Die Bücher:
Mensch ohne Hund: Familie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu begehen: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel Henrik. Wurden Sie Opfer eines Verbrechens? Auf den Plan tritt Inspektor Barbarotti und trifft auf einen ungewöhnlichen Mörder.
Eine ganz andere Geschichte: Ein paar schwedische Touristen verbringen vergnügte Urlaubswochen in Frankreich. Sie baden, sie essen, und flirten ein wenig über die Ehegrenzen hinweg. Als die Ferien vorbei sind, trennen sich ihre Wege. Doch fünf Jahre später beginnt jemand, sie zu töten, einen nach dem anderen. Und Gunnar Barbarotti bekommt Briefe, in denen die Taten angekündigt werden.
Das zweite Leben des Herrn Roos: Ante Valdemar Roos, in zweiter Ehe mit verheiratet, seit mehr als zwanzig Jahren als Ingenieur in einer Firma beschäftigt. Roos ist unzufrieden – bis eines Tages ein kleines Wunder geschieht. Er gewinnt im Toto. Doch anstatt seine Freude hinauszuposaunen, beginnt er ein Doppelleben in einem abgelegenen Häuschen im Wald. Schon bald wird die Idylle gestört – und Inspektor Barbarotti hat einen Mordfall zu klären.
Der Autor:
Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt in Stockholm und auf Gotland.
Håkan Nesser
Die Gunnar-Barbarotti-Reihe
Drei Romane in einem Band
Mensch ohne Hund
Eine ganz andere Geschichte
Das zweite Leben des Herrn Roos
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Mensch ohne Hund
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Håkan Nesser
Die schwedische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel „Människa utan hund“ bei Albert Bonniers, Stockholm.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Getty Images/magedepotpro; © Arcangel/Philip Mckay
Eine ganz andere Geschichte
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Håkan Nesser
Die schwedische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel „En helt annan historia“ bei Albert Bonniers, Stockholm.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
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Das zweite Leben des Herrn Roos
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Håkan Nesser
Die schwedische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel „Berättelse om herr Roos“ bei Albert Bonniers, Stockholm.
Das Zitat von Per Petterson stammt aus: Per Petterson, Pferde stehlen. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
© 2006 Carl Hanser Verlag, München.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Trevillion Images / Ebru Sidar; Getty Images / happyfoto
ISBN: 978-3-641-26689-9V001
www.btb-verlag.de
Håkan Nesser
Mensch ohne Hund
Roman
Aus dem Schwedischenvon Christel Hildebrandt
Einleitende Bemerkung
Der Ort Kymlinge existiert nicht wirklich, und der Albert Bonniers Verlag hat nie eine Gedichtsammlung mit dem Titel Das Beispiel des Obsthändlers herausgebracht. Ansonsten stimmt der Inhalt des Buches im Wesentlichen mit bekannten Verhältnissen überein.
I
Dezember
1
Als Rosemarie Wunderlich Hermansson am Sonntag, dem 18. Dezember erwachte, war es kurz nach sechs, und sie hatte noch ein ganz klares Bild vor Augen.
Sie stand in einer Türöffnung und schaute auf einen fremden Garten hinaus. Es war Sommer oder früher Herbst. In erster Linie betrachtete sie zwei kleine, dicke, gelbgrüne Vögel, welche auf einer Telefonleitung zehn, fünfzehn Meter von ihr entfernt saßen, und jeder hatte eine Sprechblase im Schnabel.
Du musst dich umbringen, stand in der einen.
Du musst Karl-Erik umbringen, stand in der anderen.
Die Botschaft war an sie gerichtet. Es war sie, Rosemarie Wunderlich Hermansson, die sich umbringen sollte. Oder Karl-Erik töten. In diesem Punkt herrschte nicht der geringste Zweifel.
Letzterer war ihr Mann, und erst nach einigen Sekunden sah sie ein, dass diese beiden verrückten Aufforderungen natürlich aus etwas resultierten, das sie geträumt hatte – aber es war ein Traum gewesen, der sich schnell davongeschlichen und nur diese beiden bizarren Vögel auf der Leitung zurückgelassen hatte. Merkwürdig.
Für einen Moment blieb sie ganz ruhig auf der rechten Seite liegen und starrte in die Dunkelheit um sich herum, wartete auf eine fiktive Morgendämmerung, die sich wahrscheinlich im Augenblick noch im Bereich des Ural befand, und sah ein, dass es sich genau so verhielt. Die Vögel breiteten ihre abgerundeten Schwingen aus und flogen davon, während ihre Behauptung zurückblieb und nicht falsch verstanden werden konnte.
Sie oder Karl-Erik. So war das also. Es hatte ein oder zwischen den Sprechblasen gegeben, kein und. Das eine schloss das andere aus, und es erschien auch wie … wie eine zwingende Notwendigkeit, dass sie sich für eine der beiden Alternativen entschied. Jesus Christus, dachte sie, schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Wie hatte es nur dazu kommen können? Als ob diese Familie nicht schon genug Probleme hätte.
Doch als sie ihren Rücken streckte und die vertrauten Morgenschmerzen zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel spürte, kamen auch die Alltagsgedanken angeschlichen. Ein sicherer, wenn auch ziemlich langweiliger Balsam für die Seele. Sie empfing sie mit einer Art träger Dankbarkeit, schob die Hände in die Achseln und schlurfte ins Badezimmer. Man ist so schutzlos morgens, dachte sie. So nackt und bloß. Eine dreiundsechzigjährige Handarbeitslehrerin ermordet nicht ihren Mann, das ist vollkommen ausgeschlossen.
Sie war zwar außerdem auch noch Deutschlehrerin, aber das änderte die Tatsachen nicht nennenswert. Ließ sie in keiner Weise akzeptabler erscheinen. Was um alles in der Welt sollte es in dieser Frage für einen Unterschied machen, wenn sie Handarbeiten und Deutsch unterrichtete?
Das hieß dann wohl, der eigenen Wanderung im Jammertal ein Ende zu setzen, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson. Machte Licht, betrachtete ihr breites, glattes Gesicht im Spiegel und stellte fest, dass jemand ein Lächeln daraufgeklebt hatte.
Warum lächle ich?, fragte sie sich. Es gibt doch weiß Gott keinen Grund zum Lächeln. Mir ist es noch nie schlechter in meinem ganzen Leben gegangen, und in einer halben Stunde wacht Karl-Erik auf. Was hatte der Schulleiter gesagt? Das tief klingende Erz, das … das was? … das dem heranwachsenden Geschlecht den moralischen und wissenschaftlichen Resonanzboden verleiht? Wo zum Teufel hatte er das her? Dieses Gefasel. Jahrgang für Jahrgang, Generation für Generation, vierzig Jahre lang. Eine pädagogische Fichte.
Ja, Fläskbergson hatte Karl-Erik tatsächlich als pädagogische Fichte bezeichnet. Konnte darin ein Funken Ironie verborgen sein?
Vermutlich nicht, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson und pflügte mit ihrer elektrischen Zahnbürste tief in die rechte Wange hinein. Vera Ragnebjörk, ihre einzige Kollegin in Sachen Deutsch, das in der Kymlinge-Schule am Aussterben war, pflegte zu behaupten, dass Fläskbergson die ironische Dimension ganz und gar fehle. Weshalb man mit ihm nicht wie mit einem normalen Menschen sprechen konnte, und vermutlich war es diesem einzigartigen Mangel zu verdanken, dass er auch nach mehr als dreißig Jahren immer noch auf seinem Posten als Schulleiter saß.
Fläskbergson war nur ein Jahr jünger als Karl-Erik, aber gut und gern vierzig Kilo schwerer, und bis zu dem traurigen Tag vor fast acht Jahren, als seine Ehefrau Berit umgekommen war, nachdem sie in Kitzbühl aus einem Skilift gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte, hatten sie miteinander verkehrt. Zu viert. Zu Bridgeabenden oder so. Eine Theaterreise nach Stockholm. Eine Katastrophenwoche auf Kreta. Rosemarie überlegte, dass sie Berit ein wenig vermisste, nicht jedoch Fläskbergson. Den Umgang mit ihm sozusagen.
Warum stehe ich eigentlich hier und verschwende meine kostbaren Morgenminuten damit, an diese eindimensionale Null zu denken?, fragte sie sich schließlich. Warum sehe ich nicht lieber zu, in aller Ruhe meine Morgenzeitung zu lesen? Offenbar bin ich dabei, die Kontrolle zu verlieren.
Aber auch bei Kaffee und Zeitung stellten sich keine besseren Gedanken ein. Es gab keine Lichtblicke. Als sie den Blick hob und auf die Küchenuhr schaute – ein Impulskauf bei IKEA für 49,50, vor langer Zeit, im Herbst 1979 und vermutlich unverwüstlich – zeigte diese zwanzig Minuten nach sechs, es würde noch mindestens siebzehn Stunden dauern, bis ihr die Gnade zuteil werden würde, wieder in ihr Bett kriechen zu dürfen und einen weiteren düsteren Tag mit seinen Ereignissen hinter sich zu legen. Und zu schlafen, nur zu schlafen.
