Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieses Buch entstand aus der gemeinsamen Auseinandersetzung des Autors und Bert Hellingers über die Beziehung zwischen Schamanismus und Familien-Stellen. Es beschreibt die Dynamik und Wirkungsweise der Aufstellungsarbeit aus dem Blickwinkel des traditionellen Schamanismus. Der Autor arbeitet die spirituellen Prinzipien heraus, die sowohl dem Schamanismus als auch dem Familien-Stellen zugrunde liegen. Seine theoretischen Untersuchungen macht er an Beispielen aus Aufstellungen, an persönlichen Erfahrungen mit traditionellen Ritualen und Berichten von Medizinern und Schamanen konkret. Die Natur der Seele und ihr Zusammenspiel mit Persönlichkeit und Körper spielen dabei eine zentrale Rolle. Rituale und Übungen, die die heilende Wirkung der Aufstellungsarbeit verstärken können, runden das Buch ab.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 305
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Daan van Kampenhout
Schamanismus und Familien-Stellen
Aus dem Englischen übersetzt von Volker Moritz
Fünfte Auflage, 2022
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel
Umschlagfoto: © Charlotte Erpenbeck
Satz: Paul Richardson
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Fünfte Auflage, 2022
ISBN 978-3-89670-661-4 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8411-9 (ePUB)
© 2001, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag und
Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/
Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.
Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Vorwort von Bert Hellinger
Vorwort des Autors
1. Beschreibung der schamanischen und der systemischen Arbeit
2. Grundlegende Prinzipien bei Heilungen
3. Familien-Stellen und schamanische Rituale
4. Das Leiden anderer auf sich nehmen
5. Die Kraft der Vorfahren
6. Die Erfahrung der Zeitlosigkeit
7. Manifestationen der Seele und des Geistes
8. Die vielfache Seele
9. Die Seele, die vier Körper und die Persönlichkeit
10. Die Gegenwart der Toten
11. Die Seele im Aufstellungsprozess
12. Die Wirkung der Aufstellung
13. Entwicklungen der Seele
14. Gefahrenzonen
15. Rituale
Über den Autor
Als Daan begann, mir Briefe zu schreiben über seine Beobachtungen, wie das Familien-Stellen viele Elemente schamanischer Erfahrungen widerspiegelt, war ich auf der einen Seite überrascht und auf der anderen Seite fasziniert. Die Grundhaltung der Ehrfurcht vor Kräften, die wir nicht durchschauen, die Unterscheidung von Kraft und Schwäche auf der energetischen Ebene, die es ermöglicht wahrzunehmen, was hilft oder schadet, ferner die Bedeutung des Raumes gegenüber der Zeit in dem Sinne, dass im Raum das Wesentliche sichtbar wird, in ihm zeitlos bleibt und nur dann seine heilende Wirkung entfaltet, wenn es nicht getrübt wird durch Fragen nach dem Vorher oder Nachher: das sind einige Beispiele, wie sich die Erfahrungen aus dem Schamanismus mit denen aus dem Familien-Stellen treffen. Nur war es hier so, dass ich erst durch Daans Hinweise einige der grundlegenden Erfahrungen aus dem Familien-Stellen besser begreifen konnte. Dadurch wurde das Familien-Stellen für mich in vielen Bereichen durchsichtiger und ich konnte noch konsequenter als vorher störende Einflüsse erkennen und ausschalten, zum Beispiel Fragen, welche die Energie vom Geschehen und vom Klienten abziehen und eher der theoretischen Neugier als der Lösung für die Betroffenen dienen.
Daans Briefe an mich, aus denen dieses Buch entstand, brachten mich in Berührung mit einer Weltsicht, die in vieler Hinsicht unserer gewohnten zu widersprechen scheint. Doch nur auf den ersten Blick. Denn sie zwingt uns, Beobachtungen genauer anzuschauen, die meist nur von Mund zu Mund weitergegeben werden, die wir aber dann, weil sie den gängigen Denkmustern widersprechen, bald wieder verdrängen. Dazu gehören Berichte, wie das Hereinwirken der Toten unmittelbar erfahren wurde, zum Beispiel dass sie sich zum Zeitpunkt ihres Todes bei Lebenden, mit denen sie besonders verbunden waren, melden. Oft haben die Lebenden dann den Eindruck, dass sie für die Toten noch etwas tun müssten, damit diese ihren Frieden finden. Das Gleiche gilt von vielen Berichten über Geistererscheinungen, bei denen es sich oft um Tote handelt, die entweder Verbrechen begangen haben oder die Opfer eines Verbrechens wurden. Also, die Vorstellung, dass ein jenseitiges Reich existiert, das ins Reich der Lebenden hereinwirkt, und dass umgekehrt auch die Lebenden auf die Toten Einfluss nehmen können und vielleicht sogar müssen, ist uns durchaus vertraut.
Dennoch können wir die Vorstellungen der Schamanen über die guten Geister, die den Lebenden Hinweise geben, was hilft oder schadet, und über böse Geister, die es zu besänftigen oder abzuwehren gilt, nicht ohne weiteres übernehmen. Denn es scheint – und hier wage ich mich ziemlich weit vor –, dass viele Möglichkeiten, mit besonderen Kräften in Verbindung zu treten, gebunden sind an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Landschaft, eine bestimmte Tradition. Das heißt, dass sie nicht allen Menschen gleichermaßen zugänglich sind und dass jemand vor allem mit den Kräften Verbindung aufnehmen kann und darf, die sich in seinem Bereich, innerhalb der ihm gesetzten Grenzen, zeigen und öffnen. Das heißt nicht, dass es zwischen den verschiedenen Zugangsweisen keine Verbindungen gibt oder dass eine gegenseitige Bereicherung ausgeschlossen wäre. Im Gegenteil, erst wenn das Besondere, das jeder Tradition und jeder Gruppe eigen ist, anerkannt wird, können die verschiedenen Gruppen von ihrem Ort aus aufeinander zugehen, sich austauschen und dann bereichert an ihren Ort zurückkehren.
