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Der internationale Bestseller von Michael Kumpfmüller über die letzte Liebe Kafkas Überlebensgroß ist der Mythos Franz Kafka, dessen Nachruhm als Schriftsteller scheinbar mit einem weithin unglücklichen Leben erkauft wurde. Doch nun wirft Michael Kumpfmüller ein helles, fast heiteres Licht auf den berühmten Dichter und zeichnet liebevoll und diskret einen Menschen, der in seinem letzten Jahr die große Liebe findet und sein Leben in die Hand nimmt, bevor es dafür zu spät ist. Im Sommer 1923 lernt der tuberkulosekranke Franz Kafka, als Dichter nur Eingeweihten bekannt, in einem Ostseebad die 25-jährige Köchin Dora Diamant kennen. Und innerhalb weniger Wochen tut er, was er nicht für möglich gehalten hat: Er entscheidet sich für das Zusammenleben mit einer Frau, teilt Tisch und Bett mit Dora. In Berlin wagt er mit ihr das gemeinsame Leben, mitten in der Hyperinflation der Weimarer Republik. Den täglich kletternden Preisen, den wechselnden Untermietquartieren, den argwöhnischen Eltern zum Trotz: Bis zu seinem Tod im Juni 1924 werden sich Franz Kafka und Dora Diamant, von wenigen Tagen abgesehen, nicht mehr trennen. Aus dieser wahren Geschichte macht Michael Kumpfmüller einen feinsinnigen, behutsamen und kenntnisreichen Liebesroman. Kafkas Tagebücher, seine Briefe und letzten Texte kennt er genau und webt sie zart in die Erzählung ein. Aber ebenso sehr widmet er sich Doras Sicht, dem Blick der verliebten jungen Frau auf ihren rätselhaften, sterbenden Mann. Und so gelingt Kumpfmüller eine tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod. »Michael Kumpfmüller pokert hoch, wenn er die Liebsgeschichte zwischen Franz Kafka und Dora Diamant nacherzählt. Doch er gewinnt, und die Lesenden ohnehin.« Kulturtipp, Schweiz Der Bestseller »Die Herrlichkeit des Lebens« von Michael Kumpfmüller wurde von Georg Maas und Judith Kaufmann verfilmt und ist seit 14. März in den Kinos zu sehen. In den Hauptrollen spielen Henriette Confurius (»Tannbach – Schicksal eines Dorfes«), Sabin Tambrea (»Babylon Berlin«), Manuel Rubey (»Braunschlag«) und Daniela Donja Golpashin (»Ich und die Anderen«).
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Seitenzahl: 306
Michael Kumpfmüller
Roman
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Titelseite
Über Michael Kumpfmüller
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Michael Kumpfmüller, geb. 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. Im Jahr 2000 erschien mit dem gefeierten Roman »Hampels Fluchten« seine erste literarische Veröffentlichung, 2003 sein zweiter Roman »Durst« und 2008 »Nachricht an alle«. Für diesen Roman wurde er mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet.
zur Kurzübersicht
Überlebensgroß ist der Mythos Franz Kafka, dessen Nachruhm als Schriftsteller scheinbar mit einem weithin unglücklichen Leben erkauft wurde. Doch nun wirft Michael Kumpfmüller ein helles, fast heiteres Licht auf den berühmten Dichter und zeichnet liebevoll und diskret einen Menschen, der in seinem letzten Jahr die große Liebe findet und sein Leben in die Hand nimmt, bevor es dafür zu spät ist.
Im Sommer 1923 lernt der tuberkulosekranke Franz Kafka, als Dichter nur Eingeweihten bekannt, in einem Ostseebad die 25-jährige Köchin Dora Diamant kennen. Und innerhalb weniger Wochen tut er, was er nicht für möglich gehalten hat: Er entscheidet sich für das Zusammenleben mit einer Frau, teilt Tisch und Bett mit Dora. In Berlin wagt er mit ihr das gemeinsame Leben, mitten in der Hyperinflation der Weimarer Republik. Den täglich kletternden Preisen, den wechselnden Untermietquartieren, den argwöhnischen Eltern zum Trotz: Bis zu seinem Tod im Juni 1924 werden sich Franz Kafka und Dora Diamant, von wenigen Tagen abgesehen, nicht mehr trennen.
Aus dieser wahren Geschichte macht Michael Kumpfmüller einen feinsinnigen, behutsamen und kenntnisreichen Liebesroman. Kafkas Tagebücher, seine Briefe und letzten Texte kennt er genau und webt sie zart in die Erzählung ein. Aber ebenso sehr widmet er sich Doras Sicht, dem Blick der verliebten jungen Frau auf ihren rätselhaften, sterbenden Mann. Und so gelingt Kumpfmüller eine tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.
