Menschenrechte ohne Demokratie? - Gret Haller - E-Book

Menschenrechte ohne Demokratie? E-Book

Gret Haller

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Beschreibung

„Krise der Menschenrechte“ Sollen Menschenrechte den Bürgern dienen? Sollen die Bürger demokratisch festlegen, worin diese Rechte bestehen? Oder soll der Entscheid darüber Experten und Gerichten überlassen bleiben? Gret Haller geht es um die demokratische Begründung der Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund beschreibt sie die Ideengeschichte als Problemgeschichte und beleuchtet gleichzeitig den realen historischen Verlauf. Am Beispiel des Weges von John Locke zu Immanuel Kant erklärt die Autorin, warum Freiheit und Gleichheit keine Gegensätze sein müssen. Das Ende des Kalten Krieges hat die Chance eröffnet, Gleichheit wieder als konstituierendes Element der Freiheit zu sehen. Der Westen hat diese Chance noch nicht ergriffen, im Gegenteil: „Sachkundige“ legen anhand von Einzelfällen fest, was Menschenrechte „sind“. Oberste Gerichte revidieren letztinstanzlich politische Entscheidungen und entmutigen damit die Teilnahme an der öffentlichen Willensbildung. „Expertise statt Demokratie“ lautet deshalb eines der wichtigsten Stichworte, unter dem die Autorin Phänomene einer zunehmenden Abdankung des Politischen versammelt. „Gret Hallers Studie diagnostiziert: Seit dem Ende des Kalten Krieges werden Menschenrechte vom Westen exportiert, dienen der Missionierung, bemänteln militärische Interventionen als „humanitäre“ Akte, oder sie verkommen zu Floskeln im politischen Alltag. Stets zeigt sich die Autorin kenntnisreich, problembewusst, gedanklich konsequent. Sie schöpft aus ihrer politischen Biografie und beeindruckt den Leser mit einprägsamen Schilderungen etwa aus ihrer Zeit als Ombudsfrau für Menschenrechte der OSZE in Bosnien und Herzegowina.“ Wolfgang Engler „Das Buch ist brisant, weil es im Sinne der Französischen Revolution Freiheit und Gleichheit verbindet – nach der Wahl des deutschen Bundespräsidenten und den Wahlen in Frankreich für Europa höchst aktuell.“ Egon Bahr

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Gret Haller

Menschenrechteohne Demokratie?

Der Weg der Versöhnungvon Freiheit und Gleichheit

Impressum

ISBN 978-3-8412-0471-4

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, August 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie fürdas öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Einbandgestaltung hißmann, heilmann, hamburg

unter Verwendung eines Motivs von Gordon Wiltsie / getty images

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Vorwort

I. Grundlagen der Menschenrechte bis 1789

1.  Vorgeschichte und Umfeld der Menschenrechte

Der Begriff der Menschenwürde

Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag

2.  Hauptentwicklungslinien der Menschenrechte

Thomas Hobbes

John Locke

Jean-Jacques Rousseau

Immanuel Kant

3.  Menschenrechte, Moral und Recht

Normativität und Wirklichkeit

Naturrecht und Positives Recht

Autonomie, Tugend und Zwang

II. Menschenrechte 1789 —1989

4.  Die Positivierung der Menschenrechte

Nationalisierung

Internationalisierung

5.  Menschenrechte, Staatlichkeit und Demokratie

Die Rolle des Staates

Die demokratische Legitimation der Menschenrechte

6.  Die Bereiche des Politischen und des Rechts

Das Politische und das Recht auf nationaler Ebene

Die Ambivalenz der Internationalisierung

III. Die Krise der Menschenrechte seit 1989

7.  Der Kalte Krieg und sein Ende

Die Ost-West-Konfrontation

Der neue Interventionismus

8.  Moralisierung der Menschenrechte

Der Rollentausch des Politischen und des Rechts

Vom Befreiungs- zum Disziplinierungsinstrumentarium

9.  Naturrecht und aufgezwungene Menschenbilder

Expertise statt Demokratie

Die revolutionäre Seite der Menschenrechte

IV. Entwicklungsperspektiven

10.  Perspektiven der demokratischen Legitimation

Die nationale Ebene als Basis

Mäßigung des Menschenrechtsdiskurses

11.  Universalität und Regionalisierung

Die Differenzierung innerhalb des Westens

Freiheit und Gleichheit

12.  Die Nachwirkung des Kalten Krieges

Religion gegen die Menschenrechte

Von John Locke zu Immanuel Kant

Anhang

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen Theorie und Praxis. Gegen Ende meiner beruflichen Tätigkeiten bin ich einen Schritt zurückgetreten und habe versucht, verschiedene Erfahrungen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Die meisten Stationen dieser beruflichen Tätigkeiten hatten in irgendeiner Weise mit den Menschenrechten zu tun, anfänglich vorwiegend aus juristischer Sicht, später ergänzt durch politische und diplomatische Praxis. Vor zehn Jahren habe ich damit begonnen, diese Praxis zu hinterfragen und die so gewonnenen Erkenntnisse publizistisch auszuwerten. Die Fortsetzung in einem wissenschaftlichen Umfeld erlaubte nicht nur eine Vertiefung, sondern relativierte bisherige Überlegungen und eröffnete neue Dimensionen. Die Arbeit ist geprägt durch die praktische Erfahrung einer langjährigen Tätigkeit in verschiedenen Funktionen und durch das kritische Infragestellen, das erst aus einer gewissen Distanz möglich geworden ist.

Entstanden ist die Arbeit im Rahmen eines fünfjährigen Aufenthaltes an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ulfrid Neumann bin ich zu großem Dank verpflichtet. Er hat mir diesen Aufenthalt ermöglicht und an seiner Professur Gastrecht gewährt. Auch hat er mir durch viele Hinweise auf dem Weg von der Praxisperspektive zum wissenschaftlichen Arbeiten weitergeholfen. Klaus Günther schulde ich ebenfalls großen Dank. Er hat mir den Zugang zu den Grundlagen dieser Arbeit sehr erleichtert. Durch seine Vermittlung wurde ich als assoziiertes Mitglied in den Exzellenzcluster »Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität aufgenommen. In diesem Rahmen hatte ich Gelegenheit zu vielen Kontakten, die für meine Arbeit sehr hilfreich waren. Erwähnen möchte ich Christoph Menke, dem ich viele Anregungen vor allem bezüglich der revolutionären Aspekte der Menschenrechte verdanke. Luise Schorn-Schütte ermöglichte mir ein besseres Verständnis von John Locke vor dem Hintergrund der damaligen Zeit.

