Die Henne und das Ei - Renèe Schroeder - E-Book

Die Henne und das Ei E-Book

Renee Schroeder

4,5

Beschreibung

Auf der Suche nach dem Molekül des Lebens Was ist der Mensch? Jeder Mensch will wissen, was oder wer er ist. Bei ihrer spannenden Suche nach dem Molekül des Lebens hat die Biochemikerin Renée Schroeder bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Auf der Suche nach Erkenntnis hinterfragt sie unerschrocken die Möglichkeiten der Genetik und bezieht im Disput um Glauben gegen Wissen eindeutig Stellung für die Wissensgesellschaft. Tabus kennt sie dabei nicht. Die Frage nach dem Ursprung des Lebens führt die Forscherin weit über die Grenzen ihres Faches hinaus zu den Grundfragen des Seins. Woher kommen wir, wo geht es hin? Wie funktioniert Evolution, und welche Rolle spielt der Zufall? Renée Schroeders undogmatisches Denken über die Grenzen unserer Wahrnehmung öffnet gedankliche Türen und macht neue Sichtweisen möglich. In diesem Buch erklärt uns die leidenschaftliche Wissenschaftlerin, was angewandte Bioethik ist und welche Bedeutung das Henn-Ei für unsere Zukunft hat, und sie führt uns ein in die wunderbare Welt der Moleküle.

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RENÉE SCHROEDER

mit Ursel Nendzig

DIE HENNE UND DAS EI

Auf der Suche nach dem Ursprung des Lebens

RENÉE SCHROEDER

mit Ursel Nendzig

DIE HENNEUND DAS EI

Auf der Suche nach demUrsprung des Lebens

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2011 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:

978-3-7017-4235-6

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-3248-7

Unseren Söhnen

Inhalt

VORWORT

Der unbequeme Weg

Oder: Was dieses Buch nicht ist

KAPITEL 1

Grenzen der Wahrnehmung

Oder: Wir sehen uns in der Meter-Welt

KAPITEL 2

Glauben und Wissen

Oder: Zwei Bäume der Erkenntnis

KAPITEL 3

Was ist Leben?

Oder: Schroeder meets Schrödinger

KAPITEL 4

Das Molekül des Lebens

Oder: Darf ich vorstellen? Die RNA

KAPITEL 5

Die Wasserstoffbrücke

Oder: Eine flexible Verbindung fürs Leben

KAPITEL 6

Der Ursprung des Lebens

Oder: Das Henn-Ei

KAPITEL 7

Die RNA-Welt

Oder: Willkommen in meiner Lieblingswelt

KAPITEL 8

Die Macht der RNA

Oder: Das alles macht ein Molekül

KAPITEL 9

Genetik und Epigenetik

Oder: Erb gut!

KAPITEL 10

Bioethik

Oder: Angewandtes Mensch-Sein

KAPITEL 11

Gender

Oder: Die Mitglieder der »Three-Inch-Society«

KAPITEL 12

Bildung

Oder: Geiz ist überhaupt nicht geil

KAPITEL 13

Wozu das Ganze?

Oder: Meine Lebensphilosophie

GLOSSAR

DANK

VORWORT

Der unbequeme Weg

Oder: Was dieses Buch nicht ist

Ein Buch ist etwas Magisches. Es ist wertvoller als alle anderen Möglichkeiten sich auszudrücken. Weil man sich besonders gut überlegen muss, was darin vorkommt. Einen Vortrag zu halten, ist leicht: einmal gemacht, vor begrenztem Publikum, bald wieder vergessen. Ein Buch wird gedruckt und ins Regal gestellt. Es kann immer und immer wieder gelesen werden und hat dadurch einen permanenten Wert. Die Beschäftigung mit dem Inhalt ist intensiver. Das ist das Reizvolle an einem Buch. Dieses Buch ist darüber hinaus für mich etwas Besonderes. Ich öffne mich darin. Denn es enthält mein Weltbild, meine ganz persönliche Sicht auf die Dinge.

Ich rede sehr gern. Aber ich schreibe sehr ungern. Und ich arbeite sehr ungern alleine. Deshalb ist dieses Buch aus einem Dialog entstanden. Das ist ganz typisch für meine Art, an Projekten zu arbeiten: Ich suche mir immer jemanden, der sich dafür begeistern kann. So arbeite ich meistens mindestens zu zweit oder zu dritt. Ich kann mich dann besser konzentrieren und den inneren Schweinehund überwinden. Automatisch bemühen sich alle Beteiligten mehr, und es gibt immer Rückmeldungen. Nur deshalb hat dieses Buch auch die Chance zu entstehen. Ich selbst habe viel zu wenig Sitzfleisch. Es ist mir unmöglich, mich hinzusetzen und stundenlang nachzudenken.