Widmung
Motto
Eins kommen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Zwei bleiben
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Drei gehen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
Nachbemerkung und Dank
Für Eva
»Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.«
Franz Kafka, Tagebücher (1921)
Der Doktor kommt spätabends an einem Freitag im Juli. Das letzte Stück von der Bahnstation im offenen Wagen hat kein Ende genommen, es ist noch immer sehr heiß, er ist erschöpft, aber jetzt ist er da. Elli und die Kinder warten in der Empfangshalle auf ihn. Er hat kaum Zeit, sein Gepäck abzustellen, da stürmen Felix und Gerti auf ihn zu, reden auf ihn ein. Seit dem frühen Morgen waren sie am Meer, wollen am liebsten gleich wieder hin und ihm zeigen, was sie gebaut haben, eine riesige Sandburg, der Strand ist voll von ihnen. Nun lasst ihn doch erst mal, mahnt Elli, die die verschlafene Hanna auf dem Arm hat, aber sie reden immer weiter von ihrem Tag. Elli fragt: Wie war die Reise? Willst du etwas essen? Der Doktor überlegt, ob er etwas essen will, denn Appetit hat er keinen. Trotzdem geht er kurz nach oben in die Ferienwohnung, die Kinder zeigen ihm, wo sie schlafen, sie sind elf und zwölf und suchen tausend Ausreden, warum sie noch nicht ins Bett können. Das Fräulein hat einen Teller mit Nüssen und Früchten vorbereitet, eine Karaffe Wasser steht bereit, er trinkt, sagt der Schwester, wie dankbar er ihr ist, denn in den nächsten drei Wochen wird er hier essen, sie werden viel Zeit zusammen verbringen, wobei sich zeigen muss, wie er das auf die Dauer findet.
Der Doktor erhofft sich nicht viel von diesem Aufenthalt. Er hat schlimme Monate hinter sich, zu Hause bei den Eltern wollte er nicht länger bleiben, da kam die Einladung an die Ostsee gerade recht. Das Quartier hat die Schwester aus der Zeitung, eine Annonce, die vorzügliche Betten und solide Preise versprach, dazu Balkone, Veranden, Loggien, direkt am Hochwald mit herrlichem Blick auf die See.
Sein Zimmer liegt am anderen Ende des Flurs. Es ist nicht allzu groß, aber es gibt einen Schreibtisch, die Matratze ist hart, außerdem hat es zur Waldseite hin einen schmalen Balkon, der Ruhe verheißt, wenngleich von einem nahe gelegenen Gebäude Kinderstimmen zu hören sind. Er packt seine Sachen aus, ein paar Anzüge, Wäsche, Lektüre, das Schreibpapier. Er könnte Max berichten, wie die Gespräche im neuen Verlag verlaufen sind, aber das kann er dieser Tage noch erledigen. Es war seltsam, nach all den Jahren in Berlin zu sein, und vierundzwanzig Stunden später ist er hier in Müritz, in einem Haus, das sich Glückauf nennt. Elli hat bereits einen Scherz darüber gemacht, sie hofft, dass der Doktor in der Seeluft ein paar Kilo zunimmt, obwohl sie beide wissen, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist. Alles wiederholt sich, denkt er, die Sommer seit Jahren in irgendwelchen Hotels oder Sanatorien, und dann die langen Winter in der Stadt, wo er manchmal für Wochen das Bett nicht verlässt. Er ist froh, allein zu sein, setzt sich ein wenig auf den Balkon, wo noch immer die Stimmen sind, dann geht er zu Bett und findet ohne Mühe in den Schlaf.
Als er am nächsten Morgen erwacht, hat er mehr als acht Stunden geschlafen. Er weiß sofort, wo er ist, er ist am Meer in diesem Zimmer, weit weg von allem, was er bis zum Überdruss kennt. Die Stimmen der Kinder, die ihn gestern in den Schlaf begleitet haben, sind auch wieder da, sie singen ein Lied, auf Hebräisch, wie nicht schwer zu erkennen ist. Sie sind aus dem Osten, denkt er, es gibt Ferienheime für diese Kinder, vor zwei Tagen in Berlin hat Puah, seine Hebräischlehrerin, erwähnt, dass es auch eins in Müritz gibt, und nun ist es in unmittelbarer Nähe. Er tritt auf den Balkon und sieht zu ihnen herüber. Mit den Liedern sind sie fertig, sie sitzen vor dem Haus an einem langen Tisch und frühstücken, sehr laut und fröhlich. Vor einem Jahr in Planá hat er sich an solchen Geräuschen sehr gestört, aber jetzt freut er sich beinahe über das Geplapper. Er erkundigt sich bei seiner Schwester, ob sie etwas von ihnen weiß, aber Elli weiß nichts und scheint sich zu wundern, dass er plötzlich so aufgeregt ist, fragt nach seiner Nacht, ob er mit dem Zimmer zufrieden ist, ja, er ist zufrieden, er freut sich auf den Strand.
Der Weg ist weiter als gedacht, man geht fast eine Viertelstunde. Gerti und Felix tragen die Taschen mit den Badesachen und dem Proviant, rennen ein Stückchen vor und wieder zurück zu ihm, der nur langsam nachfolgt. Das Meer liegt silbrig glatt in der Sonne, überall sieht man Kinder in bunten Badekleidern, die im flachen Wasser plantschen oder mit Bällen spielen. Elli hat zum Glück einen eigenen Strandkorb für ihn gemietet, rechts von der Landungsbrücke, sodass er alles gut im Blick hat. Rund um die gestreiften Strandkörbe sind überall kniehohe Sandburgen gebaut, mindestens jede zweite ist mit einem Davidstern aus Muscheln geschmückt.