Von Christoph Möllers, Humboldt-Universität zu Berlin, habe ich in verschiedenen Gesprächen sehr wertvolle Hinweise nicht nur zum vergleichenden Staats- und Verfassungsrecht erhalten, sondern auch zur demokratischen Legitimation der Menschenrechte. Gerhard Luf, Universität Wien, hat mir anlässlich eines gemeinsam veranstalteten Seminars in Alpbach/Tirol zum Thema »Menschenrechte und Moral« ermöglicht, im Gespräch viele für diese Arbeit wichtige Aspekte zu vertiefen. Heiner Bielefeldt, Universität Erlangen-Nürnberg, brachte kritische und damit sehr hilfreiche Bemerkungen zum Manuskript ein. Allen Gesprächspartnern – auch den zahlreichen, die ich hier nicht erwähnen kann – schulde ich großen Dank. Schließlich danke ich ganz herzlich Maria Matschuk, ohne deren sachkundiges und umsichtiges Lektorat auch dieses Buch nicht hätte fertiggestellt werden können.

I. Grundlagen der Menschenrechte bis 1789

Die Geschichte der Herausbildung dessen, was wir heute als Menschenrechte bezeichnen, ist keineswegs linear verlaufen. In verschiedenen Epochen haben sich neue Einsichten ergeben, Durchbrüchen sind wieder Zeiten des Rückschrittes gefolgt. Es bestehen verschiedene Linien nebeneinander, welche sich ergänzen, aber auch widersprechen können. Die Entwicklungslinien, die im Folgenden aufgezeigt werden, umfassen nicht das ganze Spektrum. Die Darstellung beschränkt sich auf einige besonders wichtige Stadien der historischen Entwicklung. Hervorgehoben werden vor allem jene Aspekte, welche eine Antwort geben auf Fragen, die sich im Zusammenhang mit den Menschenrechten erst seit dem Ende des Kalten Krieges stellen.

1. Vorgeschichte und Umfeld der Menschenrechte

Ideengeschichtliche Grundlagen der Menschenrechte finden sich bereits vor mehr als 2000 Jahren in der Antike. Diese philosophischen Idealvorstellungen blieben damals weitgehend ohne praktischen Einfluss. In ähnlicher Weise trugen christliche Vorstellungen im Mittelalter sowie erste Ansätze von Freiheiten in spätmittelalterlichen Stadtstaaten zu den ideengeschichtlichen Grundlagen der Menschenrechte bei, nicht aber zu ihrer praktischen Herausbildung. Die entscheidende philosophische Entwicklung begann im 17. Jahrhundert, und konkrete Menschenrechte wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts ausformuliert.

Der Begriff der »Menschenrechte« ist zu unterscheiden vom Begriff der »Menschenwürde«. Die Menschenrechte dienen dem Schutz der Menschenwürde. Menschenrechte wurden erstmals Ende des 18. Jahrhunderts ausformuliert. Der Begriff der Menschenwürde geht auf eine viel längere Entstehungsgeschichte zurück. Vor dem Rückblick auf einige Stadien in der Entwicklung der Philosophie der Menschenrechte kommt deshalb diese andere Entstehungsgeschichte zu einer kurzen Darstellung.

Der Begriff der Menschenwürde

Die Menschenwürde spielt bereits in der Antike eine Rolle.1 Damals hatte der Begriff insbesondere zwei Bedeutungen. Zum einen wollte man damit die Stellung einer Person innerhalb der Gesellschaft umschreiben. Zum andern ging es darum, den Wert des Menschen im Vergleich zu andern Lebewesen zu charakterisieren, also den inneren Wert des Menschen. Zunächst begründete man die Menschenwürde vor allem durch die Teilhabe des Menschen an der Vernunft. Im frühen Christentum und im Mittelalter wird Menschenwürde dann aus der Stellung des Menschen im Rahmen der Schöpfung definiert. Entsprechend der biblischen Schöpfungsgeschichte hat Gott den Menschen »nach seinem Bilde« geschaffen, weshalb seine Würde aus seiner »Gottesebenbildlichkeit« abgeleitet wird. In der Renaissance weitet der italienische Humanist Pico Della Mirandola diese Gottesebenbildlichkeit dahingehend aus, dass der Mensch als eine kleine Welt alle Möglichkeiten in sich vereinigt, die auch in der großen, von Gott geschaffenen Welt angelegt sind. Die Menschenwürde sieht er darin, dass der Mensch zwischen diesen Möglichkeiten frei wählen kann.

Mit dem Anheben der Neuzeit und mit der Aufklärung gewinnt in der Begründung der Menschenwürde schließlich der Vernunftgedanke die Oberhand. Der deutsche Philosoph und Jurist Samuel Pufendorf fügt zur Idee der Menschenwürde als Teilhabe an der Vernunft den Gedanken hinzu, dass alle Menschen gleicherweise dazu befähigt seien. Damit wird die Würde zur »gleichen Würde aller Menschen«. Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts definieren auch konkrete Freiheitsrechte, die sie zum Teil mit der Menschwürde begründen. Im 19. Jahrhundert wird die Menschenwürde durch die aufkommende Arbeiterbewegung zu einem zentralen Begriff in der politischen Auseinandersetzung. Für die Arbeiterschaft werden materielle Besserstellungen verlangt, die ihr zu einem »menschenwürdigen Dasein« verhelfen sollen. Damit kommt in den Begriff der Menschenwürde die zusätzliche Dimension der Gerechtigkeit. Die Menschenwürde bleibt zwar eine Kategorie des philosophischen Denkens, mit welcher die Menschenrechte begründet werden. Aber sie beginnt sich auszuweiten in den Bereich der konkreten eingeforderten Rechte, sie wird auch selber zu einer juristischen Kategorie. Ein Beispiel für diesen Übergang ist die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Der Einleitungssatz über das Wirtschaftsleben verlangt, dass die Ordnung des Wirtschaftslebens »den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle« entsprechen müsse.

Nach der beispiellosen Verletzung der Menschenwürde während des Zweiten Weltkrieges wird in die Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 der Hinweis auf »unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit« aufgenommen. Die Verfassung der UNESCO vom 16. Dezember 1945 verweist vorweg ebenfalls auf die Verleugnung des demokratischen Ideals »der Würde, der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung des Menschen«. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948 erwähnt bereits in der Präambel die Menschenwürde und formuliert in Art. 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« Mit diesen Verankerungen in internationalen Dokumenten ist die Menschenwürde definitiv zu einer juristischen Kategorie geworden, ohne jedoch ihren philosophischen Gehalt als Begründung der Menschenrechte zu verlieren.

Nun folgt ein breiterer Durchbruch zur juristischen Garantie der Menschenwürde in den Verfassungen. Damit werden Menschenwürdeklauseln zu einem Gegenstand der Auslegung durch die Gerichte. Wenn Menschenwürdeklauseln auf bestimmte Lebenszusammenhänge angewendet werden, kann die Diskussion jedoch sehr kontrovers werden. Es können Widersprüche entstehen zwischen verschiedenen Interpretationen der Menschenwürde. Die rechtlichen Diskussionen um verschiedene Interpretationen der Menschenwürde, wie sie seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts und vor allem in dessen letzten Jahrzehnten aufgebrochen sind, fließen zusammen mit den Diskussionen über die richtige Ausgestaltung der Menschenrechte selber. Seit deren erster Ausformulierung Ende des 18. Jahrhunderts ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Inhalt dieser Rechte nie mehr abgebrochen.

Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag

Den ersten konkreten Formulierungen der Menschenrechte ist im Spätmittelalter eine Entwicklung vorausgegangen, welche sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Sie läutete lange im Voraus gleichsam die Neuzeit oder die »Moderne« ein. Im mittelalterlichen Feudalismus wurden die Menschen in einen Stand hineingeboren, in eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, welcher sie zeit ihres Lebens als Bauern, Handwerker, Adlige oder Geistliche angehörten. Trotz dieser als gottgegeben betrachteten Ordnung begann sich schon während des Mittelalters ein Individualismus zu regen, der sich auch in den Mitwirkungsrechten der Bürger in den Stadtstaaten des Spätmittelalters zeigt. Durchbrüche in der strengen Zugehörigkeit zu den Ständen waren teilweise schon früher möglich gewesen. So konnten Bauernsöhne durch entsprechende Bildung zu Geistlichen werden oder Bauern zu Handwerkern und damit unter Umständen zu Bürgern, wenn sie in eine Stadt gezogen waren und länger dort gelebt hatten.2

Im selben Zeitraum entwickelte sich die Rechtsfigur des Herrschaftsvertrags. Einer der ältesten Herrschaftsverträge ist die Magna Charta Libertatum aus dem Jahre 1215. Darin verpflichtete sich der englische König vertraglich, gewisse Rechte seiner Untertanen zu respektieren. Dieses Dokument stellt die erste Urform einer geschriebenen Verfassung in Europa dar, die allerdings noch nicht von einem Parlament erlassen, sondern vom König verfasst worden war. Es hielt unter anderem fest, dass der König bestimmte Entscheide nicht mehr allein treffen konnte, sondern nur in Absprache mit einem Rat von Vasallen der Krone. Damit wurde die Magna Charta zum Ursprung des Parlamentarismus in Europa. Später folgten ähnliche Dokumente, so die Petition of Right im Jahre 1628, die Habeas-Corpus-Act 1679 und schließlich die Bill of Rights 1689, welche dem englischen Volk und seinen Repräsentanten bestimmte Rechte gewährten. 3 Herrschaftsverträge sind konkrete geschichtliche Realitäten, sie wurden zwischen dem Herrscher und seinem Volk abgeschlossen und festgeschrieben. Der Herrschaftsvertrag stellt eine bestehende und im Großen und Ganzen akzeptierte Herrschaftsordnung nicht in Frage. Er dient lediglich der Sicherung gewisser überlieferter Freiheiten im Rahmen solcher vorgegebenen Ordnungen. Dies bedeutet auch, dass der Herrschaftsvertrag immer ein bereits bestehendes Staatswesen voraussetzt, in welchem er abgeschlossen wird.

Vom Herrschaftsvertrag zu unterscheiden ist der Gesellschaftsvertrag, wie er im 17. Jahrhundert durch die Rechtsphilosophie als Idee hervorgebracht wurde. Der Gesellschaftsvertrag ist keine konkrete geschichtliche Realität, sondern eine reine Vorstellung, eine virtuelle Konstruktion, die einer Staatsgründung notwendigerweise vorausliegen muss. Diese Vorstellung ermöglichte im Denken über Recht und Staat eine große Wende. Dazu beigetragen hat insbesondere der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 –1679). Bisher hatte man den einzelnen Menschen ausschließlich in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Ordnung gesehen. Diese Ordnung galt als göttlich vorgegeben, und sie bildete den Ausgangspunkt für die Pflicht des Individuums, sich einzufügen. Wenn es individuelle Rechte gab, so waren diese eine Folge der Pflicht gegenüber Gott und gegenüber den anderen Menschen, sich selbst und seine Verhältnisse zu vervollkommnen. Hobbes leitete einen Paradigmenwechsel ein, indem er den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte, den er als von Natur aus frei betrachtete. Ausgangspunkt wurde nun das Recht des Individuums, aus welchem sich die Ordnung erst ableiten konnte. Damit eine so konzipierte Ordnung überhaupt entstehen kann, braucht es einen Akt der Übertragung von individuellen Rechten an die Gemeinschaft, und diesen Akt nennt Hobbes »Gesellschaftsvertrag«.

Die von Natur aus frei geborenen Individuen lebten zunächst in einem »Naturzustand«. Durch den Gesellschaftsvertrag vereinbarten sie dann, eine rechtlich-politische Gemeinschaft zu begründen. Der Paradigmenwechsel besteht in einer Umkehr des Verhältnisses zwischen Ordnung und Freiheit. Der mittelalterliche Herrschaftsvertrag gewährte dem Individuum Freiheit im Rahmen der vorgegebenen ständischen Ordnung, und zwar mit der primären Zielsetzung, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die durch den Herrschaftsvertrag gewährten Freiheiten kamen nur den Angehörigen privilegierter Schichten zugute. Die rechtsphilosophische Begründung einer Ordnung durch den Gesellschaftsvertrag hingegen machte es möglich, die Freiheit ins Zentrum zu setzen und die Ordnung davon abzuleiten. Während der Herrschaftsvertrag bestehende Ordnungen politischer Herrschaft nicht in Frage stellte, sollte die Idee des Gesellschaftsvertrages dazu dienen, politische Herrschaft als solche neu zu begründen und zu rechtfertigen.

Mit der Freiheit untrennbar verbunden war der Gedanke der Gleichheit aller Individuen. Im konkreten Herrschaftsvertrag können Kriterien definiert werden, welche die Individuen erfüllen müssen, damit ihnen die vom Herrscher gewährten Freiheiten überhaupt zustehen. Die zugestandenen Rechte können sich zum Beispiel auf privilegierte Stände oder Berufsgruppen beschränken, oder sie können den Besitz von Gütern voraussetzen. In der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag hingegen sind alle Individuen gleichermaßen frei geboren. Weil die Freiheit eine angeborene ist, muss auch die Gleichheit der Menschen eine angeborene sein. Freiheit und Gleichheit verbinden sich. Wäre die angeborene Freiheit nicht mit der Gleichheit verbunden, so müsste irgendjemand zuvor entschieden haben, welche Menschen zu den privilegierten gehören und welche nicht. Es müssten Kriterien definiert worden sein, nach denen Freiheit »angeboren« oder »nicht angeboren« ist. In der Theorie des Gesellschaftsvertrages sind derartige Unterscheidungen aber undenkbar, denn sie beruht gerade darauf, dass Freiheit allen Menschen angeboren ist und somit gar nicht zugeteilt werden kann. Der Stellenwert der Gleichheit bildet einen wichtigen Unterschied zwischen dem Herrschafts- und dem Gesellschaftsvertrag.

2. Hauptentwicklungslinien der Menschenrechte

Mit der theoretischen Figur des Gesellschaftsvertrages war der Boden bereitet, auf welchem jene Philosophien entwickelt werden konnten, die Ende des 18. Jahrhunderts ihre Umsetzung in konkrete Menschenrechte erfuhren. Die folgende Darstellung kann nur eine summarische sein und beschränkt sich auf jene Aspekte, welche für die Entwicklung der Menschenrechte von Bedeutung sind. Sie finden sich im 17. und 18. Jahrhundert vor allem bei Thomas Hobbes, dann bei John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant.

