Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Geschichte eines griechischen Vaters, rückwärts erzählt - vom Tod auf der Pflegestation bis zurück in die Zeit vor dem ersten Kind, als der Vater noch kein Vater war. Als Neunzehnjähriger verlässt dieser Anfang der fünfziger Jahre seine Heimat und kann wegen der Militärdiktatur lange nicht zurückkehren. In Wien studiert er Medizin, in Schweden heiratet er eine Kunststudentin aus Österreich. Schließlich geht er nach Griechenland zurück, um eine neue medizinische Fakultät und ein Zuhause für seine Familie aufzubauen. Mit Liebe und literarischem Witz beleuchtet Aris Fioretos die Beziehung zwischen einem Vater und einem Sohn. Eine Hommage an einen geliebten Menschen, dessen Leben von einem Geheimnis geprägt war.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 238
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Hanser E-Book
Aris Fioretos
Die halbe Sonne
Ein Buch über einen Vater
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Carl Hanser Verlag
Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Halva solen bei Norstedts in Stockholm.
ISBN 978-3-446-24264-7
© Aris Fioretos 2012
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2013
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für Xenia
Als das Handy klingelt, sitzt der Sohn in einem Parkcafé im Ausland. Sechs Uhr abends, der letzte Sonntag im Juni. Nach dem Gespräch steht er auf. Menschen liegen im Gras. Auf Kieswegen versuchen Jogger, sich an Hunden und Kinderwagen vorbeizuschieben, ohne Tempo einzubüßen. Enten gleiten aufmerksam im Teich umher, wassergekämmte Inspekteure, die Hände auf dem Rücken. Die Fontäne pumpt Kaskaden von Schaum in die Höhe. Für einen flüchtigen Moment bildet sich ein Flügel, dann zerstäubt das Wasser wie von Zauberhand. Das Kunststück wiederholt sich mit solch geduldiger Exaktheit, dass er sich fragt, ob der Augenblick als Endlosschleife läuft.
»Jetzt ...« Die Stimme der Mutter ist dünn wie Nähseide. »Jetzt ist es passiert.«
Wieder klingelt das Telefon. Die Sechsjährige erklärt ihrer fragenden Tante: »Opa ist gesterbt.«
Zwei Nächte und eine Flugreise später betritt der Sohn die Kapelle. Der Mann vom Bestattungsunternehmen schließt hinter ihm die Tür. Allein, denkt er – dann ändert er seine Meinung.
Die Bahre ist in die Mitte des Raumes gerollt worden. Entlang der Wände stehen Stühle. Am Kopfende flackern Kerzen. Es fällt ihm schwer hinzugehen, er tut, was er kann, um den Vater nicht anzusehen. Trotzdem wird die Aufmerksamkeit dorthin gezogen. Wer hat ihm die Haare gekämmt? Gibt es noch Weiches in den Gliedern? Den Pyjama hat der Vater weiterhin an. Heißt dies, das Abgehen von Flüssigkeiten beim Versagen der Muskeln ist niemals eingetreten? Und die Ellbogen – hochgeschoben seit dem Unfall vor einem Jahr. Wie passt er mit einer solchen Spannweite in das Kühlfach?
Während der Sohn versucht, sich an die Situation zu gewöhnen, verstreicht die Zeit. Er staunt über alles, was die Welt enthalten kann. Stille, Pulsschläge, Parkettboden. Belüftungsschacht, Metallbahre, Laken, Tod. Nach einer Weile setzt er sich und versucht, ruhig und regelmäßig zu atmen, obwohl sein Herz revoltiert. Denkt: Ist ein Vater nicht ein Schutzengel? Es ist nicht vorgesehen, dass er einem von der Seite weicht. Man nehme beispielsweise Michael. Der Name bedeutet »Wer ist (wie) Gott?« Als der Sohn jünger war, hörte er, dass der Erzengel an der Erschaffung der Welt mitgewirkt hatte. Das erschien ihm selbstverständlich, dies war es, was ein Vater tat. Er war dabei, als die Welt geboren wurde.
Und nun? Der Sohn beginnt, die Ziegelsteine zu zählen, gibt aber rasch auf. Stattdessen versucht er zu erkennen, wo die Farbe der Kerzenflammen in Rot übergeht, gibt jedoch auch das wieder auf. Am Ende bleiben nur die Fragen. Wie lautet die Definition für einen Vater? Vielleicht: Er-der-schützt? Vielleicht: der Sonne entgegen? Wenn er nicht mehr schützt, ist er dann noch Vater?
