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Angesichts der massiven negativen ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsumfolgen versuchen viele Menschen Verantwortung zu übernehmen. Was aber den verantwortlichen Konsum konkret auszeichnet, ist eine kultur- und generationenübergreifende Frage, deren Beantwortung schwerfällt. Denn in der Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit moderner Konsumwelten tun sich buchstäbliche Irrgärten aus Widersprüchen auf, in denen gezielte Nachhaltigkeitsbestrebungen und gute Vorsätze in Überforderungen, unbewussten Impulsen und Marktbeschränkungen verloren gehen können. Wie sich eine Konsumverantwortung angesichts dieser Irrungen konkretisieren lässt, wurde bislang nur unzureichend erforscht. Die Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle entwickelt in anschaulicher und zugänglicher Weise gänzlich neue und innovative Antworten auf diese Fragen.
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Seitenzahl: 696
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Sebastian Müller
Die Grenzen des Konsums
Eine Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Angesichts der massiven negativen ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsumfolgen versuchen viele Menschen Verantwortung zu übernehmen. Was aber den verantwortlichen Konsum konkret auszeichnet, ist eine kultur- und generationenübergreifende Frage, deren Beantwortung schwerfällt. Denn in der Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit moderner Konsumwelten tun sich buchstäbliche Irrgärten aus Widersprüchen auf, in denen gezielte Nachhaltigkeitsbestrebungen und gute Vorsätze in Überforderungen, unbewussten Impulsen und Marktbeschränkungen verloren gehen können. Wie sich eine Konsumverantwortung angesichts dieser Irrungen konkretisieren lässt, wurde bislang nur unzureichend erforscht. Die Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle entwickelt in anschaulicher und zugänglicher Weise gänzlich neue und innovative Antworten auf diese Fragen.
Vita
Sebastian Müller forscht am Center for Life Ethics der Universität Bonn zu Themen der Sozialontologie, der Wirtschaftsphilosophie und der digitalen Ethik.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Dank
Einleitung
1.
Konsum, Konsumierende und Konsumgüter
1.1
Der Konsumbegriff
1.2
Konsumgeschichte: ein Überblick
1.3
Verbraucherpolitik und -leitbilder
2.
Verantwortung
2.1
Verantwortungskonzepte
2.2
Individuelle Verantwortungsfähigkeit
2.3
Kollektive Verantwortungsfähigkeit
3.
Verantwortung in der Konsumforschung
3.1
Theorien der Konsumentenverantwortung
3.1.1
Individuelle Konsumverantwortung
3.1.2
Kollektive Konsumverantwortung
3.1.3
Strukturelle Konsumverantwortung
3.2
Verantwortung in der empirischen Konsumforschung
3.2.1
Der Intention-Behaviour Gap als Kunstprodukt
3.2.2
Der Intention-Behaviour Gap als strukturelles Phänomen
3.2.3
Konsumpräferenzen als alternative Prädiktoren
3.3
Consumer Social Responsibility
4.
Die Welt der Konsumierenden
4.1
Die Bausteine der sozialen Welt
4.2
Das Konzept der sozialen Rolle
4.3
Rollenüberschneidungen
4.4
Die Konsumentenrolle
5.
Rollenverantwortung
5.1
Konzepte der Rollenverantwortung
5.1.1
Klassifikation sozialer Rollen
5.1.2
Funktionalistische Rollenverantwortung
5.1.3
Individualistische Rollenverantwortung
5.1.4
Interaktionalistische Rollenverantwortung
5.1.5
Unfreiwilliges Role-Taking, Rollenentfremdung und das Problem der Binnenmoral
5.2
Die Verantwortungstheorie der sozialen Rolle
5.2.1
Ebene 1: Die diskursethische Grundlage der Rollenverantwortung
5.2.2
Ebene 2: Die implizite Verantwortung sozialer Rollen
5.2.3
Ebene 3: Private Verantwortung und Rollenverantwortung
6.
Der Verantwortungsraum der Konsumentenrolle
7.
Zusammenfassung
Literatur
Warum sollten Konsumierende verantwortlich handeln? Diese Frage hat mir mein Doktorvater Prof. Dr. Ludger Heidbrink gestellt, wann immer ich mit ihm die Fortschritte meiner Arbeit diskutiert habe. Meistens bin ich ihm eine Antwort schuldig geblieben und wann immer ich glaubte, eine befriedigende Lösung gefunden zu haben, fand er einen neuen Einwand. In diesem immer wiederkehrenden Austausch ist diese Arbeit gewachsen. Für seine intensive Betreuung, das große Vertrauen, das er mir immer wieder entgegengebracht hat, und für viele intensive Diskussionen bin ich Ludger in Dankbarkeit verbunden. Mein Dank gebührt auch Prof. Dr. Konrad Ott, der mir mit seiner Kompetenz in der Diskursethik und einem schier unerschöpflichen Gedächtnis zur Seite stand. Wann immer ich mit einem philosophischen Problem in sein Büro trat, verließ ich es mit frischen Ideen und einer endlosen Liste mit Literaturhinweisen.
Zum Gelingen dieses Buches haben auch all jene beigetragen, die immer wieder kritisch und geduldig durch meine Texte gegangen sind und mich geduldig und nachdrücklich zu Verbesserungen angehalten haben. Dafür möchte ich Amelie Meister, Chiara Fürniss, Hannah Neuhaus, Maya Maurer, Julia Held, Nils Hoffmann, Fenja Wiechel-Kramüller, Irene Colombi, Lena Schaefer und Alessa Auerswald danken. Für ihren besonders kritischen Blick und ihre vehementen Wiedersprüche muss Amelie Meister nochmals hervorgehoben werden. Inhaltlich geformt wurde meine Arbeit auch durch den intensiven philosophischen Austausch mit den mir lieb gewonnenen Vertrauten der St Galler Transatlantic Doctoral Academy Michael Heumann, Dana Sindermann, Dietrich Wagner und Florian Krause.
Bedanken möchte ich mich ganz besonders bei meinen Eltern, die mir zeitlebens mit guten Ratschlägen, ermunterndem Zuspruch, finanzieller Unterstützung und Liebe den Rücken gestärkt haben und bei den vielen Freundinnen und Freunden, die mir in schönen wie in nervtötenden Phasen meiner Arbeit in Mannheim und Kiel intellektuell und emotional zur Seite standen. Mein größter Dank gebührt meiner Partnerin Amelie Meister für die Liebe und Zuneigung, die sie mir jeden Tag schenkt.