Noch etwas ist hier, so meine ich, zu beachten. Die verschiedenen Traditionen und die Erfahrungen, die ihnen zugrunde liegen, gehören einer gemeinsamen großen Seele an, die sie hervorbringt und die sie steuert. Die Anpassung eines Lebewesens an seine Umgebung setzt voraus, dass ihm von ihr aus etwas entgegenkommt, das ihm die Anpassung ermöglicht. Das, was ihm entgegenkommt, fordert zwar manchmal das Äußerste, ermöglicht aber erst dadurch die besondere Entwicklung. Beide, das Lebewesen und seine Umgebung, sind also aufeinander bezogen. Eine ihnen beiden überlegene Kraft führt sie zusammen und ermöglicht ihnen eine ihnen eigene Form des Beisammenseins und des Austauschs. Diese sie gemeinsam steuernde Kraft nenne ich große Seele. Nicht dass ich sie begreife, aber die wissende, auf ein besonderes Ziel hin ausgerichtete gemeinsame Bewegung wird für mich am ehesten mit diesem Bild beschrieben. Entwicklungen werden möglich, wo sie von der Bewegung einer überlegenen Kraft her gewollt und daher notwendig werden. Daher wird das, was zu einer anderen Zeit richtig und notwendig war, später durch andere Umstände und Einsichten verändert. Das sagt nicht, dass die neuen Einsichten gültiger wären als die früheren, aber sie machen Entwicklungen möglich, die vorher undenkbar waren. Ich denke hier an Descartes, der in einer Vision die Welt als eine große Maschine sah. Er war von dieser Einsicht so ergriffen, dass er sie als eine göttliche Offenbarung empfand. Heute wissen wir, dass diese Vision nicht mehr ausreicht, um die Welt zu verstehen. Aber was hat sie in der Folge nicht alles bewirkt, Großartiges und Zerstörerisches, sowohl als auch. Obwohl diese Einsicht unzureichend war, hat sie die Entwicklung der Welt vorangetrieben. Es steht uns nicht zu – so meine ich – zu beurteilen, was besser oder schlechter an einer Entwicklung ist, denn auf der einen Seite ist sie unausweichlich und auf der anderen Seite wird sie durch Leid und neue Einsicht in Grenzen gehalten. Das Familien-Stellen hat durch die überraschende Erfahrung, dass die Stellvertreter für die einzelnen Familienmitglieder so fühlen wie die Personen, die sie vertreten, ohne dass sie etwas von ihnen wissen, einen Zugang zu Schichten der Seele eröffnet, die in unserer Kultur vielen bisher verborgen waren. Darüber hinaus treibt die Stellvertreter, wenn sie wirklich gesammelt bleiben, unwiderstehlich eine Kraft, die sie in eine Bewegung zwingt, durch die bisher Verheimlichtes oder Vergessenes ans Licht kommt. Durch diese Bewegung, wenn sich die Stellvertreter ihr ganz überlassen, werden für den Einzelnen und für seine Familie und Sippe Lösungen gefunden, durch die das Getrennte sich wieder verbindet, das Sich-Entgegenstehende sich versöhnt und altes Unrecht ausgeglichen wird. Was also im Schamanismus guten helfenden Geistern zugeschrieben wird, kann hier als von einer allen gemeinsamen großen Seele bewirkt erfahren werden.
Überraschend dabei ist, dass diese Wirkungen nicht nur von den Lebenden ausgehen, sondern vor allem von Toten, die vielleicht schon lange vergessen waren. Sie melden sich während einer Familienaufstellung eindrucksvoll zurück, sowohl in dem Sinne, dass sie zeigen, was noch in Ordnung gebracht werden muss, damit die Lebenden von den Folgen vergangenen Unrechts und den Nachwirkungen vergangener fremder Schicksale erlöst werden können, als auch in dem Sinne, dass die Lebenden, indem sie der Toten ehrend gedenken, ihnen ermöglichen, sich zurückzuziehen und endlich Frieden zu finden.
Es lässt sich also beim Familien-Stellen auf eine anschauliche und für jeden erfahrbare Weise nacherleben, was im Schamanismus über andere Bilder und Rituale in ähnlicher Weise erfahren und vermittelt wurde. Allerdings gilt auch für das Familien-Stellen, dass es Erfahrung und Wissen braucht, um es hilfreich anzuwenden.
Das Familien-Stellen und die schamanischen Rituale begegnen sich also an entscheidenden Punkten. Beide können sich gegenseitig mit ihren Einsichten und Erfahrungen ergänzen und bereichern, und dennoch ihre besondere Eigenart bewahren.
Bert Hellinger
Ich lernte das Familien-Stellen 1998 als Teilnehmer eines Seminars unter Leitung von Gabrielle Borkan kennen und war zutiefst von dessen Heilkraft beeindruckt. Fasziniert und berührt durch die systemische Arbeit nahm ich danach regelmäßig an Seminaren von ihr und anderen Trainern teil. Es dauerte jedoch nicht lange, bis mir auffiel, dass die meisten Begleiter einen bestimmten kleinen Satz bei ihrer Einführung über diese Arbeit verwendeten. Im Laufe ihrer Erklärungen über das System hörte ich an irgendeinem Punkt immer etwas im Sinne von: „Durch einen Prozess, den wir nicht verstehen, erfahren die Stellvertreter, die die Familienmitglieder des Klienten repräsentieren, die Gefühle der wirklichen Person, die sie vertreten.“ Ich fand es merkwürdig, dass alle Begleiter ungefähr das Gleiche sagten. Warum waren die Begleiter kollektiv nicht in der Lage, diesen essenziellen Aspekt im Prozess der Aufstellung zu erklären?