4 Wände, keine Fenster
2 Türen
Ziegelsteine, rot und unübersichtlich
10 Deckenlampen, angeordnet in 2 Reihen
3 Belüftungsventile
1 Luftschacht
Parkettboden, Steinplatten entlang einer Wand
12 Stühle mit Sitzflächen aus geflochtenem Bast
2 Kerzenständer, 6 Kerzen (alle angezündet)
1 Schachtel Solstickan-Streichhölzer
1 Reihe Gesangbücher + Neues Testament
1 Metallbahre
2? 3? Laken
Auf dem Laken über dem Brustkorb:
Eigentum des Beerdigungsinstituts Axelsson.
Diese Streichholzschachtel.
Als Einar Nerman 1936 den Auftrag erhielt, das Etikett für das neue Produkt der Stiftung Solstickan zu zeichnen, war die Zeit knapp. Er suchte zwischen alten Zeichnungen und fand eine, die Däumelinchen mit einer Fackel in der Hand zeigte. Sein eigener Sohn hatte Modell gestanden. Nerman verwandelte das Mädchen wieder in einen Jungen, entfernte die Fackel und zeichnete in die obere linke Ecke eine Apfelsine. Seither marschiert das Kind alleine der Sonne entgegen, deren Strahlkranz am ehesten einem Zahnrad ähnelt. Offenbar scheut es das Feuer nicht. Es ist ein Baby-Ikaros mit orangefarbenen Haarsträhnen und flatternden Kragenecken. Mit leeren Händen bewegt er sich vorwärts, indem er rückwärtsgeht.
Die Apfelsine: zugleich Ursprung und Ziel.
Der Sohn will nicht vergessen, was er sieht, als er den Vater zum letzten Mal sieht. Doch als er in seinen Taschen nach etwas sucht, worauf er schreiben könnte, findet er nichts. Schließlich reißt er das Nachsatzblatt aus einem Gesangbuch heraus. Die Dinge aufzulisten geht schneller, als er gedacht hätte. Während er das Papier zusammenfaltet, fragt er sich, wann der Bestatter zu seinem Büro zurückkehren muss. Momentan raucht er mit einem Kollegen auf dem Parkplatz. Aber schon bald findet er vielleicht, dass sie gehen sollten. Wird der Mann es wagen, ihn zu stören? Warten andere darauf, ihre Verstorbenen sehen zu dürfen? Übrigens ist schwedischer Hochsommer. Nimmt der Körper in dieser Hitze nicht Schaden?
Er lässt sich wieder auf den Stuhl sinken. Keine Dramatik. Dort liegt der Vater, hier sitzt er. Sie sind viele Male zuvor allein gewesen. Dies wird das letzte Mal sein. Er schaut auf die Uhr und beschließt, für jeden Tag, den man trauern soll, eine Minute zu bleiben. Weil er nicht weiß, wie er sonst Abschied nehmen soll? Weil das der Anzahl an Streichhölzern in einer Schachtel entspricht?
»Du liegst, wie du gelegen hast, seit du vor einem Jahr die Kellertreppe herunterfielst. Regungslos, mit hochgeschobenen Ellbogen, wie aus Zweigen gemacht.« »War ja klar, dass du aufstehen wolltest, als man dich kurz allein ließ. Aber du wusstest nicht, wohin du die Füße setzen solltest. Stürztest stattdessen.« »Siebzig Kilo Mensch, dreißig Zentimeter Fallhöhe, Querschnittslähmung.« »Niemehrniemehrniemehr.« »Imperfektpapa?« »Weißt du, mir will dieses Kind mit den leeren Händen nicht mehr aus dem Kopf.« »Wenn man das Wort ›Ikaros‹ auseinanderpflückt, lassen sich aus den Buchstaben neue Wörter zusammenfügen. Zum Beispiel mein Name + ›ko‹.« »Hier hast du deinen Sohn, ausgeknockt!« »Wie kann ich dich schützen?« »Du starrer Wirrwarr aus Gliedern.« »Du Labyrinth.« »Ich würde dich gerne auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Ein Paparat. Gemacht aus allem, was du bist, wenn du nicht bist wie hier.« »So viel von dir war Freude. Mit ihr erfandest du dich selbst. Träume und Übertreibungen gehörten dazu. Auch Einfälle. Was soll ich jetzt mit alledem anfangen?« »Es benutzen, um dich umzubauen?« »Dich zum Anfang zurückerzählen?« »Mikado mit vierzig Streichhölzern. Wenn alle Hölzer entfernt sind, bist du kein Papa mehr. Nur die Zukunft bleibt.« »Prachtvoller Mensch, deine Süße ...« »Wer ist (wie) du?«
Für einen Paparat benötigt man Ellbogen. Sie brauchen nicht abzustehen wie Flügel oder Winkelhaken. Sie brauchen nicht starr zu sein. Sie brauchen nicht so eckig zu sein, dass man sie für Hölzer halten könnte. Sie brauchen nicht so mager zu sein, dass es schwerfällt, sich die vielen Gelegenheiten vorzustellen, bei denen ein Kind seinen Kopf in der Armbeuge ruhen ließ oder sein Ohr in der Hoffnung gegen den oberen Muskel presste, den Geheimnissen der Kraft auf die Spur zu kommen. Aber wenn die Ellbogen nach außen abstehen, starr und hart, mager und eckig sind, sollen sie zumindest zu einem Vater gehören.
