema dieses Buches wäre nicht auf diese Weise plötzlich so aktuell geworden.

Im Mai 2002

Gret Haller

|11|1

Bosnien

Anfang Dezember 1995 läutete in meinem Büro das Telefon. Ich wurde gefragt, ob ich als Ombudsfrau für Menschenrechte nach Sarajevo gehen wolle. Das Friedensabkommen von Dayton sei zwar noch nicht unterzeichnet, es sehe aber eine solche Funktion vor, und daran werde sich bis zur Unterzeichnung nichts mehr ändern. In einer ersten spontanen Reaktion machte ich klar, daß ich diese Funktion nicht übernehmen wollte. Ich war damals Botschafterin beim Europarat, hatte in Straßburg ein interessantes Leben, und ich wußte nicht, was mich hätte bewegen sollen, dieses gegen eine Tätigkeit in einem Land einzutauschen, welches kaum den schrecklichsten Kriegsgreueln entkommen war. Als spätabends am selben Tag die Faxmaschine die Rechtsgrundlage für das neugeschaffene Amt ausspuckte, warf ich dennoch einen Blick darauf. Zunächst erschien mir die Sache als trockene Rechtsmaterie. Dann aber realisierte ich, daß hier Neuland betreten wurde: Die Europäische Menschenrechtskonvention sollte in Bosnien und Herzegowina direkt angewendet werden, ohne daß sie aber von diesem Staat völkerrechtlich ratifiziert werden konnte, weil dieses Land noch nicht Mitglied des Europarates war. Einzelpersonen in Bosnien würden sich also auf diese Konvention berufen und Beschwerden einreichen können, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würde diese Fälle jedoch nicht beurteilen dürfen, wiewohl er sonst für ganz Europa zuständig war. Darin konnten Chancen liegen, aber auch Gefahren: Vielleicht wäre es gut, hier mitzuwirken, denn mit der europäischen Menschenrechtskultur war ich seit Jahren vertraut. So meine zweite spontane Reaktion, die schon am nächsten Morgen über die erste gesiegt hatte. Den Ausschlag für meine Zusage gaben aber schließlich die Menschen in Bosnien und die |12|entsetzlichen Dinge, die sie erlebt hatten. Ob ich bei jener abendlichen Lektüre eines Annexes des Friedensabkommens von Dayton bereits geahnt hatte, daß ich in Bosnien schon bald mit vielfältigen kulturellen Unterschieden zwischen Europa und den Vereinigten Staaten konfrontiert sein würde? Wohl kaum. Rückblickend aber wurde mir klar, daß mir die zweite meiner damaligen spontanen Reaktionen einen bisher unbekannten Blickwinkel eröffnete, aus welchem ich in den folgenden Jahren durchaus widerwillig Beobachtungen anzustellen gezwungen war, die mich zunächst erstaunten, später ärgerten und schließlich veranlaßten, dieses Buch zu schreiben.

Noch vor Weihnachten ernannte mich die damals ungarische Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für mein neues Amt, welches mit der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton im Dezember 1995 in Paris formell geschaffen worden war. Nebst dem Aufbau dieser Institution ging es in den folgenden Monaten auch darum, sich mit der Situation im Lande vertraut zu machen. Soweit sie medienwirksam geworden waren, hatten uns die Bilder der Kriegsgreuel aus Bosnien auch in Westeuropa erreicht. Aber welche Geschichte stand dahinter, welche Ausgangssituation hatte zu den Entsetzlichkeiten geführt? Und wo mußte man ansetzen, um den Ursachen zu begegnen? Wie reagierte die Internationale Gemeinschaft? Einerseits war ich Teil dieser Internationalen Gemeinschaft. Andererseits stand ich auch außerhalb, denn die Institution, welcher ich vorstand, war formell eine Institution des Staates »Bosnien und Herzegowina«1*. Sie war nur insofern international, als der Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin in den ersten fünf Jahren nicht die Staatsangehörigkeit Bosniens oder eines der benachbarten Länder haben durfte.

|13|Schon zu Beginn waren die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Institution bosnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, assistiert zunächst durch internationale Juristinnen und Juristen, welche das Fachwissen in der Behandlung von Beschwerden gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention einbrachten, denn dieses war in Bosnien nicht Gegenstand der juristischen Ausbildung gewesen oder wenn schon, dann eher im Sinne eines negativen Beispiels von westlichem Imperialismus. Gegen Ende der ersten Hälfte meiner fünfjährigen Amtszeit arbeiteten die bosnischen Juristinnen und Juristen schon recht selbständig, so daß die Präsenz der Internationalen zurückging. Von Anfang an beurteilte ich die Geschehnisse deshalb auch aus der bosnischen Perspektive, was nicht heißt, daß die bosnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meine Beurteilung vorbehaltlos geteilt hätten. Dennoch war es genau die bosnische Sicht, die mir zeigte, daß es transatlantische Differenzen in weit höherem Ausmaß gab, als ich zuvor angenommen hatte. Sie erstrecken sich vom Rechts- über das Staats- und Politikverständnis letztlich sogar bis zum Verständnis des Demokratiebegriffes.

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