Da ich selbst seit vielen Jahren schamanische Arbeit praktizierte, erschienen mir die Familienaufstellungen gar nicht so mysteriös. Darum begann ich als Experiment für mich selbst, die Dynamiken der Prozesse bei den Aufstellungen so genau wie möglich zu beobachten, und ich versuchte, sie als schamanische Phänomene zu beschreiben. Ich dachte, dass ich auf diese Weise möglicherweise ab einem gewissen Punkt hilfreiche Erklärungen finden und Antworten auf die noch offenen Fragen geben könnte, sodass die Prozesse dieser Form der systemischen Arbeit besser zu verstehen sind.
Einige Zeit später hatte ich folgenden Traum: Ich befand mich alleine in einer natürlichen Landschaft mit Bergen, Felsen und Bäumen. Ich lief durch diese Landschaft, die nicht aus wirklicher physischer Materie bestand. Ich begriff, dass es eher ein spezielles Gebiet in der Welt der Energie war, dessen Form sich aus den theoretischen Strukturen menschlichen Denkens entwickelt hat. Ich war auf der Suche nach der theoretischen Grundlage der energetischen und spirituellen Aspekte der systemischen Arbeit von Bert Hellinger. Ich wusste, dass diese Theorie hier irgendwo in dieser Landschaft eingraviert war, oder besser gesagt, dass die Theorie in der Form einer natürlichen Struktur Teil der Landschaft sein würde.
Nach einer Weile kam ich zu einer schönen und geräumigen Höhle. Das Sonnenlicht schien durch Risse und Löcher in der Decke, und auf dem großen, ebenen Boden sah ich viele flache Felsbrocken liegen. Die meisten waren zwischen fünfzehn und dreißig Zentimeter breit und lang, und alle waren unregelmäßig geformt. Ich erkannte verschiedene Größen, unterschiedliche Farben und diverse Arten Steine. Ich wusste, dass diese Ansammlung an Material die Theorie der systemisch-phänomenologischen Arbeit zu diesem bestimmten Zeitpunkt, als ich den Traum hatte, repräsentierte. Ich sah, dass die Steine auf dem Boden Bruchstücke anderer, noch größerer Steine waren. Als ich versuchte, über sie hinwegzulaufen, war ich mir meiner Schritte nicht sehr sicher, da die Steine nicht sorgfältig nebeneinander lagen. Sie fügten sich nicht gut zusammen, und als ich sie betreten wollte, rutschten einige zur Seite, andere wackelten oder schlugen aneinander.
In dem Traum begriff ich, dass dieser Platz, den ich entdeckt hatte, einige Verbesserungen vertragen könnte. Wenn Menschen in ihren Träumen oder in ihren Gedanken an diesen Platz kämen, um ihn zu ergründen, würden sie keine einheitliche Struktur finden. Es war deutlich, dass die Theorie der systemisch-phänomenologischen Arbeit einige Verbesserungen benötigte. Eine Verbesserung der Theorie hätte direkt zur Folge, dass sich auch die Steinstruktur auf dem Boden der Höhle in dieser anderen Welt verbessern würde. Meines Erachtens war der wichtigste Punkt der neuen Struktur, dass sie aus einem einzelnen spezifischen Material bestehen sollte und nicht aus verschiedenen Fragmenten. Ich sah vor meinem geistigen Auge eine große, glatte und ebene Felsplatte, zwar mit verschiedenen Farbkombinationen und Strukturen, aber dennoch ganz.
Dann wachte ich auf.
Zum Zeitpunkt dieses Traumes hatte ich schon einen regen Briefwechsel mit Bert Hellinger, dem Begründer des Familien-Stellens. Nachdem ich an mehreren Seminaren unter seiner Leitung teilgenommen hatte, empfahl er mir in einem Seminar bestimmte Übungen. Einige Monate später hatte ich eine transformierende, spirituelle Erfahrung, die in direktem Zusammenhang mit den Anweisungen von Bert Hellinger stand, und mein Gefühl sagte mir, dass ich ihm darüber schreiben sollte. Ich habe diese Erfahrung in Kapitel 6 „Die Erfahrung der Zeitlosigkeit“ beschrieben.
Nach dem ersten Brief folgten mehrere andere. Ich begann, einige meiner Gedanken über die Prozesse der Aufstellungen aufzuschreiben, die auf bestimmten spirituellen Prinzipien basieren und auch die Grundlagen der schamanischen Arbeit formen. Im Rückblick kann ich jetzt erkennen, dass der Traum der Moment war, in dem mir deutlich wurde, dass unsere Korrespondenz dazu führen würde, dass ich das vorliegende Buch über dieses Thema schreiben sollte.
Viele Aspekte des Familien-Stellens wurden schon ausgiebig von verschiedenen Autoren in der „Sprache“ der Psychotherapie, der Psychologie oder der Genealogie beschrieben. Jede dieser wissenschaftlichen Sprachen hat dabei bestimmte Ausgangspunkte und Annahmen über die Wirklichkeit und richtet ihren Schwerpunkt und die Aufmerksamkeit dann auch auf bestimmte Aspekte, während andere Aspekte nicht genannt werden. Jede Sprache hat ihre blinden Flecke. Die Tatsache, dass bisher wichtige Teile der Aufstellungsarbeit für viele Menschen ein Mysterium geblieben ist, bedeutet noch nicht, dass es sich hier wirklich um unbeschreibbare Phänomene handelt. Es kann viel eher daran liegen, dass die Sprachen, die auf der einen Seite gut geeignet sind, die versteckten Dynamiken in Familien akkurat zu beschreiben, die durch die Aufstellungen an die Oberfläche kommen, jedoch auf der anderen Seite einfach nicht dafür geeignet sind, die energetischen Prinzipien zu erklären, die es ermöglichen, dass eine Person eine andere repräsentieren kann.
Mein Traum inspirierte mich dazu, eine zusammenhängende Theorie der energetischen Dynamiken einer Aufstellung in der Sprache des Schamanismus zu präsentieren, ein Ausgangspunkt, der bisher noch nicht verwendet wurde, um die systemisch-phänomenologische Arbeit zu erklären. Natürlich hat auch diese Sprache, wie jede andere auch, ihre blinden Flecke. Doch kann sie trotzdem sehr hilfreich sein, bestimmte Erklärungen zu geben, besonders in Bezug auf die Natur der Seele und ihre Bewegungen, ein Bereich, der von anderen Sprachen bisher nur unzureichend oder gar nicht erklärt werden konnte.