Bevor der Sohn das rote Zimmer verlässt, denkt er, dass der Vater auch aus Mythen bestand. Da ist die Geschichte von einer wild gewordenen jiajiá, die ihn wie eine Trophäe hochhält, als er erst ein paar Tage alt ist, um ihn vom Balkon des Elternhauses im südlichen Griechenland zu werfen, weil er als siebtes Kind das eine zu viel ist und das Leben seiner Mutter aufs Spiel gesetzt hat. Da ist der Dorfarzt, dem es gelingt, die alte Frau zu besänftigen, und der viel später zur Berufswahl des Vaters beitragen wird. Da ist die Frau selbst, die das Kind mit der Zeit lieben wird, als wäre es der wichtigste Teil ihrer selbst, und da ist der Schullehrer, der einen klugen Kopf erkennt, wenn er ihn vor sich hat. Da ist der Apfelsinenhain, durch den der jugendliche Vater mit einem Cousin spaziert, und da ist eine Freundschaft, so stark wie Holz und Eisen. Aber da sind auch der überstürzte Aufbruch aus dem Heimatdorf und eine so verschworene Gemeinschaft, dass sie die Familie durch die langen, harten Jahre trägt.
Der Vater enthält vieles, was den Sohn beschäftigt. Wenn er ihn in die Zeit vor dem Anbeginn der Welt zurückerzählen will, kann dies keinesfalls ohne die Mythen geschehen. Auch nicht ohne die Dinge, über die sich der Vater lieber in Schweigen hüllte, wodurch immer wieder eine Leere entstand, die durch Vermutungen gefüllt werden musste. Als der Sohn nach der Klinke greift, denkt er, dass auch so etwas dazugehört. Und dass deshalb sowohl Fakten als auch Phantasie erforderlich sein werden, um den Vater noch einmal zu machen. Dann drückt er die Tür auf.
Der Vater sitzt auf einem Hocker in der Badewanne. Sein Rücken ist gekrümmt, die Hände bedecken das Geschlecht. Der Sohn gleitet mit dem Badeschwamm über die Schultern, das Rückgrat hinab – sieht Narben und Leberflecken im Seifenschaum verschwinden. Die Schulterblätter wirken so schutzlos. Aus den Achselhöhlen lugen abstehende Haare. Sie glänzen grau, hier und da weiß. Als er den Rücken abspült, fühlt sich die Haut glatt an. Denkt: Zerbrechlicher Papa. Dann: Jetzt bist du ganz neu.
Es ist halb fünf am Nachmittag. Aus dem Arbeitszimmer in der ersten Etage dringt nur das Geräusch des knarrenden Ventilators. Draußen Sonne, drinnen Stille. Der Sohn öffnet die Tür einen Spaltbreit, zieht den Vorhang auf. Die Jalousien sind heruntergelassen, die Fenster stehen offen. »Schläfst du?«
Der Vater liegt halb aufgerichtet auf dem Diwan, ein Laken auf den Beinen und sieben Kissen im Rücken. Die Lesebrille ist heruntergerutscht, die Augen sind geschlossen. In der einen Hand hält er noch einen Kugelschreiber, in der anderen zwei, drei Din A-4-Blätter. Einige weitere liegen auf seinen Beinen. Ein paar hat er zerknüllt und auf den Fußboden geworfen – eckige Wolken, verworfenes Gewitter enthaltend. Auf dem Beistelltisch steht das obligatorische Glas Wasser, daneben liegen die Medikamente. Madopark, Stalevo, Furosemid, Digoxin, Exelon ... Kleine Pulvergötter ohne Gesichter, fast ohne Geschichte. Einige Tabletten sind rund, andere länglich und zweifarbig. Ihre Formen lassen einen an Weltraumreisen und Pop-Art denken, an eine Epoche, in der es für alles noch eine Lösung gab.