Gerti und Felix wollen ins Wasser und freuen sich, dass er mitkommt. Im Uferbereich ist das Wasser badewannenwarm, aber dann schwimmt er mit den beiden hinaus, bis sich auch kältere Strömungen bemerkbar machen. Gerti möchte, dass er ihr zeigt, wie man toter Mann macht, es ist gar nicht schwer, und so treiben sie eine Weile im glitzernden Wasser, bis vom Ufer die Stimme von Elli zu hören ist. Er soll es nicht übertreiben, mahnt sie. Hat er gestern Abend nicht leichtes Fieber gehabt? Ja, gibt der Doktor zu, aber seit heute Morgen ist das Fieber weg. Trotzdem tut es jetzt gut, ruhig im Strandkorb zu sitzen, es muss weit über dreißig Grad haben, in der Sonne ist es kaum auszuhalten. Auch Gerti und Felix sollen es mit der Sonne nicht übertreiben, sie legen gerade mit Kiefernzapfen die Anfangsbuchstaben seines Namens in den Sand. Lange sitzt er einfach da und schaut den Kindern zu, hört ab und zu einen Fetzen Jiddisch, die mahnende Stimme eines der Betreuer, die nicht älter als Mitte zwanzig sind. Gerti hat Kontakt zu einer Gruppe Mädchen, von denen sie auf Nachfrage berichtet, ja, sie kämen aus Berlin, sie machen Ferien wie wir, in einem Heim nicht weit von uns.
Der Doktor könnte stundenlang so sitzen. Elli fragt ihn dauernd, wie er sich fühlt, immer in diesem mütterlich besorgten Ton, den er an ihr schon kennt. Er hat mit Elli nie so reden können, wie er mit Ottla reden kann, dennoch kommt er jetzt auf Hugo und Else Bergmann, die ihn eingeladen haben, mit ihnen nach Palästina zu gehen, nach Tel Aviv, wo es ebenfalls einen Strand gibt und lachende Kinder wie hier. Elli muss nicht viel dazu sagen, der Doktor weiß, was sie von solchen Plänen hält, im Grunde glaubt er selbst nicht daran. Aber die Kinder sind eine große Freude, er ist froh und dankbar, hier unter ihnen zu sein. Er kann sogar schlafen in all dem Trubel, in der größten Mittagshitze über eine Stunde, bevor ihn Gerti und Felix noch einmal ins Wasser holen.
Am zweiten Tag beginnt er, die ersten Gesichter zu unterscheiden. Seine Augen schweifen nicht mehr wahllos, er entwickelt Vorlieben, entdeckt ein paar lange Mädchenbeine, einen Mund, Haare, eine Bürste, die durch diese Haare fährt, ab und zu einen Blick, drüben die große Dunkle, die mehrmals herübersieht und dann so tut, als sei sie’s nicht gewesen. Zwei, drei Mädchen erkennt er an der Stimme, er beobachtet, wie sie weit vorn ins Wasser springen, wie sie durch den heißen Sand laufen, Hand in Hand, unter fortwährendem Gekicher. Er hat Schwierigkeiten mit ihrem Alter. Mal hält er sie für siebzehn, dann scheinen es doch noch Kinder zu sein, und eben dieses Changieren macht das Vergnügen, sich mit ihnen zu beschäftigen, aus.
Vor allem die große Dunkle hat es ihm angetan. Er könnte Gerti fragen, wie sie heißt, denn Gerti hat bereits mit ihr gesprochen, aber auf diese Weise möchte er sein Interesse nicht zeigen. Er würde sie gerne zum Lachen bringen, denn leider lacht sie nie. Sie wirkt trotzig, als würde sie sich seit Langem über etwas ärgern. Am späten Nachmittag sieht er sie vom Balkon, wie sie im Garten der Ferienkolonie den Tisch deckt, und dann, am Abend, wie sie in einem Theaterstück die weibliche Hauptrolle spielt. Was sie sagt, kann er nicht verstehen, aber er sieht, wie sie sich bewegt, mit welcher Hingabe sie spielt, offenbar in der Rolle einer Braut, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll, so jedenfalls reimt er sich die Handlung zusammen, er hört das Lachen der Kinder, den Applaus, zu dem sich die Dunkle mehrfach verbeugt.
Noch als er Elli und den Kindern davon berichtet, ist er voller Wehmut. Vor dem Krieg hat er Leute vom Theater gekannt, den wilden Löwy, den sein Vater so verachtet hat, die jungen Schauspielerinnen, die ihren jiddischen Text kaum konnten, aber was lag in ihrem Spiel für eine Kraft, wie hatte er damals noch geglaubt.
Als Gerti das Mädchen am nächsten Vormittag zu seinem Strandkorb führt, sieht er es erstmals lächeln. Anfangs ist sie schüchtern, aber als er ihr sagt, dass er sie spielen gesehen hat, wird sie bald zutraulich. Er erfährt, dass sie Tile heißt, macht ihr Komplimente. Wie eine richtige Schauspielerin habe sie ausgesehen, worauf sie erwidert, sie habe hoffentlich wie eine Braut ausgesehen, denn eine Schauspielerin habe sie nicht gespielt. Dem Doktor gefällt ihre Antwort, sie lachen und lernen sich näher kennen. Ja, sie sei aus Berlin, sagt sie, weiß auch, wer der Doktor ist, denn in der Buchhandlung, in der sie arbeitet, hat sie vor Wochen eines seiner Bücher ins Schaufenster gelegt. Mehr scheint sie von sich nicht preisgeben zu wollen, nicht solange Gerti dabeisteht, und so lädt sie der Doktor zu einem Spaziergang auf der Landungsbrücke ein. Sie möchte Tänzerin werden, stellt sich heraus, was auch der Grund für ihren Kummer ist, sie hat Ärger mit ihren Eltern, die es um jeden Preis verhindern wollen. Der Doktor weiß nicht recht, wie er sie trösten soll, der Beruf sei ebenso schön wie anspruchsvoll, aber wenn sie daran glaubt, wird sie eines Tages tanzen. Er meint sie zu sehen, wie sie über die Bühne fliegt, wie sie sich biegt, wie sie mit ihren Armen und Beinen fleht. Sie weiß es, seit sie acht ist, mit ihrem ganzen Körper. Der Doktor sagt lange nichts, während sie ihn erwartungsvoll anblickt, halb Kind, halb Frau.