Westliche wissenschaftliche Sprachen geben analytische Erklärungen. Die schamanische Sprache dagegen erklärt normalerweise nicht, sondern sie beschreibt einfach nur, was etwas grundlegend anderes ist. Mit der schamanischen Sprache können nicht nur die Erfahrungen der Sinnesorgane des physischen Körpers beschrieben werden, sondern auch die der Seele.
Im traditionellen Schamanismus wird eine genaue Beschreibung einer spirituellen Erfahrung als gültige Erklärung in sich selbst gesehen. Ein Schamane oder Medizinmann wird verschiedenste Arten spiritueller und praktischer Erfahrungen beschreiben und es dann dem Zuhörer überlassen, die Verbindungen und Strukturen zwischen diesen zu sehen. Wer dem traditionellen Schamanen zuhört, ohne zu diskutieren, Fragen zu stellen oder zu analysieren, der wird mit der Zeit bestimmte Muster erkennen. Tiefere Strukturen der Wirklichkeit können gefühlt werden. Das Lernen bei Schamanen oder Medizinmännern unterscheidet sich sehr vom Lernen neuer Formeln oder gewisser Techniken in der Schule. Der Lehrling eines Schamanen erhält die Gelegenheit, detaillierte Beschreibungen über die Wirklichkeit zu hören, und muss danach seine eigenen Schlüsse ziehen.
Meinen ersten Kontakt mit dem Schamanismus hatte ich 1979, als ich einem indianischen Heiler in einem Traum begegnete. Er entsprach nicht im geringsten der allgemein bekannten, romantischen Vorstellung eines Indianers. Er hatte nämlich kurze graue Haare und trug Jeans und eine Regenjacke. Er benutzte keine Trommel, schmückte sich nicht mit Federn oder anderen Attributen. Ich begegnete ihm an einem dunklen Platz mit spärlichem Licht. Er setzte sich einfach neben mich auf den Boden und begann, einige Heilungslieder zu singen. Nach einiger Zeit lud er mich ein, mit ihm zusammen zu singen. Ich war aber zu schüchtern und zu berührt durch seine Lieder, um in seinen Gesang einzustimmen. Als er das bemerkte, legte er einfach seine Hände für eine Weile auf meinen Rücken. Einige Momente später teilte er mir mit, dass es Zeit für ihn wäre zu gehen. Wir verabschiedeten uns voneinander, und ich wachte auf.
Ich hatte diesen Traum, als ich sechzehn Jahre alt war, in einer intensiven Periode in meinem Leben mit ernsthaften Schwierigkeiten und vielen Unklarheiten. Ich wusste, dass dieser Traum ein Geschenk einer unbekannten Realität war, und sprach mit niemandem über diese Erfahrung. Die Begegnung gab mir das Vertrauen und die Kraft, die ich in dieser Zeit brauchte, den Herausforderungen gewachsen zu sein. Auch heute noch kann ich die Wärme der Berührung dieses Medizinmannes auf meinem Rücken spüren, und noch immer schöpfe ich Kraft aus diesem Bild.
Zwei Jahre nach dem Traum erkrankte ich an akuter Malaria, was ich nur um Haaresbreite überlebte. Kurz nach meiner Genesung hatte ich wieder eine Begegnung mit einem Schamanen. Während ich schlief, erwachte ich in meinem Traum. Neben meinem Bett stand ein Schamane der Arktis, der in einen braunen Lederparka gekleidet war. Er stellte sich mir, ganz zu meiner Überraschung, als mein Lehrer vor. Er forderte mich auf, aus meinem Körper und meinem Bett zu steigen, was mir sogar irgendwie gelang. Dann wurde ich einigen Prüfungen ausgesetzt, da dieser Lehrer herausfinden wollte, wie stark ich war. Ich denke nicht, dass ich ihn sehr beeindrucken konnte. Aber immerhin, nach diesem Traum hatte ich stets neue Träume, in denen Lehrer und Hilfsgeister erschienen, um mich etwas zu lehren. Auf diese Weise fand Schamanismus auf ganz natürliche Art und Schritt für Schritt Eingang in mein Leben.
Nachdem ich einige Jahre lang in meinen Träumen durch die Hilfsgeister unterrichtet worden war, traf ich rein zufällig einen traditionellen Indianer, der einen reichen Wissensschatz über die Natur der menschlichen Seele besaß und über die Art, wie die Seele geheilt werden kann, wenn sie krank ist. Ich wurde von ihm eingeladen, mit ihm zu reisen. Wieder einige Jahre später hatte ich die Ehre, in die Häuser traditioneller Schamanen eingeladen zu werden. So konnte ich dabei sein, wenn sie Zeremonien leiteten und Heilungen vornahmen. Einige der Schamanen ermutigten mich, ebenfalls diese Art der Arbeit auszuführen, mit den Hilfsgeistern zu sprechen und ihre Nachrichten für Menschen in Not zu interpretieren, was ich denn auch seit 1992 hauptberuflich tue.
Ich sehe mich jedoch nicht als Schamane oder Medizinmann. Ich würde mich eher als jemanden beschreiben, der sich innerlich dem Studium des Schamanismus verpflichtet hat. Obwohl ich mich seit zwanzig Jahren damit verbunden fühle, weiß ich, dass mein Verständnis schamanischer Praktiken nie vollkommen sein wird. Es gibt immer wieder viele Dinge im Schamanismus, die ich noch zu lernen und neu zu begreifen habe.
In diesem Buch möchte ich auf einige der Fragen eingehen, die sich im Laufe der Zeit in der Entwicklung der systemischen Arbeit von Bert Hellinger herauskristallisiert haben und die noch nicht hinreichend beantwortet wurden: Wie ist es möglich, dass ein Stellvertreter, der so gut wie gar nichts über eine bestimmte Familie weiß, in einer Aufstellung in der Lage ist, die Essenz der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern zu fühlen und auszudrücken? Was genau passiert in so einem Moment?