Der Sohn setzt sich ans Fußende, legt die Hand auf das Laken. »Schläfst du, Papa?« Die Schnarcher sind ruhig, fast zufrieden, aber die langgezogenen Seufzer haben etwas Klagendes. Die Lider flattern. Der Sohn greift nach den Papieren im Schoß. Auf einem Blatt mit der Überschrift Spuren steht: Vater / du lehrtest mich. Die letzten beiden Wörter sind durchgestrichen und geändert worden in: sagtest, ich solle lernen. Auf einer anderen Seite wird dreimal mit immer kleineren Buchstaben und in immer größeren Abständen derselbe Satz wiederholt: Und ich lernte / Und ich lernte / Und ich lernte. Die Hand ist immer noch fest, die Schrift trotz der Krankheit sorgfältig. Kaum zittrige Stellen, fast keine Unsicherheit. Auch die Akzente über den griechischen Buchstaben sind präzise – weniger Abdrücke einer Vogelklaue als Schläge des Taktstocks während einer Sonate.
Die Entdeckung macht den Sohn verlegen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit der Lebensmittelhändler des Dorfs, mit zweiundsiebzig Jahren, starb. Als es passierte, studierte sein jüngstes Kind, ein zukünftiger Vater, in Wien Medizin. Wäre er zur Beerdigung zurückgekehrt, hätte ihn die Sicherheitspolizei verhaftet. Stattdessen fuhr er nach Schweden, um in den Sommermonaten Geld zu verdienen. Er durfte beim Witwer einer bekannten Schriftstellerin ein Zimmer mieten. Nach acht Tagen als Spüler in einem Restaurant hustete er jedoch Blut, wurde in ein Sanatorium eingewiesen und blieb, als er wieder entlassen war, im Land.
Erst dreißig Jahre später zog er in die Heimat zurück. Die Jahre in Schweden fielen in die Blütezeit des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Als er ankam, verputzte man gerade die Wände, als er das Land wieder verließ, waren die Tapeten ausgefranst, war das Parkett rissig.
Einige Jahre nach Beginn des neuen Jahrtausends schläft der Vater in dem Sommerhaus, das er wenige Kilometer außerhalb seines Geburtsdorfs erbauen ließ. Das nachmittägliche Nickerchen hat ihn bei der Arbeit am Porträt eines Menschen unterbrochen, den der Sohn nur aus Familienlegenden kennt. Und von dem Foto unten in der Küche. Dort sitzt der Patriarch auf einem Holzstuhl, bekleidet mit einem hellen Mantel, das linke Bein über das rechte Knie geschwungen. Der Schnurrbart ist grau meliert, aber getrimmt, in seiner Weste tickt eine Taschenuhr. Man schreibt die fünfziger Jahre, und es ist noch lange hin, bis sein siebtes Kind aus Schweden zurückkehren wird. In den schwarzen Augen funkelt es friedfertig, aber auch neckisch, als amüsiere er sich über etwas, was er weiß, anderen aber lieber nicht kundtun möchte. Der Großvater: eine männliche Sphinx in Halbschuhen.
Widerwillig liest der Sohn weiter. Vater / du sagtest, ich solle deine Sprache lernen ... Er wundert sich über die Aufforderung. Spricht der Ältere ein anderes Idiom als das angesprochene? Wie soll der Jüngere ihn dann verstehen? Und wenn nicht, warum muss der Jüngere es erst lernen? Spricht er es denn nicht schon, zumindest so gut, dass er die flehende Bitte verstehen kann?
Vater / du sagtest, ich solle deine Sprache lernen ... Der Vater, der sich von seinem Vater nicht verabschieden konnte, greift auf alle nur erdenklichen Arten zurück, seinen Kindern seine Sprache beizubringen. Die Rückreise ins Heimatland führt über Vokabeln, die so alt sind wie Götter oder zumindest Amphoren. Andere Möglichkeiten werden nicht genannt. Der Zoll, der am Grenzübergang entrichtet werden muss, besteht aus einer Erklärung im Präsens Indikativ, erste Person Singular: »Ich spreche Griechisch.«
Anfangs müssen die ältesten Söhne ihre Wochenendvormittage über den eigenhändig komponierten Vokabellisten des Vaters verbringen. Später bestellt er Bücher bei einer Firma in Athen. Aber diese Drucksachen enthalten zu viel Schriftsprache, weshalb sie rasch aussortiert werden. So reden nur Pfarrer und Obristen. Das ist der Ton der Kirche und des Kasernenhofs. Da die Jungen die Gefahr einer ihm drohenden Gefängnisstrafe bereits als eine heimliche Auszeichnung betrachten, gelangen sie zu dem Schluss, dass es ein gutes und ein böses Griechisch gibt. Das gute wird von Auslandsgriechen gesprochen, ist modern und setzt nur über betonten Silben Akzente. Dass es dem Vater nicht gelingt, den Unterschied zwischen Akkusativ und Dativ zu erklären, sehen sie als Beleg dafür, dass die Sprache von Menschen in der Diaspora laufend modernisiert wird. Das böse Griechisch besteht aus einem Wirrwarr diakritischer Zeichen, verkompliziert das Kasussystem und erinnert einen am ehesten an eine Gefängniszelle. An Regeln gekettet kann sich keiner so bewegen, wie er will. Außerdem riecht das Idiom nach Weihrauch und Waffenfett.