In den Nachwehen der Weltwirtschaftskrise besetzte die Occupy-Bewegung im September 2011 die New Yorker Wallstreet. Sie demonstrierte gegen die extrem ungleiche Verteilung von Wohlstand und prangerte eine nationale und internationale Wirtschaftspolitik an, die aus ihrer Sicht keine langfristigen Wohlfahrtsziele verfolgte. Was als kleiner Protest mit wenigen hundert Menschen begann, gipfelte am 9. Oktober desselben Jahres in einen weltweiten Protest in über 950 Städten (Adam 2011). Dass die Protestierenden1 nicht nur emotional wahrgenommene sondern empirisch belegbare Ungleichheiten anprangerten, stellte unter anderem das viel diskutierte und mit sozioökonomischen Quellen überbordende Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (2016) von Thomas Piketty heraus. Dessen Kernbotschaft: Die Wirtschaftssysteme der modernen Industrienationen würden eine strukturell wachsende ökonomische Ungleichheit fördern und die demokratische Teilhabe vieler Menschen sukzessiv einschränken. Insbesondere die von Piketty angeführten Indizien für eine politische Krise der Demokratie verdichten sich nach der Veröffentlichung seines Buches mit dem Erstarken autokratischer Strukturen in Polen, der Türkei, Ungarn und Belarus. Neben diesen Beispielen sozioökonomischer und politischer Krisen sind die ökologischen allgegenwärtig. Anfang der 1970er Jahre veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht zur Lage der Menschheit und in diesem die Studie Die Grenzen des Wachstums. Die Studie prognostizierte auf der Basis historischer Daten der weltweiten Güterproduktion, des Wirtschafts- und des Bevölkerungswachstums, dass die Weltgemeinschaft auf Dauer an die Grenzen ihres Wachstums stoßen müsse. Ab einem bestimmten Produktionsniveau würden ihr zwangsläufig die Ressourcen ausgehen, sofern der Planet Erde bis dahin noch bewohnbar sei (Meadows/Meadows 1972). Dem Club of Rome folgte der Brundtland Report 1987 und das Pariser Klimaabkommen von 2015. Auch die starken Wechselwirkungen zwischen Behauptungsproblemen der Demokratie, ungerechten globalen Wirtschaftsstrukturen und der Umweltzerstörung werden von zahlreichen Forscherinnen und Forschern (siehe u.a. Apel 1990; Gardiner 2011; Jonas 1979; Miller 2007; Reich 2008; Schwartz 2010; Young 2011) sowie Protestbewegungen, in jüngster Zeit durch die Fridays for Future Bewegung, angeprangert.
Krisennarrative sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts omnipräsent. Es hat den Anschein, als wäre die Welt in eine Endzeitphase eingetreten, in der alle menschlichen Handlungen unvermeidlich eine bevorstehende Apokalypse befördern müssten. Neu sind diese Narrative nicht. Der Kalender der Maya kennt ein Ende der Zeit und auch die christlichen Gesellschaften des europäischen Mittelalters lebten in ständiger Erwartung an das Nahen des Jüngsten Gerichts. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges konkretisieren Atombomben und die Erderwärmung die drohende Apokalypse, deren unbarmherziger Takt medial durch die Weltuntergangsuhr angezeigt wird. Bisher, so dürfen optimistische Beobachterinnen und Beobachter des Weltgeschehens beruhigt feststellen, ist die Zeit allerdings noch nicht abgelaufen und die Welt ist auch in der Vergangenheit immer wieder nicht untergegangen. Warum, so könnten diese optimistisch gestimmten Geister entgegnen, sollten die aktuellen Krisen ernster genommen werden als die der Vergangenheit? Es ist die Qualität einer scheinbar unaufhaltsamen Dynamik von Teilkrisen, die sich in undurchschaubarer Komplexität gegenseitig bedingen, so die Antwort von Stephen M. Gardiner. Gemeinsam türmten sich die vielen kleinen Krisen zu einem perfekten Sturm auf (Gardiner 2011). Dieser Sturm sei aufgrund nationaler, internationaler und intergenerationaler Interessenskollisionen, mangelhaften Anreizsystemen und ineffektiven Institutionen nicht mehr aufzuhalten, so die düstere Prognose des Philosophen. Gegen eine derart hoffnungslose Aussicht wehren sich viele optimistische Stimmen mit harten Zahlen. So stieg beispielsweise die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit seit Jahren stetig an und lag im Jahr 2016 bei 72 Jahren (World Health Statistics 2019: 88). Der Index der menschlichen Entwicklung (der Human Development Index HDI), der sich aus dem Bruttonationaleinkommen, der durchschnittlichen Bildung und der Lebenserwartung zusammensetzt, steigt ebenfalls seit Jahren kontinuierlich. 2015 wiesen nur zwei Länder weltweit, Syrien und Swasiland, einen schlechteren HDI auf als 1990 (United Nations Development Programme 2019: 202). Diese und viele weitere Indizien bewegen Forscherinnen und Forscher wie Stephen Pinker oder Yuval Noah Harari zu der populären Annahme, dass die Welt sich für die Menschheit seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich verbessert habe. Die Menschen, die heute lebten, seien insgesamt freier, politisch integrierter, gesünder, besser genährt und lebten in größerer Sicherheit als alle Generationen vor ihnen (Pinker 2018; Harari 2017). Warum sollte man annehmen, dass der Strom wissenschaftlicher und sozialer Innovationen plötzlich zum Erliegen kommt?
Diese und andere positiv gestimmte Gegenwartsanalysen und Zukunftsprognosen können die Probleme starker ökonomischer Ungleichheiten und ökologischer Krisen jedoch nur bedingt relativieren. Selbst wenn die These, dass es der Menschheit gemessen an quantifizierbaren Kriterien noch nie so gut ging, angenommen wird, lösen sich die genannten Krisen nicht auf. Die offen zu Tage tretenden Fälle von Umweltzerstörung, sowie politisch, sozial und ökonomisch schlecht verteilter Ressourcen und Chancen, müssen adressiert werden und fordern Verantwortungsträger ein (Heidbrink 2011: 188). Um dieser Aufforderung nachkommen zu können, muss allerdings zunächst geklärt werden, welche Akteure die Krisen kausal verursachen, welche Akteure die besten Strategien zur Bewältigung der Krisen kompetent identifizieren und die damit verbundenen Aufgaben delegieren können, welche Akteure die Aufgaben übernehmen sollen, welche Akteure für die Folgen und Nebenfolgen ihrer Bemühungen Rede und Antwort stehen müssen und wer Lob oder Schuld verdient. Die Auswahl an potenziellen Verantwortungsträgern ist nicht gerade klein. So könnte beispielsweise politischen Institutionen die Verantwortung zukommen, die genannten Krisen zu analysieren und sie durch gezielte Sanktions- und Belohnungsanreize aufzulösen. Zivile Vereinigungen könnten dafür verantwortlich sein, auf strukturelle Probleme aufmerksam zu machen und Bürgerinnen und Bürger für diese zu sensibilisieren. Unternehmen könnten als Verantwortungsträger proaktiv für die Folgen und Nebenfolgen ihrer operativen Geschäfte einstehen.