Auch am nächsten Tag gehen sie spazieren und am übernächsten. Das Mädchen hat lange über die Worte des Doktors nachgedacht, ist sich aber nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hat. Der Doktor ist im Nachhinein unzufrieden mit seiner Antwort, vielleicht ist es ja falsch, sie in ihrem Traum zu bestärken, vielleicht hat er kein Recht dazu. Er erzählt von seiner Arbeit in der Versicherungsanstalt, wie das so ist, in den Nächten, wenn er schreibt, allerdings schreibt er derzeit nicht. Auch in der Anstalt arbeitet er nicht mehr, er ist seit einem Jahr pensioniert, nur deshalb sitzt er hier, auf der Landungsbrücke mit einer hübschen Berlinerin, die in ein paar Jahren Tänzerin sein wird. Jetzt lächelt sie wieder und lädt den Doktor für morgen zum Essen ein, am Freitagabend gibt es im Ferienheim immer eine kleine Feier, die Betreuer hat sie vorhin gefragt. Er sagt sofort zu, auch weil es der Freitag ist, und so wird er mit seinen vierzig Jahren zum ersten Mal in seinem Leben einen Freitagabend feiern.
Schon am Nachmittag kann er vom Balkon aus die Vorbereitungen beobachten. Er hat sich auf sein Zimmer zurückgezogen und schreibt Postkarten, über das Meer und die Gespenster, denen er fürs Erste entlaufen zu sein scheint. Er schreibt an Robert und die Bergmanns, zum Teil mit denselben Formulierungen, sehr lange über die Kinder. Von Tile weiß er, dass das Ferienheim Kinderglück heißt, und also schreibt er: Um meine Transportabilität zu prüfen, habe ich mich nach vielen Jahren der Bettlägerigkeit und der Kopfschmerzen zu einer kleinen Reise nach der Ostsee erhoben. Ein Glück hatte ich dabei jedenfalls. 50 Schritte von meinem Balkon ist ein Ferienheim des Jüdischen Volksheims in Berlin. Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehn. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Ostjuden, durch Westjuden vor der Berliner Gefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks.
Es bleibt noch Zeit für einen kleinen Spaziergang, dann macht er sich langsam für den Abend fertig, holt den dunklen Anzug aus dem Schrank, prüft vor dem Spiegel die Krawatte. Er ist neugierig, was ihn da drüben erwartet, auf den genauen Ablauf der Feier, die Lieder, die Gesichter, aber mehr ist da nicht, er erhofft sich nichts für sich.
Dora sitzt am Küchentisch und nimmt gerade Fische für das Abendessen aus. Sie hat seit Tagen an ihn gedacht, und plötzlich ist er da, ausgerechnet Tile hat ihn gebracht, und er ist allein, ohne die Frau vom Strand. Er steht in der Tür und betrachtet erst die Fische, dann ihre Hände, mit einem leisen Tadel, wie sie glaubt, aber es ist ohne Zweifel der Mann vom Strand. Sie ist so überrascht, dass sie nicht genau hört, was er sagt, er sagt etwas zu ihren Händen, so zarte Hände, sagt er, und so blutige Arbeit müssen sie verrichten.Dabei sieht er sie voller Neugier an, staunend, dass sie da tut, was sie als Köchin eben tut. Leider bleibt er nicht lang, Tile möchte ihn weiter durchs Haus führen, einen Moment steht er noch am Tisch, dann ist er fort.
Kurze Zeit ist sie wie betäubt, hört von draußen die Stimmen, Tiles Lachen, sich entfernende Schritte. Sie fragt sich, was nun ist, stellt sich vor, wie er in Tiles Zimmer steht und nicht weiß, dass es auch Doras ist. Ob Tile ihm das sagt? Sie vermutet, eher nicht. Sie denkt an das erste Mal am Strand, als sie ihn entdeckte, mit dieser Frau und den drei Kindern. Auf die Frau hat sie nicht groß geachtet, sie hat nur Augen für den jungen Mann gehabt, wie er schwamm, wie er sich bewegte, wie er lesend im Strandkorb saß. Anfangs hat sie ihn wegen seiner dunklen Haut für einen Halbblut-Indianer gehalten. Er ist verheiratet, was erhoffst du dir, hat sie sich gesagt, aber trotzdem weiter gehofft. Einmal ist sie ihm und seiner Familie bis in den Ort gefolgt, sie hat von ihm geträumt, auch von Hans, aber an Hans denkt sie jetzt lieber nicht oder nur in dem ungefähren Sinne, dass sie es sollte.