Als schwedische Universitäten in den siebziger Jahren ihr Betätigungsfeld erweitern und für Frauen und Freundinnen von Gastarbeitern Abendkurse anbieten, hocken die Kinder über Arbeitsblättern, auf denen sie den Unterschied zwischen dem Akkusativ der Anklage und dem Dativ der Gabe ausloten können. Und ein paar Jahre später wird der staatlich verordnete Unterricht in der Muttersprache eingeführt – drei zusätzliche Schulstunden in der Woche, in denen sie sonst Fußball spielen könnten. Unterrichtet werden sie von einem Bekannten der Familie, einem Philologen, der ein properes Schwedisch spricht, auf seinem Schnäuzer kaut und verlegen erklärt, dass er sie nur mit befriedigend benoten könne. Sonst werde ihn die Schulleitung der Bestechlichkeit aus Freundschaft bezichtigen.
Die meisten Bemühungen des Sohnes erweisen sich als vergeblich. Als Sechsjähriger ist er viel zu bockig, um sämtliche Vokabeln zu lernen, als Zwölfjähriger antwortet er »Ja, ja«, ohne den Erklärungen zu lauschen, als Sechzehnjähriger lässt er sich immer neue Entschuldigungen einfallen (»Ich habe Training«, »Wir schreiben morgen eine Arbeit«, »Ich lese lieber Nerval« ...). Sein Repertoire an Ausreden wächst Jahr für Jahr. Genau wie sein schlechtes Gewissen. Wie bei einem bösen Erbe ahnt er, dass das Griechische nicht nur zu einer Bürde, sondern auch zu einer Niederlage werden wird – der endgültige Beweis für seine Unfähigkeit, den Erwartungen zu entsprechen. Außerdem fragt er sich, wie er jemals seine Pflicht erfüllen können soll, wenn er doch nie mehr als ein Befriedigend erreichen wird. Gleicht der Weg zur Muttersprache nicht einem Bußgang?
Vater / du sagtest, ich solle deine Sprache lernen ... Am Fußende sitzend überlegt der Sohn, was dieser Satz bedeutet, während sich der Vater fortträumt – an einen Ort ohne Zölle und Drill, an dem die roten Häkchen nie in Habtachtstellung stehen werden.
Graues Licht, Wind, einzelne Schauer. Es ist ein Januartag zu Anfang des neuen Jahrtausends. Der Vater erkundigt sich, ob der Sohn Lust habe, ihn hinauszubegleiten. Er steht in Strümpfen, hat die russische Mütze jedoch schon aufgesetzt. Seine Augen leuchten lausbübisch. Der Sohn schnürt ihm die Stiefel zu, zieht den Reißverschluss der Jacke hoch. Dann nimmt der Vater den Stock, der an das Sommerhaus gelehnt steht, und geht zu den Hunden, die vor Freude wild bellen. Wegen seiner Krankheit fällt es ihm schwer, differenziertere Bewegungen auszuführen oder sich schnell zu bewegen. Als er die Tiere angeleint hat, ziehen sie sofort, ungestüm und selig. Der Vater stolpert hinterher – stolz darauf mitzuhalten, heiter erschrocken über ihre Zugkraft. Der Sohn sieht sie durchs Gartentor verschwinden, zum Meer hinunter. Er kann beim besten Willen nicht entscheiden, wer hier wen führt. Daredevils, denkt er und sucht nach dem schwedischen Wort.