Heute war Sonntag. Es war ihr zweiter Tag als glückliche Pensionärin, die letzte bedeutungsvolle Veränderung im Leben, bevor der Tod eintrat, wie eine freundliche Seele bemerkt hatte, und sie sagte sich, dass sie, hätte sie nur einen Zugang zu einer Waffe gehabt, bereits beim Aufwachen, als sie daran erstmals gedacht hatte, von ihr Gebrauch gemacht hätte. Sich eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor Karl-Erik in seinem gestreiften Pyjama in die Küche gekommen wäre, bevor er sich gestreckt und erklärt hätte, er habe geschlafen wie ein Kind. Wenn diese Nahtod-Schilderungen stimmten, die sie gelesen hatte, hätte es anschließend interessant sein können, unter der Decke zu schweben und sein Mienenspiel zu betrachten, wenn er sie fände, über dem Tisch zusammengebrochen, den Kopf in einer großen, warmen Blutlache liegend.
Aber so etwas tut man nicht. Schon gar nicht, wenn man keine gute Waffe hat und auch ein wenig an die Kinder denken muss. Sie trank einen Schluck Kaffee, verbrannte sich dabei die Zungenspitze und schaltete wieder ihr Alltagsgehirn ein. Was stand an diesem zweiten Tag nach einem langen Arbeitsleben auf dem Programm?
Das ganze Haus putzen. So einfach war das. Die Kinder und die Enkelkinder sollten am nächsten Tag eintrudeln, und am Dienstag war der große Tag.
Der Tag, der eigentlich in die Annalen der Familie hätte eingehen sollen, der aber in sonderbarer Art und Weise wegen Walter zu einer Art pompösem Anti-Ereignis zusammengeschrumpft war. Genau das. Den ganzen Herbst über war die Rede von einhundert bis einhundertzwanzig Personen gewesen; einzig das Fassungsvermögen der Svea-Speisesäle hatte die Sache beschränkt, und Karl-Erik hatte die Sache immer und immer wieder mit dem Kellermeister Brundin diskutiert, und gut hundert Leute sollten kein Problem darstellen.
Die dann aber nicht eingeladen werden sollten. Walters Skandal ereignete sich am 12. November, die Lokalitäten waren schon lange reserviert worden, aber es war noch nicht zu spät gewesen, um abzusagen. So um die siebzig Einladungskarten waren schon abgeschickt worden, um die zwanzig Zusagen waren bereits eingegangen, aber die Leute waren äußerst verständnisvoll, als man ihnen erklärte, dass man sich aufgrund der Umstände dazu entschlossen hatte, eine kleinere Familienfeier zu arrangieren.
Durchgängig äußerst verständnisvoll waren sie gewesen. Die Sendung hatte eine Zuschauerzahl von fast zwei Millionen gehabt, und die, die sie nicht gesehen hatten, wurden am folgenden Tag über die Abendpresse informiert.
WICHS-WALTER. Das Wort in den Schlagzeilen hatte sich in Rosemaries Mutterherz eingebrannt wie ein Brandzeichen auf einer borstigen Sau, und sie wusste, dass sie Walter für den Rest ihres Lebens nie wieder einen Gedanken widmen konnte, ohne diesen schrecklichen Zusatz hinzuzufügen. Sie hatte beschlossen, nie, nie wieder das Aftonbladet oder den Expressen zu lesen, ein Versprechen, das sie bisher noch nicht gebrochen hatte, ja, nicht einmal im Ansatz daran gedacht hatte, es zu brechen.
Also eine kleinere Familienfeier. Anschließend war es in der Schule das Gleiche gewesen. Der gleiche diskrete Vorhang der Barmherzigkeit war auch hier gefallen. Als das Ehepaar Hermansson sich nach zusammen sechsundsechzig Dienstjahren nunmehr gleichzeitig von der blutbesudelten Kampfbahn der Pädagogik zurückzog, wie ein schlauer Kopf, aber wohl kaum Fläskbergson, es formuliert hatte, war die Verabschiedung auf eine verlängerte Konferenz mit Kuchen reduziert worden, der entsprechenden Anzahl roter Rosen sowie einem Punschservice aus gehämmertem Kupfer – wobei Rosemarie sich bereits, als sie das Paket öffnete und einen ersten Blick darauf geworfen hatte, fragte, ob es nicht Elonsssons hoffnungslose Achte gewesen war, die man dazu gezwungen hatte, beim Metallwerken dieses Zeug zusammenzuhämmern, um die Note »Ungenügend« zu vermeiden. Elonsson hatte im Gegensatz zu Fläskbergson einen ausgeprägten Sinn für das Ironische im Leben.
Fünfundsechzig plus vierzig. Das war die zweite große Addition im Dezember, und es ergab hundertfünf. Rosemarie wusste, dass es Karl-Erik grämte, dass nicht exakt hundert dabei herauskam, aber an den Tatsachen war nicht zu rütteln. Karl-Erik rüttelte sowieso nie an den Tatsachen. Sie streckte zögerlich ein paar Mal ihren Rücken, ohne vom Stuhl aufzustehen, und dachte zurück an die Nacht vor vierzig Jahren, als es ihr gelungen war, zwei Presswehen zurückzuhalten, bis die Uhr die Zwölf überschritten hatte. Karl-Eriks nur schlecht getarntes Glück war nicht zu übersehen gewesen, Gott sei Dank. Die erstgeborene Tochter war an seinem eigenen fünfundzwanzigsten Geburtstag aus dem Mutterleib in die Welt hinausgekrabbelt. Es hatte immer ein außerordentlich starkes Band zwischen Ebba und Karl-Erik gegeben, und Rosemarie war klar, dass es bereits damals geknüpft worden war. Bereits damals, im Örebro-Krankenhaus, vier Minuten nach Mitternacht, am 20. Dezember 1965. Die Hebamme hieß Geraldine Tulpin, ein Name, den man nur schwer vergessen konnte.
Die Weihnachtsfeiern in der Familie wiesen immer eine gewisse Schieflage auf. Rosemarie hatte nie darüber gesprochen, nicht einmal – aber diese Schieflage bestand. Normale Menschen, Christen wie Nichtchristen, sahen den 24. Dezember als die Nabe an, um die sich die Winterdunkelheit drehte, aber in der Familie Wunderlich Hermansson hatte der 20. mindestens ebensoviel Bedeutung. Karl-Eriks und Ebbas Geburtstag, der folgende Tag war der kürzeste im Jahr, das Herz der Finsternis, und auf irgendeine sonderbare Art und Weise war es Karl-Erik gelungen – ohne an den Tatsachen zu rütteln, aber viel fehlte nicht daran -, eine Verschiebung um einen Tag zustande zu bringen, so dass man eine Art Dreifaltigkeit hinbekam. Sein eigener Geburtstag. Ebbas Geburtstag. Die Rückkehr des Lichts auf die Erde.
Ebba war immer der Augenstern ihres Vaters und das Hätschelkind gewesen, an sie hatte er von Anfang an die größten Hoffnungen geknüpft. Hatte sich nie auch nur die Mühe gemacht, diese Tatsache zu verbergen, gewisse Kinder haben mehr Karat als andere, so geht es nun einmal im genetischen Schmelztiegel der Biologie zu, so hatte er bei irgendeiner Gelegenheit einmal erklärt, als er sich ganz gegen seine Gewohnheit einen Cognac zu viel gegönnt hatte. Ob man nun will oder nicht. Und wie es im Nachhinein aussah, dachte Rosemarie verbittert und ohne sich etwas vorzumachen – während sie sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, ein verlässlicher Eckstein in dem nur langsam sich entwickelnden Projekt des Wachwerdens -, so schien er zweifellos auf das richtige Pferd gesetzt zu haben.
Ebba war ein Fels in der Brandung. Walter war schon immer das schwarze Schaf gewesen, und jetzt hatte er sich unbeschreiblich verhalten – wobei das möglicherweise viel weniger überraschend war, als alle taten. Und Kristina? Ja, über Kristina konnte man eigentlich nur sagen, dass sie so war, wie sie war, das Kind war in letzter Zeit ein wenig zur Ruhe gekommen, die letzten Jahre waren in einem deutlich ruhigeren Fahrwasser verlaufen als die vorhergehenden, auch wenn Karl-Erik beharrlich betonte, dass es noch zu früh war, um laut Hurra zu schreien, ganz eindeutig zu früh.
Wann hast du jemals Hurra geschrien, mein Holzprinz?, hatte Rosemarie jedes Mal gedacht, wenn er das sagte, und jetzt in ihrer Küche, in der die Dämmerung auf sich warten ließ, dachte sie wieder das Gleiche.
Genau in diesem Moment betrat er die Küche.
»Guten Morgen«, sagte er. »Ist schon komisch. Trotz allem habe ich geschlafen wie ein Kind.«
»Ich finde, es hat einen Anschein von Panik«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«, fragte Karl-Erik Hermansson und schaltete den Wasserkocher ein. »Wohin hast du meinen neuen Tee gestellt?«
»Zweites Regal«, antwortete Rosemarie. »Nun, das Haus zu verkaufen und in diese Urbanisation zu ziehen natürlich. Das hat so etwas … ja, Panikartiges. Wie schon gesagt. Nein, weiter links.«
Er klapperte mit Tassen und Dosen. »Ur-ba-ni-sa-ción«, artikulierte er mit deutlich hörbarem spanischem Phonem. »Ich weiß, dass du so deine Zweifel hast, aber eines Tages wirst du mir noch danken.«
»Woran ich zweifle«, erklärte Rosemarie Wunderlich Hermansson. »Daran zweifle ich bis in den kleinen Zeh. Du musst dir die Nasenhaare schneiden.«
»Rosemarie«, sagte Karl-Erik und schob den Brustkorb vor. »Ich kann den Leuten hier nicht mehr in die Augen sehen. Ein Mann muss aufrecht gehen und den Kopf oben tragen können.«
»Man muss sich auch mal beugen können«, konterte sie. »Das hier geht vorbei. Die Leute vergessen schnell, und alles bekommt seine angemessenen Prop …«
Er unterbrach sie, indem er seine neue Teedose mit einem Knall auf die Arbeitsplatte stellte. »Ich denke, wir haben lange genug darüber diskutiert. Lundgren hat zugesagt, dass wir die Papiere Mittwoch unterschreiben können. Ich bin fertig mit dieser Stadt. Basta. Es ist doch nur Feigheit und Trägheit, die uns hier noch halten.«
»Wir haben hier achtunddreißig Jahre gewohnt«, sagte Rosemarie.