Zwei Stunden später, beim Abendessen, trifft sie den Doktor wieder. Er sitzt weit weg, am Ende des Tisches neben Tile, die vor Stolz fast platzt, denn ohne Tile wäre er nicht gekommen. Seit zwei Tagen heißt es bei jeder Gelegenheit, der Doktor, der Doktor, er ist ein Schriftsteller, am Freitag werdet ihr ihn kennenlernen, und nun ist es niemand anders als der Mann vom Strand. Tile hat ihn soeben vorgestellt, es folgen die Segenssprüche, der Wein, die Verteilung des Brotes. Der Doktor wirkt, als wäre das meiste völlig neu für ihn, und schaut wieder und wieder zu ihr hin, während des ganzen Essens, mit diesem sehnsuchtsvollen Blick, den sie bereits zu kennen glaubt. Später, bevor er geht, kommt er zu ihr und fragt nach ihrem Namen; den seinen kenne sie ja schon, mit ihrem müsse sie ihm helfen. Er sieht sie mit seinen blauen Augen an, nickt und denkt über den Namen nach, offenbar gefällt er ihm. Sie sagt zu ihm, viel zu schnell: Ich habe Sie gesehen, am Strand, mit Ihrer Frau, obwohl sie doch weiß, dass das nicht seine Frau gewesen sein kann, denn warum wäre ihr sonst so leicht ums Herz, seit er bei ihr in der Küche gestanden hat? Der Doktor lacht und bestätigt, dass es seine Schwester ist. Auch die Kinder sind von seiner Schwester, er hat noch eine zweite, Valli mit ihrem Mann Josef, die ihr vielleicht schon aufgefallen sind. Er fragt, wann er sie wiedersehen darf. Ich würde Sie gerne wiedersehen, sagt er, oder: Ich hoffe, wir sehen uns wieder, und sie sagt sofort Ja, aber gern, denn wiedersehen möchte sie ihn auch. Morgen?, fragt sie, und eigentlich möchte sie rufen, wenn Sie wach sind, wann immer Sie wollen. Er schlägt vor, am Strand, nach dem Frühstück, wenngleich sie ihn lieber für sich allein in der Küche gehabt hätte. Auch Tile lädt er ein. Sie hat gar nicht gewusst, dass es Tile noch gibt, aber leider, sie ist da, man sieht, wie verliebt sie in den Doktor ist, und dabei ist sie erst siebzehn und hat mit Männern gewiss so gut wie keine Erfahrung.
Dora hat das Mädchen von Anfang an gemocht, denn es ist ein bisschen wie sie, es muss immer gleich sagen, was ihm durch den Kopf geht. Tile ist nicht unbedingt hübsch, aber man merkt, dass sie voller Leben ist, sie mag ihren Körper, die langen schlanken Beine, richtig wie eine Tänzerin. Dora hat sie schon tanzen sehen, und wie sie weint und dann von einer Sekunde auf die andere lacht, wie das Wetter im April.
Bis weit nach Mitternacht hat ihr Tile den Besuch des Doktors nachbuchstabiert, was er genau gesagt hat, über das Haus, das Essen, die feierliche Stimmung, dass alle so fröhlich waren. Dora äußert sich nicht dazu, sie hat ihre eigenen Beobachtungen, denen sie nachspürt und sich auf die eine oder andere Weise überlässt, als wären dieser Mann und die wenigen Augenblicke, die sie in seiner Nähe war, etwas, dem man sich überlassen muss. Noch als Tile längst schläft, beginnt sich etwas in ihr auszubreiten, ein Ton oder ein Duft, etwas, das am Anfang beinahe nichts ist und dann fast dröhnend von ihr Besitz ergreift.
Am nächsten Vormittag am Strand gibt er ihr zur Begrüßung die Hand. Er hat auf sie gewartet und findet, dass sie müde aussieht. Was ist?, scheint er zu sagen. Und weil da Tile ist und seine Nichte Gerti, lächelt sie ihn nur irgendwie an, sagt etwas zum Meer, zum Licht, wie es um sie steht, jetzt, in diesem Licht, obwohl sie nur ein paar Sätze miteinander gesprochen haben, aber mit diesen Sätzen, Blicken muss sie jetzt leben. Ins Wasser will er offenbar nicht; Tile möchte, und so haben sie ein paar Minuten. Drüben, die Schwester hat sie bereits entdeckt, wie konnte sie nur glauben, dass das seine Frau ist.
Und jetzt reden sie und vergessen, dass sie reden, denn kaum hat einer etwas gesagt, ist es gleich weg, sie sitzen da am Strand wie unter einer Glocke, die jeden Laut sofort verschluckt. Der Doktor stellt ihr tausend Fragen, woher sie kommt, wie sie lebt, er schaut auf ihren Mund, immerzu auf ihren Mund, flüstert etwas zu ihrem Haar, ihrer Gestalt, was er gesehen hat, was er sieht, alles ohne ein einziges Wort. Jetzt redet sie über ihren Vater, wie sie fortgelaufen ist, erst nach Krakau und dann weiter nach Breslau, als wäre sie nur fort, um eines Tages hier bei diesem Mann zu sein. Sie redet von ihren ersten Wochen in Berlin, weiß sie nachher noch, und wie es plötzlich aufhört, weil Tile kommt; nur weil Tile kommt und sie von hinten mit ihren nassen Händen erschreckt, fällt ihr ein, dass sie zurück in die Küche muss. Der Doktor steht sofort auf und fragt, ob er sie begleiten darf, leider will auch Tile mit, aber dafür lädt sie ihn erneut zum Abendessen ein.