Als er die Felder erreicht, auf denen die Bauern der Umgebung im Sommer Melonen anbauen, sieht er die Hunde das wellige Terrain überqueren. Die Tiere streben in verschiedene Richtungen, ihr Herrchen folgt ihnen mit ausgestrecktem Arm. Manchmal bleiben die Hunde stehen und streiten sich um den limettengrünen Tennisball. Dann holt der Vater sie ein und kann das Leinenknäuel entwirren. Noch aus der Ferne sieht man ihm den Spaß an dem Tumult an. Der Sohn schert sich nicht um den kalten Schweiß, der wohl auf seiner Stirn glänzen wird, oder darum, dass das Herz des Vaters unter dem Hemd sicher wie verrückt pocht. Aus den Olivenhainen hört man einzelne Schüsse; jemand jagt Singvögel. Hundert Meter entfernt tost das Meer.
Am Strand werden die Hunde von der Leine gelassen. Sie sausen wie Geschosse davon. Regelmäßig spritzt feuchter Sand in die Luft. Im nächsten Moment laufen sie mit triefenden Schnauzen durchs seichte Wasser. Sie balgen sich und schnappen, wagen sich einen Meter hinaus, machen aber blitzschnell kehrt, wenn eine neue Welle heranrollt. Ab und zu schütteln sie in einer Wolke aus Sand und Meerschaum ihr Fell. Der Vater geht mit Stock und Hundeleinen in den Händen, spricht über nichts Besonderes. Gelegentlich pfeift er gellend oder ruft Kommandos. Der Sohn denkt, dass die Hunde seine neuen Kinder geworden sind. Neben ihnen zischen unablässig die grauen Wellen.
Nach einer Weile muss sich der Vater ausruhen. Sie gehen zum schütteren Strandgras hinauf, suchen Schutz zwischen den Dünen. Der Wind hat aufgefrischt. Der Sohn nimmt die Hände des Vaters, hilft ihm beim Hinsetzen und setzt sich anschließend so, dass ihm der Sand nicht ins Gesicht weht. Als aus den Olivenhainen weitere Schüsse herüberschallen, zuckt der Vater zusammen. Sagt, dass seine Kinder niemals eine Waffe tragen dürfen. Er schaut sich um, vergräbt die Fäuste in den Taschen und beginnt, über den Bürgerkrieg zu sprechen, der ausbrach, als er sechzehn war. Er erzählt von einem Land in Not und unschuldigen Familien, die hart getroffen wurden, er versucht, unberührt zu erscheinen. Kurz darauf entdecken die Hunde, dass ihnen keiner mehr folgt. Sie schnüffeln aneinander, winseln und wirken unsicher, dann rennen sie pfeilschnell los. Als sie die Füße des Vaters erreichen, suchen sie seine Aufmerksamkeit. Er versucht, sie zu streicheln, kommt aber nicht an ihre Schnauzen heran. Dann greift er sich ans Herz, grimassiert.
Draufgänger.
Die Generalprobe findet zwei Jahre vor dem Unfall in einem schwedischen Keller statt. Die Zeit: ein Tag Ende August. Der Ort: die Treppe, die zum Sommerhaus hinaufführt. In den Rollen: DER MANN (der Vater), DIE FRAU (die Mutter), zwei SCHÄFERHUNDE (der eine vom früheren Besitzer nach Jack Ruby benannt, der andere mit dem türkischen Wort für »Wächter«, veli, getauft), eine TELEFONSTIMME,RETTUNGSSANITÄTER.
DER MANN (ein Grieche) tritt aus der Tür. Er setzt sich gerade einen Khaki-Hut auf. Die Füße stecken in Newport-Sandalen, die Klettverschlussbänder hängen lose.
DER MANN (ruft): Bin in einer Stunde zurück!
Er schließt die Tür. Als er den Riegel des Verandators aushakt, winseln und bellen am Fuß der Treppe die SCHÄFERHUNDE. Ihre Freude verleitet ihn dazu, seinen Sandalen keine Beachtung zu schenken.
DER MANN (lacht): Wartet, ihr Kläffer, wartet ...
Er versucht, sich zu beeilen, tritt jedoch auf einen der Klettverschlüsse, stolpert und fällt kopfüber. Irgendwie reißt er dabei die eine Torhälfte mit. Später wird es heißen, das Poltern habe geklungen wie brechendes Eis. DIE FRAU (eine Österreicherin) rennt hinaus, in der Hand ein Küchenhandtuch.
DIE FRAU (leise): Du lieber Gott ...