Dazu kommt, dass ich anderen gerne etwas erzähle. In diesem Fall Ursel Nendzig. Sie hört sich an, was ich ihr erzähle, und wenn es verständlich war, kann sie es so wiedergeben, dass es jedem zugänglich wird. Ich arbeite deshalb auch gerne mit Leuten, die sehr kritisch sind. Nicht mit solchen, die dasitzen, es ertragen und denken: Hoffentlich sind wir bald fertig. Auch die Suche nach dieser geeigneten zweiten Person war spannend. Wer lässt sich auf so ein Abenteuer ein? Es soll zwar mein Weltbild niedergeschrieben werden, aber die Person, die es niederschreibt, muss es aus mir herausholen und es ausformulieren. Ursel ist hier der →Katalysator, das →Enzym.* (Oder besser das →Ribozym? Diesen Hinweis werden Sie verstehen, wenn Sie das Buch gelesen haben. Oder im Glossar nachgesehen haben, was ein Ribozym ist.)

Dieses Buch ist kein rein wissenschaftliches Buch. Davon gibt es schon viele. Aber es hat seinen Ursprung darin, dass ich Naturwissenschaftlerin bin. Was mich an meinem Beruf so fasziniert, ist das ständige Hinterfragen, das ständige Suchen nach Verstehen, nach Erkenntnis: der Forschergeist. Daraus entsteht automatisch eine eigene Sicht der Dinge, ein Weltbild. Und darum geht es hier: Dieses Buch stellt mein Weltbild und meine ganz individuelle Lebensphilosophie dar. Es beschäftigt sich mit den meiner Meinung nach spannendsten Fragen, die rationell behandelt werden können. Diese Fragen, denen ich hier nachgehen werde, sind wissenschaftlich, sind interpretierend, sind grundlegend. Es sind die Fragen nach dem Leben, nach unserer Identität:

Was sind wir?

Jeder Mensch hat seinen eigenen Zugang zu dieser ganz grundlegenden Frage. Jeder Mensch will wissen, was oder wer er ist. Will sich sein ganz eigenes Bild davon machen. Bei mir ist dieses Bild sicher biochemischen und genetischen Ursprungs. Denn ich identifiziere mich extrem stark mit meinem Beruf. Ich unterscheide zwischen Privatleben und Arbeitsleben überhaupt nicht, habe beides noch nie getrennt. Mein Ich ist dasselbe, privat und in der Arbeit. Auch in der Zeit, als meine beiden Söhne klein waren: Die Kinder waren präsent in meinem Beruf. Ich scheue nicht davor zurück, sehr viel Persönliches in die Arbeit mit einzubringen. Im Gegenteil! Genau das ist das Tolle am Beruf der Wissenschaftlerin: dass man nicht aufhört zu denken, wenn man den Arbeitsplatz verlässt. Mein berufliches Denken, mein Denken als Wissenschaftlerin deckt sich also mit meinem persönlichen Weltbild und mit meinen Erfahrungen.

Woher kommen wir?

Es geht hier nicht um die Persönlichkeit, sondern darum, was der Mensch eigentlich ist. In der Biologie wird erforscht, wie wir chemisch und biochemisch funktionieren. Und es wird unsere Entstehungsgeschichte erforscht, die →Evolution. Das passiert zum Großteil im Labor. Mir ist wichtig, wie wir aus dem, was wir im Experiment lernen, auf alltägliche Ereignisse und Erfahrungen schließen können. Da geht es um Phänomene wie →Zufall, →Wahrscheinlichkeit, die Wechselwirkung zwischen →Molekülen und um den Umgang der Menschen mit Wissen und Erkenntnis. Das ist angewandte Forschung im weitesten Sinn. Eben nicht nur zur Entwicklung eines Handys oder eines neuen Medikamentes; sondern vielmehr zur Entwicklung einer Lebensphilosophie – eines Weltbildes, das rationell begründet ist. Meine Forschung dreht sich darum, wie Moleküle funktionieren und wie sie das Leben in Gang gebracht haben und dann auch in Bewegung halten. Meine Forschung dreht sich um das Molekül des Lebens, um die Ribonukleinsäure (RNS oder →RNA). Und: ich will die Interpretation dieser Ergebnisse hinaustragen und interdisziplinär verarbeiten. Philosophie, Physik, Soziologie, Medizin – ich kann und möchte die Disziplinen nicht trennen. Daraus ziehe ich meine Erkenntnisse und verstehe deren Bedeutung in einem breiteren Kontext.

Wo geht es hin?