Thomas Hobbes

Thomas Hobbes (1588–1679) ist es zu verdanken, dass die öffentliche Ordnung nicht mehr so gesehen wurde, als sei sie durch übergeordnete Instanzen vorgegeben worden. Die Einrichtung dieser Ordnung wurde nun zu einer Aufgabe der frei geborenen Individuen, wenn auch vorläufig nur in der Theorie. Man kann deshalb vom Übergang von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung sprechen.4 In einer vorgegebenen Ordnung können bestimmten Menschen oder Ständen bestimmte Freiheiten gewährt werden, denn es lässt sich aus der Vorgabe ableiten, welche Menschen oder Stände dies sein sollen, um welche Freiheiten es sich handeln soll und unter welchen Bedingungen schließlich die Gewährung dieser Freiheiten erfolgen soll. Wird die vorgegebene Ordnung außer Kraft gesetzt, fallen alle Vorgaben weg. Die gewährten Freiheiten werden ersetzt durch die allgemeine und gleiche Freiheit, welche es den Menschen zur Aufgabe macht, die Ordnung gemeinsam zu schaffen. Seit dem 16. Jahrhundert und Hobbes hatte die Menschheit einen langen Weg zurückzulegen auf der Suche nach den Möglichkeiten, wie diese Aufgabe gelöst werden kann, auch heute ist sie noch unterwegs. Der von Hobbes vorgedachte Übergang von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung bildet das Fundament für die spätere Herausbildung der Menschenrechte. In heutiger – und aus dem Marktgeschehen entliehener – Begrifflichkeit hat dieser Übergang das Individuum aus der Vorstellung befreit, es sei das Produkt einer Ordnung, und er hat den Weg geöffnet zur Vorstellung, dass das Individuum Produzent dieser Ordnung ist.

Hobbes ist insoweit der Begründer einer konkretisierbaren Philosophie der Menschenrechte, als er die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen postuliert. Ein weiterer für die Entwicklung der Menschenrechte entscheidender Gedanke geht auf Hobbes zurück. Er verlangte, dass ein Herrscher beim Erlass von Gesetzen absolut frei sein müsse, allein verantwortlich der Gesellschaft, die ihn eingesetzt und ihm die Gesetzgebung übertragen hat. Damit hat Hobbes den Herrscher von göttlichem oder natürlichem Recht abgelöst. Voraussetzung dafür war, dass es eine neue Autorität gab, welche dem gesetzgebenden Herrscher seine Funktion übertragen hatte, nämlich die im Gesellschaftsvertrag vereinten Individuen, welche frei und gleich geboren waren.5

Im Gesellschaftsentwurf von Hobbes werden Freiheit und Gleichheit allerdings wieder weitgehend illusorisch. Er suchte nach einer Antwort auf die blutigen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts, welches durch die Religionskriege auf dem europäischen Kontinent und durch den Bürgerkrieg in England geprägt war. Mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrages schuf er zwar die Möglichkeit einer Begründung politischer Herrschaft aus der Freiheit des einzelnen Menschen. Nach seiner Vorstellung ist diese Freiheit im virtuellen Naturzustand der Menschheit jedoch gefährlich, weil sie zum »Krieg aller gegen alle« führen kann.6 Die bürgerkriegsträchtige Rechtsunsicherheit kann für Hobbes nur durch einen starken Staat und einen absoluten Herrscher überwunden werden. Dem Herrscher übertrugen die Individuen ihre ganze Freiheit und alle ihre Rechte mit Ausnahme des Rechtes auf Leben, das bei Hobbes als einziges dem Individuum zusteht.

Damit hat Hobbes eine Begründung für die Regierungsform des Absolutismus formuliert. Er schlug gleichsam vor, dass die Menschen ihre angeborenen Rechte dadurch wahren sollten, dass sie zugunsten eines absoluten Herrschers darauf verzichteten.7 Freiheit und Gleichheit gibt es deshalb bei Hobbes nur noch im Rahmen des Verbandes der staatlichen Untertanen. Hobbes kann aufgrund seines Gesellschaftsentwurfes wohl kaum als Menschenrechtstheoretiker bezeichnet werden. Dennoch hat er eine entscheidende Grundlage für die spätere Entwicklung konkreter Menschenrechte geschaffen.

John Locke

Der nächste Schritt in der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte ist dem englischen Philosophen John Locke (1632 bis 1704) zuzuschreiben. Wie sein um mehrere Jahrzehnte älterer Landsmann Hobbes ging er von einem Naturzustand aus, in welchem die Menschen frei und gleich gewesen seien, sowie vom Selbsterhaltungstrieb des Menschen im Naturzustand. Bei Locke wird dieser Trieb zu einem Recht und zu einer Pflicht auf Selbsterhaltung. Daraus leitet er in seiner »Zweiten Abhandlung über die Regierung« das Recht auf Eigentum ab, welches in seiner Theorie eine ganz zentrale Stelle einnimmt.8 Jedermann sei Eigentümer seiner eigenen Person und habe somit auch Eigentum am Produkt der Arbeit der eigenen Hände. Das Recht auf Eigentum entstehe dadurch, dass der Eigentümer einen Gegenstand bearbeite. Der Eigentümer sei im Naturzustand auch berechtigt, sich gegen Einbrüche in dieses Recht zu verteidigen, dem Rechtsbrecher gegenüber als Richter zu wirken und ihn auf eigene Faust zu bestrafen. Die Einführung des Geldes habe es dem einzelnen Menschen aber schon im Naturzustand ermöglicht, mehr Land zu bearbeiten, als er für die eigene Selbsterhaltung benötigte, und den Mehrertrag an Früchten zu verkaufen. Da die Menschen unterschiedlich fleißig seien, führe dies schon im Naturzustand zu ungleichen Besitzverhältnissen.

Der Abschluss des Gesellschaftsvertrages und damit die Errichtung eines Staates wird genau in dem Moment unumgänglich, in welchem der Einzelne nicht mehr in der Lage ist, »das über unmittelbare Körperkraft und Verfügungsgewalt hinausreichende Eigentum« zu schützen.9 Dazu setzen die Menschen eine Regierung ein, deren ausschließliche Aufgabe es ist, die Rechte des Individuums zu schützen. Darunter versteht Locke den Schutz des Eigentums, bestehend aus Leib, Leben und Privateigentum. Entsprechend gestaltete er die staatlichen Institutionen. In England hatte sich 1688 in der »glorreichen Revolution« das Parlament definitiv gegen die absolutistischen Bestrebungen der Könige durchgesetzt.10 An diesen Verhältnissen orientierte sich Locke und übertrug die Gesetzgebungshoheit vom Herrscher auf die Legislative. Diese wurde von jenen Bürgern gewählt, die über Eigentum verfügten. So hat er auch als einer der Ersten die Bedeutung von Mehrheitsentscheiden für die parlamentarische Willensbildung thematisiert. Die Legislative sollte jene Gesetze erlassen, die für den Schutz der Rechte des Individuums notwendig sind. Die Durchsetzung der Gesetze sollte einer Exekutive obliegen, wobei diese beiden Organe klar getrennt sein müssten. Lockes Theorie über die Ausgestaltung der öffentlichen Institutionen ist darauf ausgerichtet, für die neu aufstrebende Schicht des wirtschaftenden Bürgers möglichst gute Bedingungen zu schaffen. Auch daraus erklärt sich die zentrale Bedeutung des Eigentums in seiner Philosophie, welches eng verbunden ist mit dem Begriff der Arbeit. Arbeit wird damit zur rechtlichen Begründung des Privateigentums.