Sie eilt die Treppenstufen hinunter, dreht ihren Mann um, untersucht Kopf, Arme, Beine. Das Gesicht ist blutüberströmt. Den schwachen Reaktionen nach zu urteilen, steht er unter Schock und ist möglicherweise kurz davor, ohnmächtig zu werden. Sie wischt ihn mit dem Handtuch ab, muss aber auch das Kleid benutzen, um das Blut zu entfernen, das weiterhin von Nase und Kinn rinnt. Die Augen ihres Mannes schwellen zu. Auch an den Händen und Knien blutet er stark. Als DIE FRAU sich vergewissert hat, dass er atmet, lässt sie ihn mit dem Handtuch unter dem Kopf liegen. Sie eilt die Treppe hinauf, dreht sich auf der obersten Stufe um, zögert kurz, die Faust auf den Mund gepresst. Dann geht sie zum Telefon im Haus und wählt die Nummer des nächstgelegenen Krankenhauses.
TELEFONSTIMME: Ja?
Der Hörer wird klebrig, während DIE FRAU erläutert, was passiert ist. Immer wieder stellt sie sich in die Tür und ruft DEM MANN zu, er solle wach bleiben.
TELEFONSTIMME: Wir schicken einen Krankenwagen. Sorgen Sie dafür, dass er bei Bewusstsein bleibt. Aber versuchen Sie bitte nicht, ihn zu bewegen.
Als die Frau zurückkehrt, hört es sich an, als wollte ihr DER MANN etwas sagen. Sie legt seinen Kopf in ihren Schoß, bleibt sitzen. Aus Angst, den Kontakt zu ihm zu verlieren, spricht sie die ganze Zeit mit ihm. Eine Stunde später trifft der Krankenwagen ein. Der Mann, der nicht am Steuer sitzt, steigt aus, wirft seine Zigarette fort, formt die Hände zu einem Trichter.
RETTUNGSSANITÄTER (ruft): Die beißen doch nicht, oder?
Er nickt zu den Hunden hin, die auf der Innenseite des Tors hochspringen.
DIE FRAU (streng): Rubis! Velis!
Die Hunde trotten zu ihrer Hütte. Ihre Schnauzen sind rot.
Als sich der Vater erholt hat, wird er fotografiert. Auf dem Bild sitzt er aufrecht im Bett, mit einem Verband um den Kopf. Seine Augenhöhlen sind lila und blau, die Wangen von Schürfwunden vernarbt. Im offenen Pyjamakragen sieht man Blutergüsse von der Größe verfärbter Sonnenrosen. Am ehesten ähnelt er Hemingways griechischem kleinen Bruder. Er strahlt, so gut es geht, flucht erleichtert auf Deutsch. Glaubt, das Schlimmste überstanden zu haben.
Brenzlige Situationen gibt es vor dem Unfall bei einem Besuch in Schweden eine Reihe. Wenn keine Sandalen Mätzchen machen oder Marmorböden spiegelglatt werden, fällt der Vater stattdessen, wenn er zu nächtlicher Stunde aus dem Bett aufstehen möchte, oder der Duschvorhang gibt nach, als er so lange die Balance zu halten versucht, dass er aus der Badewanne steigen kann. Am schlimmsten sind jedoch die Medikamente. Die Pillen aufeinander abzustimmen ist ähnlich kompliziert wie die Wartung eines Formel-1-Boliden. Es ist eine Sache, die Vorschriften einzuhalten – das kann jeder mit ein wenig Sinn für Ordnung. Eine andere ist es jedoch, die wechselseitige Beeinflussung der Medikamente zu berechnen. Eine Woche funktioniert eine bestimmte Kombination. Die Mutter nimmt die Feinjustierung der Dosierungen vor, sorgt dafür, dass die Pulver zu festen Uhrzeiten eingenommen werden, und betrachtet zufrieden ihr Werk. Plötzlich hat ihr Mann etwas von seiner alten Rüstigkeit zurückbekommen. Mit gespielter Sorge erklärt sie: »Demnächst fängt er noch an zu joggen.« Sie empfindet den gleichen Stolz, den ein Mechaniker verspüren muss, wenn er die letzten Dichtungen angezogen hat und den Wagen aus dem Depot rollen sieht – sanft schnurrend, eine Katze mit V8-Zylindern.
Doch diese Phasen pharmazeutischen Glücks währen selten lange. Bald stottert die Maschinerie von neuem. Der Vater wird träge oder zittrig, der Blutdruck sinkt auf ein alarmierendes Niveau, sein Puls schlägt mal so, mal so. Wieder muss die Ehefrau seine Motorhaube anheben. Mit der Zeit entwickelt sie sich zu einer solchen Expertin, dass sie den Neurologen Ratschläge erteilen kann. Sie mögen zwar mehr über chemische Prozesse und Nomenklatur wissen, aber sie hat die praktische Erfahrung. Da steht sie, die Schirmmütze in den Nacken geschoben und Putzwolle in den Händen, nur auf eines bedacht: bestmögliche Fahreigenschaften.