Leider ist die Aufteilung von Verantwortung und die Identifizierung geeigneter Verantwortungsträger innerhalb einer global vernetzten Welt in der Praxis oft schwierig und mitunter sogar unmöglich. So belegt Iris Marion Young am Beispiel Fast Fashion, wie schwer es ist, für die miserablen Arbeitsbedingungen in Sweatshops passende Verantwortungsträger zu finden und auch Robert Reich zeichnet in seinem populärwissenschaftlichen Buch Superkapitalismus die wechselseitigen, kooperativen Beziehungen zwischen Konsumierenden, Unternehmen, zivilen Vereinigungen, Zulieferern und politischen Akteuren nach, in denen viele gesellschaftliche Ziele aus einem Mangel an geeigneten Anreizen strukturell untergehen. Alle Akteure, die von der unfairen Gewinnung von Rohstoffen, über die menschenunwürdige Fertigung von Produkten und eine umweltschädlichen Logistik bis hin zum Verkauf in einem Ladengeschäft an der Produktion beteiligt seien, so Reich und Young, würden sich marktwirtschaftlich vernünftig und rechtlich korrekt verhalten und sie würden dennoch kausal jene negativen Effekte erzeugen, die die meisten Gesellschaften und Individuen moralisch ablehnten (Reich 2008: 119 f.; Young 2011: 129 f.). Diese strukturellen Diskrepanzen zwischen politischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen auf der einen und judikativen und ökonomischen Anreizen auf der anderen Seite sind unter der Bezeichnung (Global) Governance Gap bekannt (Finkelstein 1995; Lustig/Sorensen 2013). Obgleich dieser Gap – genauer gesagt, diese Gaps – intensiv erforscht werden und obwohl bereits einige Maßnahmen zur Überbrückung dieser Gaps auf lokalen, nationalen und globalen Ebenen entwickelt, erprobt und eingeführt wurden,2 lösen sie sich nur selten auf und attestieren der Interdependenz zwischen Kooperationen und staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen strukturelle Momente der Ohnmacht (Rasche/Gilbert 2012). In dieser festgefahrenen Lage setzen viele wissenschaftliche, politische und ökonomische Akteure, und nicht zuletzt viele Bürgerinnen und Bürger ihre Hoffnung in eine besondere soziale Gruppe. Dieser schreiben sie das Potential zu, Verantwortung übernehmen und die Gaps überbrücken zu können. Die Rede ist von den Konsumierenden.
Die Idee verantwortlicher Konsumierender ist aus mehreren Gründen attraktiv. Zunächst einmal scheinen Konsumierende durch ihr Konsumverhalten nicht nur einen unmittelbaren, kausalen Beitrag zur Auflösung vieler ökonomischer, sozialer und ökologischer Missstände leisten zu können, sie verfügen auch über eine potenziell gewaltige Marktmacht, die zumindest theoretisch in kürzester Zeit freigesetzt werden könnte (Wynes/Nicholas 2017). Wenn alle Konsumierenden, dasselbe Ideal einer umweltfreundlichen und gerechten Zukunft vor Augen hätten und gemeinsam an einem Strang ziehen würden, müssten sich alle Unternehmen und Produktionsstätten dem Konsumdiktat beugen und dann dürfte einer zügigen Transformation von einer umweltzerstörenden, unsozialen und korrupten hin zu einer in allen Aspekten nachhaltigen Wirtschaft nichts mehr im Wege stehen. Dieses Bild vermittelt zumindest das Narrativ der souveränen und verantwortlichen Konsumbürger. Auch praktisch scheinen Konsumierende ihre moralischen Überzeugungen in ihr Verhalten einfließen lassen zu können, wie historische und alltägliche Indizien belegen. So wurden beispielsweise während der amerikanischen Revolution von Großbritannien besteuerte Produkte gezielt mit dem Slogan »no taxation without representation«3 boykottiert (Breen 2005; Trentmann 2007) und auch im Zuge der Proteste um Martin Luther King und Rosa Parks gegen die Segregationsbestimmungen in den USA spielte ein politisiertes Konsumverhalten, wie der legendäre Busboykott von Montgomery, eine zentrale Rolle (Theoharis 2011). Die Beförderung einer ökologischen Nachhaltigkeit scheint sich wiederum im internationalen Absatz nachhaltiger Produkte niederzuschlagen. Der Ethical Consumer Markets Report (2017) unternimmt seit 1999 jährlich den Versuch, den Anteil ethischer Produkte am britischen Markt zu messen.4 Für den Zeitraum zwischen 2000 und 2017 ermittelte der Report eine Absatzsteigerung von 540 Prozent.5 Ein besonders großer Teil dieses Nachhaltigkeitstrends erfolgte im Lebensmittelbereich. Fairtrade und ökologisch zertifizierte Produkte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und Nord Amerika fest im Supermarktsortiment etabliert (Gleim u. a. 2013; Hepting u. a. 2014) und auch das Interesse der Konsumierenden an Informationen über die Herkunft von Produkten und deren Fertigungsbedingungen ist gestiegen (Schwartz 2010). Derselbe aufgeklärte Konsumgeist scheint durch den Finanzsektor zu wehen, wo sich »Social Responsible Investments« großer Beliebtheit erfreuen (Burke u. a. 2014), und auch in den Sparten Mobilität und Haushaltsgeräte wird ein Trend zum nachhaltigen Konsum wahrgenommen (Luchs u. a. 2010; Ngobo 2011; Burke u. a. 2014; Moser 2015). Konsumierende verfügen aber nicht nur über eine gewaltige Marktmacht und die Fähigkeit, sozialpolitische, ökonomische und ökologische Entwicklungen unmittelbar durch Proteste und Kaufakte zu unterstützen, sondern sie besitzen auch die Fähigkeit, gemeinsam mit staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren zu kooperieren. Konsumierende können sich mit Unternehmen über Onlineforen austauschen, in Aktionärsversammlungen abstimmen, Produktverbesserungen vorschlagen und gemeinsam mit Anbietern und gesellschaftlichen Institutionen ökonomische, ökologische und soziale Probleme diskutierten (Hoffmann 2008; Benoit u. a. 2017).6