Wir Menschen möchten ergründen, woher wir kommen. Warum? Sicher auch, weil wir danach streben, die Zukunft besser begreifen und um unseren Handlungen Ziele geben zu können. Dafür brauchen wir die Erkenntnisse aus der Vergangenheit. Daraus können sich viele Vorhersagen und Handlungsanleitungen ergeben. Keine Weissagungen, sondern Schlüsse für die Zukunft. Das ist es, was die Menschen immer wollten: wissen, wohin es geht. Wenn wir ehrlich sind, sind diese Erkenntnisse meistens nicht das, was wir uns insgeheim erhoffen. Und das ist wahrscheinlich besser so.

Wenn ich mit Menschen diskutiere, habe ich oft regelrechte »Aha-Erlebnisse«. Und ich hoffe, dass Sie, wenn Sie dieses Buch lesen, auch solche Erlebnisse haben werden. »Aha! Das habe ich mir auch schon gedacht!« Oder: »Aha! So habe ich das noch nie betrachtet!« Und ich hoffe, dass Sie offen dafür sind, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Dennoch ist dieses Buch keinesfalls →dogmatisch zu sehen. Es ist kein Lebensberatungsbuch, kein Rezept, das nachzuahmen ist. Missionare und Prediger sind mir ein Gräuel. Denn das Eintrichtern von Meinungen ist ein Grundübel in unserer Gesellschaft. Warum soll es wichtig sein, dass viele Menschen gleich denken? →Diversität ist doch viel wichtiger und spannender! Bei den Predigern und Missionaren geht es meistens um Machterhaltung und nicht um Wissensvermittlung.

Ich skizziere in diesem Buch also meine Sicht der Dinge. Ich stelle Ihnen mein Weltbild vor, wie es momentan ist. Sie werden das Molekül des Lebens kennenlernen und erfahren, welche Rolle es bei der Entstehung des Lebens spielte und auch heute noch spielt. Sie werden verstehen, wie Evolution funktioniert und wie wir uns heute noch verändern. Wie Umwelteinflüsse unsere →Gene verändern und ob unsere Erfahrungen in unseren Genen gespeichert werden.

Mein Weltbild ist noch nicht fertig. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse: Man darf sich nie sicher sein, dass etwas so ist, wie man annimmt. Erst kürzlich habe ich in einer Zeitschrift diese Überschrift gelesen: »Irrte Darwin?« Das ist eine dumme Frage. Natürlich irrte er. Hoffentlich irrte er! Jeder Mensch irrt. Nur dadurch nähern wir uns in winzigen Schritten der Wirklichkeit an. Genauso wie die Evolution machen wir viele, kleine, fehlerhafte Schritte. Aber die hohe Anzahl der Schritte bringt uns dann doch schnell weiter. Genauso ist mein Weltbild sehr unvollständig und es ändert sich täglich. Es ist im Werden, wie das Leben auch. Das soll es auch! Ich möchte offen sein und keine Angst davor haben, immer neue Dinge zu erfahren und meine Meinung immer wieder zu ändern. Heute halten wir die RNA für das Molekül des Lebens, vor wenigen Jahren war es noch die →DNA. Ich bin gespannt, welches Molekül der RNA diese Rolle abnehmen wird. Werde ich das noch erleben? Oder ist die RNA wirklich das Molekül des Lebens? Werde ich meine Theorie verteidigen? Werde ich in die übliche Falle geraten und persönlich gekränkt sein, wenn sich meine Theorie nicht halten konnte?

Ein guter Tag ist ein Tag, an dem ich etwas gelernt habe. An dem ich sagen kann: »Das sehe ich jetzt anders.« Leider schaffen wir es oft nicht, so offen zu sein. Denn wir hoffen, dass unser Weltbild sich bestätigt und dass immer wieder etwas Bekanntes passiert. Diese geistige Trägheit und Gemütlichkeit, dieser Widerstand gegen Unbekanntes sitzt so tief in uns Menschen und hemmt uns, Neues aufzunehmen. So funktionieren wir eben. Etwas wiedererkennen ist die Art und Weise, wie wir lernen. Wir freuen uns, wenn wir ein Gesicht sehen, das wir schon kennen. Dabei gibt es hunderte andere, unbekannte Gesichter, hinter denen sich Neues und Spannendes verbirgt. Unser Gehirn ist so konzipiert, es klammert sich an Muster, die es erkennt. Und wenn etwas Neues kommt, das nicht in die Erwartungshaltung passt, wehrt es sich und wir haben ein schlechtes Gefühl. Schade, denn es sollte genau umgekehrt sein! Eigentlich sollten wir, wenn etwas anders ist als erwartet, glücklich sein und uns freuen, dass wir der Wirklichkeit einen Schritt näher gekommen sind.