»Lange genug«, sagte Karl-Erik. »Hast du schon zwei Tassen Kaffee getrunken? Denk dran, ich habe dich gewarnt.«
»An einen Ort zu ziehen, der nicht einmal einen richtigen Namen hat. Ich finde, er sollte zumindest einen Namen haben.«
»Den wird er schon kriegen, sobald sich die spanischen Behörden entschieden haben. Was ist denn so schlecht an Estepona?«
»Nach Estepona sind es sieben Kilometer. Und vier Kilometer bis zum Meer.«
Er erwiderte nichts. Goss kochendes Wasser über seine gesunden grünen Teeblätter und holte das Sonnenblumenbrot aus dem Brotkasten. Sie seufzte. Sie diskutierten ihre Frühstücksgewohnheiten seit fünfundzwanzig Jahren. Sie diskutierten den Hausverkauf und den Umzug nach Spanien seit fünfundzwanzig Tagen. Obwohl Diskussion dafür wohl kaum der richtige Begriff ist, dachte Rosemarie. Karl-Erik hatte einen Beschluss gefasst und anschließend seine gut geschmierte demokratische Gesinnung dazu benutzt, sie auf seine Seite zu ziehen. So hatte es jedes Mal ausgesehen. Er gab nie auf. Bei jeder Frage, die von einem gewissen Gewicht war, hatte er geredet, geredet und geredet, bis sie aus reiner Erschöpfung und aus reinem Überdruss das Handtuch warf. Die reinste Filibustertaktik. Das war beim Autokauf so gewesen. Das war bei den sauteuren Bücherregalen in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer so gewesen – das er gern als ihr gemeinsames Arbeitszimmer bezeichnete, er verbrachte darin vierzig Stunden die Woche, sie vier. Das war bei ihren Urlaubsreisen nach Island, nach Weißrussland und ins Ruhrgebiet so gewesen, denn wenn man Fachbereichsleiter für Gemeinschaftskunde und Geographie war, dann hatte man so seine Verpflichtungen.
Und er hatte bereits das Handgeld für dieses Haus zwischen Estepona und Fuengirola bezahlt, ohne sie zu fragen. Hatte die Verhandlungen mit Lundgren von der Bank über den Verkauf des Hauses eingeleitet, ohne zunächst den demokratischen Prozess daheim in Gang zu setzen. Das konnte er nicht leugnen und leugnete es auch gar nicht.
Aber vielleicht sollte sie ihm sogar dankbar sein. Ehrlich gesagt. Es hätte genauso gut Lahti oder Wuppertal sein können. Ich habe mit diesem Mann mein gesamtes erwachsenes Leben verbracht, dachte sie plötzlich. Ich dachte, etwas würde mit der Zeit reifen zwischen uns, aber dem war nicht so. Von Anfang an war da etwas Schimmliges zwischen uns, und mit jedem Jahr, das verging, wurde es schimmliger.
Und warum war sie so unverbesserlich unselbstständig, dass sie ihr Leben mit ihm vergeuden musste? Ein höchstes Zeichen von Schwäche, oder etwa nicht?
»Woran denkst du?«, fragte er.
»An nichts«, antwortete sie.
»In einem halben Jahr haben wir alles hier vergessen«, sagte er.
»Was? Unser Leben? Unsere Kinder?«
»Red keinen Quatsch. Du weißt, was ich meine.«
»Nein, das tue ich nicht. Und übrigens, wäre es nicht besser, wenn Ebba und Leif ins Hotel gingen? Schließlich sind es vier Erwachsene, das wird bestimmt eng.«
Er zwinkerte ihr zu, als wäre sie eine Schülerin, die die dritte Stunde nacheinander vergessen hat, eine Arbeit abzuliefern, und sie wusste, dass sie das nur vorgeschlagen hatte, um ihn zu reizen. Denn natürlich hatte sie Recht damit, dass Ebba, Leif und ihre beiden Teenagersöhne mehr Platz beanspruchen würden, als es im Haus eigentlich gab, aber Ebba war nun einmal Ebba, und Karl-Erik würde lieber seinen letzten Schlips verpfänden, als seine Lieblingstochter irgendwo anders unterzubringen als daheim, in dem Zimmer, in dem sie aufgewachsen war. Und das erst recht jetzt, wo es das letzte Mal, das letzte Mal für alle Zeiten war.
Sie bekam einen Kloß im Hals und kippte den lauwarmen Kaffee hinunter. Und Walter? Ja, der arme Walter musste natürlich vor den Blicken der Welt so gut es nur ging versteckt werden, man konnte ihn nicht im Hotel herumlaufen lassen, wo ihn jeder begaffen und verhöhnen konnte. Wichs-Walter von Fucking Island. Als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, vorgestern Abend, hatte es fast geklungen, als wäre er kurz vorm Heulen.
Also mussten Kristina, Jakob und der kleine Kelvin ins Hotel. Wie konnte man ein Kind nur Kelvin taufen? Der absolute Nullpunkt, wie Karl-Erik den frischgebackenen Eltern erklärt hatte, doch das hatte nichts genützt. Übrigens war sie sich ziemlich sicher, dass die Kleinfamilie das Hotel als Glückslos betrachten würde, die Gefühlslage, die Kristina gegenüber Rosemarie zu zeigen pflegte, seitdem sie erwachsen und von zu Hause ausgezogen war, bestand aus einer Mischung aus Schuldgefühl, Minderwertigkeitsgefühl und dem Gefühl, missraten zu sein. Und einen kurzen, jedoch umso klareren Moment lang war sie sich dessen bewusst, dass sie eigentlich nur für Walter Gefühle empfand und sich um ihn sorgte. Lag es daran, dass er ein Junge war? War es so einfach?
Aber vielleicht würde es früher oder später doch noch einen Zugang zu Kristina geben; was sie selbst betraf natürlich nur, kaum für Karl-Erik. Denn er war schon immer das Hauptziel für die Obstinenz des Mädchens gewesen. Gab es dieses Wort überhaupt? Obstinenz? Von den ersten Pubertätstagen an war es so gewesen, doch die pädagogische Fichte hatte aufrecht und im Schutz ihrer Rinde unzählige Streitereien, Zwiste und Dispute ausgehalten – und dabei gerade die Eigenschaften gezeigt, die derartigen rechtschaffenen Pflanzen zugeschrieben werden. Bleibe auf dem Fleck, auf dem du stehst, und rühre dich keinen Millimeter fort.
Ich bin ihm gegenüber ungerecht, dachte sie. Aber ich bin es so verflucht leid, dass ich auf das ganze Elend spucken könnte.
Gerade in diesem Augenblick, als sich die Uhr den Sieben-Uhr-Nachrichten auf P1 näherte, führte Karl-Erik eine Reihe schwergewichtiger und unwiderlegbarer Argumente für die Selbstverständlichkeit an, dass Ebbas Familie im Haus untergebracht werden musste – und Rosemarie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie am liebsten zu ihm gehen, ihm die Zunge aus dem Mund ziehen und diese abschneiden würde.
Seine pädagogischen Aufgaben waren schließlich abgeschlossen, es war also an der Zeit.
Und dann dieser automatisch auftauchende Gedanke, dass sie wieder einmal ungerecht war.
»All right, all right«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle.«
»Na gut«, sagte er. »Wie schön, dass wir uns einig sind. Wir müssen auf jeden Fall versuchen, Walter genau wie immer zu behandeln. Ich möchte dieses Ereignis nicht erwähnt haben. Ich werde mit ihm ein Gespräch unter vier Augen führen, das muss reichen. Wann, sagte er, dass er kommen wollte?«
»Gegen Abend. Er kommt mit dem Wagen. Ja, genauer hat er das nicht gesagt.«
Karl-Erik Hermansson nickte nachdenklich, öffnete den Mund sperrangelweit und schaufelte einen gehäuften Löffel Joghurt mit grobem Müsli hinein, unberührt von Menschenhand und mit dem Zusatz von zweiunddreißig nützlichen Mineralien plus Selen.
Sie saugte im oberen Stockwerk Staub. Karl-Erik hatte sich in häuslicher Solidarität die Einkaufsliste und das Auto gegriffen und war zu dem uralten Coop-Palatz draußen im Industriegebiet Billundsberg gefahren, um dort fünfhundert Kilo Geburtstagsnotwendigkeiten sowie einen Tannenbaum einzukaufen. Während Rosemarie den altmodischen alten Voltan herummanövrierte, gekauft bei Bröderna Erikssons Elektriska Maskiner, Hem & Hushåll bereits im Spätwinter 1983 und vermutlich unverwüstlich, überlegte sie, wie viele wichtige Entscheidungen sie eigentlich während ihres dreiundsechzigjährigen Lebens getroffen hatte.