Gegen das verlockende Narrativ von den verantwortlichen Konsumierenden, die ihre Konsumentscheidungen an Gerechtigkeitserwägungen orientieren und deren größtes Interesse einer nachhaltigen Entwicklung gilt, sprechen allerdings auch viele empirische Indizien. Im Jahr 2000 gaben 30 Prozent der Konsumierenden einer repräsentativen britischen Umfrage an, bei ihren Einkäufen »moralische Produkte« zu bevorzugen. Für viele Konsumierende zählen Produkte, die mit dem Fairtrade Siegel ausgezeichnet sind, in diese Kategorie. Deren Marktanteil lag im selben Jahr in Großbritannien aber nicht bei 30 Prozent, sondern bei knapp vier Prozent (Davies u. a. 2012). Für Deutschland nimmt sich dieser Kontrast im Jahr 2018 noch deutlicher aus. Während etwas mehr als 20 Prozent der Befragten angaben, »ethische Produkte« zu bevorzugen, lag der nationale Anteil von Fairtrade Lebensmitteln am gesamten Lebensmittelmarkt bei etwas über einem Prozent (Brandt 2019; IfD Allensbach 2019; TransFair 2019). Insgesamt wächst der globale Fairtrade Markt zwar und erreicht immer mehr Konsumierende, der Anteil von Fairtrade Produkten am Gesamtmarkt ist bisher aber nur marginal und lässt nicht auf nennenswerte wirtschaftliche und soziale Transformationen hoffen. Ähnliches gilt für den Textilsektor. Obwohl Konsumierende angeben, die sozialen und ökologischen Folgen in der Modeindustrie moralisch zu verurteilen und beteuern, weniger und moralisch zertifizierte Kleidung zu höheren Preisen kaufen zu wollen, ist der Umsatz von Fast Fashion zwischen 2000 und 2015 weltweit um 50 Prozent gestiegen (Schmidt u. a. 2019). Andere Konsumsparten, wie der Individualverkehr, lassen in Konsumierenden sogar wichtige Treiber der ökologischen Krise erkennen. Beispielsweise standen den Konsumierenden 2019 in Deutschland 20.200 Carshring-Fahrzeuge (Bundesverband CarSharing 2021) und 1,36 Millionen private E-Bikes (Zweirad-Industrie-Verband 2021) auf den Straßen zur Verfügung.7 Trotz dieses als ökologisch ausgewiesenen Mobilitätsangebots wuchs die Anzahl der jährlichen Neuzulassungen von PKW in Deutschland monoton von 3.04 Millionen im Jahr 1990 auf 3.61 Millionen im Jahr 2019 an (Kords 2021).8
Obwohl also eine beträchtlicher Anteil an Konsumierenden in Europa und Nordamerika die feste Absicht äußert, umweltfreundlich, nachhaltig, sozial verträglich und moralisch konsumieren zu wollen, weicht der Marktanteil der als nachhaltig, umweltfreundlich und sozial verträglich wahrgenommenen Produkte und Konsumpraktiken eklatant von dieser Beteuerung ab. Die klaffende Lücke zwischen den gewissenhaften Kaufabsichten und den tatsächlichen Markttrends, von der noch unter der Bezeichnung Intention-Behaviour Gap die Rede sein wird, lässt große Zweifel daran aufkommen, ob Konsumierende dem Bild von Rettern in der Krise gerecht werden können. Es hat vielmehr den Anschein, als würden sich Konsumierende auf einem Markt wiederfinden, in dem sie sich nur mit begrenzten zeitlichen, finanziellen und kognitiven Ressourcen über Konsumgüter informieren und die Folgen ihres Kauf-, Ge- und Verbrauchs- und Entsorgungsverhaltens nur teilweise abschätzen können. Eingezwängt zwischen einem gewaltigen Kollektivpotential, erdrückenden Verantwortungszuschreibungen und Marktbedingungen, die das Konsumverhalten signifikant bestimmen, dürften einige Konsumierende eine Überforderung erleben (Heidbrink 2003: 152), die das Satiremagazin Der Postillion in einer ironischen Kritik an der Fridays-for-Future Bewegung auf den Punkt bringt:
»Ich recycle, verzichte auf Plastik, kaufe nur regional und gehe zu Fuß zur Arbeit. Außerdem setze ich mich täglich auf ein Pferd und bekämpfe mit meiner Lanze eine große Windmühle.« (Der Postillion Umfrage: Was tun Sie privat für den Klimaschutz? 26 Aug. 2019)
In der Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit moderner Konsumwelten tun sich buchstäbliche Irrgärten aus Widersprüchen auf, in denen gezielte Nachhaltigkeitsbestrebungen und moralische Vorsätze einerseits in kognitiven Überforderungen, unbewussten Impulsen, Wertekollisionen und ignoranten Haltungen verloren gehen können, die aber andererseits auch in erfolgreichen Protesten, erfüllenden Lebensstilen und nachhaltigen Strukturänderungen münden können. In diese Irrgärten taucht die interdisziplinäre Konsumforschung bei der Analyse der Konsumentenverantwortung ein und gelangt, genau wie die Konsumierenden selbst, zu einem großen Spektrum aus unterschiedlichen Konzepten und Problembeschreibungen. Dabei gelingt es weder den klassischen noch den modernen Forschungspositionen, den Inhalt der Konsumentenverantwortung kontextgerecht und intersubjektiv erfassbar zu verorten. In dieser Orientierungslosigkeit bleibt eine einfache wie folgenschwere Forschungsfrage offen, deren Relevanz für das Leben und Überleben der Menschheit im 21. Jahrhundert kaum überschätzt werden kann und deren Beantwortung dieses Buch gewidmet ist:
Welche Verantwortung besitzen Konsumierende für ihren Konsum und können sie dieser Verantwortung auch gerecht werden?
Die Begriffe Verantwortung und Konsument bzw. Konsumentin stehen in einer langen Theorietradition. Sie sind hochkomplex und ihre Bedeutung ist kontextsensibel. Wenn in der Politik, der Wirtschaft, den Medien oder der Forschung von der Verantwortung der Konsumierenden die Rede ist, können sich hinter dieser Aussage ganz unterschiedliche Bedeutungen verbergen. Konsumierende können als verantwortlich erkannt werden, wenn sie Angebote meiden, die als wenig nachhaltig gelten. Diese Interpretation spiegelt sich in sozialen Meinungsäußerungen wie dem Hashtag #Flugscham (Raab 2019) oder dem etwas älteren und etablierteren SUV-Bashing wieder. Konsumierende können auch als verantwortlich erkannt werden, wenn sie »moralische« Produkte kaufen. Dieser Logik folgen beispielsweise empirische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wenn sie das Fairtrade Logo kontextunabhängig als einen Index für eine nachhaltige Konsumwahl anerkennen (De Pelsmacker u. a. 2005; Andorfer/Liebe 2012). Konsumierende können von politischen Akteuren und juristischen Institutionen als verantwortlich anerkannt werden, wenn ihnen die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich ausreichend über die Folgen und Nebenfolgen der Produktion, des Ge- und Verbrauchs und der Entsorgung von Produkten informieren und unnötige individuelle und gesellschaftliche Risiken meiden zu können (Micklitz u. a. 2010). Konsumierende werden in vielen Fällen auch als verantwortlich erkannt, wenn ihre Konsumhandlungen einer operationalisierbaren Vernunft genügen. In diesem Sinne können beispielsweise der Kauf einer vielversprechenden Aktie oder der Verzehr besonders gesunder Lebensmittel als verantwortlich wahrgenommen werden. Es ist leicht verständlich, dass diese sehr unterschiedlichen Interpretationen nicht gleichwertig sind und dass sie für sich genommen nicht die umfassende Verantwortung der Konsumierenden beschreiben können. Welche der Interpretationen ist aber unter welchen Bedingungen die Richtige?