Diese Fragen beziehen sich alle auf den „Prozess, den wir nicht verstehen“, wie es von den meisten Begleitern, die eine Aufstellung leiten, angeführt wird. Aber daneben gibt es auch andere Fragen, die einer Klärung bedürfen. Beim Familien-Stellen werden nicht nur lebende Familienmitglieder aufgestellt, sondern auch die verstorbenen. Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass eine Aufstellung eine heilende Wirkung hat, sowohl für den Klienten als auch für seine lebenden Familienmitglieder, die aufgestellt wurden. Aber können Aufstellungen auch die Toten heilen? Solche und andere Fragen verdienen sorgfältig formulierte Antworten.
Als Leser sollte man wissen, dass mein Gebrauch der schamanischen Sprache immer etwas sehr Persönliches ist. Sie hat sich aus meinen eigenen, persönlichen Erfahrungen und meinem Verständnis entwickelt. Ich repräsentiere damit auch keinen speziellen schamanischen Lehrer, keine Tradition oder Kultur. Außerdem wird es wahrscheinlich auch einige Leser erstaunen, die mit dem heutigen modernen westlichen Schamanismus vertraut sind, dass viele meiner Beschreibungen der schamanischen Praktiken und des Aufstellungsprozesses im Wesentlichen sehr technisch sind. Das liegt daran, dass ich von traditionellen schamanischen Lehrern beeinflusst wurde, und alle Schamanen, die ich getroffen habe, erwiesen sich als reinste Techniker. Vom traditionellen Standpunkt aus gesehen ist Schamanismus eine Wissenschaft. Allerdings ist es eine Wissenschaft, die die Gesetze der Natur untersucht, die in den Augen der westlichen Wissenschaft als nicht messbar gelten, da sie die physische Materie übersteigen.
Bert Hellingers beständige Suche nach Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Aufstellungsverfahrens hat Anfang des Jahres 2000 zu einigen Veränderungen bezüglich der Rolle sowohl des Aufstellers als auch der Stellvertreter geführt. Die so genannten Bewegungen der Seele entwickeln sich inzwischen neben dem Familien-Stellen zu einer eigenständigen Richtung der systemisch-phänomenologischen Arbeit. Aus der schamanistischen Perspektive bestehen einige grundlegende Unterschiede zwischen diesen beiden Verfahren. Das vorliegende Buch wurde ausschließlich im Hinblick auf das Familien-Stellen geschrieben, denn zur Zeit ist die Erforschung der Bewegungen der Seele so stark im Fluss, dass es nach meiner Auffassung zu früh wäre, schlüssige Beobachtungen dazu in dieses Buch aufzunehmen.
In diesem Buch richte ich mich vor allem auf das Verstehen der Aktivität der Seele in dem Prozess einer Aufstellung. Die Beschreibung der Dynamiken und Verstrickungen in Familien selbst überlasse ich lieber Bert Hellinger und anderen Autoren, wie Gunthard Weber oder Hunter Beaumont. Diejenigen Leser, die mehr über die Verstrickungen von Familienmitgliedern lernen möchten, sollten besser ihre Bücher lesen. Ich beschreibe den Bereich der Verstrickungen nur hin und wieder, wenn meine eigene Erfahrung und die schamanische Sprache es zulassen.
Ich habe dieses Buch nicht in der Absicht geschrieben, dem Leser eine vollständige Beschreibung des Aufstellungsprozesses oder der schamanischen Praxis zu liefern. Mein Ziel ist es vielmehr, mein Verständnis vom Schamanismus einzusetzen, um einige der energetischen und spirituellen Aspekte des Familien-Stellens zu ergründen und zu verdeutlichen, die bisher noch nicht hinreichend erklärt wurden.
Ich wünsche mir, dass meine Arbeit Menschen hilft, die Dynamiken, die durch eine Aufstellung ermöglicht werden, besser zu verstehen, und dass die Bilder, die ich verwende, um die Seele zu beschreiben, den Leser auf solche Weise berühren, dass seine eigene Seele den Wert davon für sich selbst erkennt.
Schließlich möchte ich den Menschen danken, die einen direkten Einfluss auf dieses Buch hatten. Zuallererst möchte ich mich bei Bert Hellinger bedanken, dessen Antworten auf meine Briefe mich angespornt haben, noch tiefer die Verbindung zwischen schamanischer Arbeit und Familien-Stellen zu ergründen, bis ich schließlich dieses Buch geschrieben habe.
An zweiter Stelle bedanke ich mich bei meinen Lehrern des Schamanismus, sowohl in der physischen als auch in der nichtphysischen Welt, die es mir ermöglichten zu lernen und meinem Geist und meiner Seele sich auszubreiten.
Weiter danke ich allen Begleitern der Seminare über Familien-Stellen, an denen ich teilgenommen habe. Vor allem danke ich Gabrielle Borkan. Außerdem möchte ich Jan Jacob Stamm, Peter van Zuilekom und Otteline Lamet danken, an deren Seminaren ich in den verschiedenen Phasen meiner Forschungsarbeit teilnehmen konnte.
Zu guter Letzt einen ganz besonderen Dank an Oscar David, der mich nicht nur ständig ermutigt hat weiterzuschreiben, sondern mich tatsächlich an die Arbeit gesetzt hat. Aus vielen Gründen hätte ich dieses Buch ohne ihn nicht geschrieben.
Daan van Kampenhout
Juli 2001
Schamanische Praktiken und systemische Arbeit sind zwei komplexe Phänomene, über die viele Bücher geschrieben werden könnten und auch geschrieben wurden. In diesem Buch wird die Beziehung der verschiedenen Aspekte sowohl schamanischer Rituale als auch des Familien-Stellens beschrieben. Dadurch wird für den Leser das Verständnis dieser beiden Disziplinen zunehmend anschaulich und klar. Bevor ich allerdings zu dem Vergleich der beiden Richtungen komme, möchte ich als Erstes mit zwei kurzen Beschreibungen des Schamanismus bzw. des Familien-Stellens beginnen. Hierdurch möchte ich dem Leser, der nicht mit beiden Richtungen bekannt ist, einen Ausgangspunkt vermitteln.