In eigenartigem Gegensatz dazu steht Lockes Begründung dieser Ordnung aus der von Gott geschaffenen Natur der Menschen.11 Jeder Mensch sei als Individuum unabhängig, unterstehe aber dem von Gott geschaffenen natürlichen Gesetz. Die Hauptaufgabe jedes Menschen liege darin, dieses bereits in der Natur enthaltene göttliche Gesetz aufzufinden und zu erkennen. Atheisten und solchen, die sich weigerten, sich öffentlich in irgendeiner Form zu Gott zu bekennen, spricht Locke deshalb den Bürgerstatus ab. Das Erkennen der Naturgesetze verlange eine gewisse Bildung und sei damit jenen vorbehalten, die sich dieses Wissen haben aneignen können. Ihnen komme die Aufgabe zu, ihre Erkenntnis im Volk zu verbreiten und damit eine moralische Vormundschaft zu übernehmen. Verglichen mit Hobbes, hat Locke den Durchbruch zur völligen Ungebundenheit wieder etwas zurückgenommen. Die den Menschen aufgegebene Ordnung hat er mit Elementen früherer vorgegebener Ordnungen verbunden, in denen Anklänge an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zum Tragen kommen.

Vor allem aber hat Locke die Vorstellungen von Hobbes mit einem anti-absolutistischen Gegenentwurf konfrontiert, den man als »Staat der Eigentümer«12 bezeichnen kann. Damit veränderte sich das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit. Während Hobbes die Gleichheit dadurch gewahrt hatte, dass er alle Menschen unter der absoluten Herrschaft gleich unfrei machte, wahrte Locke nun die Freiheit, dies aber um den Preis der Aufspaltung der Gesellschaft in Wohlhabende und Besitzlose. Verglichen mit Hobbes, hat Locke die Menschenrechte dahingehend weiterentwickelt, dass eine Übertragung von Rechten durch das Individuum an den Staat nicht mehr unbeschränkt möglich war. Damit hat Locke maßgebliche Grundlagen für den liberalen Rechtsstaatsgedanken geschaffen, und er hat die Entwicklung einer konkretisierbaren Vorstellung von den Menschenrechten ganz entscheidend beeinflusst. Weder Hobbes noch Locke haben aber das Versprechen einlösen können, welches in der Vorstellung des Gesellschaftsvertrages eingeschrieben ist, dass nämlich alle Menschen gleich und frei sind.

Jean-Jacques Rousseau

Im Hinblick auf die Einlösung des Versprechens schaffte sieben Jahrzehnte später der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) einen Durchbruch, der für die Weiterentwicklung konkretisierbarer Menschenrechte große Bedeutung erlangen sollte. Nach Rousseau ist nicht ein außerhalb des Individuums stehendes Gesetz maßgeblich, sondern das Gewissen jedes einzelnen Individuums. Er hat als Erster erkannt, dass Freiheit des Einzelnen und staatliche Durchsetzung einer Ordnung nur dann miteinander vereinbar sind, wenn diese Ordnung aus der Selbstgesetzgebung durch die Individuen hervorgeht, welche dem Staat unterworfen sind. Damit führt Rousseau die Auto-Nomie des einzelnen Menschen ein – die wörtliche Übersetzung von Selbst-Gesetzgebung. Hier kommt auch zum ersten Mal die Doppelrolle des Individuums hinsichtlich der Rechtsordnung zum Ausdruck: Einerseits hat das Individuum dem Gesetz zu gehorchen, ist also dem Recht unterworfen. Andererseits aber ist das Individuum zusammen mit den anderen gleichgestellten Individuen auch Gesetzgeber und Mitautor der Gesetze. Der Einzelne ist gleichzeitig Autor und Adressat der Gesetze, ersteres als Mitgesetzgeber, das zweite als Unterworfener unter die Gesetze, die er vorher mitverfasst hat. Freiheit gewinnt so eine weitere Dimension, sie umfasst nun auch politische Teilnahmerechte, indem das Individuum die öffentliche Ordnung mitgestalten können soll.

Dieser Gedanke kommt bei Rousseau im Begriff der Volkssouveränität zum Ausdruck: Die Gesetzgebungshoheit, welche Locke vom Herrscher auf die Legislative verschoben hatte, übertrug Rousseau nun auf alle Individuen, die einem Staatswesen unterstellt sind. Damit bringt er zum Ausdruck, dass der Einzelne in seiner Rolle als dem Gesetz Unterworfener nur dann frei ist, wenn er zuvor in der Rolle des an der Gesetzgebung Beteiligten dem Gesetz auch zugestimmt hat. Der gemeinsame Wille aller Individuen kommt nach Rousseau in der volonté générale zum Ausdruck, die mit der Souveränität der Bürger identisch ist. Er hält Gesetzgebung für legitim, wenn sie aus einem Plebiszit hervorgegangen ist, wenn die Bürger die Richtlinien also in einer Volksversammlung beschlossen haben, was nur in Kleinstaaten denkbar ist. Für Rousseau widerspricht die definitive Verabschiedung von Gesetzen durch parlamentarische Repräsentanten dem Grundsatz der Selbstbestimmung.

Durch die Ablehnung einer außerhalb des Individuums stehenden Autorität kam Rousseau wieder auf die Ungebundenheit des Individuums zurück, von der schon Hobbes ausgegangen war. Die Hürde, welche im Denken von Hobbes für die Weiterentwicklung der Menschenrechte angelegt war, hat Rousseau übersprungen, indem die Rechte nicht mehr an einen absolutistischen Herrscher abgetreten werden müssen, sondern nur an die volonté générale, den gemeinsamen politischen Willen aller Individuen. Gerade hier liegt aber auch wieder ein Element der Unfreiheit im Denken von Rousseau, denn die Abtretung der Rechte an die Gemeinschaft ist eine mindestens so kompromisslose wie jene von Hobbes gegenüber dem absolutistischen Herrscher.13 Zum einen überträgt das Individuum nach Rousseau alle von der Natur gegebenen Rechte an die Gemeinschaft ohne jegliche Ausnahme.14 Hobbes hatte immerhin noch dem Recht auf Leben einen besonderen Stellenwert zuerkannt. Zum andern stellt das Gemeinwesen, das durch den Gesellschaftsvertrag geschaffen wird, selbst eine Einheit dar, die nach Rousseau eine eigene Individualität aufweist. In ihr gehen die Rechte des einzelnen Individuums völlig auf. Von den Rechten des Einzelnen ist deshalb im Rahmen der volonté générale nach der Übertragung nicht mehr die Rede.