Der Pessimist wird jetzt sagen: »Es kommt nichts Besseres, es wird alles nur schlechter.« Aber ich bin Optimistin und diese Bejahung des Lebens und die Freude an Aha-Erlebnissen sind der Ursprung meiner Kraft.

Ich sehe diesen Widerstand gegen Neues oft bei Studierenden. Wir arbeiten in Forschungsgruppen und entwickeln eine →Hypothese. Eine gute Hypothese ist es dann, wenn sie sich experimentell überprüfen lässt. Wir denken uns Experimente aus und die Studenten führen sie durch. Sie freuen sich, wenn die Hypothese stimmt, also wenn sie verifiziert werden konnte. Die meisten meiner Studenten sind bitter enttäuscht, wenn das erwartete Ergebnis nicht eintrifft. Eine ganz typische Reaktion! Zunächst höre ich gar nichts von ihren Ergebnissen. Sie wiederholen das Experiment, machen es noch ein drittes Mal. Bis sie mit hängenden Schultern zu mir kommen: »Es hat nicht funktioniert.« Hat es technisch nicht funktioniert, ist es tatsächlich ein Problem. Hat es technisch funktioniert, aber das erwartete Ergebnis ist ausgeblieben, sind die Studenten meistens enttäuscht. Denn dieser Weg zur Wirklichkeit ist unbequem: weil man dann die Hypothese ändern muss.

Dieser Prozess ist genau der, den ich mir für mein Weltbild wünsche, nicht nur für meine Arbeit im Labor. Meine Welt ist eine umfassende Hypothese. Und an der darf ich nicht festhalten. Ich muss täglich bereit sein, sie aufzugeben oder sie zu verändern und dazuzulernen. Das ist die Idealvorstellung. Das ist spannend. Aber auch sehr anstrengend.

Von diesem Buch erwarte ich mir, dass sich, während wir es schreiben, eine Menge verändern wird. Ich erwarte mir, dass mein Weltbild durch das Schreiben neue Impulse bekommt. Und dass sich am Ende des Buches ein genaueres und schärferes Weltbild herauskristallisiert als mein jetziges, das noch etwas diffus ist. Dieses Buch ist eben auch ein Forschungsprojekt. Wir wissen jetzt noch nicht, wo es uns hinführen wird. Ich bin gespannt, was am Ende entstehen wird. Das Buch soll sich selbst infrage stellen. Es soll sich nicht ernst nehmen. So wie man das ganze Leben nicht so fürchterlich ernst nehmen darf.

Und noch etwas: Für dieses Buch braucht man keinerlei Vorkenntnisse. Man muss es auch nicht in einem Stück lesen, sondern kann es immer wieder hernehmen und ein, zwei Kapitel lesen. Auch unterwegs, im Zug, im Flugzeug, im Wartezimmer. Dieses Buch eignet sich auch bestens zum Vorlesen. Das tun wir viel zu wenig: lieben Menschen etwas vorlesen. Und dann kann über das Gelesene diskutiert werden, es kann widersprochen werden. Hoffentlich deckt sich Ihr Weltbild nicht mit meinem! Beim Diskutieren werden Sie das Weltbild Ihrer Mitmenschen entdecken. Es gibt viele Menschen, die mir ihre Sicht der Dinge erzählen, und dafür bin ich sehr dankbar.

Dieses Buch versammelt Vorstellungen über das Leben, die aus meinem momentanen Wissensstand stammen, keine Dogmen. Es sind Anregungen, keine →Gebote. Es gibt keine hierarchischen Vorgaben.

Außer dieser einen: Man darf sich nie sicher sein, dass man recht hat.

Wien, im Juli 2011

* Begriffe und Namen, die im Glossar erläutert werden, sind im Text bei ihrer ersten Erwähnung mit →gekennzeichnet.

KAPITEL 1

Die Grenzen der Wahrnehmung

Oder: Wir sehen uns in der Meter-Welt

Diese erste und wichtigste Erkenntnis macht uns ohnmächtig: Wenn wir feststellen, wie verschlossen wir sind, wie unzureichend unsere Sinne sind, wie wenig wir wahrnehmen, wie viel wir übersehen. Wahrscheinlich mehr als 99,9 Prozent der Welt! Weil wir gar nicht in der Lage dazu sind: Selbst wenn unsere Augen und Ohren es vielleicht noch sehen und hören könnten, würden wir es nicht registrieren, würden wir es ausfiltern.

Unsere Welt ist eine Meter-Welt. Alles, was ungefähr einen Meter groß ist, das ist unser Ding. Wir lassen uns herab auf Millimeter, darunter sehen wir eigentlich nichts mehr. Wir schaffen es bis zum Kilometer, das können wir uns noch vorstellen. Aber darüber hinaus ist uns alles schon zu groß. Die Welt, zu der wir mit unseren Augen Zugang haben, ist ein winzig kleiner Abschnitt des Größenspektrums. Denn in 10−20 Metern ist auch noch eine Welt. Die uns (noch) verschlossen bleibt.