„Schamanismus“ ist ein Begriff, der in der Anthropologie verwendet wird. Ursprünglich beschrieb man damit die spirituellen Traditionen und Praktiken der verschiedenen ethnischen Gruppen aus Sibirien, der Mongolei, Lappland, Teilen Alaskas und Kanadas. Da sich die traditionellen spirituellen Praktiken der nomadischen Gruppen in der arktischen bzw. subarktischen Zone der nördlichen Hemisphäre von Stamm zu Stamm sehr stark unterscheiden, kann ich hier nur eine vereinfachte und zusammengefasste Übersicht geben.
Ein wesentliches Konzept im Schamanismus ist es, dass die Welt, in der wir leben, nur eine von mehreren Welten ist. Die verschiedenen Welten werden als Teile eines vertikal geschichteten Universums gesehen. Sie sind über eine Achse miteinander verbunden, die durch sie hindurchläuft. Diese Achse wird oft der „Weltenbaum“ genannt. Über uns sind die oberen Welten, wir befinden uns in der mittleren Welt, und unter uns sind die unteren Welten. Diese anderen Welten werden von verschiedenen Arten von Geistern bewohnt. Sie sind die großen Kräfte der Natur, wie die vier Geister der vier Himmelsrichtungen oder auch die Berge, die Meere, der Donner. Es gibt Tiergeister, Pflanzengeister und die Seelen oder Geister der Menschen, die gestorben sind. Auch gibt es kleinere Naturgeister, zu denen auch Wesenheiten gehören, die in Westeuropa unter anderem Elfen oder Gnome genannt werden. Nach der schamanischen Tradition handeln einige der Geister als Lehrer und Helfer, während andere nicht an Menschen interessiert sind. Einige sind uns gegenüber sogar gewalttätig oder bösartig gesinnt.
Die schamanischen Unter- und Oberwelten sind nicht zu vergleichen mit dem Konzept des christlichen Himmels und der Hölle. In den oberen Welten kann man sowohl Orte der Weisheit finden als auch Orte, an denen Geister versuchen, Menschen zu verführen. In den unteren Welten gibt es viele Plätze der Lebenskraft und Stärke, aber auch Regionen, in denen man krank wird, sich verirrt oder stecken bleiben kann. Die verschiedenen Welten befinden sich in ständiger Interaktion miteinander. Sie überlappen sich und verschmelzen in verschiedener Hinsicht, symbolisch vereint durch den Weltenbaum. Man kann sich die drei Welten vorstellen wie eine Vielzahl von Dias, die gleichzeitig übereinander auf eine Leinwand projiziert werden.
Da die Unter-, Mittel- und Oberwelten miteinander verwoben sind, ist es möglich, sich von der einen in die andere Welt zu bewegen. Der Schamane macht davon Gebrauch, um so Menschen zu helfen, die in Problemen stecken oder an Krankheiten leiden. Er versucht, in den anderen Welten Informationen oder Heilkräfte zu finden. Wenn Hilfe nötig ist, können die Hilfsgeister häufig für wertvolle Unterstützung sorgen. Viele Hilfsgeister sehen, was sich in unserer Welt abspielt, und können darum aus ihrer Perspektive Ratschläge geben. Traditionell ist es die Rolle des Schamanen, Kontakt mit den Geistern aufzunehmen und mit ihnen zu sprechen. Er ist dazu in der Lage, nachdem er sich in einen Trancezustand versetzt hat. Dann kann er entweder eine Reise in die anderen Welten unternehmen, um mit den Geistern zu sprechen, oder die Geister zu sich rufen und auf diese Art mit ihnen kommunizieren.
Der ursprüngliche Schamanismus unterscheidet sich durch mehrere Merkmale von anderen Traditionen, die ebenfalls mit Geistern Kontakt aufnehmen, um Informationen oder Hilfe zu bekommen. Wenn ein Schamane zu den Hilfsgeistern spricht, weil ihn eine leidende Person um Hilfe gebeten hat, kleidet er sich ursprünglicherweise in ein Schamanenkostüm. Die traditionellen sibirischen Schamanenkostüme sehen sehr beeindruckend aus: Sie sind aus Leder, Stoff und Eisen gefertigt und mit Abbildungen von Hilfsgeistern und Tieren übersät. Mit seinen schweren Fransen aus Lederriemen und Stricken aus Stoff („Schlangen“ genannt) kann ein Schamanenkleid bis zu zwanzig oder dreißig Kilogramm wiegen. In seinem Kostüm tanzend ist der Schamane schnell erschöpft und fällt in Trance. Während sich der Trancezustand vertieft, singt der Schamane improvisierte Lieder, die aus Worten und aus Klängen der Tierwelt bestehen. Dabei spielt er monotone Rhythmen auf einer großen, flachen Trommel. Wenn der Trancezustand tief genug ist, kann der Schamane mit den Hilfsgeistern kommunizieren.
In Sibirien hat der Schamanismus nur mit Mühe das sowjetische Zeitalter überlebt. Die kommunistische Partei organisierte in den 30er Jahren Kampagnen gegen Schamanen, die man als Staatsfeinde bezeichnete. Die Jahre unter Stalin waren fatal: Die meisten Schamanen wurden ermordet, viele davon in Gefangenenlagern. Nur in sehr abgelegenen Gebieten überlebten Menschen, die die schamanischen Praktiken fortführten. Heutzutage, nach dem Fall der Sowjetunion, kann man in vielen Gebieten Sibiriens eine Wiedergeburt des Schamanismus beobachten, vor allem in der südlichen sibirischen Region. Doch die direkte Verbindung mit der alten Tradition ist gebrochen, und was heute als Schamanismus bezeichnet wird, ist nur eine Rekonstruktion aus Bruchstücken dessen, was es einmal war.