Fische gibt es heute nicht, diesmal sitzt sie vor einer Schüssel Bohnen. Sie hat gehofft, dass er kommt. Oh, wie schön, so früh, setzen Sie sich doch, ich freu mich, sagt sie. Der Doktor beobachtet sie bei der Arbeit, eine ganze Weile, er sagt, dass er sie gerne anschaut, ob ihr das aufgefallen sei. Sicher werde sie auch in Berlin sehr viel angeschaut, und aus einem ungenauen Grund kann sie sagen: Ja, dauernd, auf der Straße, in der Bahn, im Restaurant, falls sie mal im Restaurant ist, womit sie nicht sagen will, dass es dann so ist, wie wenn der Doktor sie anschaut. Und damit sind sie in Berlin. Der Doktor liebt Berlin, kennt sogar das Jüdische Volksheim und möchte wissen, wie sie dort Köchin geworden ist, und später möchte er, dass sie etwas auf Hebräisch sagt, das zu lernen er sich in den letzten Jahren bemüht habe bei einer Lehrerin namens Puah, leider ohne großen Erfolg. Sie muss kurz überlegen, ehe sie sich wünscht, beim Essen neben ihm zu sitzen, und er antwortet, nicht ganz fehlerfrei auf Hebräisch, er habe die halbe Nacht darüber nachgedacht, und dazu verbeugt er sich und nimmt ihre Hand und küsst sie auch, halb im Scherz, damit sie nicht erschrickt. Trotzdem erschrickt sie. Auch später beim Kartoffelschälen, als er wie zufällig ihre Hand berührt, erschrickt sie, weniger über ihn als über sich selbst, wie wild und ausgeliefert sie sich fühlt, als gäbe es nicht die geringste Bedingung.
Nach dem Abendessen am Sonntag gehen sie spazieren. Sie haben sich richtig verabredet, in einem unbeobachteten Moment am Strand, weil sie Tile nicht kränken wollen, die weiter so tut, als gehöre der Doktor ihr. Nachmittags, als sie alle ins Wasser gehen, ertappt sich Dora, wie sie sich mit Tile vergleicht. Tile rennt einfach los, mit ihren langen Beinen durchs flache Wasser, dass es nur so spritzt, aber der Doktor, der ihr noch schmaler und zarter vorkommt, sieht gar nicht richtig hin. Auch zu Dora sieht er nur kurz hin, aber sie meint zu spüren, wie er sie mustert, Arme, Beine, Becken, den Busen, ja, und es ist ihr recht, dass er alles bemerkt und es zusammenzieht zu einem Bild, weniger fragend als bestätigend, als hätte er das meiste längst gewusst. Das Wasser ist warm und flach, eine Weile zögern sie, hineinzugehen, Tile wird bereits ungeduldig, hoffentlich hat sie die Szene nicht beobachtet.
Die Schwester ist eher höflich als freundlich, als der Doktor sie am Vormittag einander vorstellt. Von seinen Erzählungen kennt man sich ja schon. Elli weiß, dass Dora Köchin ist und drüben im Ferienheim das beste Essen von Müritz kocht, und Dora weiß, dass sie den Doktor ohne Elli nicht kennen würde. Sie mag, wie sie über ihn spricht, ihr Bruder, sagt sie, sei leider ein schlechter Esser, nur mit viel Geduld und Liebe lasse er sich hin und wieder überreden.
Für den Spaziergang hat Dora das dunkelgrüne Strandkleid angezogen. Es ist nach neun und noch ziemlich hell, und es ist eine Freude, so neben ihm zu gehen und zu spüren, dass er sich nicht weniger freut. Sie könnten sich vorne auf der ersten Landungsbrücke auf eine der Bänke setzen und den Leuten beim Flanieren zuschauen, aber der Doktor will weiter zur zweiten. Dora hat die Schuhe ausgezogen, denn sie geht gern im Sand, der Doktor bietet ihr den Arm an, und da sind sie wieder in Berlin. Der Doktor kennt Berlin aus den Jahren vor dem Krieg, sie ist überrascht, wie viel er weiß, er nennt ein paar Orte, die wichtig für ihn gewesen sind, den Askanischen Hof, in dem er einst einen furchtbaren Nachmittag erlebt habe, trotzdem möchte er seit Jahren nach Berlin. Ja, wirklich?, sagt sie, die eher zufällig in die Stadt gekommen ist, drei Jahre ist das her. Er fragt sie, in welcher Gegend sie wohnt, wie es dort ist, die seltsamsten Dinge will er wissen, die Preise für Brot und Milch und die Heizung, die Stimmung auf der Straße, fünf Jahre nach dem Ende des Krieges. Ruppig und hektisch ist Berlin und voller Flüchtlinge aus dem Osten, erzählt sie, das Viertel, in dem sie lebt, ist voll davon, überall singende, zerlumpte Familien, die aus dem schrecklichen Osten stammen.
Der Strandspaziergang ist inzwischen zu Ende, sie sitzen auf einer schmalen Bank, im vorderen Drittel der zweiten Landungsbrücke unter dem trüben Licht einer Laterne. Sie sind noch immer bei Berlin, der Doktor erzählt von seinem Freund Max, der eine Geliebte namens Emmy dort hat. Jetzt muss sie leider ein paar Sätze über Hans sagen, wenigstens erwähnen muss sie ihn, zumal der Doktor von einer Verlobten spricht, aber das ist tausend Jahre her. Alles ist tausend Jahre her. Der Doktor beginnt zu träumen, wie das wäre, wenn er nach Berlin käme, worauf sie erwidert, das wäre doch sehr schön, denn dann könnte sie ihm alles zeigen, die Theater, die Varietés, das Gewusel am Alexanderplatz, obwohl es auch stille Ecken gibt, weiter draußen, in Steglitz oder am Müggelsee, wo die Stadt sich mit dem Land berührt. Wer hätte das gedacht, sagt der Doktor, ich reise an die Ostsee und lande in Berlin. Er sei sehr froh, hier mit ihr zu sitzen, sagt er. Das ist sie auch.