Ich finde es faszinierend, die Größenskalen zu betrachten und damit die Welten, in denen einzelne Dinge zu finden sind. (Abbildung 1) Ein Ribonukleinsäure-Molekül (RNA) ist zum Beispiel nur ein paar →Nanometer (10−9 Meter) lang:

ABBILDUNG 1

Unsere Meterwelt im Universum

Alles, was ungefähr einen Meter lang ist, ist unser Ding. Wir Menschen sind in etwa einen halben Meter lang, wenn wir geboren werden, und schaffen es im ausgewachsenen Zustand auf 1,5 bis 2 Meter. Dies ist aber nur ein winziger Ausschnitt aus dem Spektrum, in dem sich das Leben abspielt. Um zu den hier abgebildeten Größenordnungen zu gelangen, muss 1 Meter so oft durch 10 dividiert oder mit 10 multipliziert werden, wie die angegebene Hochzahl der beschriebenen Größe angibt. Zum Beispiel: Ein RNA-Molekül ist wie die meisten Moleküle im Nanometerbereich, also 10 hoch minus 9 Meter klein. Ein Meter, 9-mal durch 10 dividiert – das ist die Größenordnung der RNA-Welt. Wird 1 Meter 21-mal mit 10 multipliziert, ergibt dies den ungefähren Durchmesser der Milchstraße. Die Planck’sche Länge (1,61 × 10−35 Meter) ist die kürzeste Strecke, die physikalisch Sinn macht, denn wenn ein Lichtstrahl diese Strecke durchläuft, kann man zwischen Startpunkt und Endpunkt nicht mehr unterscheiden. 1 Lichtstunde ist jene Strecke, für die das Licht 1 Stunde braucht, um sie im Vakuum zu durchlaufen (1 100 000 000 000 Meter).

Um dorthin zu gelangen, muss ein Meter 9 mal durch 10 geteilt werden, dann erst würde man die Dimension dieser Biomoleküle erreichen. Wir können sie weder mit freiem Auge sehen, noch in einem normalen Lichtmikroskop. Um sie nachweisen zu können (denn »sehen« können wir sie ja nicht), müssen wir spezielle chemische und biophysikalische Methoden anwenden. Meistens »markieren« wir sie dafür mit radioaktiven →Isotopen und messen dann ihre Strahlung. Oder wir hängen der RNA durch chemische Reaktionen fluoreszierende Stoffe an und messen dann ihre Leuchtkraft in einem Mikroskop, das fluoreszierende Stoffe detektieren kann. Ein unglaublicher Umweg also, den wir nehmen müssen, eine mächtige Krücke, die unser Auge braucht.

Unser Ohr ist nicht viel besser. Es hört ganz bestimmte Wellenlängen – die wenigen eben, die es in der Lage ist, wahrzunehmen. Der Großteil der Geräusche, das ganze große Spektrum der Wellenlängen um uns herum, entgeht uns: weil wir sie nicht zur Kenntnis nehmen können oder damit nichts anfangen können, weil uns nicht bewusst ist, dass wir sie hören, oder weil unsere Aufmerksamkeitsspanne so gering ist. Oder weil wir ohnehin von Signalen übersättigt sind, von Signalen, die wir erst einmal filtern müssen, ordnen und in ein Konzept bringen.

Um das zu schaffen – Ordnung und Konzept in unsere Wahrnehmung zu bringen –, müssen unsere Sinne erst geschult werden. In einem Experiment wurden Säuglingen japanische Texte vorgelesen. Als sie älter waren, wurden ihnen dieselben Texte wieder vorgelesen und sie sollten nachplappern, was sie gehört hatten. Die Kinder, die früher schon einmal diese Laute gehört hatten, konnten sie hören, erkennen und nachsprechen. Die, die sie nicht gehört hatten, konnten es nicht. Ähnliches widerfährt uns, wenn wir mit unseren mitteleuropäischen Ohren chinesischen Lauten lauschen – wir können die fünf verschiedenen Variationen von »ba« einfach nicht unterscheiden. Wenn wir das nicht hören gelernt haben, dann hören wir den Unterschied nicht. Es stimmt also: Das Ohr lernt! Und was es nicht gelernt hat, das hört es nicht. Damit wird ganz deutlich, dass wir sehr wenig wahrnehmen – physiologisch bedingt und übungsbedingt.