Auch Rousseau geht davon aus, dass die Ordnung den Menschen nicht vorgegeben, sondern es ihre Aufgabe sei, die Ordnung selber zu entwickeln. Die Freiheit des Menschen wird dadurch stark aufgewertet. Freiheit wird aber so stark mit menschlicher Vollkommenheit und menschlichem Glück identifiziert, dass daraus ein fast religiöser Heilsanspruch hervorgeht, der leicht totalitär werden kann. Rousseau postuliert letztlich einen Anspruch auf Tugend und Glück, den der Staat den Bürgern garantieren soll. Damit radikalisiert er die Freiheit in einer Weise, die sie in der Praxis schließlich illusorisch werden lässt. Im Bemühen, Freiheit und Gleichheit aufeinander abzustimmen und beide Ziele gleichzeitig zu verwirklichen, führten Rousseaus Gedanken vor allem durch das Konzept der Selbstgesetzgebung und die Doppelrolle des Individuums als Autor und Adressat der Gesetze trotzdem einen entscheidenden Schritt weiter. Rousseaus Schriften hatten auf die politische Entwicklung der damaligen Zeit einen großen Einfluss, insbesondere auf die Französische Revolution. Aber auch in den folgenden Jahrhunderten haben sie die Theoriebildung inspiriert, vor allem deren radikaldemokratische Varianten. Als eigentlicher Menschenrechtsbegründer kann Rousseau nicht gelten. Dennoch bilden seine radikalen Ideen eine unentbehrliche Grundlage für den weiteren Verlauf der menschenrechtlichen Ideengeschichte.

Immanuel Kant

Ein Jahrhundert nach John Locke, dem bis dahin bedeutendsten Menschenrechtstheoretiker, vollzog der in Königsberg lebende deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) den nächsten entscheidenden Schritt der Menschenrechtsphilosophie. Er schuf die Grundlage, auf welcher Freiheit und Gleichheit vereinbar wurden. Damit ermöglichte er auch den definitiven Durchbruch von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung.15 Beeinflusst vom Denken Rousseaus, stützte er sich insbesondere in seiner Rechtsphilosophie teilweise auf dessen Begriffe, hinterfragte sie aber kritisch und differenzierte sie weiter aus. Das politische Ideal Rousseaus, das vollständige Aufgehen des Einzelnen im gemeinsam gebildeten Willen, schlüsselt Kant in ein moralisches und ein rechtliches Ideal auf. Gemeinsam ist den beiden Bereichen der Verzicht auf inhaltliche Vorgaben. Kant zeichnet nur das Verfahren vor, in welchem der Inhalt oder immerhin eine Möglichkeit gefunden werden kann, sich ihm anzunähern. Ausgangspunkt sowohl für den moralischen als auch für den rechtlichen Bereich ist die Freiheit des Individuums. Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Bereichen liegt jedoch darin, dass die Befolgung der rechtlichen Vorschriften erzwingbar ist, jene der moralischen hingegen nicht.

Freiheit kommt dem Menschen gemäß Kant vor allem deshalb zu, weil er ein denkendes Wesen ist und weil er durch sein Denkvermögen in der Lage ist, die Dinge und Geschehnisse in der Welt zu beurteilen und zu werten. Weil der Mensch Vernunft hat, ist er in der Lage zu beurteilen, was für Konsequenzen sein Handeln für ihn und für andere hat oder haben könnte. Darüber hinaus aber gibt es in jedem Menschen etwas letztlich Unerklärbares, das ihm sagt, wie er sich verhalten soll, damit es sowohl den anderen Menschen als auch ihm selbst gegenüber verantwortbar sei. Dieses Unerklärbare ist eine moralische Kategorie, die Kant das »Sittengesetz« nennt. Jeder Mensch wird durch dieses Sittengesetz »genötigt«, das moralisch Richtige zu tun. Ob er allerdings seiner Einsicht folgt und danach handelt, ist seine eigene Sache, denn Moralität lässt sich nicht erzwingen. Auch wenn er unmoralisch handelt, kann er dem Sittengesetz nicht ausweichen. Ihm stellt sich immer wieder die Frage, ob er eine konkrete Handlung moralisch vor sich selber rechtfertigen kann. In den Worten Kants geht es darum, ob die Handlung einem subjektiven Prinzip, einer »Maxime«, folgt, »durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. Die ständige Nötigung durch das Sittengesetz bezeichnet Kant als »kategorischen Imperativ«.16

Kant verzichtet darauf, inhaltliche Vorgaben darüber zu machen, was moralisch richtig oder falsch sei. Stattdessen zeigt er auf, in welchem formalisierten Verfahren sich das Individuum mit dieser Frage am besten auseinandersetzen kann. Das entscheidende Kriterium ist dabei die Verallgemeinerbarkeit oder die Universalisierbarkeit. Dass der Mensch zu dieser Auseinandersetzung fähig und innerlich auch immer wieder dazu aufgefordert ist, verleiht ihm sittliche Autonomie und macht für Kant in letzter Konsequenz die Würde des Menschen aus. Würde kommt dem Menschen deshalb zu, weil er über einen freien Willen verfügt, die Voraussetzung der Selbstgesetzgebung im Bereich der Moral. Rousseau bezog den von ihm eingeführten Begriff der Selbstgesetzgebung vor allem auf die öffentliche Ordnung, die im Recht zum Ausdruck kommt. Da für ihn Recht und Moral letztlich zusammenfallen, differenziert er die beiden Bereiche auch in der Selbstgesetzgebung nicht weiter – mit der verhängnisvollen Konsequenz, dass das Individuum die moralische Selbstbestimmung schließlich an einen totalitären Staat verlieren kann. Kant trennt nun die beiden Bereiche, nicht aber in dem Sinne, dass nur das Recht auf Selbstgesetzgebung beruhen müsse, während die Moral aus irgendwelchen vorgegebenen Werten abgeleitet werden könne. Vielmehr findet nach Kant im Bereich der Moral genauso ein Gesetzgebungsvorgang statt, jedoch nicht ein kollektiver, sondern ein individueller.