Dass sie sich mit Karl-Erik, der Pädagogenfichte, verheiratet hatte? Wohl kaum. Sie hatten sich bereits während ihrer Schulzeit in der Karolinschen Lehranstalt kennen gelernt (sie eine verhuschte Anfängerin in der ersten Gymnasialklasse, er ein aufrechter Schüler der Abschlussklasse, ganz elegant in Anzug), und er hatte ihren Widerstand in der gleichen Form geknackt, wie er ihre Einwände in ihrem gesamten gemeinsamen Leben knacken sollte. Als er um ihre Hand anhielt, war ihr erstes Nein in ein zweites Vielleicht, wir können das ja noch hinausschieben, bis wir wenigstens unsere Prüfung gemacht haben verwässert worden, bis hin zum letztendlichen Okay, aber wir müssen erst eine gemeinsame Wohnung finden. Sie hatten 1963 geheiratet, sie hatte den textilen Zweig des Seminars für häusliche Ausbildung im Juni 1965 abgeschlossen, und Ebba war ein halbes Jahr später zur Welt gekommen. Auch sie war nicht die Frucht eines Beschlusses gewesen, den Rosemarie gefasst hatte.
Die Laufbahn der Handarbeitslehrerin hatte sie gewählt, nachdem ihre beste (und einzige) Freundin im Gymnasium, Bodil Rönn, sich bereits dafür entschieden gehabt hatte. Sie hatten die Prüfung gemeinsam durchgestanden, Bodil hatte eine feste Stelle in Boden in einer Schule bekommen, die weniger als fünfhundert Meter vom Elternhaus ihres Freundes Sune entfernt lag, und soweit Rosemarie wusste, wohnten die beiden immer noch dort. Sie hatten eineinhalb Jahre lang Kontakt miteinander gepflegt und sich Briefe geschrieben, doch die letzte Weihnachtskarte war inzwischen sieben oder acht Jahre alt.
Kein einziger wichtiger Beschluss, dachte sie und schleppte das Voltanwunder über den Flur, um sich die Gästezimmer vorzunehmen. Oder die alten Kinderzimmer, wie immer man sie nun bezeichnen wollte. Ebbas Zimmer, Walters Zimmer und Kristinas enge Kammer, die eigentlich nicht viel größer war als eine Vorratskammer – aber es war ja auch nie geplant gewesen, dass es mehr als zwei Kinder werden sollten, und erst recht nicht, wenn man bedachte, dass bereits mit zwei Versuchen eines von jedem Geschlecht zustande gebracht worden war, aber dann war es halt doch anders gekommen. Das Leben nahm eben seinen Lauf, und das nicht immer nach Plan; Kristina war 1974 geboren worden, Rosemarie hatte zehn Monate zuvor auf Anraten ihres Gynäkologen die Pille abgesetzt gehabt, und wenn die katastrophale Griechenlandreise mit Familie Fläskbergson keine lichteren Erinnerungen hervorgebracht hatte, so zumindest eine nicht geplante Tochter. Karl-Erik hatte vergessen, Kondome zu kaufen, und es nicht rechtzeitig geschafft, sich zurückzuziehen. So war es nun einmal, shit happens auch in dieser besten aller Welten, genau wie in allen anderen. Was war das für eine Sprache, die ihre Gedanken an diesem nasskalten Dezembermorgen benutzten? God knows, holy cow, jedenfalls waren das Worte, die sie normalerweise nicht benutzte. Wie war eigentlich das Wetter? Besser, sich neutralen Dingen zu widmen. Bis jetzt war nicht einmal ein Zentimeter Schnee in diesem westschwedischen Landesteil gefallen, und wenn sie aus dem Fenster schaute, kam es ihr vor, als ob sogar das Tageslicht aufgab und das Handtuch warf. Die Luft sah aus wie Haferschleim.
Erst als sie den langen Flurläufer zusammengerollt hatte und die Fußbodenleisten ohne den Aufsatz absaugte, fiel ihr ein entscheidender Beschluss ein. Verdammt noch mal.
Sein Name war Göran gewesen, er hatte Sandalen ohne Strümpfe getragen und als Vertretung während des Herbsthalbjahres gearbeitet. Es war ihr drittes Jahr an der Schule gewesen, fünf Jahre nach Kristinas Geburt, sie konnte es einfach nicht in ihren Schädel bekommen, dass dieser bärtige Charmebolzen ausgerechnet eine 36-jährige Mutter dreier Kinder brauchte, und folglich sagte sie Nein. Und dieses Nein war offenbar die wichtigste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Einen frisch geschiedenen, geilen Referendar mit breiten Schultern abweisen.
Es geschah während einer Fortbildungsfahrt mit dem Schiff nach Finnland, die pädagogische Fichte war zum dritten Mal in seinem Leben krank gewesen (wenn man den angeborenen Nabelbruch nicht mitzählte), der Referendar hatte in ihrer Kajüte die halbe Nacht gesessen und sie angehimmelt. Gebettelt und gefleht. Hatte ihr zollfreien Wodka mit Preiselbeersaft angeboten. Doch nein. Hatte ihr zollfreien Moltebeerlikör angeboten. Aber nein.
Sie fragte sich, was wohl aus ihm geworden war; er hatte braungebrannte Zehen mit kleinen, interessanten Haarbüschelchen darauf gehabt, und er war eine Gelegenheit gewesen, ihr Leben zu verändern – die sie jedoch aus den Händen hatte gleiten lassen. Was vielleicht auch nur gut so war. Ein einziger Mann hatte sich Zugang zu ihrem inzwischen ausgetrockneten und geschlossenen Schoß verschafft – aber wie auch immer, soweit ihr bekannt war, hatte auch Karl-Eriks Schwanz sich im Laufe der zweiundvierzig Jahre nie in andere Regionen verirrt. Bevor sie heirateten, hatte er zugegeben, dass er mit einem Mädchen namens Katarina während einer Luciafeier im zweiten Jahr auf dem Gymnasium zusammen gewesen war, aber sie war nicht sein Typ gewesen, eine Tatsache, die einige Jahre später, in den Achtzigern, noch unterstrichen wurde, als sie eine kurzfristige Berühmtheit als Geiselnehmerin in Zusammenhang mit einem Bankraub in Säffle erlangte. Warum man auch immer ausgerechnet eine Bank in Säffle ausrauben wollte.
Auf jeden Fall: Die Anzahl der wichtigen Entscheidungen blieb bei der unangenehmen Zahl eins. Rosemarie beschloss, es mit dem Staubsaugen genug sein zu lassen, und überlegte, ob es eigentlich einen Grund für den optimistischen Gedanken gab, sie könnte stark genug für Nummer zwei sein. Das Haus war auf sie beide eingetragen, das wusste sie. Ohne ihre Unterschrift auf dem Papier am Mittwoch würde das Geschäft den Bach runtergehen. Das Paar, das das Haus kaufen wollte, hieß Singlöv und wohnte momentan draußen in Rimminge; sie wusste von ihnen nur, dass der Mann Elektriker war und sie zwei Kinder hatten.
Aber dass bereits hunderttausend Kronen als nicht zurückzahlbares Handgeld für ein Dreizimmerhaus in Spanien eingezahlt worden waren, daran konnte sie nichts ändern. Die Rentnerküste, wurde sie nicht so genannt? Eine schmerzhafte Sekunde lang flackerte eine neue Schlagzeile vor ihrem inneren Auge auf: WICHS-WALTERS ELTERN FLIEHEN AN DIE RENTNERKÜSTE!
Wenn ich nur nicht immer so pessimistisch wäre, dachte sie und stellte die Kaffeemaschine an. Wenn ich nicht immer alles als so sinnlos empfinden würde. Woher soll ich nur die Kraft nehmen?
Die letzten Tage einer Handarbeitslehrerin und ihr Tod, dachte sie eine Minute später, als sie sich mit der dritten Tasse Kaffee dieses Tages am Küchentisch niederließ. Das war als Buch- oder Theaterstücktitel gar nicht so schlecht, soweit sie das beurteilen konnte, aber selbst mitten in dem ganzen Schlamassel zu sitzen, das war wahrlich nicht besonders berauschend.
Ach was, kam der Protest irgendwo aus einer noch nicht ausgelöschten Gehirnwindung, mit so viel Trostlosigkeit befasse ich mich doch sonst nicht. Könnte es sein, dass ich heute Morgen einen kleinen Schlaganfall erlitten habe? Wenn ich noch rauchen würde, könnte ich mir zumindest jetzt einen Zug gönnen.
Nein, was ist nur heute mit meinen Gedanken los?, fragte sich Rosemarie Wunderlich Hermansson. Es war gerade erst zehn Uhr.
Blieb noch mehr als ein halber Tag, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen, und morgen sollten Kinder und Enkelkinder einfallen wie … ja, wie denn nur?
Wie zwangsrekrutierte Soldaten zu einem befohlenen Krieg?
Leben, wo ist dein Stachel?
2
Kristoffer Grundt lag in seinem Bett und kämpfte mit einem sonderbaren Wunsch. Er hätte gern die nächsten vier Tage seines Lebens übersprungen.