Darüber steht aber noch etwas viel Mächtigeres, das uns in viel größerem Ausmaße blind und taub macht: die Tatsache, dass wir alle Kinder unserer Zeit sind. Das, was wir sehen wollen, das, was wir gelernt haben zu sehen, das, was sein darf: Das nehmen wir wahr. Auch Wissenschaftler, die offen sein sollten für die Wirklichkeit, die danach streben, Neues zu sehen, sind beeinflusst von dem, was sie schon wissen, und sind gelenkt von dem, was sie bereits gelernt haben.

Wir sind nicht objektiv.

Es gibt eine Figur in der Wissenschaftsgeschichte, die auf tragisch-komische Weise das Dilemma, in dem wir uns befinden, vor uns ausbreitet: Antoni van →Leeuwenhoek. Er lebte im 17. Jahrhundert und revolutionierte mit einer Erfindung die ganze Welt, vor allem die unbekannte: Er erfand das Mikroskop. Was banal klingt, ist bei näherer Betrachtung revolutionär. Er war der erste, der in eine neue Dimension sehen konnte. Er hat die Meter-Welt überwunden! Er blickte durch die von ihm geschliffenen Vergrößerungsgläser und entdeckte eine ganz neue Welt. Er drang in die Mikrometer-Welt vor. Er sah →Bakterien. Zu seiner Zeit wusste man nichts von deren Existenz, weil man sie mit freiem Auge nicht sehen kann.

Wie spannend das gewesen sein muss! Er beschrieb Bazillen, →Kokken und →Spirillen, drei Bakterienformen. Aber – und das muss man sich vorstellen – er behielt das Geheimnis um die Herstellung der perfekt geschliffenen Linsen für sich. Es dauerte bis ins 19. Jahrhundert, bis bessere, mehrlinsige Mikroskope gebaut werden konnten. Van Leeuwenhoek hielt sein Wissen zurück, denn Wissen bedeutet Macht. Was war das nur für ein Mensch!

Ein Mensch jedenfalls, der auch ein Kind seiner Zeit war. Als er als Erster Zutritt zur Mikrometer-Welt erlangte, untersuchte er voller Begeisterung – natürlich: Spermien. Die Zeit, in der er lebte, wurde vom Aristotelischen Weltbild bestimmt, das vorgab, dass im Samen bereits der fertige Mensch enthalten sei, ein kleines Männchen, der Homunkulus. (Hier sei nebenbei bemerkt, dass in der deutschen Sprache noch immer das Wort »Samen« für Spermien benützt wird. Ein Fossil aus der Aristotelischen Lehre. Um den botanischen Begriffen treu zu bleiben, müssten wir »Pollen« sagen, nicht »Samen«. Denn Spermien sind, wie Pollen, noch unbefruchtet. Im Gegenteil zu befruchteten Samen. Aber wie gesagt, dies nur am Rande.) Der Frau wurde kein genetischer Beitrag zugestanden. Man wusste ja noch nicht, was Gene sind. Das Ziel, das dieses männlich dominierte Weltbild vorgab, war ganz klar: Mann zu werden. Kam man als Frau zur Welt, war etwas falsch gelaufen. An dieses Weltbild glaubte Antoni van Leeuwenhoek, und es beeinflusste ihn natürlich auch, als er die Spermien im Mikroskop ansah. In seiner starken Erwartungshaltung, nun den Homunkulus sehen zu können, sah er ihn: ein kleines, zusammengekauertes Wesen, mit einem kleinen Köpfchen, kleinen Ärmchen und kleinen Beinchen, das im Kopf des Spermiums saß. (Abbildung 2) Er kann ihn nicht gesehen haben. Doch als er die Grenze seiner bisher bekannten Welt überschritt, lenkte ihn sein Weltbild. Die Überlegung, ob in der Eizelle auch ein Homunkulus sein könnte, ob die Eizelle nicht auch etwas zur Entstehung eines Menschen beisteuerte, diesen Gedanken tat er damit ab, dass das nicht sein könne: »Ach, wie lächerlich!«

ABBILDUNG 2

Antoni van Leeuwenhoeks Sicht auf das menschliche Spermium

Van Leeuwenhoek war dermaßen davon überzeugt, dass im männlichen Spermium der kleine, fertige Homunkulus sein muss, dass er ihn durch seine Linsen sah. Sein Weltbild erlaubte ihm nicht zu erkennen, dass in weiblichen Eizellen etwas genau so Wichtiges enthalten sein könnte. Ein erschreckend gutes Beispiel für die Grenzen unserer Wahrnehmung. Als mildernden Umstand lasse ich natürlich gelten, dass die Qualität seiner Linsen wahrscheinlich nicht sehr gut war.