Auch für den rechtlichen Bereich nimmt Kant eine Formalisierung vor und verzichtet auf inhaltliche Vorgaben. Das Recht dient dem Schutz der Freiheit des Individuums. Es legt die Bedingungen fest, die garantieren sollen, dass jeder nach seinem Belieben das anstreben und verwirklichen kann, was er will, sofern dies mit demselben Maß der Selbstverwirklichung aller anderen vereinbar ist. Dieses freie Belieben, zu tun und zu lassen, was man will, bezeichnet Kant als »Willkür«. Sie schließt auch ein Handeln ein, das auf persönlichen Wünschen, Begierden oder Launen beruht, die vorübergehend sein können und objektiv als unvernünftig erscheinen mögen. Willkür kann aber nicht die Grundlage sein für sittliche Autonomie. Diese ergibt sich erst aus der Selbstgesetzgebung des Einzelnen unter dem Sittengesetz, das er in sich trägt und das von persönlichen Begierden oder kurzfristigen Launen abstrahiert. Während sich das Sittengesetz nur an den Einzelnen wendet und dieser mit sich selbst ausmachen muss, worin es besteht und ob er ihm folgen will, dient das rechtliche Gesetz dem menschlichen Zusammenleben. Es schützt die Freiheit des Individuums, indem die anderen notfalls auch gezwungen werden können, ihre Freiheit nur in einer Weise auszuüben, welche die gleiche Freiheitsausübung aller Individuen nicht verunmöglicht. Freiheit ist deshalb unausweichlich verbunden mit Gleichheit. Nur als gleiche Freiheit ist Freiheit überhaupt denkbar.

Bei Kant gibt es letztlich nur ein einziges angeborenes Recht auf Freiheit, das dem Menschen »kraft seiner Menschheit« zusteht.17 Es wird deshalb als »Menschheitsrecht« bezeichnet und ist im Wesentlichen darauf ausgerichtet, Fremdbestimmung des Individuums zu vermeiden. Damit es geschützt werden kann, müssen Institutionen eingerichtet werden, welche die Wahrnehmung dieses Rechtes garantieren können. Dies müssen staatliche Institutionen sein. Auch die notfalls zwangsbewehrte Durchsetzung des Rechts kann nur Aufgabe des Staates sein. Wie die Denker vor ihm geht Kant von einem Naturzustand aus. Er stellt sich diesen Zustand so vor, dass eine Art Privatrecht geherrscht habe, aufgrund dessen jedes Individuum zunächst einmal beliebige Dinge – allerdings nur provisorisch – in seinen Besitz genommen habe. Einen Krieg aller gegen alle wie bei Hobbes bedeutet der Naturzustand gemäß Kant zwar nicht, dennoch ist dieser Zustand mangels Rechtsschutz eine unsichere Sache. Deshalb verlangt das angeborene Freiheitsrecht von den Menschen, dass sie den Naturzustand verlassen und sich zwangsbewehrten öffentlichrechtlichen Gesetzen unterwerfen, dass sie sich in den Worten von Kant in einen »bürgerlichen Zustand« begeben. Die Menschen sollen sich in einem Staat zusammenfinden, den Kant als »die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen« definiert.

Die Pflicht der Menschen, sich unter Rechtsgesetzen zusammenzufinden und damit einen Staat zu gründen, ergibt sich aber auch daraus, dass die gesetzgebende Gewalt nur »dem vereinigten Willen des Volkes« zukommen kann.18 Kant übernimmt das Konzept der Volkssouveränität von Rousseau, allerdings in modifizierter Form und ohne dessen Vorstellungen zur plebiszitären Demokratie. Im Idealfall sei es Aufgabe des Volkes, im Namen aller Staatsbürger »vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen«. Dieses repräsentative System sieht er aber erst dann verwirklicht, wenn der Staat zur Form einer »wahren Republik« gefunden hat. Mit dem Begriff der Republik meint Kant die Teilnahme aller Bürger an der res publica. Das Menschheitsrecht von Kant wird deshalb auch als »Recht auf eine Republik« bezeichnet oder als »Recht auf einen Staat«.19 Die Erweiterung des Freiheitsverständnisses durch politische Teilnahmerechte, welche schon Rousseau vorgedacht hat, kommt bei Kant erst richtig zum Tragen. Kant entwirft die Grundelemente der parlamentarischen Demokratie, lehnt aber im Gegensatz zu Rousseau direkt demokratische Elemente ab.20

Republikanismus

Ein konkretes System der staatlichen Institutionen zeichnet Kant nicht vor, vielmehr nimmt er auch diesbezüglich eine Formalisierung vor. Er zeigt den Weg auf, wie man sich republikanischen Zuständen annähern kann. Solange der republikanische Zustand noch nicht erreicht ist, müssen Gesetze durch den Fürsten erlassen werden, der sich auch auf seine Staatsbeamten stützen kann. Damit beschreibt Kant die Situation in seinem Staat Preußen, dem die Stadt Königsberg zugehörte. Kant hat aber die Geschehnisse der 1789 ausgebrochenen Französischen Revolution genau verfolgt. Er war überzeugt, dass sich die kontinentaleuropäischen Monarchien im Niedergang befänden. Deshalb werde sich der republikanische Zustand über kurz oder lang überall durchsetzen. Es ging ihm auch darum, beim Übergang von der Monarchie zur Republik Gewaltexzesse zu vermeiden. Dabei hatte er Exzesse der Französischen Revolution vor Augen.21

Der Fürst ist aber in der Gesetzgebung nicht frei. Er hat darauf zu achten, dass er »seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan […] so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.«22 Auch hier nimmt Kant wieder eine Formalisierung vor, sein »Probierstein« ist ein Gedankenexperiment. Kant bestimmt nicht vom Inhalt her, was gerecht sei, sondern er trägt dem Monarchen auf, sich vorzustellen, ob seine Untertanen dem Gesetz zustimmen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Solange die Bürger noch nicht über ihre Abgeordneten »ihr Recht besorgen« können, muss sich der Monarch als Mandatar und Repräsentant der Bürger betrachten und die Abwägung für sie vornehmen. Ist der Zustand der Republik einmal erreicht, können die Bürger diese Abwägung selber vornehmen. Die von Kant eingeführte Formalisierung gilt auch für sie: Sie sollen konkrete Gesetzesvorlagen nicht daraufhin überprüfen, ob sie ihnen gefallen oder ob sie ihnen persönliche Vorteile bringen, sondern die entscheidende Frage geht dahin, ob die Gesetze von allen gewolltwerden können, die unter diesen Gesetzen werden leben müssen. Der Allgemeinwille ist für Kant nicht identisch mit der Summe aller privaten Interessen. Vielmehr verlangt die Gesetzgebung, dass die Bürger von ihrer privaten Situation abstrahieren und nach allgemeinen Kriterien der Vernunft prüfen, ob die geplante Regelung im Sinne aller Betroffenen verallgemeinerbar sei. Das entscheidende Kriterium ist wieder die Universalisierbarkeit. Durch die Verallgemeinerung gewinnt der Bürger zunächst einmal eine Freiheit gegenüber sich selber, gegenüber seinen eigenen, vielleicht vorübergehenden und damit objektiv gesehen eher unvernünftigen Wünschen und Launen. Dies ist die Voraussetzung für eine objektive Prüfung der Universalisierbarkeit.