Vielleicht war das für andere gar kein so merkwürdiger Wunsch, das konnte er nicht sagen, aber ihm kam er das erste Mal in den Sinn. Er war vierzehn Jahre alt, und vielleicht war dies ein Zeichen dafür, dass er langsam erwachsen wurde.
Dass es nur schwer zu ertragen war.
Natürlich graute ihm vor verschiedenen Dingen. Wie Mathearbeiten, Sportstunden in der Schwimmhalle. Mit Oscar Sommerlath und Kenny Lythén aus der 9C in einer unbewachten Ecke allein zu landen.
Aber am schlimmsten zu ertragen, das war der Blick seiner Mutter, wenn sie ihn direkt ansah und ihm zeigte, aus welch schlechtem Holz er war.
Nicht aus dem gleichen wie Henrik. Ganz und gar nicht, irgendetwas war schiefgegangen, was Kristoffer betraf. Sie hatten die gleichen Gene, die gleichen Eltern, die gleichen vielversprechenden Voraussetzungen, nein, der Fehler beruhte weder auf Vererbung noch auf der Umgebung – er lag einzig und allein an einem winzigen Detail: an ihm selbst. Kristoffer Tobias Grundt und seinem Rückgrat. Nein, falsch, an Kristoffer Tobias Grundt und seinem mangelnden Rückgrat. An dem Loch, das er mitten in seiner Seele aufwies, wo normale Menschen ihre Charakterstärke hatten.
Genau so war es. So übel sah es aus, wenn man die Dinge recht betrachtete. Aber vier Tage einfach überspringen? Wenn er doch mittels Willenskraft sein Leben einfach um sechsundneunzig Stunden verkürzen könnte. War das nicht eine Schande sich selbst gegenüber … allein die Idee?
Es war halb zehn. Es war Sonntag. Wäre es stattdessen Donnerstagmorgen gewesen, dann wäre es der 22. und in zwei Tagen Heiligabend. Wenn er jemals diesen Zeitpunkt erreichte, so schwor er sich selbst, kurz innezuhalten und einen dankbaren Gedanken zurückzuschicken. Rückwärts zu denken und sich an die Zeit zu erinnern, was immer man auch von ihr halten mochte, trotz allem.
Das Problem war nur, dass sie oft so schrecklich langsam verging und dass sie nie etwas übersprang.
Sie würde nicht die unerträgliche Autofahrt nach Kymlinge überspringen.
Sie würde nicht Oma und Opa und all die anderen hoffnungslosen Verwandten überspringen.
Und, was das Wichtigste war, dachte Kristoffer und schloss die Augen, sie würde nicht das Gespräch mit seiner Mutter überspringen.
»Mir ist schon klar«, hatte sie gestern Abend aus der Tiefe und Dunkelheit des Wohnzimmersofas gesagt, gerade als er glaubte, ungesehen und ungehört hineingeschlichen zu sein. »Mir ist schon klar, dass du es in Ordnung findest, jetzt erst zu kommen. Aber es ist zwei Uhr. Komm mal her und hauch mich an.«
Er war zu ihr gegangen und hatte die Luft in einem feinen Strahl über ihr Gesicht geblasen. Er hatte ihren Blick in der Dunkelheit nicht sehen können, und sie hatte das Geschehen nicht sofort kommentiert. Aber er machte sich keinerlei Illusionen.
»Morgen Vormittag«, hatte sie gesagt. »Da erwarte ich eine Erklärung. Ich bin müde, Kristoffer.«
Er seufzte. Drehte sich im Bett um und dachte lieber an Linda Granberg.
Linda Granberg war schuld, dass er gestern Abend sechs Bier und ein Glas Rotwein getrunken und zehn Zigaretten geraucht hatte. Linda war schuld, dass er sich überhaupt dazu entschlossen hatte, zu dem sogenannten Fest bei Jens & Måns zu gehen. Jens & Måns waren Zwillinge, sie gingen in die Parallelklasse und hatten Eltern, die keine Verantwortung übernahmen. So gingen sie beispielsweise zu einer eigenen Feier in der Stadt und versprachen, nicht vor drei Uhr zurück zu sein. Zwar kauften sie nicht gerade Schnaps für die Jugendlichen ein, aber sie hatten ein ziemlich großzügiges und frei zugängliches Lager unten im Keller.
Es hieß, sie sollten zu acht sein, aber Kristoffer hatte mindestens fünfzehn gezählt. Die Leute waren gekommen und gegangen. Bereits in der ersten Stunde hatte er sich vier Bier hineingekippt. Erik hatte gemeint, dass es besser knallte, wenn man gleich richtig anfing, und es hatte ja auch nicht schlecht funktioniert. Es schien so, als hätte Linda mit ihm Schritt gehalten, er hatte sich getraut, sich neben sie aufs Sofa zu zwängen, und er hatte in einer Art mit ihr geredet, wie er es nie zuvor geschafft hatte. Sie hatte ihn angelacht und mit ihm gelacht, und kurz vor elf Uhr hatte sie seine Hand genommen und gesagt, dass sie ihn mochte. Eine halbe Stunde und jeweils ein Bier später hatten sie angefangen, sich zu küssen, es war für ihn das erste Mal gewesen, sie hatte wunderbar nach Bier, Chips und frischem Tabak geschmeckt und außerdem nach etwas Weichem, Warmem, das nur sie allein war. Die … wie nannte man das? … die Essenz an sich? … von Linda Granberg. Als er jetzt zehn Stunden später in seinem Bett lag, konnte er immer noch die Zunge in der Mundhöhle herumfahren lassen und fand hier und da Reste dieses Geschmacks.
Aber es war eine schnell verfliegende, traurige Erinnerung. In erster Linie traurig. Nach dem Kuss hatten sie Pizza direkt aus dem Karton gegessen, einfach mit den Fingern, und einer der Zwillinge hatte allen sauren Wein aus dem Karton in Plastikbechern serviert, und danach war Linda schlecht geworden. Sie war aufgestanden, hatte ein wenig geschwankt und versprochen, gleich wieder zurück zu sein. Sie war in Richtung Toilette gewankt, und eine halbe Stunde später hatte er sie in einem ganz anderen Zimmer gefunden, in den Armen von Krille Lundin aus der 9b und schlafend. Er hatte sich von Erik ein Bier geschnorrt, noch drei Zigaretten geraucht und war dann nach Hause gegangen. Wenn er die Sache näher bedachte, dann waren es nicht allein die kommenden vier Tage, die er gern gestrichen hätte, den gestrigen Tag würde er nur zu gern hinzufügen.
Linda Granberg, fuck you, dachte er, aber das waren nur hohle Worte, und genau betrachtet, war es ja genau das, was er eigentlich wollte. Wenn man denn ehrlich war. Und hätte er seine Karten nur ein wenig geschickter ausgespielt, hätte er derjenige sein können und nicht dieser Hockeyfreak Krille Lundin, der da mit ihr im Schoß gelegen hätte, das war ihm nur zu klar. Wie verdammt zufällig sich das Leben auch gestalten mochte, war es trotz allem klar, dass ein fünfzehnjähriger TV-EISHOCKEYSPIELER natürlich tausendmal besser war als ein … ja, was eigentlich? Teigklumpen? Mega-Looser? Eine Null, ein Langweiler, ein Nichts? Bitte schön, man brauchte es sich nur aussuchen.
Er zuckte zusammen und sah, dass seine Mutter in der Türöffnung stand.
»Wir fahren jetzt einkaufen. Vielleicht könntest du langsam aufstehen und frühstücken, dann können wir miteinander reden, wenn wir zurück sind.«
»Ja, natürlich«, sagte er. Es war geplant, dass es keck und entgegenkommend klingen sollte, doch das Geräusch, das da aus seiner Kehle drang, erinnerte eher an den Ton eines winzig kleinen Tieres, das einem Rasenmäher ins Gehege kommt.
»Vielleicht sollten wir erst einmal klären, um was es in unserem Gespräch geht?«
»Es geht um mich«, sagte Kristoffer und versuchte, den stahlblauen Blick seiner Mutter mit seinem eigenen grüngesprenkelten zu erwidern. Aber er hatte nicht das Gefühl, dass ihm das besonders gut gelang.
»Um dich, Kristoffer, ja«, sagte sie langsam und faltete die Hände vor sich auf dem Küchentisch. Sie waren nur zu zweit. Die Uhr zeigte halb zwölf. Vater Leif war unterwegs, noch einige Besorgungen machen. Henrik war nach seinem ersten anstrengenden Universitätssemester in Uppsala am gestrigen Abend spät nach Hause gekommen. Beide Türen waren geschlossen, die Geschirrspülmaschine brummte.
»Bitte schön«, sagte sie.
»Wir hatten eine Abmachung«, sagte Kristoffer. »Ich habe sie gebrochen.«
»Ach ja?«
»Ich sollte um zwölf Uhr zu Hause sein. Ich bin erst um zwei gekommen.«
»Zehn Minuten nach.«
»Zehn Minuten nach zwei.«
Sie beugte sich ein wenig zu ihm vor. Wenn sie mich doch in den Arm nehmen könnte, dachte er. Jetzt schon. Doch er wusste, dass dies nicht geschehen würde, bevor nicht alles besprochen war. Und es war noch nicht alles besprochen. Noch lange nicht.