Die Spiritualität der ursprünglichen Stämme in Nordamerika ist ebenfalls eng mit dem traditionellen Schamanismus verwandt. Aber es gibt einige gravierende Unterschiede zwischen ihnen und den Praktiken der Völker aus nördlicheren Gebieten. Die Trancezustände der sibirischen Schamanen sind spektakulärer und dynamischer im Vergleich zu denen der indianischen Medizinmänner. Ihre Lieder sind improvisiert, anders als die Heilgesänge der indianischen Traditionen, die festgelegte Wörter und Melodien verwenden. Außerdem tragen die nordamerikanischen Medizinmänner nur selten oder gar keine Schamanenkostüme. Trotzdem wird auch die spirituelle Tradition der Indianer als Schamanismus bezeichnet. Ihre Sicht der Geister und deren Welten wie auch die Art, mit den Geistern zu kommunizieren, ist im Wesentlichen die gleiche wie die der Völker Sibiriens.
Heutzutage verwenden die meisten westlichen Menschen das Wort Schamanismus nicht, um eine Form zu beschreiben, sondern einen Inhalt. Man verwendet es, um anzugeben, dass man eine bewusste Beziehung zu Hilfsgeistern hat. Durch diese neue Definition werden auch die australischen Ureinwohner, die afrikanischen Wahrsager, balinesische Trancemedien und viele andere Menschen zu einer Art Schamanen. Heute wird beinahe jegliche fremdländische Heilmethode, die in engem Kontakt mit der Erde steht (oder stand), von vielen Westlern als Schamanismus bezeichnet. Ursprünglich bezeichnet der Ausdruck Schamanismus eine bestimmte Form der Kommunikation mit den Geistern. Diese beinhaltet – wie geschildert – das Schamanenkostüm, improvisierte Lieder und der Gebrauch der großen flachen Trommeln. Wenn ich also über „traditionelle Schamanen“ spreche, meine ich sibirische und mongolische Schamanen und zusätzlich nordamerikanische Medizinmänner. Somit halte ich mich eher an die ältere anthropologische Definition, die sich nur auf die spirituellen Praktiken der Völker des nördlichen Polarkreises und der Subarktik bezieht.
Wie in jeder spirituellen Tradition hängt die Qualität der Arbeit von demjenigen ab, der sie praktiziert. Ebenso wie es bei christlichen Priestern, jüdischen Rabbis oder islamischen Imams hohe Seelen gibt, sind andere dagegen in ihrem Verständnis der spirituellen Prinzipien ihrer Religion eher beschränkt. Genauso praktizieren wahrhaft große Schamanen neben anderen Schamanen, die eher inkompetent und nicht wirklich weise zu nennen sind. Das Bild des Schamanismus hat sich im Westen inzwischen allerdings eher zu einem mystischen Ideal entwickelt.
Meiner Meinung nach sieht die Wirklichkeit aber anders aus als dieses optimistische Wunschbild. Schamanismus wird häufig als Synonym für Begriffe wie Weisheit, Wahrheit, Reinheit, Gewaltlosigkeit, Ökologie und spirituelle Harmonie gebraucht. Ich wünschte mir, dass es das wäre, aber meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass es nicht so einfach ist. Es gibt sicherlich einzelne Schamanen, die einige dieser Qualitäten verkörpern. Doch das heißt noch lange nicht, dass die schamanische Kultur als Ganzes so gesehen werden kann. Für mich ist Schamanismus nicht ein Traum aus der guten alten Zeit, sondern eine spirituelle Sprache. Menschen mit Veranlagung können diese Sprache schneller als andere lernen und besser beherrschen. Aber sich in einem bestimmten Maß damit auszudrücken, kann jedermann lernen.
Kommen wir zum Familien-Stellen. Das Familien-Stellen wurde von Bert Hellinger als Teil seiner Arbeit mit systemischen Lösungen entwickelt. Eine Aufstellung ist eine Methode, mit hindernden Ereignissen in der Familiengeschichte umzugehen. Es ist keine direkte Form der Psychotherapie. In der Psychotherapie wird nach den Wurzeln von Problemen, wie zum Beispiel ein negatives Selbstbild, gesucht. Schwierige Erfahrungen in der Kindheit oder andere traumatische Erlebnisse werden in einem anderen Licht gesehen. Dies wird möglich, da die Psychotherapie mit bewussten oder unbewussten Botschaften arbeitet, die man beim Aufwachsen erhalten hat. Wer zum Beispiel von seiner Mutter immer zu hören bekam, dass er dumm sei, ist mit der Botschaft aufgewachsen, keinen oder nur wenig Wert zu haben. Wenn dieses Gefühl noch durch weitere negative Erlebnisse verstärkt wird, resultiert es in einem negativen Selbstbild. In solch einem Fall kann die Psychotherapie helfen.
Das Familien-Stellen beschäftigt sich dagegen nicht mit solchen Prozessen. Diese Form der systemischen Arbeit bezieht sich auf Familiengeschichten und Ereignisse, die oft nicht durch die Persönlichkeit wahrgenommen werden. Ereignisse und verschwiegene Geheimnisse, die weitreichend unsere Lebensqualität und die Entscheidungen der Seele beeinflussen. Man stelle sich eine Frau vor, die nach der Geburt des ersten Kindes zwei oder drei Kinder verloren hat. Jahre später kann ihre Enkeltochter keine Kinder bekommen. Ein Psychotherapeut würde zwischen beiden Faktoren keinen Zusammenhang sehen. Aber in einem Seminar zum Familien-Stellen würde der Begleiter seine Aufmerksamkeit unmittelbar auf eine mögliche Verstrickung zwischen der Großmutter und ihrer Enkelin richten.