Hier trifft sich der rechtliche Bereich mit dem moralischen. Auch das Sittengesetz stellt den einzelnen Menschen immer wieder vor die Frage, ob sein Handeln einem subjektiven Prinzip folge, von dem er auch »wollen kann, dass es zum allgemeinen Gesetz werde«, mit anderen Worten, dass es universalisierbar sei. Auch hier ist der »Probierstein« ein Gedankenexperiment. Genauso wie ein einzelner Mensch eine bestimmte Handlung nur dadurch vor sich selber moralisch rechtfertigen kann, dass er prüft, ob das zugrunde liegende subjektive Prinzip universalisierbar wäre, genauso muss der Mensch als gesetzgebender Bürger prüfen, ob eine Gesetzesvorlage durch alle Gesetzesunterworfenen gewollt sein könnte, also universalisierbar wäre. Im moralischen Bereich kommt die Würde des Individuums dadurch zum Tragen, dass es durch das Gedankenexperiment der Verallgemeinerung seiner eigenen Prinzipien das Sittengesetz zur Anwendung bringt. Genauso verhält es sich im rechtlichen Bereich. Das einzige angeborene Recht auf allgemeine und gleiche Freiheit kommt dadurch zum Tragen, dass der Gesetzgeber durch das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit den allgemeinen Volkswillen ermittelt.

Der Republikanismus von Kant weist aber zusätzlich über die innerstaatlichen Verhältnisse hinaus. Wie die Individuen den Naturzustand verlassen und in einen Zustand »unter Rechtsgesetzen« eintreten sollen, so soll auch ein internationaler Rechtszustand angestrebt werden. Völkerrecht soll durch einen freien »Föderalismus« souveräner Staaten geschaffen werden, die sich landesintern auf eine republikanische Verfassung stützen. Kant spricht von einem »Völkerbund«, den diese Staaten bilden sollen, einen Weltstaat lehnt er ausdrücklich ab. Sein »Weltbürgerrecht« beschränkt er auf »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«. Die Menschen sollen auch Staaten bereisen können, über deren Bürgerrecht sie nicht verfügen, und es soll ihnen dort ein minimaler Schutz zugestanden werden.23 Zwar stellt diese Forderung, verglichen mit heute, einen bescheidenen Anfang dar. Dennoch ist Kant auch in jenem Bereich ein entscheidender Schritt in der Theorie der Menschenrechte zu verdanken, der über den innerstaatlichen Schutz hinausgeht.

Zum innerstaatlichen öffentlichen Recht, welches das Zusammenleben der Menschen im Rahmen des einzelnen Gemeinwesens festlegt, und zum Völkerrecht, das den Beziehungen zwischen den Staaten eine Ordnung verleiht, kommt das »kosmopolitische« Recht hinzu. Es legt nicht nur die Ansprüche jedes Menschen gegenüber den Staaten fest, deren Bürger er nicht ist, sondern es zielt auch darauf ab, das Zusammenleben des Einzelnen mit allen jenen Menschen in eine rechtliche Ordnung zu bringen, die keine Bürger desselben Gemeinwesens sind. Damit gewinnt das angeborene Recht auf allgemeine und gleiche Freiheit eine weitere Dimension.

3. Menschenrechte, Moral und Recht

Mit der Rechts- und Moralphilosophie von Kant kommt hinsichtlich der Menschenrechte eine erste Entwicklung der Grundlagen zum Abschluss. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts setzte die Ausformulierung konkreter Menschenrechtserklärungen ein, die im Zusammenhang standen mit der Neugründung von Nationalstaaten oder mit der Überführung bestehender Staaten in neue Staats- und Regierungsformen. Die gegenseitige Beeinflussung von Theoriebildung und politischer Praxis hat sich dadurch verstärkt. Kant nahm zu den politischen Geschehnissen Stellung, insbesondere zog er Lehren aus der Französischen Revolution. Zum Abschluss dieses ersten Teiles werden einige Fragen vertieft, wie sie sich im Vergleich der vier Autoren ergeben, die hinsichtlich der ersten Grundlagenentwicklung der Menschenrechte summarisch dargestellt worden sind. In einigen Punkten ergibt sich dabei auch schon ein Bezug zur Gegenwart.

Normativität und Wirklichkeit

Menschenrechte orientieren sich negativ an den wirklichen Verhältnissen. Wenn Menschenrechtstheorien aufgestellt und philosophisch begründet werden, so liegt der Grund dafür immer in einer nicht befriedigenden Wirklichkeit, in leidvollen Erfahrungen der Verletzung von Menschenwürde. Jede Philosophie der Menschenrechte entsteht, weil in der Wirklichkeit etwas »nicht stimmt«, weil der Wirklichkeit etwas anderes gegenübergestellt wird, was anzustreben wäre. Es wird eine Norm aufgestellt, an der die Wirklichkeit zu messen ist. Wenn ein Zustand beschrieben wird, der noch nicht verwirklicht ist, handelt es sich um eine »normative« Beschreibung. Normativität bedeutet einen Maßstab, an welchem die Wirklichkeit gemessen wird. Der Maßstab sagt nicht aus, wie es ist, sondern wie es sein sollte. Dem »Sein« wird ein »Sollen« gegenübergestellt. In die heutige Sprache übersetzt, könnte man sagen, jedes Menschenrecht, das später einmal rechtlich konkretisiert wird, habe mit der Feststellung »hier stimmt etwas nicht« eines Menschen begonnen. Es ist die ganz elementare Intuition, im Gegensatz zu den wirklichen Verhältnissen eine eigene Vorstellung des Richtigen oder des Gerechten zu entwickeln. Dazu ist der Mensch – und nur der Mensch – fähig.24 Er kann »Nein« sagen, weil er über einen freien Willen verfügt, der – nach Kant – letztlich seine Menschenwürde ausmacht.

Jedes Rechtsgesetz – sei dies eine Staatsverfassung, eine Ordnungsregel für den Straßenverkehr, eine Bestimmung über den Abschluss von privaten Verträgen oder eine internationale Vereinbarung zwischen Staaten – hält etwas fest, was einen menschlichen Willen zum Ausdruck bringt. Es ist der Wille einer verfassungsgebenden Versammlung, eines Gesetzgebers oder einer Behörde, wer immer zuständig sein mag, die betreffende Rechtsnorm zu formulieren. Setzung einer Rechtsnorm ist ein normativer Akt, der zum Ausdruck gebrachte menschliche Wille führt zu einer Norm des Sollens. Wenn keine Normativität gegeben ist, wenn also kein menschlicher Wille zum Ausdruck kommt, beschreibt ein Text oder ein Satz die Wirklichkeit. Ein solcher Satz ist deskriptiv. Er kann die Wirklichkeit zwar richtig oder falsch beschreiben, aber menschlicher Wille kommt darin nicht zum Ausdruck. Die Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Texten zeigt sich auch, wenn Rechtsgesetze mit Naturgesetzen verglichen werden. Die traditionelle Naturwissenschaft will Naturgesetze ergründen, und sie geht davon aus, dass es in der Natur Gesetze gibt, deren Logik mit wissenschaftlichen Methoden ergründet werden kann. Naturgesetze sind nicht normativ, in ihnen kommt kein menschlicher Wille zum Ausdruck, sie sind der Natur gegenüber rein deskriptiv.