»Ich mag nicht hier sitzen und Fragen stellen, Kristoffer. Gibt es sonst noch etwas, was du mir erzählen willst?«
Er holte tief Luft. »Ich habe gelogen. Und zwar schon vorher.«
»Das verstehe ich jetzt nicht.«
»Ich hatte nie vor, zu Jonas zu gehen.«
Sie zeigte ihre Verwunderung, indem sie eine Augenbraue zwei Millimeter anhob. Aber sie sagte nichts.
»Ich hab doch gesagt, dass Jonas und ich bei ihm zu Hause einen Film angucken wollten, das war gelogen.«
»Ach ja?«
»Ich war bei den Zwillingen.«
»Was für Zwillinge?«
Warum unterbrichst du mich die ganze Zeit mit Fragen, wenn du keine Fragen stellen willst?, dachte er.
»Bei Måns und Jens Pettersson.«
»Ich verstehe. Und warum musstest du mich deshalb anlügen?«
»Wenn ich das gesagt hätte, hättest du mich nicht gehen lassen.«
»Warum hätte ich dich denn nicht gehen lassen sollen?«
»Weil es nicht … weil das kein guter Ort ist für einen Samstagabend.«
»Was sollte schlecht daran sein, an einem Samstagabend zu den Zwillingen Pettersson zu gehen?«
»Na, die trinken öfter … wir haben auch getrunken. Wir waren zehn, fünfzehn Leute, und wir haben Bier getrunken und geraucht. Ich weiß nicht, warum ich dorthin gegangen bin, es war sinnlos.«
Sie nickte, und er sah, dass er ihr große Sorgen bereitet hatte. »Das verstehe ich jetzt nicht. Warum bist du dann dorthin gegangen? Du musst doch einen Grund dafür gehabt haben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Weißt du nicht, warum du etwas tust, Kristoffer? Das klingt aber nicht gut.« Jetzt sah sie besorgt aus, geradewegs bekümmert. Nimm mich in die Arme, verdammt noch mal, dachte er. Ich werde es dir doch nie recht machen können. Nimm mich in die Arme, und dann scheißen wir auf alles.
»Ich wollte es nur mal ausprobieren … glaube ich.«
»Was ausprobieren?«
»Wie das ist.«
»Was?«
»Na, zu saufen und zu rauchen, verdammt noch mal! Nun hör endlich auf, siehst du nicht, dass ich nicht mehr kann …«
Die Tränen und die Hoffnungslosigkeit überkamen ihn jäher und schneller, als er gedacht hatte, und in gewisser Weise war er dankbar dafür. Es war ein schönes Gefühl, aufzugeben. Er ließ sich über den Tisch fallen, das Gesicht im Ellbogen, und schluchzte. Aber sie bewegte sich nicht und sagte nichts. Nach einer oder vielleicht auch zwei Minuten war es vorüber, er stand auf, ging zum Spülbecken und holte sich einen halben Meter Küchenrolle. Putzte sich die Nase und kehrte an den Tisch zurück.
Dort blieben sie noch eine Weile schweigend sitzen, und langsam wurde ihm klar, dass sie gar nicht daran dachte, ihn in den Arm zu nehmen.
»Ich möchte, dass du das Papa auch erzählst, Kristoffer«, sagte sie. »Und außerdem möchte ich wissen, ob du uns in Zukunft weiterhin anlügen willst oder ob wir dir vertrauen können. Vielleicht hast du ja vor, auch weiterhin bei den Zwillingen Pettersson ein und aus zu gehen? Wir sind zwar deine Familie, Papa, ich und Henrik, aber wenn du lieber …«
»Nein, ich …«, unterbrach er sie, aber sie unterbrach ihn gleich wieder.
»Jetzt nicht«, sagte sie. »Es ist ein wichtiger Entschluss, welche Bahn du einschlägst, die der Wahrheit oder die der Lüge. Am besten, du denkst ein paar Tage darüber nach.«
Anschließend stand sie auf und ließ ihn allein.
Nein, dachte er, sie hat mich ja nie in den Arm genommen. Mir nicht einmal mit der Hand über den Rücken gestrichen.
Und eine Art Schweigen, das er als ebenso neu wie auch lähmend empfand, breitete sich in ihm aus. Er wartete eine Minute lang, dann lief er aus der Küche, die Treppe hinauf, in sein Zimmer. Er hörte, wie Henrik auf der anderen Seite der dünnen Wand aufwachte, warf sich aufs Bett und schickte ein wortloses Gebet gen Himmel, dass sein großer Bruder doch erst in die Dusche gehen sollte, bevor er ihn begrüßte.
Das Beste wäre wohl, wenn sie mich umtauschten, dachte Kristoffer Grundt. Ja, sie hätten mich schon vor langer Zeit gegen einen anderen austauschen sollen.
Leif Grundt umarmte seinen Sohn halbherzig, nach dem kurzen Gespräch, das er mit ihm geführt hatte, bevor sie sich abends zu Tisch begaben, und er stellte wieder einmal fest, dass er und seine Ehefrau grundverschieden waren.
Gelinde gesagt. Ebba war eine Persönlichkeit und ein Rätsel, genau so definierte er sie gern, und zwar ein Rätsel, das zu lösen er schon vor langer Zeit aufgegeben hatte. Was Kristoffers Alkohol- und Rauchdebüt betraf – wenn denn hier wirklich die Rede von einem Debüt sein konnte, wie sein Sohn hartnäckig behauptete -, dann war für seine Ehefrau die Lüge das Wichtige daran gewesen. Die Enttäuschung, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte, der bewusste Bruch einer Übereinkunft.
Was ihn selbst betraf, so dachte Leif genau entgegengesetzt. Wenn der Junge rauchen und saufen wollte, dann konnte er ja wohl bei allen göttlichen Mächten seinen Eltern davon vorher nichts erzählen, oder? Auf lange Sicht konnte er vom Schnaps eine Schrumpfleber und von den Zigaretten Lungenkrebs bekommen, aber an einer kleinen Lüge war ja wohl noch nie jemand gestorben, oder?
Lieber ein nüchterner Lügner als ein ehrlicher Junkie, dachte Leif Grundt. Wenn man sich eine Zukunft für seine Kinder überhaupt aussuchen könnte – eine Möglichkeit, von der er nicht eine Sekunde lang geglaubt hatte, dass sie in seinen Machtbereich fallen könnte.
Obwohl er selbst ein leicht dubioses Verhältnis zur Lüge hatte, das ließ sich nicht leugnen. Es war zwar etwas an den Haaren herbeigezogen, aber man könnte behaupten – was ihm natürlich niemals in den Sinn gekommen wäre, und schon gar nicht vor seiner Ehefrau -, dass die Existenz der gesamten Familie Grundt auf einer Lüge basierte. Tatsächlich bildete ein grober, herrlicher Bluff das Fundament, dem die Jungen zu danken hatten, dass sie überhaupt geboren worden waren.
Hätte Leif Grundt sich an die Wahrheit gehalten, er hätte ihrer Mutter nie an die Wäsche gehen können. Oh nein. Dass Ebba Hermansson sich ihre gehütete Unschuld von einem Schlachter vom Konsum rauben lassen sollte, war ein Gedanke, so undenkbar wie... als wenn Leifs stotternder Halbbruder Henry es schaffen würde, Pamela Anderson zu heiraten. Leif wusste es, und Ebba wusste es, und Leif wusste außerdem ganz genau, dass sie niemals dieses psychologische Faktum zugeben würde, und wenn man sie vor ein Exekutionskommando stellte. Als er sich dafür entschied, als Jurastudent Leif von Grundt auf dem Frühlingsball der Östgötaer Verbindung an der Uni Uppsala 1985 aufzutreten (wohin er mittels eines gefälschten Studentenausweises gelangt war), war es gerade diese geliehene Identität – und nicht sein höchst prosaischer Konsumschwanz -, die sie gegen zwei Uhr nachts dazu brachte, ihm auf ihre jungfräulichen Feuchtwiesen Zutritt zu gewähren. Das, und nichts anderes.
»Du hast gelogen«, stellte sie zwei Monate später fest, als die Schwangerschaft nicht mehr zu leugnen war.
»Ja«, gab er zu. »Ich wollte dich haben, und das war die einzige Möglichkeit, dich zu bekommen.«
»Du hast Vorurteile«, sagte sie. »Ich hätte deine Ehrlichkeit wohl zu schätzen gewusst.«
»Schon möglich«, erwiderte er. »Aber es war nicht deine Hochschätzung, auf die ich aus war.«
»Ich hätte mich dir auch so hingegeben.«
»Daran habe ich so meine Zweifel«, sagte Leif Grundt. »Ziemlich starke Zweifel. Was wirst du jetzt tun?«
»Tun?«, wiederholte Ebba Hermansson. »Ich werde dich heiraten und das Kind bekommen, was sonst.«
Und dabei blieb es.
Es hatte sie ein Jahr Auszeit in Sachen Medizinstudium gekostet, mehr nicht. Seinen Vaterurlaub bis an die Grenze auszunutzen, war fast ein Muss, wenn man Mitte der Achtziger beim Konsum angestellt war, und als Kristoffer fünf Jahre später zur Welt kam, war das eine sorgsam geplante Aktion vor Ebbas kommendem Krankenhauspraktikum. Und in der Post befand sich außerdem ein Brief mit der erwarteten studentischen Verbindung: Sundvalls Krankenhaus und ein maßgeschneiderter Posten als Leiter des Konsums in der Ymergatan in der gleichen Stadt. Und mit der Zeit ließ sich auch die Facharztausbildung regeln – und dass sich alles tatsächlich kombinieren ließ, dafür war Ebba Hermansson Grundt der lebende Beweis, als sie als 38jährige Mutter zweier Kinder ihren Posten als Oberärztin in der Gefäßchirurgie im besagten Krankenhaus antrat. Der Teufel behütet die Seinen, in zwei Tagen sollte sie vierzig werden.