Um ein wenig Ordnung in das Durcheinander aus konkurrierenden Theorien, empirischen Erkenntnissen und begrifflichen Traditionen zu bringen und um präzise ausdrücken zu können, was ich meine, wenn ich von Konsumentenverantwortung spreche, werde ich in diesem Buch zunächst einen historischen und realpolitischen Einblick in die Lebenswelt der Konsumierenden anbieten (Kapitel 1). Dort werden die wichtigsten Entwicklungsstufen des soziohistorischen Konstrukts sogenannter Konsumgesellschaften – Gesellschaften, in denen der Konsum eine bedeutende Stellung einnimmt – nachgezeichnet und die aktuellen europäischen und deutschen Leitbilder, an denen sich die Verbraucherpolitik maßgeblich orientiert, diskutiert. In dem Kapitel wird sich herausstellen, dass die Welt der Konsumierenden und deren Verantwortung nicht auf die beengte Marktperspektive des Homo Oeconomicus beschränkt werden kann. Aber nicht nur der Konsum-, sondern auch der Verantwortungsbegriff nimmt sich in seiner philosophiegeschichtlichen Tradition als bedeutend umfassender aus als es alltägliche Kontroversen um die Verantwortung der Konsumierenden vermuten lassen. Die Darstellung (Kapitel 2) umfasst einen Überblick über die wichtigsten Konzepte normativer Verantwortung und die Komponenten, zwischen denen Verantwortungsrelationen gebildet werden können. Die wohl voraussetzungsreiche Komponente ist die des Verantwortungssubjekts. Ich werde zwei Eigenschaften herausarbeiten, ohne die, so wird meine Argumentation zeigen, kein normativ gehaltvoller Verantwortungsbegriff auskommt. Erstens besitzt Verantwortung immer eine prospektive und eine retrospektive Dimension. Folglich kommt einem verantwortlichen Subjekt sowohl die prospektive Aufgabe zu, eine bestimmte Handlung auszuführen oder einen bestimmten Zustand herbeizuführen als auch die retrospektive Bürde, für die Ausführung dieser Aufgabe zur Rede gestellt und gelobt, getadelt und gegebenenfalls auch sanktioniert werden zu können. Mit der Anerkennung dieser Eigenschaft wird Verantwortung als motivationales Konzept ernst genommen. Würden Menschen nicht davon ausgehen, dass andere Instanzen oder sie selbst ihr Handeln retrospektiv evaluieren und dieses gegebenenfalls sanktionieren, dann gäbe es für Menschen keinen Grund, ihren prospektiven Verantwortlichkeiten nachzukommen. Für die Konsumentenverantwortung bedeutet diese erste und noch zu beweisende Einsicht, dass individuelle Konsumierende und Gruppen von Konsumierenden nicht nur darin bestärkt werden können, ihren Konsumstil an bestimmten Kriterien anzupassen, sondern sie können für vergangene Konsumakte und vernachlässigte Aufgaben zur Rechenschaft gezogen und gegebenenfalls sogar sanktioniert werden. Zum zweiten soll der intersubjektiven Dimension des Verantwortungsbegriffs besonderes Gewicht verliehen werden. Verantwortung kann nur dann sinnvoll zugeschrieben werden, wenn die Zuschreibungsnorm und der normative Status des Verantwortungsobjektes von den zuschreibenden Akteuren und den Verantwortungsträgern epistemisch erfasst werden kann. In Fällen, in denen diese Eigenschaft nicht berücksichtigt wird, beispielsweise wenn eine Verbraucherpolitik verantwortliche Konsumstile einfordert, von denen die Konsumierenden nicht wissen, dass diese verantwortlich sind, muss die Zuschreibung scheitern. Stark vereinfacht ausgedrückt muss jede normativ verantwortungsfähige Konsumentin auf die Frage ›Warum hast du X gekauft, warum planst du Y zu entsorgen und warum hast du es versäumt, Z bei deinem letzten Einkauf zu berücksichtigen?‹ eine intersubjektiv sinnstiftende Antworten geben können. Mit Rücksicht auf diese noch näher zu untermauernden Eigenschaften spannt die Konsumentenverantwortung einen kommunikativen Nexus zwischen verantwortungsfähigen Konsumierenden, gesellschaftlichen Institutionen und gemeinsam zugänglichen normativen Kriterien auf, über den Zuschreibungsgründe intersubjektiv geteilt werden können.
Der Nexus kann mithilfe der aktuellen theoretischen und empirischen Konsumforschung nur bedingt erfasst werden. Die theoretischen Verantwortungskonzepte widmen sich dem Rätsel, warum individuelle Konsumierende eine Verantwortung für Konsumhandlungen übernehmen sollten, die partikular keine negativen ökonomischen, ökologischen, sozialen oder politischen Effekte haben, die jedoch, mit vielen anderen Konsumhandlungen zusammengenommen, schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Beispielsweise erzeugt der Fleischkonsum oder die PKW-Nutzung einer Konsumentin keine erkennbaren Umweltschäden, die Summe des weltweiten Privatverkehrs und der Fleischproduktion kumuliert hingegen zu ökologisch bedrohlichen CO2-Emissionen. Die meisten Theorien lösen dieses Rätsel, indem sie einen strukturellen oder kollektiven Verantwortungsbegriff konstruieren, von dem aus sich eine Individualverantwortung ableiten lässt. Leider geht in diesen Konstruktionen die retrospektive Verantwortungsdimension verloren, sodass Konsumierende nicht mehr sinnvoll für vergangene Versäumnisse oder für ihr konformes Handeln gelobt oder getadelt werden können. Den Konsumierenden fehlt ohne diese Dimension aber eine ganz entscheidende Motivation: Warum sollten sie eine Aufgabe übernehmen, wenn sie und andere Menschen im Nachhinein nicht bewerten können, ob sie dieser Aufgabe gerecht geworden sind? Ein weiteres Problem der bestehenden Theorieangebote ist, dass sie kein Kriterium mitführen, mit dem der intersubjektiv teilbare Charakter von Verantwortungsnormen garantiert werden kann. Sie produzieren Kriterien und Begründungsfiguren mit denen Verantwortung intersubjektiv eingefordert werden kann, sie erklären aber nicht, welche Verantwortung all jene Konsumierenden tragen die die normative Basis der Verantwortungszuschreibung epistemisch nicht erfassen können (Kapitel 3.1).