Diese Selbstsicherheit! Mich erstaunt diese Bestimmtheit, mit der Dinge behauptet werden, die man gar nicht wissen kann. Doch diese Sicherheit bewirkt, dass andere Menschen es glauben. Und die Behauptung wird zu einem Dogma. Zum Beispiel, dass die Sonne um die Erde kreist oder dass hinter dem Hindukusch die Welt aufhört. Die Menschen waren sich immer so sicher. So sicher, dass sie nicht einmal aufgebrochen sind, um nachzusehen. Daraus sind die – aus heutiger Sicht – absurden Weltbilder entstanden. Weltbilder im wörtlichen Sinne, also Landkarten. So wie jenes des Hekataios von Milet aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Es zeigt einen Teil von Europa, einen Teil von Westasien und den nördlichen Teil Afrikas, als Libyen bezeichnet. Rundherum ist Meer. Hier wird deutlich, wie sich ein Weltbild formt: aus genau den Fakten, die bekannt sind. Nicht weniger, aber auch nicht mehr: denn es waren zu wenige Fakten bekannt. Das wissen wir jetzt.

Wir wissen auch: Es gibt neun Planeten. Da sind wir uns sicher. Darüber werden unsere Nachfahren bestimmt lächeln. Denn der Zugewinn des Wissens hört nie auf. Noch nie wussten wir so viel wie heute: Dieser Satz wird immer Gültigkeit haben. Dazu kommt, dass wir das bestehende Wissen immer besser darstellen können. Ein geniales Beispiel dafür ist das Online-Lexikon Wikipedia. Ich habe einen ganz klaren Gedanken dazu: Es ist das großartigste Projekt, das die Menschheit je hatte. Es macht das Wissen, das die Menschen in Jahrtausenden gesammelt haben, für alle zugänglich, kostenlos. Eine geniale Idee! Dieser Gedanke ist für mich sehr versöhnlich. Denn das Tolle am Wissen ist, dass man es weitergeben kann und es nicht verliert. Das ist für mich die Basis der Demokratie und der Menschlichkeit! Natürlich kann man niemandem Wissen aufzwingen. Schließlich hat jeder die Freiheit und das Recht, nichts wissen zu wollen. Doch im Prinzip soll Wissen jedem zugänglich sein. Weil es so viel Missbrauch verhindern kann, weil die Menschen nicht mehr für blöd verkauft werden können, weil sie nicht mehr an alles glauben müssen, was sie hören. Wie an die Existenz des Homunkulus.

Es zeigt mir, wie wichtig es ist, nicht das Gefühl zu haben, schon alles zu wissen. Nicht zu glauben, dass wir ausgelernt hätten und unser Weltbild perfekt sei. Viele Menschen tun so allwissend, und das ist irritierend, lächerlich, nervend. Jede wissenschaftliche Disziplin versucht, ein möglichst vollständiges Weltbild zu erlangen, versucht, Instrumente zu entwickeln, um in neue Dimensionen vorzustoßen, die wir mit Augen und Ohren nicht wahrnehmen können. Doch selbst wenn das gelingt, bleibt die Frage offen, ob wir das, was wir sehen, richtig interpretieren.

Deuten wir die Signale richtig?

Wenn ich über mein persönliches Weltbild nachdenke, muss mir klar sein, dass ich nur die Dinge, die ich bereits wahrgenommen und gelernt habe, zu dessen Formung heranziehen kann. Das ändert sich natürlich täglich – auch in meinem Fachgebiet. Ich arbeite seit 30 Jahren als Wissenschaftlerin. Es ist unglaublich, wie sich in dieser eigentlich sehr kurzen Zeit das Weltbild – nicht nur mein eigenes – geändert hat. Allein die Tatsache, dass wir die →Sequenz des humanen →Genoms kennen. Das hat unser Weltbild revolutioniert. Dabei können wir erst einen Bruchteil davon deuten.

Es ist, als würden wir das Alphabet kennen, aber kein Spanisch sprechen. Als könnten wir die Buchstaben lesen, aber würden nicht wissen, was sie bedeuten. Das beschreibt in etwa den Zustand, in dem wir uns derzeit befinden. Viele der »Buchstaben« können wir interpretieren, für jene Gene, die uns bereits bekannt waren. Aber der Großteil der Buchstaben kodiert eben nicht diese klassischen Gene. Das ist das Spannende daran: dass noch so viele Details fehlen. Dass wir das Bild sehen, verschwommen, aber es immer schärfer wird, immer genauer. Mit jeder Entdeckung einer neuen genetischen Eigenschaft, und mit jedem Beweis, den wir führen. Und mit jedem Beweis, der das bereits Bekannte widerlegt. Wir sehen die meisten Dinge nicht ganz falsch, nur zu eng. Wir müssen unsere Theorien ständig erweitern, müssen unsere Theorien ständig an neue Erkenntnisse anpassen.