Dachte Leif Grundt und lachte ein etwas schiefes, inneres Lachen. Und dass diese Sache mit Lüge und Wahrheit eine viel kompliziertere Geschichte war, als die Leute sich allgemein einbildeten, ja, das war jedenfalls eine Wahrheit, die er gut in seinem Inneren bewahren wollte. In einem besonderen Vorrat an Lebensweisheiten, wie man behaupten könnte, den er zwar ab und zu in Augenschein nahm, den aufzusuchen er seine Ehefrau jedoch nur äußerst selten aufforderte. Irgendwie fehlte dazu immer die Gelegenheit.
Aber wenn der Schlingel nun angefangen hatte zu rauchen und zu saufen, dann musste er natürlich zurechtgewiesen werden. Es musste ihm peinlich sein, und er sollte schon ein richtig schlechtes Gewissen haben, das war klar.
Zufrieden mit dieser einfachen Schlussfolgerung setzte sich Leif Grundt zusammen mit seinen Söhnen und seiner Ehefrau zu Tisch. Es war Sonntagabend, die Welt war im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht. Morgen standen die Reise nach Kymlinge und wahrscheinlich drei Tage Familienhölle an, das wusste er, aber morgen war ein anderer Tag, und kommt Zeit, kommt Rat.
3
Bereits bei ihrem ersten, leicht verwirrenden Zusammentreffen eine Woche nach dem Skandal hatte Walter Hermansson seinem Therapeuten erklärt, dass er sich suizidal fühle.
Aber nur auf eine direkte Frage hin. Er hatte das Gefühl gehabt, dass dieser schüchterne, leicht rattenartige Mann mit der rauchfarbenen Brille diese Antwort hören wollte. Es wurde erwartet, dass er Selbstmordgedanken hegte, und folglich hatte er gesagt, ja, natürlich, nach dem, was passiert war, hatte er schon mehrfach in diese Richtung gedacht.
Innerlich musste er ebenfalls zugeben, dass es nur logisch wäre, dem ganzen Mist ein Ende zu setzen, dass es schön wäre, sich nicht mehr jede Nacht im Bett wälzen zu müssen und sich sein pathetisches, weggeschmissenes Leben vor Augen zu führen. Dass es schön wäre, nicht am späten Vormittag schweißgebadet und voller Seelenqual für einen neuen, sinnlosen Tag aufzuwachen.
Endlich diesem Selbstmitleid einen Tritt in den Arsch zu geben, dachte er, den entscheidenden Schritt zu tun und zu verschwinden. Niemand, nicht ein einziger Mensch, würde sich darüber wundern, dass Walter Hermansson sich das Leben genommen hatte.
Dennoch ahnte er, dass es nicht so kommen würde. Wie üblich würde ihm dafür die rechte Stärke und Tatkraft fehlen. Was er mit den restlichen Jahren seines Lebens anfangen sollte, davon hatte er nicht den blassesten Schimmer, vermutlich ging es nur darum, den nächsten Monat zu überstehen und dann ins Ausland zu gehen. Er war bis zum Sechsundzwanzigsten krankgeschrieben, sein Praktikum bei der Zeitung lief zum Jahresende aus, und er machte sich keinerlei Illusionen dahingehend, dass man ihn auch noch im Januar sehen wollte.
Ein nicht gerade seriöser Verlag hatte von sich hören lassen und ihm angeboten, »seine eigene Version« in Buchform erscheinen zu lassen, man hatte ihm einen Vorschuss von fünfzigtausend Kronen und einen angesehenen Ghostwriter versprochen. Worauf er erklärt hatte, dass er unter keinerlei Umständen irgendeinen Ghostwriter benötige, und anschließend darum gebeten hatte, sich die Sache noch einmal überlegen zu dürfen. Vielleicht sollte er das Angebot doch annehmen? Warum eigentlich nicht? Er könnte das Geld nehmen, auf die Kanarischen Inseln oder nach Thailand oder weiß der Teufel wohin fahren. Nein, nicht noch einmal nach Thailand. Zwei Monate im Liegestuhl jedenfalls, mit seinem alten Romanmanuskript und es ein letztes Mal durchgehen. Mensch ohne Hund. Vielleicht würden sie es ja nehmen? Vielleicht war dieser Scheißverlag ja gar nicht hinter seiner Version der Ereignisse auf der Insel her, vielleicht lag es nur an seinem Namen Wichs-Walter Hermansson.
Und auch wenn sie letztendlich nein sagten, war es nicht gerade eine Flucht, die er brauchte? Konzentrierte Arbeit. Isolation und gutes Wetter. Es war jetzt sieben Jahre her, seit er Mensch ohne Hund das letzte Mal durchgegangen war, vielleicht waren gerade so eine Zeitspanne und so eine Situation nötig, damit er eine letzte, sorgfältige Hand an den Text legen und dann den Roman herausgeben konnte? Endlich. Die vier größten Verlage des Landes hatten ihn alle zum Begutachten bekommen, Bonniers sogar zwei Mal. Er hatte die Ansichten von drei verschiedenen Lektoren erhalten und mit zwei Verlegern gesprochen. Besonders der Mann vom Albert Bonniers Verlag hatte ihm Hoffnung gemacht. Fast flehentlich hatte er ihn gebeten, doch die sechshundertfünfzig Seiten noch einmal durchzugehen und zu versuchen, mindestens hundertfünfzig davon zu streichen und dann wiederzukommen. Im Prinzip war man bereit, das Buch zu veröffentlichen, daran war gar nicht zu rütteln.
Doch damals, im September 1999, nachdem Seikka ihm gerade ihre Absichten dargelegt hatte, war er nicht dazu in der Lage gewesen. Er hatte sich nicht hinsetzen und ein weiteres Mal in den Metaphern herumstochern können, dazu wäre auch sonst niemand in der Lage gewesen. Er hatte zwei Gedichtsammlungen vorzuweisen. Der Steinbaum von 1991 und Das Beispiel des Obsthändlers von 1993. Beide hatten freundliche Rezensionen erhalten, es wurde behauptet, er sei auf der Jagd nach seiner eigenen Stimme, und er hatte insgesamt an vier Lesungen und einem Poesiefestival teilgenommen.
Nein, warum sollte Walter Hermansson sich aufhängen? Noch gab es Hoffnung.
Oder zumindest Fluchtmöglichkeiten. Wie gesagt. Mehr begehrte er gar nicht.
Er hatte nie viel vom Leben begehrt, wenn er die Sache näher betrachtete. Das Leben forderte mehr von ihm als er vom Leben, war es nicht so? Am Sonntag, dem 18. Dezember, war er um zwölf Uhr immer noch nicht aus dem Bett aufgestanden, aber er hatte das halbe Kreuzworträtsel im Svenska Dagblad gelöst und war dreimal wieder eingeschlafen. Fluchtmöglichkeiten?, dachte er. Ein Sinnbild für mein Leben?
Vielleicht konnte man die Sache ja so betrachten. Er hatte nie etwas lange durchgehalten, und das, was er vielleicht mit der Zeit länger hätte durchhalten können, das hatte nicht mit ihm durchgehalten. Er war fünfunddreißig Jahre alt, und das Einzige, womit er sich in seinem Leben eigentlich beschäftigt hatte, das war, nach etwas anderem zu suchen. Weiß der Teufel, dachte er und drehte das Kopfkissen um, wenn man in Ebbas Schatten aufgewachsen ist, dann sehnt man sich hinaus in den Sonnenschein.
Das war ein häufig wiederkehrender Gedanke, und er hatte schon vor langer Zeit seine Würze verloren. Man kann die Schuld an gewissen Dingen seiner Familie und seiner großen Schwester zuschieben, aber nicht in alle Ewigkeit. Man kann ein Opfer äußerer Umstände sein, aber kaum das ganze Leben lang. Nicht in der schwedischen Mittelklasse Ende des 20. Jahrhunderts. Es war nicht leicht, in der Geschichte und Geographie Menschen zu finden, die genauso große Möglichkeiten hatten, ihr Lebensschicksal zu bestimmen, wie Ebba, Walter und Kristina Hermansson. Das war eine unbestreitbare Tatsache – wie Vater Karl-Erik es ausgedrückt hätte.
Und eigentlich, wenn man ganz genau sein wollte, war es ja erst wirklich schiefgegangen, seit er seines eigenen Glückes Schmied war. Walter hatte am naturwissenschaftlichen Zweig im Gymnasium daheim in Kymlinge sein Abitur gemacht, wie es sich gehörte. Das war 1988, und auch wenn er nicht der Beste in der Klasse gewesen war, so war sein Zeugnis zweifellos ehrenhaft gewesen. Nicht zu vergleichen mit dem, das Ebba zum Schulabschluss einige Jahre vorher vorgelegt hatte, aber das hatte auch niemand von ihm erwartet. Er war im gleichen Herbst zum Militärdienst eingerückt, war zehn Monate lang bis zum Panzerschützengruppenleiter in Strängnäs geschmiedet und gehärtet worden. Jeden einzelnen Tag Dienst hatte er verabscheut. Jede Minute. 1989 war er nach Lund gezogen und hatte sein Studium begonnen.