Nach seinem täglichen Spaziergang durch den Garten streckt der Vater ihm eine halbierte Apfelsine entgegen. Der Handteller glänzt von Saft, in der anderen Hand funkelt das Küchenmesser. Seine Freude ist unverfälscht. Hier, nimm!, drängt die Hand. Die Aufforderung enthält ebenso viel Überraschung wie Stolz. Der Sohn denkt, sie soll bedeuten: Sieh, welche Schätze uns die Natur schenkt. Was will man mehr? Fruchtfleisch und Saft! Aber auch: Aus unserem Garten, fast ohne unser Zutun. Du bekommst sie von mir – eine halbe Sonne!
Den Vater zieht es zum einfachen Leben. Papier, Stift und Stille. Brot mit Öl und Tomaten. Tisch und Stuhl in einem Zimmer. Aussicht auf Berge. Aussicht auf das Meer. Oder wie hier: ein halbierter Planet. Das Ideal: frei unter dem Himmel. Das Credo: Ich singe meine Freude.
Im Gegensatz dazu stehen die schlingernden Jahre vom Gymnasiasten mit Tuberkulose während des Bürgerkriegs bis zum Vierkinderpatriarchen in einem Bungalow mit zwölf Haustelefonen und insgesamt neunzig Meter langen Fluren. Er bleibt selten mehr als ein paar Jahre an einem Wohnsitz. Neue Anstellungen, neue Abenteuer. Und lebt konsequent über seine Verhältnisse – nicht aus Leichtsinn oder Dummdreistigkeit, sondern weil er keinen Grund sieht, sich von Hindernissen hemmen zu lassen, die er als läppisch oder beleidigend empfindet. Das letzte Mal schuldenfrei ist er Mitte der sechziger Jahre, zwischen dem zweiten und dritten Kind, und er verschont seine Frau nicht einmal dann mit Gastspielen als Aushilfspersonal in einer nordschwedischen Poliklinik, als er schon die medizinische Fakultät einer neugegründeten Universität in seinem Heimatland aufbaut.
Als der Sohn an diesem Frühlingstag die Apfelsinensafttropfen auf der Veranda sieht, denkt er, dass sie die Spuren im Leben des Vaters nachbilden könnten. Ständige Sprünge von einer Stelle zur nächsten, immer in dem Glauben, dass die Glückseligkeit einen Schritt vorausliegt. Könnte ein Biograph die einzelnen Tropfen verbinden und zeigen, dass er recht behielt? Immerhin erbaut der Vater eine Welt mit wenig mehr als Lust, Fleiß und Ehefrau. Er kehrt ja zu seinen Wurzeln zurück. Und wird eine Erinnerung hinterlassen so stark wie Holz, Schwerkraft, Nachmittagslicht. Doch jede Station auf dieser Reise lässt ihn auch zur Ader. Als er sich schließlich in der Nähe seines Geburtsdorfs niederlässt, bleibt ihm nicht mehr viel Kraft. Oder Zeit.
Dennoch wird er ständig von Plänen angetrieben – eigenen und denen anderer. Wenn es nicht um die Grundstücke geht, die für die Kinder gesichert werden sollen, müssen Pflanzungen angelegt oder Bücher geschrieben werden. Dennoch bleibt das liebste Gesprächsthema für ihn die Frage, wie man die Voraussetzungen für das begehrteste Gut von allen begehrten Gütern schafft: Ruhe und Frieden. Mit einer solchen Aufgabe konfrontiert, kann der Vater sich niemals genug anstrengen. Seine Freude kennt keine Grenzen – und wird geteilt. Buchstäblich. Halbiert, aber gemeinsam bedeutet sie, dass keiner vor seinem Enthusiasmus sicher ist.
»Schau!«
Der Vater ist kein verschwiegener Mensch. Er vertraut sich gerne an und verfügt außerdem über eine gut ausgeprägte Fähigkeit, Menschen für seine Pläne und Interessen zu begeistern. Mal schürt er Erwartungen, mal verlässt er sich auf Mitgefühl. Aber im Grunde geht es um Begeisterung. Er handelt immer in der Überzeugung, dass man seine Kräfte einem gemeinsamen Projekt widmet. Keiner ist glücklicher über die Freude anderer als er. Und keiner mehr überrascht, wenn sich am Ende trotz allem herausstellt, dass der Aussichtsturm, der gebaut wurde, oder der schwedische Pass, der in der Schreibtischschublade liegt, tatsächlich ihm gehört.