Auch die empirische Konsumforschung überwindet die Vermittlungshürde zwischen der selbstzugeschriebenen Individualverantwortung und einer fremdzugeschriebenen Kollektivverantwortung nicht. Sie können die quantifizierbaren Folgen und Nebenfolgen individueller und kollektiver Konsumgewohnheiten erfassen und auch die Hürden für einen eigenverantwortlichen Konsum identifizieren. Sie konkretisieren damit sehr wichtige relationale Orientierungspunkte für die Beurteilung verantwortlichen Konsumierens. Insbesondere belegen sie, dass die individuellen und kollektiven Rechtfertigungspraktiken im Konsum faktisch immer unter restriktiven Legitimationsbedingungen stattfinden und damit Regulationsprinzipien als notwendige Ergänzungen der Konsumentenverantwortung einfordern. Auf der Basis einer rein empirischen Analyse kann die Verantwortungsfähigkeit von Konsumierenden allerdings nicht eingeschätzt werden und es sind auch keine Aussagen darüber möglich, ob Konsumierende die Folgen kumulierter Konsumhandlungen, beispielsweise die Klimaveränderungen die sich aus den Ess-, Pendel- und Kleidungsgewohnheiten aller Menschen weltweit ergeben, kompetent mit konkreten persönlichen Konsumhandlungen und Lebensstilen in Verbindung bringen können (Kapitel 3.2).
Den von mir vorgestellten und kritisierten Perspektiven auf die Konsumentenverantwortung möchte ich eine neue Alternative zur Seite stellen, die ich die »Verantwortungstheorie der sozialen Rolle« nennen werde. Die übergreifende Idee dieser Theorie ist es, die inzwischen auf dem Abstellgleis der Soziologie geparkte Rollentheorie innerhalb eines metaethischen Rahmens für die Konsumentenverantwortung zu rehabilitieren. Durch die Verknüpfung der Rollentheorie mit einem passenden Verantwortungskonzept, so meine Überzeugung, lässt sich die Verantwortung für lebensweltliche soziale Praktiken und Lebensstile in einem relativ stabilen und kontextarmen Rahmen einfangen und auch die Evaluationskriterien für eine Verantwortungszuschreibung lassen sich durch einen intersubjektiv vermittelbaren Nexus zwischen subjektiven Werthaltungen und gesellschaftlichen Geltungsansprüchen sichtbar machen. Den ersten Schritt in dieser Theorieentwicklung bildet die Untersuchung des epistemischen Status und den sozialontologischen Voraussetzungen der Institution der sozialen Rolle. Ausgehend von John Searles konstruktivistischer Sozialontologie (Searle 2006) werde ich soziale Rollen als Institutionen auffassen, die intersubjektiv in Gesellschaften erkannt werden können und die immer mit einer gesellschaftlichen Funktion und einer entsprechenden sozialen Macht assoziiert sind (Kapitel 4.1). Mit diesen Eigenschaften ausgestattet erlauben es soziale Rollen gesellschaftliche Erwartungen einfach zu erfassen und Entscheidungen intuitiv zu treffen. Anhand banalster Beispielen wird deutlich, wie stark die Institution der Rolle Menschen in ihrem normativen Alltag entlastet. Eine Polizistin darf mit Blaulicht und erhöhter Geschwindigkeit zu einem Einsatz fahren. Dasselbe Verhalten, so ist intuitiv klar, wird bei einer Lehrerin nicht akzeptiert. Rollen wie die der Polizistin und die der Lehrerin zeichnen sich durch Rollenattribute aus: rollenkonformes Verhalten (wie das Festnehmen von Verdächtigen und das Unterrichten von Schülerinnen und Schülern), die Berücksichtigung expliziter und impliziter Rollennormen (das Polizei- und Ordnungsrecht bei Polizistinnen, das Schulrecht bei Lehrerinnen), rollentypische Einstellungen und Überzeugungen (typischerweise wollen Polizistinnen die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten und Lehrerinnen wollen Wissen vermitteln) und charakteristische Artefakte (die Polizistin lässt sich an ihrer Uniform erkennen, die Lehrerin daran, dass sie Eintragungen in das Klassenbuch vornimmt). Soziale Rollen entwickeln sich, sie werden neu erfunden, gesellschaftlich auf- und abgewertet und mitunter auch abgeschafft. Dieser Prozess basiert ausschließlich auf der reziproken Anerkennungspraxis von Gesellschaftsmitgliedern in ihren Rollen.
Die soziale Rolle der Konsumierenden, deren Existenz noch zu belegen sein wird (Kapitel 4.4), besitzt damit eine Eigenschaft, die den Konsumierenden unter allen anderen Verantwortungskonzepten nicht zukommt. Sie ist konzeptionell so dynamisch, dass gesellschaftliche Entwicklungen sie unmittelbar affizieren und gleichzeitig hinreichend stabil, um in der Theoriebildung und in der alltäglichen Lebenswelt de facto erkannt werden zu können. Weil sie gleichzeitig durch gesellschaftliche Erwartungen und intersubjektiv zugängliche Wertvorstellungen bestimmt und durch individuelle Interpretationsleistungen verändert wird, entspricht sie dem gesuchten kommunikativen Nexus (Kapitel 4.2). Nun spielen Menschen in ihrem Alltag viele soziale Rollen gleichzeitig. Sie können als Mutter und Konsumentin ihre Wocheneinkäufe im Supermarkt erledigen oder als Lehrerin und Konsumentin für digitale Tafeln in jedem Klassenzimmer plädieren. Die Verantwortung vieler gleichzeitig gespielter Rollen überschneidet sich und bildet einen Verantwortungsraum.9 Die Verantwortlichkeiten verschiedener Rollen können deckungsgleich sein, sie können koexistieren, sie können aber auch miteinander in Konflikt geraten und sich sogar gegenseitig ausschließen. Um den Inhalt des Verantwortungsraums einer »Rollenschnittmenge« bestimmen zu können, habe ich ein Ordnungsprinzip entwickelt – die »sozialontologische Rollenordnung« (Kapitel 4.3). Diese Ordnung setzt sich aus einem horizontalen und einem vertikalen Hierarchisierungsprinzip zusammen. Eine horizontale Beziehung besteht zwischen den konstitutiv notwendigen, »funktionalen« Attributen von Rollen, die in keinem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis zueinanderstehen. Es wird jeweils die Rollenverantwortung für das funktionale gegenüber den nicht funktionalen Attributen bevorzugt. Beispielsweise kann eine Person, die gleichzeitig die Rolle der Managerin und Golferin einnimmt, wiederholt in Terminkonflikte geraten, in deren Folge sie sich zwischen wichtigen Businessmeetings und aufregenden Golfpartien entscheiden muss. Gewichtet die Managerin ihre berufliche Verantwortung ein ums andere Mal höher und zieht das Meeting dem Golfspiel vor, kann sie trotzdem eine Golferin bleiben. Versäumt sie hingegen zu viele Meetings, weil sie ihre sportliche Verantwortung besonders ernst nimmt, verliert sie möglicherweise ihre Managerrolle.