Geisteswissenschaften. Der Vater hatte abgeraten, die große Schwester hatte abgeraten, aber er hatte darauf beharrt. Er lernte Madeleine kennen, sie war schön, mutig und stand auf seiner Seite. Sie studierten Philosophie und vögelten. Sie studierten Ideen- und Wissenschaftsgeschichte und vögelten. Tranken Rotwein, rauchten ein wenig Haschisch, studierten Literaturwissenschaft und vögelten. Versuchten es mit Amphetamin, hörten aber rechtzeitig damit auf, studierten Kunstgeschichte, vögelten, gaben zwei Gedichtsammlungen heraus (Walter) und bekamen eine zurückgeschickt (Madeleine). Studierten Filmwissenschaft, bekamen ein Romanmanuskript von 650 Seiten zurückgeschickt (Walter), vögelten, wurden schwanger (Madeleine), hörten auf, Haschisch zu rauchen, hatten aber dennoch im dritten Monat eine Fehlgeburt, bekamen a) Panikattacken (Madeleine) und b) genug von Walter (Madeleine), und zogen Hals über Kopf zurück zu den Eltern in Växjö (Madeleine). Saßen nur da und schauten zu, wie alles rundherum zusammenstürzte (Walter).
Auf irgendeine Weise gelang es ihm, die Illusion aufrechtzuerhalten, er betriebe ernsthaft sein Studium, sowohl dem stipendienvergebenden Amt als auch seiner Familie gegenüber. Aber mit Madeleines Aufbruch war damit endgültig Schluss. Er war vierundzwanzig Jahre alt, befand sich meilenweit von irgendeinem Abschlussexamen entfernt, hatte Stipendienschulden von 350 000 Kronen und schlechte Alkoholgewohnheiten. Seine schöne, mutige Freundin hatte ihn im Stich gelassen, und von seinen beiden hochgelobten Gedichtsammlungen waren insgesamt einhundertundzwölf Exemplare verkauft worden. Es war höchste Zeit, dass die Familie intervenierte.
Zum Herbst 1994 war alles geklärt (abgesehen von den Stipendiumsschulden, die ihn wahrscheinlich bis ins Grab verfolgen würden). Mit Hilfe des kooperativen Langweilers von einem Ehemann seiner großen Schwester oben in Medelpad wurde ein verhältnismäßig gut entlohnter Job in einem Bezirksbüro in Jönköping herbeigezaubert. Büroarbeit und drei, vier Reisen im Monat zu verschiedenen Konsumgeschäften im nördlichen Småland und in Västergötland. Walter beugte sich und akzeptierte. Er gab klein bei, schickte seine Künstlerseele ins innere Exil, es war keine Frage des freien Willens. In der ersten Septemberwoche zog er in eine Dreizimmerwohnung mit einem akzeptablen Blick über den Vätternsee, und am dritten Samstagabend in der dritten (und letzten) Kneipe im Ort lernte er Seikka kennen. Sie arbeitete im Kindergarten und besuchte nach Feierabend verschiedene Abendkurse bei den unterschiedlichsten Institutionen. Diverse Kreativitätsangebote, von Aromatherapie bis hin zu feministischem Skizzenzeichnen und transzendentaler Selbstverteidigung. Sie zogen im Dezember zusammen, und im November 1995 wurde ihre Tochter Lena-Sofie geboren. Ungefähr zur selben Zeit begann Walter zu laufen, das tat er, um nicht von einem inneren Druck auseinandergerissen zu werden. Anfangs zehn, zwölf Kilometer jeden Abend, dann immer längere Strecken. 1996 nahm er an drei Marathonläufen mit Zeiten unter zwei Stunden fünfzig teil (bis auf den letzten, bei dem er gezwungen war, aufgrund akuter Magenprobleme zwei Kilometer vor dem Ziel abzubrechen, aber alles deutete auf ungefähr zwei Stunden sechsundvierzig hin). Er trat in den Sportverein Vindarnas IF ein und stellte fest, dass er tatsächlich ein Talent für Langstrecken hatte. Seine ersten fünf Kilometer lief er in einem reinen Vereinswettkampf und gewann dreihundert Meter vor dem Zweiten. Er nahm brieflich Kontakt zu einem bekannten Sportphysiologen auf, der ihm erklärte, dass Langstreckenläufer häufig ihre Spitzenleistungen erst nach ihrem dreißigsten Geburtstag erreichten und man mit dem richtigen Training problemlos bis zu einem Alter von fünfundzwanzig warten könne. Walter war sechsundzwanzig, er erinnerte an Evy Palm.
Die folgenden drei Saisons wurden seine große Zeit. 1997 wurde er Bezirksmeister sowohl über fünf- als auch über zehntausend Meter, aber erst, als er sich ohne vorheriges technisches Training zu einem 3000 Meter-Hindernislauf bei einem Wettkampf im Stadion von Malmö aufstellte, fand er seine wahre Disziplin. Dritter nach einem Nationalmannschaftsläufer und einem renommierten Polen mit der hervorragenden Zeit von 8.58.6.
Lena-Sofie wuchs heran und bekam einen Kindergartenplatz. Seikka besuchte neue Kurse. Er vernachlässigte sie, ging auf eine halbe Stelle, um ausreichend trainieren zu können. Einmal im Monat liebten sie sich. Über Weihnachten fuhren sie nach Lappenranta und besuchten die Schwiegereltern. Walter prügelte sich mit einem Schwager, woraus eine vier Zentimeter lange Narbe unterhalb des linken Ohrs resultierte. 1998 nahm er an seinem ersten schwedisch-finnischen Wettkampf teil. Vierter Platz und zweitbester Schwede mit 8.42.5. Er verbesserte seinen persönlichen Rekord bei der schwedischen Meisterschaft in Umeå auf 8.33.2 und erreichte eine Silbermedaille. Seikka und Walter liebten sich einmal im Vierteljahr. Die Schwiegereltern besuchten sie eine Woche während ihres Urlaubs in Jönköping. Es kamen keine Prügeleien oder andere Unregelmäßigkeiten vor. Während der Weihnachtsfeier bei Rosemarie und Karl-Erik in der Allvädersgatan in Kymlinge biss Lena-Sofie ihren Großvater in die Lippe, so dass eine kleinere blutende Wunde entstand. 1999 wurde Walters letztes Jahr als Leichtathlet. Es gelang ihm nicht, seinen persönlichen Rekord zu brechen, er wurde von einem labilen Gesundheitszustand geplagt, konnte aber dennoch einen vierten Platz in der finnischen Meisterschaft erringen, dieses Mal auswärts im Olympiastadion von Helsinki. Die Schwiegereltern waren gekommen, um zuzuschauen. Die ganze letzte Kurve und die Zielgerade lang kämpfte Walter Seite an Seite mit einem finnischen Läufer um den dritten Platz, musste sich aber auf den allerletzten Metern fügen. Die Finnen waren auf dem ersten, zweiten und dritten Platz. Der Wettkampf fand im August statt. Seikka und er hatten sich seit April nicht mehr geliebt, und als er in die Dreizimmerwohnung mit dem passablen Blick auf den Vättern zurückkam, hatte sie diese von sich, der Tochter und allen weiblichen Utensilien geleert. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem sie erklärte, dass sie ihn nicht mehr liebe, dass er sich weder um sie noch um Lena-Sofie kümmere und dass sie zurück nach Finnland gezogen sei und ihn nie wieder sehen wolle.
Walter musste zugestehen, dass jedes Wort auf Punkt und Komma stimmte, und beschloss, sich seinem Schicksal zu fügen. Trotzdem wählte er drei Mal die Telefonnummer der Schwiegereltern, aber alle drei Mal legte er den Hörer sofort wieder auf, als er das Freizeichen hörte.
Das geschah spätabends am Sonntag, dem 29. August 1999, und am Montag, dem 30. war es, dass der so entgegenkommende Verleger vom Albert Bonniers Verlag ihn anrief und ermahnte, sich doch ernsthaft mit Mensch ohne Hund zu befassen. Walter setzte sich tatsächlich am Montag- und Dienstagabend ernsthaft ein paar Stunden lang an das dicke Manuskript, doch dann spürte er, wie seine innere Leere alle Anstrengungen in künstlerischer Hinsicht lähmte. Er schob die 650 Seiten in den weinroten Büroschrank mit Metallbeschlag, in dem sie bis zum Dezember 2005 ruhen sollten.
Anschließend arbeitete er noch weitere zwei Wochen in der kooperativen Bezirkszentrale, und Ende September brachte er all sein Hab und Gut, das keinen Platz in einem Rucksack fand, zur Aufbewahrung und zog nach Australien.
Das Telefon klingelte und unterbrach Walters Lebensanalyse. Es war seine Mutter, die ihm berichtete, dass sein Vater wissen wollte, wann er denn zu kommen gedachte.
»Und du willst das nicht wissen?«, fragte er.
»Aber natürlich, Walter. Leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage«, antwortete Rosemarie Wunderlich Hermansson.
»Okay, Mama. Morgen Abend. Ich muss vorher noch einiges regeln, aber ich werde so gegen zwei, drei Uhr losfahren.«
»Walter?«
»Ja?«
»Wie geht es dir eigentlich?«
»Nun ja, es geht so.«
»Ich möchte wirklich nicht …«