Genauso wichtig ist es, unser Weltbild ständig infrage zu stellen. Vieles von dem, was wir wissen, haben uns unsere Instrumente vorgeschlagen, unsere Mikroskope, unsere Teleskope, unsere Röntgenfilme, unsere →Mutanten, unsere →»Gele«, unsere Chips. Wir benutzen sie, um in Dimensionen hineinzusehen, die wir mit freiem Auge nicht wahrnehmen können. Deshalb sind bei jedem Signal, das wir empfangen, eine Interpretation notwendig und ein Kontrollsignal. Die Messung kann ungenau sein. Die Interpretation kann natürlich ebenso ungenau und subjektiv sein, unscharf. Doch sie führt uns, wenn sie verifiziert und von mehreren Seiten geprüft wurde, zu neuem Wissen.

Und was machen wir mit den Signalen, die im Rauschen untergehen? Da sind Millionen Signale und wir sind (noch) nicht in der Lage, sie einzeln wahrzunehmen, sie scharf zu stellen, sie zu interpretieren. Die meisten Wissenschaftler bezeichnen es als »noise«, also Lärm. Dabei ist das nur die Unfähigkeit, das Bild oder das Geräusch oder das Signal von anderen Signalen zu trennen: Da ist es, wir nehmen es wahr, sind aber unfähig, etwas damit anzufangen. Das frustriert mich ungemein, da werde ich ganz unruhig! Mich persönlich interessiert die Vielfalt der Signale, die unter der messbaren Rauschgrenze sind, am meisten, weil ich überzeugt bin, dass es dort eine viel höhere Diversität gibt, aus der sich viel Neues entwickeln wird können.

Für mich ist die Interpretation das Wesen der Wissenschaft. Aber auch der unsichere, der riskante Teil, wo wir die meisten Fehler machen, weil wir nicht ganz objektiv sein können (eben Kinder unserer Zeit sind). Es gibt Wissenschaftler, die sich nur mit Fakten beschäftigen, zum Beispiel dem Winkel zwischen zwei →Atomen. Sie stellen einen Zahlenwert fest. Der ist mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit und unter den angenommenen Bedingungen richtig. Er ist Fakt. Für mich ist das zwar sehr wichtig, aber ohne die Interpretation, was dieses Faktum in der Folge für eine Funktion hat, völlig uninteressant. Ich möchte wissen, was ich davon ableiten kann, dass zwei Atome in diesem bestimmten Winkel zueinander stehen. Diese Interpretation kann falsch sein, sie kann persönliche Schwankungen enthalten, sie kann aufs Glatteis führen. Ich begebe mich in meiner Arbeit ständig auf Glatteis. Doch würde mich die Wissenschaft überhaupt nicht interessieren, wenn es nicht so wäre. Wenn ich nicht versuchen würde, die Fakten zu allem, was ich gelernt und erfahren habe, zu allem, was ich weiß, in Bezug zu setzen. Ich möchte sie benutzen. Ich möchte eine persönliche Philosophie daraus ableiten. Wie wird B von A beeinflusst? Und umgekehrt?

Aber Vorsicht!

Denn genau hier machen viele Wissenschaftler – und auch Pseudowissenschaftler, →Esoteriker und Wissenschaftsgegner, die polemisieren – einen großen Fehler: Sie sehen eine →Korrelation und konstruieren daraus eine →Kausalität. Das ist gefährlich, weil es unser Weltbild so stark und so leicht beeinflusst. Weil es vielleicht zu unserem Wunschdenken passt, weil wir es so haben wollen.

Ein Beispiel: Ich beobachte, dass sich B immer dann verändert, wenn sich auch A verändert. Das ist Korrelation. Aber besteht zwischen A und B auch ein kausaler Zusammenhang? Verändert sich B, weil A sich verändert, oder ist das Zufall? Hier ein Beispiel aus der Theorie des →»Spaghettimonsters«. (Diese Theorie ist eine Parodie auf den Schöpfergott: siehe Glossar.) Sagen wir, A ist die Anzahl der Piraten in den Weltmeeren. Und B der Anstieg der globalen Temperatur. Beobachte ich beide, stelle ich fest: Steigt B, so sinkt A. Mit Anstieg der Temperatur des Meeres nimmt also die Anzahl der Piraten ab. Eine eindeutige Korrelation! Aber es gibt keinen kausalen Zusammenhang, es passiert einfach nur gleichzeitig. Was fehlt, ist das Kontrollexperiment. Da dieses nicht durchführbar ist, ist es eine schlechte Theorie. Aber ein geniales Erklärungsbeispiel.