Die Brücke hat sich nach und nach geleert, es muss bald Mitternacht sein, nur hie und da ein Paar ist zu sehen, die schlafenden Möwen auf den Bohlen und weiter weg die Lichter von den Hotels. Ein leichter Wind ist aufgekommen, der Doktor fragt, ob ihr kalt ist, ob sie gehen will, aber sie möchte noch bleiben, er soll ihr erzählen von der Verlobten oder von diesem Nachmittag, falls das nicht dasselbe ist, und der Doktor sagt, dass es praktisch dasselbe ist.
In der Nacht liegt sie lange wach. Gegen halb zwei hat er sie nach Hause gebracht, kurz danach hat es zu gewittern begonnen, man hat den Eindruck, direkt über dem Heim, denn zwischen Blitz und Donner vergehen nur Sekunden. Das halbe Haus scheint wach zu sein, auch Tile in ihrem Bett, die sofort fragt, wo sie gewesen ist. Hast du ihn getroffen? Dora antwortet, ja, wir sind ein bisschen spazieren gegangen, und jetzt dieses Getöse. Sie warten, bis das Gewitter weiterzieht, draußen ist es merklich kühler geworden, Dora hat das Fenster aufgemacht und nach drüben zu seinem Balkon geschaut, aber dort ist alles dunkel.
Es regnet bis zum nächsten Morgen und dann weiter bis zum Abend, der Doktor kommt erst am Nachmittag, aber jetzt ist es beinahe schon eine Gewohnheit, dass er da sitzt und sie ausfragt, als würden ihm die Fragen nie ausgehen. Sie mag die Förmlichkeit des Sie, das nur eine Fassade ist, wie sie weiß, eine vorübergehende Verkleidung, die sie eines Tages ablegen werden. Sie kann sagen: Ich habe an Sie gedacht, heute beim Frühstück haben wir über Sie gesprochen, denken Sie noch an Berlin? Sie denkt ununterbrochen daran. Manchmal muss sie sich ermahnen, weil es doch nur Träume sind, sogar in ihr Zimmer in der Münzstraße hat sie ihn in Gedanken bereits geführt, obwohl ihr an dem Zimmer nichts liegt, es hat kein fließendes Wasser, im Grunde ist es nur eine Kammer mit Schrank und Bett, in einem dunklen Hinterhof.
Sie hält ihn für Mitte dreißig, was bedeutet, dass er etwa zehn Jahre älter sein müsste als sie. Er ist nicht gesund, hat er gesagt, die Spitzen seiner Lungen haben sich erkältet, deshalb das Meer und das Hotel im Wald; nur weil er seit Jahren nicht gesund ist, hat sie ihn getroffen.
Es ist sein Mund, das Reden, das wie ein Bad ist, wie er sie in Ruhe durchdringt. Kein Mann zuvor hat sie so angeschaut, er sieht das Fleisch, unter der Haut das Beben, das Zittern, und alles ist ihr recht.
Einmal ist sie sehr glücklich, als er von einem Traum erzählt. In diesem Traum fährt er nach Berlin, er sitzt seit Stunden im Zug, aber aus irgendwelchen Gründen geht es nicht voran, zu seiner Verzweiflung bleiben sie dauernd stehen, er wird nicht rechtzeitig da sein, dabei wird er am Bahnhof erwartet, abends um acht, und jetzt ist es sieben, und er hat nicht mal die Grenze passiert. Das ist der Traum. Auch Dora hat gelegentlich so geträumt und findet das Wichtigste, dass er erwartet wird. Ihr würde das Warten nichts ausmachen, sagt sie, dann säße sie eben die halbe Nacht auf einer Bank. Der Doktor sagt: Ja, meinen Sie? Bis gestern hat er Fräulein zu ihr gesagt, das mochte sie, aber jetzt nennt er sie bloß noch Dora, denn Dora kommt von Geschenk, er müsste es sich nur nehmen, sie wartet darauf.
Am meisten überrascht den Doktor, dass er schläft. Er ist dabei, sich in ein neues Leben zu stürzen, er müsste sich fürchten, er müsste zweifeln, aber er schläft, die Gespenster lassen sich nicht blicken, obwohl er sie immerzu erwartet, in seinem Kopf die alten Schlachten. Aber diesmal scheint es keine Schlacht zu geben, es gibt das Wunder, und es gibt den Plan, der aus diesem Wunder folgt. Er denkt nicht viel an sie, er atmet sie ein und wieder aus, an den Nachmittagen in der Küche, wenn sie in Gedanken durch Berlin spazieren, beim Essen, wenn ein Duft von ihr herüberweht. Abends, im Bett, beschäftigt er sich ab und zu mit einem Satz, mit einem Stück Haut, dem Saum ihres Rockes, wie sie beim Essen die Gabel hielt, gestern, als er sie nach ihrem Vater gefragt hat, der ein strenggläubiger Jude ist und mit dem sie seit Langem im Zerwürfnis lebt. In seinen Träumen taucht sie vorläufig nicht auf. Aber er verliert sie nicht im Schlaf, weiß am Morgen sofort, dass sie irgendwo ist, als wäre da zwischen ihm und ihr ein Seil, an dem sie sich langsam zueinander hin ziehen. Er hat sie bisher kaum berührt, aber nicht nur am Rande weiß er, der Tag wird kommen, an dem er sie berühren wird, doch er hasst sich nicht dafür, fast als wäre es sein Recht und der Schrecken ein überwundener Aberglaube.