Die zweite vertikale Hierarchie priorisiert in einer Rollenschnittmenge immer die Attribute der Rolle, die für die anderen Rollen der Schnittmenge konstitutiv sind. Gerät beispielsweise ein Mensch in der Doppelrolle der Bürgerin und Politikerin in einen Zeitkonflikt und kann entweder als Bürgerin an einer politischen Wahl teilnehmen oder in derselben Zeit als Politikerin parteiinterne Streitigkeiten schlichten, dann ist die konkrete Rollenverantwortung der Bürgerin, an der Wahl teilzunehmen, der Verantwortung der Politikerin normativ übergeordnet. Die Politikerrolle kann (zumindest innerhalb demokratischer Gesellschaften) nicht ohne die Bürgerrolle existieren. Ich werde zeigen, dass auch die Konsumentenrolle eine sie konstituierende Rolle besitzt – die Bürgerrolle – und dass Menschen in der Konsumentenrolle immer auch mit hierarchisch zu priorisierenden Attributen der Bürgerrolle konfrontiert werden. Indem Bürgerinnen und Bürger Gesetze anerkennen, bestimmte Handelspraktiken akzeptieren und andere ablehnen und indem sie durch Proteste und politisches Engagement die Basis von Märkten kritisieren und mitgestalten, erschaffen sie unmittelbar die Welt der Konsumierenden.
Allein auf der Basis eines Verantwortungsbegriffs, der Rollentheorie, einem Konzept der Konsumentenrolle und einem Ordnungsprinzip kann eine Verantwortungstheorie der sozialen Rolle und somit auch eine Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle noch nicht errichtet werden. Was ihr noch fehlt ist ein ethischer Rahmen, mit dem sich legitime Geltungsansprüche gegenüber der Konsumentenrolle und den Akteuren, die diese Rolle einnehmen, identifizieren lassen. Weil die Rollentheorie seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Popularität verloren hat, ist es nicht verwunderlich, dass nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die ethische Dimension sozialer Rollen untersucht haben. Entsprechend bereichern die meisten Beiträge auf diesem Gebiet den Diskurs nicht gut ausgearbeitete Verantwortungskonzepte, sondern heben vielmehr faszinierende neue Problemstellungen hervor (Kapitel 5.1). Sie werfen die Frage auf, ob der Institution der Rolle selbst eine strukturelle Verantwortung zukommt oder ob ausschließlich Individuen in ihren Rollen eine individuelle Rollenverantwortung besitzen. Muss beispielsweise die Rollenverantwortung zu einem ökologisch nachhaltigen Konsum in die konkrete, Verantwortung jeder und jedes einzelnen übersetzt werden, in Zukunft auf Fernreisen zu verzichten, oder entspricht die Rollenverantwortung eher einer institutionellen Verantwortung, den Marktzugang zu Fernreisen so zu gestalten, dass die Folgen rollenkonformen Verhaltens ökologisch nachhaltig sind? Die Beiträge werfen auch die Frage auf, ob eine Rollenverantwortung in Fällen besteht, in denen Menschen unfreiwillig in eine Rolle geraten oder in Fällen, in denen sie möglicherweise nicht einmal wissen, dass ihnen eine bestimmte Rolle zugeschrieben wird. Für die Konsumentenrolle hat diese Frage ein besonderes Gewicht, weil sich Menschen in modernen Gesellschaften ihrer kaum entziehen können. Eine letztes wichtiges Problem wirft die Frage auf, ob die Mitglieder krimineller Gruppen wie Piraten oder Terroristen verantwortlich handeln, wenn sie sich rollenkonform verhalten oder ob sie umgekehrt dann ihrer Verantwortung gerecht werden, wenn sie gegen die Normen ihrer Rollen verstoßen. Insbesondere dieses letzte Problem der Binnenmoral im Rollenkontext nötigt der Verantwortungstheorie der Konsumentenrolle eine metaethische Grundstruktur zur Bestimmung legitimer Verantwortungszuschreibungen ab.
Ich werde die Verantwortungstheorie der sozialen Rolle auf drei Ebenen konstruieren und damit die benannten Probleme umschiffen. Aus mehreren Gründen, die noch genauer zu erläutern sein werden, lässt sich die sozialontologische Konstitution sozialer Rollen auf eine ideale Weise in Karl-Otto Apels transzendentalpragmatische Diskursethik (Apel 1990) integrieren (Kapitel 5.2.1). Apels Anerkennungsprinzip ist als Wahl einer normativen Orientierungshilfe für die Rollenverantwortung passend, weil die Existenz sozialer Rollen reziproke (aber nicht zwingend gleichberechtigte) Anerkennungsstrukturen notwendig voraussetzt. Das Prinzip impliziert die universell gültigen Normen, das Überleben der Menschheit nicht zu gefährden und den Transformationsprozess realer Gemeinschaften auf ein diskursives Ideal hin, nicht zu behindern. Von diesem archimedischen Punkt ausgehend lassen sich einzelne rollenkonforme Verhaltensweisen auch dann als unverantwortlich identifizieren, wenn diese vollkommen legal und in binnenmoralischen Strukturen anerkannt sind. So fördern bestimmte Konsumhandlungen, wie beispielsweise der Sextourismus in wirtschaftsschwachen Urlaubsregionen oder bestimmte Formen der Finanzspekulation, soziale und ökonomische Asymmetrien und fungieren damit als Bremsklötze einer gesellschaftlichen Transformation hin zur idealen Kommunikationsgemeinschaft. Und auch Konsumhandlungen, die verheerende kriegerische Auseinandersetzungen befördern, wie der massenhafte Zuspruch für den Einsatz atomarer Waffen in sozialen Medien, oder die den menschengemachten Klimawandel bedeutend fördern, wie der Weltraumtourismus, können mit Bezug auf das transzendentale Prinzip als unverantwortlich eingestuft werden. Ergänzend zu diesem sehr allgemeinen Normhorizont würdigt Apels Ergänzungsprinzip den empirischen Fakt, dass die Verantwortungsfähigkeit aller Konsumierenden durch kontextuelle Faktoren des Marktzugangs, der gesellschaftlichen Struktur und individueller Beschränkungen grundsätzlich limitiert ist. Als Ergebnis dieses Fakts können die realtypischen Rollenentscheidungen unabhängig vom Willen der handelnden Konsumentinnen und Konsumenten strukturell von ihren Idealen abweichen. Eben diese Abweichung kann mit dem Ergänzungsprinzip, dass die Integration strategischer und strikt temporärer Interventionen und Institutionen erlaubt, adressiert werden. Ein Beispiel hierfür wäre der gestaltende Eingriff der Politik durch ökologische Weichenstellungen in Form von CO2-Bepreisungen oder Tempolimits auf Autobahnen.