Das Wissen, das einem durch das Studieren von Tausenden Aufstellungen zuwächst, sagt, dass Ereignisse, wie der frühe Tod der Kinder der Großmutter, als Ursache der Unfruchtbarkeit der Enkelin eine wichtige Rolle spielen könnten. Unbewusst, auf dem Niveau der Seele, hat die Enkeltochter das Los der Großmutter auf sich genommen.
Eine solche Annahme wird nicht nur von Bert Hellinger oder anderen Menschen, die mit dem Familien-Stellen arbeiten, vertreten. Auch verschiedene andere therapeutische und psychoanalytische Schulen kamen durch ihre Forschung zu ähnlichen Resultaten. Man hat viel darüber gelernt, wie wichtige Ereignisse negative Effekte bei Familienmitgliedern verursachen können, die zwei, drei oder noch mehr Generationen nach dem Ereignis geboren wurden. Das Besondere bei der Arbeit von Bert Hellinger sind seine Methode, die Familien aufzustellen, und die Schlüsse, die er daraus zieht.
Das Familien-Stellen wird unter der Anleitung eines Begleiters in Gruppen durchgeführt. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Klienten entscheidet der Begleiter, welche Familienmitglieder für die Aufstellung wichtig sind. Der Klient wählt anschließend die Stellvertreter der Familienmitglieder aus den anderen Teilnehmern des Seminars aus. Er bittet die Teilnehmer, zum Beispiel seinen Vater, seine Mutter, die Schwester oder seine beiden Brüder zu repräsentieren. Außerdem wählt er auch einen Stellvertreter für sich selbst aus. Die Personen, die als Stellvertreter ausgewählt wurden, können diese Aufgabe ablehnen, doch in den meisten Fällen sind sie bereit zu helfen.
Der Klient beginnt dann mit der Aufstellung. Ohne zu sprechen, stellt er die verschiedenen Stellvertreter, einen nach dem anderen, im Gruppenraum auf. Sobald die Repräsentanten auf ihrem Platz stehen, spüren sie spezielle und deutliche Wahrnehmungen. Der jüngere Bruder fühlt sich beispielsweise dem Vater nahe, aber empfindet Hass dem älteren Bruder gegenüber. Die Schwester fühlt sich abseits, als sei sie kein Teil der Familie. Die Mutter fühlt sich möglicherweise so müde, dass sie tatsächlich nicht mehr stehen kann und nach zwei Minuten auf den Boden sinkt. Der Klient, dessen Familie hier aufgestellt wurde, ist erstaunt über die Reaktionen der Stellvertreter. Seine Schwester war in Wirklichkeit nämlich auch auf sich selbst gestellt und nicht an der Familie interessiert. Die Mutter klagte ständig und war übermüdet. Die Brüder hassten einander, der jüngere mochte jedoch seinen Vater sehr.
Das Erstaunliche ist, dass diese Gefühle der verschiedenen Familienmitglieder im Erstgespräch mit dem Klienten nicht angesprochen werden. Im Gegenteil, der Begleiter unterbricht jegliche Geschichte, wer was über wen denkt, fühlt oder urteilt. Als wichtig werden nur die tatsächlichen Ereignisse betrachtet, nicht die Geschichten oder Familienmythen drum herum. Wer starb? Und wie? Wer hatte eine entscheidende Beziehung oder war verheiratet mit wem? Wer hatte einen Unfall, wurde von der Familie ausgeschlossen oder hatte ein anderes schwerwiegendes Schicksal? Während der Aufstellung beobachtet der Begleiter die Körpersprache und Reaktionen der Stellvertreter, um so die bestehenden Dynamiken der Familie zu verstehen.
Wenn die Struktur deutlich geworden ist, sucht der Begleiter nach ausgleichenden oder heilenden Bewegungen, um so eine Alternative zu den sichtbar gewordenen Verstrickungen zu bieten. Er wird möglicherweise einige der Stellvertreter auf einen anderen Platz stellen und dann die verschiedenen Reaktionen, die eine solche Intervention mit sich bringt, beobachten. Vielleicht wird er auch einen Repräsentanten bitten, bestimmte Schlüsselsätze auszusprechen, die ausdrücken, was sich abspielt oder was gesagt werden muss. Solche Sätze sind kurz und besitzen oft eine archaische Qualität: „Jetzt sehe ich dich als meinen Vater“, „Ich nehme dich als meine Frau“, „Ich lasse die Schuld bei dir“, „Ich stimme zu“.
Manchmal werden im Laufe des Prozesses weitere Stellvertreter der Familienmitglieder aufgestellt, um eine Lösung zu finden, manchmal aber auch nicht. Der gesamte Prozess, eine Lösung zu finden, dauert manchmal nur zehn Minuten, andere Male länger als eine Stunde. Meistens wird eine Lösung gefunden, aber nicht in allen Fällen. Kommt es zu keiner Lösung, fehlen oft entscheidende Informationen über ein Schlüsselfigur der Familie. Manchmal fühlt der Begleiter, dass keine Erlaubnis für ein Eingreifen vorliegt. In solchen Fällen scheint es, als ob ein bestimmtes Bewusstsein die Familie begleitet und verhindert, dass die Aufstellung sich weiter entwickelt.
Am Ende einer Aufstellung wird der Klient gebeten, sich auf seinen Platz zu stellen, und wechselt somit seinen Stellvertreter ab. Dieser Schritt ist aber nicht immer notwendig. Oft reicht es für den Klienten schon aus, Zeuge der Aufstellung zu sein und zu sehen, wie aus alten Verstrickungen und Verwirrungen eine neue Ordnung und Harmonie entsteht. Eine Familienaufstellung ist ein einmaliges Ereignis. Man stellt nicht über eine bestimmte Zeitperiode jede Woche seine Familie auf, als ob es eine Art Therapiesitzung wäre.
Es kann ein Jahr oder länger dauern, bis man die Folgen der Aufstellung wahrnehmen kann. Viele Menschen berichten von entscheidenden Heilungsschüben, nachdem sie ihre Familie gestellt haben, die sie in direktem Zusammenhang mit den Aufstellungen sehen, nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei den anderen Familienmitgliedern.