Seit einer Woche treffen sie sich jeden Tag. Seine Schwestern und die Kinder sieht er vorwiegend zum Frühstück, erst gestern hat er sich anhören müssen, dass er zu wenig Zeit für sie hat. Elli hat das gesagt, aber als wäre sie in Wahrheit sehr einverstanden mit ihm und dieser Dora, und dass er da also eine Beschäftigung hat in diesem verschlafenen Müritz und seine Nächte nicht mit seinen komischen Geschichten verbringt. Über seine Arbeit hat der Doktor nie gern gesprochen. Würde sie danach fragen, würde er antworten, dass er nicht mal Briefe schreibt, auch nicht an Max, dem er immerhin mitteilen könnte, dass er überlegt, nach Berlin zu gehen. Aber dazu ist die Möglichkeit zu zart, mehr ein Hauch als ein Gedanke, etwas, das sich in Worte kaum fassen lässt und durch einen einzigen falschen Satz, so fürchtet er, vertrieben würde.
Max würde gefallen, dass sie aus dem Osten ist. Seit die Städte voll mit Flüchtlingen sind, reden alle vom Osten, auch Max, der sich Rettung für alle Juden von dort erhofft, aber es gibt keine Rettung, auch nicht aus dem Osten.
Wer aus dem Osten ist, hat von heute auf morgen sein Leben hinter sich gelassen, deshalb ist Dora sehr viel freier als er, entrissener und darum zugleich gebundener, jemand, der weiß, wo seine Wurzeln sind, gerade weil er sie gekappt hat. Sie kommt dem Doktor nicht dunkel vor, wie Max wahrscheinlich behaupten würde, als wäre sie einem Roman von Dostojewski entsprungen.Auch Emmy ist alles andere als dunkel, denn die Geliebte von Max ist eine waschechte Berlinerin, blond und blauäugig, und das einzige Geheimnis, das sie hat, ist ihre Verbindung zu Max, der durch sie erst erfahren haben will, was körperliche Erfüllung ist. Gegenüber dem Doktor hat er sich bereits mehrfach in diese Richtung geäußert, zum Glück ohne ins Detail zu gehen, aber Max ist sein Freund, er ist verheiratet, die bezaubernde Emmy hat ihn, wie es scheint, ein wenig aus der Bahn geworfen. Zum Glück leben sie nicht in derselben Stadt, was natürlich ebenso ein Pech ist, jedenfalls für Emmy, die sich darüber beklagt, dass sie sich viel zu selten sehen. Auch beim Doktor hat sie sich beklagt, er hat sie auf der Hinfahrt in ihrem Zimmer am Zoologischen Garten besucht und sie darum gebeten, sich in die Lage von Max zu versetzen.
Dora lacht über solche Geschichten. Sie sitzen am Strand und erzählen sich Geschichten vom Warten. Auch der Doktor hat sein halbes Leben gewartet, zumindest ist das im Nachhinein sein Gefühl, man wartet und glaubt nicht daran, dass noch jemand kommt, und auf einmal ist genau das geschehen.
Am nächsten Vormittag regnet es in Strömen. Der Doktor steht auf dem Balkon und beobachtet in der Kolonie ein großes Hin und Her, denn heute reist die Hälfte der Kinder zurück nach Berlin. Es ist Sonntag, auch Tile muss zurück, gegen elf steht sie im Regenmantel in der Empfangshalle und kämpft mit den Tränen. Der Doktor hat ihr zum Abschied ein Geschenk gekauft, eine rubinrote Schale, die sie vor Tagen in einem Schaufenster entdeckt hat. Sie hat von dieser Schale oft gesprochen, deshalb kann sie es vor Freude kaum fassen. Wir sehen uns in Berlin, verspricht der Doktor, womit er nur sagt, dass er sie auf der Rückreise in ihrer Buchhandlung besuchen wird. Trotzdem weint sie jetzt. Der Doktor fragt, aber warum, und sie schüttelt den Kopf und behauptet, weil sie sich freut. Hat er die Adresse? Der Doktor nickt, er hat alles notiert, er wird ihr schreiben, sobald er weiß, wann genau er kommt, denn wenn es weiter so regnet, werden seine Schwestern bald nach Hause wollen. Jetzt wird der Abschied doch sehr lang. Tile streichelt die rote Schale, der Doktor macht ihr noch einmal Mut wegen ihrer Eltern, bei denen neuerlich zu leben sie sich nicht vorstellen mag, aber der Doktor sagt, du musst, denk an deine Tanzschuhe, du hast es versprochen.
Fast ist er erleichtert, dass sie weg ist. Er würde das vor Dora nicht aussprechen, aber auch Dora wirkt erleichtert, obwohl sie das Fehlen Tiles sofort bemerken. Solange es das Mädchen gab, fühlten sie sich beobachtet, sie waren nicht frei, aber auch unbekümmerter.