Sowohl das Problem der Binnenmoral als auch die Komplikationen bei der Unterscheidung zwischen verantwortlichen und nicht verantwortlichen Konformitätsbrüchen in der Rollenausgestaltung können auf der ersten Theorieebene aufgelöst werden. Ohne weitere Ergänzungen lässt sich aber weder plausibilisieren, warum Konsumierende neben der allgemeinen Diskursverantwortung eine besondere Rollenverantwortung anerkennen sollten, noch wie diese Rollenverantwortung über den universellen Bedeutungshorizont hinaus für individuelle und gesellschaftliche Akteure konkretisiert werden kann. Und auch das Motivationsproblem, das bei den meisten Konzepten der Konsumentenverantwortung auftritt, wurde bisher noch nicht berührt. Diese Fragen werden auf der zweiten Ebene mithilfe Konrad Otts pragmatischer Implikation (Ott 1997) und der von mir entwickelten sozialontologischen Rollenordnung beantwortet. Pragmatische Implikation bedeutet, dass eine Bezugsgruppe B eine Erwartung gegenüber Menschen hegt, die bekannte, soziale Praktiken ausführen, wie beispielsweise als Konsumentin im Supermarkt einkaufen. Wenn eine Person A sich nun auf eine soziale Praxis einlässt, indem sie beispielsweise in die Rolle einer Konsumentin schlüpft, impliziert sie mit ihrem Verhalten die Bereitschaft, die Rollenerwartungen von B anzuerkennen. Der Verantwortungsinhalt sozialer Rollen bestimmt sich somit durch den lebensweltlichen Gebrauch der Rollen selbst und die Performance der Rolle entspricht einem performativen Geltungsanspruch, der diskursiv überprüft und legitimiert oder abgelehnt werden kann. Mit der pragmatischen Implikation wird auch das fundamentale motivationsproblem, auf drei Ebenen aufgelöst: Individuen erkennen einen Nutzen in einer sozialen Rolle und haben ein Interesse daran, dass dieser Nutzen gesellschaftlich aufrechterhalten wird (persönliches Interesse). Darüber hinaus fordern sie voneinander ein kontextuell angemessenes Verhalten ein, das in Standardkontexten einem rollenkonformen Verhalten entspricht. Soziales Handeln wird damit für individuelle Akteure überschaubar (sozialer Nutzen). Ist die Verantwortung einzelner Rollen darüber hinaus Gegenstand eines normativen Diskurses, dann werden alle Diskursteilnehmer durch den zwanglosen Zwang des besten Argumentes zur Übernahme ihrer Rollenverantwortung motiviert (Vernunftprinzip). Es ist eben dieser Dreiklang, der die kommunikative Wechselwirkung zwischen Individuen und Gesellschaften einfängt und eine einseitige und überfordernde Perspektive auf die Verantwortung sozialer Rollen verhindert. Weil die pragmatische Implikation nur mit Geltungsansprüchen operiert, die den transzendentalpragmatischen Diskurskriterien auf der ersten Ebene genügen, enthält der sich ergebende Verantwortungsraum nur Elemente, die in keinem direkten Widerspruch zum Anerkennungsprinzip stehen.
Menschen spielen in der Regel aber nicht nur eine, sondern viele soziale Rollen gleichzeitig. Wie lässt sich aus der pragmatisch implizierten Verantwortung einer Konsumentin und der pragmatisch implizierten Verantwortung einer Mutter der Verantwortungsraum einer Person beschreiben, die gleichzeitig Mutter und Konsumentin ist? Eine Antwort auf diese notwendig auftretende Frage liefert das von mir entwickelte sozialontologische Hierarchisierungsprinzip. Das Prinzip erlaubt es, die Verantwortung für die Berücksichtigung einzelner Rollenattribute in eine vertikale und horizontale Ordnung zueinander zu setzen. Der sich hierdurch konkretisierte Verantwortungsraum kann für eine Person in der Rolle der Politikerin und Konsumentin ganz anders ausfallen als für eine andere Person, die zeitgleich die Rolle der Konsumentin und Pilotin einnimmt. Weil Konsumentinnen und Konsumenten, immer auf die Existenz bestimmter lokaler, nationaler und globaler Prinzipien marktwirtschaftlichen Handelns angewiesen sind, um die Konsumentenrolle performen zu können und weil diese Prinzipien in einer ontologischen Abhängigkeit zur Bürgerrolle stehen, berücksichtigt der Verantwortungsraum der Konsumentenrolle in der Regel auch eine bestimmte Bürgerverantwortung. Die Ausgestaltung einer solchen Verantwortung werde ich mithilfe von Rainer Forsts Bürgerkonzept entwickeln (Forst 2007). Auf der dritten und letzten Theorieebene der Verantwortungstheorie der sozialen Rolle ist schließlich die private Verantwortung angesiedelt. Ein Beispiel hierfür ist die besondere Verantwortung die Menschen in der Doppelrolle als Eheleute und Konsumierende füreinander beim Einkaufen haben können und die sich nicht auf andere Paare in derselben sozialen Rolle übertragen lässt.
Die dreistufige Struktur der Verantwortung der Konsumentenrolle reduziert Individuen weder auf eine einzelne Rolle, noch fasst sie Menschen in Gesellschaften als Grenzgänger sozialer Kontexte auf, die zwar zwischen unterschiedlichen sozialen Sphären hin- und herwechseln, die aber immer nur in jeweils einer Sphäre verortet werden können. Stattdessen nimmt sie Rollen als soziale Institutionen ernst, die sich in einem kontinuierlichen sozialen Wandel befinden. Rollen entwickeln sich, sie werden neu erfunden, gesellschaftlich auf- und abgewertet und mitunter auch abgeschafft. In diesen Entwicklungsprozess greifen diejenigen gestaltend ein, die eine Rolle performen, diejenigen, die ihre Erwartungen an Menschen in bestimmten Rollen bilden und diejenigen, die durch ihre Rollenperformanz andere soziale Rollen beeinflussen können. Dieser reziproke Vermittlungsprozess von Argumenten und Geltungsansprüchen besitzt gerade im Konsumkontext eine nicht zu überschätzende Relevanz. Der verantwortliche Konsum ist eine kultur- und generationenübergreifende Sinnfrage, welche durch einen Verweis auf die zweckrationale Vernunft nicht angemessen beantwortet werden kann. Salopp gesagt geht es bei der Frage um einen verantwortlichen Konsum nicht primär darum, wie ein optimales Equilibrium zwischen maximaler Konsumfreiheit und minimaler ökologischer und sozialer Belastung gefunden werden kann. Es geht vielmehr um qualitative Fragen nach gerechten Konsum- und Lebensstilen. Mit der von mir entwickelten Theorie wird es möglich, diese Frage angemessen und über alle Bereiche des sozialen Handelns hinweg konsistent zu beantworten (Kapitel 6).