Die Hex ist tot - Monika Geier - E-Book

Die Hex ist tot E-Book

Monika Geier

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Beschreibung

Kein Pfefferkuchen für Bettina Boll Eine Serie aufgestemmter Gullideckel, das ist doch wohl kein Fall für die Kriminalpolizei! Es sei denn, im darunterliegenden Kanalschacht steckt eine Leiche. Kommissarin Bettina Boll, in diesem Fall »ausgeliehen« an die Lautringer Kripo, stößt zunächst auf kollektives Mauern, dann auf merkwürdige Märchen-Motive. Sogar in ihrer Familie taucht eine Hexe auf. Und das Morden geht weiter. »Boll ist zwerchfellerschütternd normal, eine junge Frau wie Hunderttausende, verliebt, unbeherrscht, schlampig, manchmal mit Migräne, immer mit Intuition und scharfem Verstand. Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots.« Tobias Gohlis, Die Zeit

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Über das Buch

Eine Serie aufgestemmter Gullideckel, das ist doch wohl kein Fall für die Kriminalpolizei! Es sei denn, im darunterliegenden Kanalschacht steckt eine Leiche. Kommissarin Bettina Boll, in diesem Fall »ausgeliehen« an die Lautringer Kripo, stößt zunächst auf kollektives Mauern, dann auf merkwürdige Märchenmotive. Sogar in ihrer Familie taucht eine Hexe auf. Und das Morden geht weiter.

»Boll ist zwerchfellerschütternd normal, eine junge Frau wie Hunderttausende, verliebt, unbeherrscht, schlampig, manchmal mit Migräne, immer mit Intuition und scharfem Verstand. Monika Geier verfügt über die Bösartigkeit aller guten Krimiautorinnen, über Witz und die Raffinesse für wirklich subtile Plots.«

Über die Autorin

Monika Geier, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. Für ihr Debüt wurde Geier mit dem Marlowe geehrt. Inzwischen ist sie Diplomingenieurin für Architektur, Mutter von drei Jungs, freie Künstlerin und Schriftstellerin.

Monika Geier

Die Hex ist tot

Roman

Mit einem Vorwort von Else Laudan

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2013

www.culturbooks.de

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2013

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Umsetzung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 1.10.2013

ISBN 978-3-944818-01-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Zwölf a

Mitten aus der Wirklichkeit

Ein Vorwort von Else Laudan

Auf Samtpfötchen kommen sie daher, unaufgeregt, beiläufig, ja bescheiden: Monika Geiers präzise Einblicke ins ganz Normale, ins unspektakulär Menschliche haben so gar nichts von flammenden Anklagen, und doch treffen sie stets auf entlarvende Weise ins Schwarze.

Auf Samtpfötchen kommen sie daher, unaufgeregt, beiläufig, ja bescheiden: Monika Geiers präzise Einblicke ins ganz Normale, ins unspektakulär Menschliche haben so gar nichts von flammenden Anklagen, und doch treffen sie stets auf entlarvende Weise ins Schwarze.

Kriminalkommissarin Bettina Boll hat durchaus eine finstere Seite, bedenkt man den sanften, aber rabenschwarzen Humor und die leise mitschwingenden düsteren Töne, die ihre Geschichte begleiten und untermalen wie die dunklen Noten eines Kontrabasses. Doch es gibt in Geiers Kosmos keine »mean streets«, keine hektischen urbanen Schusswechsel oder Gangsterkriege, keine Gewaltorgien und wenig Verschwörung. Die handelnden Personen (ich mag sie gar nicht Figuren nennen, das würde ihnen irgendwie nicht gerecht) entspringen in geradezu unfassbarem Maße der so komplexen und diversen und dabei so banalen Wirklichkeit.

Bei jeder von ihnen denke ich: Ja, diesen Menschen gibt es tatsächlich, das ist echt. Die Dicken, die Dummen, die Gestörten, die Selbstherrlichen, die Missgünstigen und die Scheiternden: Monika Geier erweckt sie aufs Zärtlichste zu literarischem Leben, zieht sie aus dem Dunkel ihrer peinlichen Gewöhnlichkeit ins warme Licht des Erzählenswerten und stellt sie uns vor. Sie ist eine Künstlerin, die das von ihr souverän beherrschte Genre Kriminalroman nutzt, um das Profane bedeutsam zu machen, das Stumpfe bedrohlich und das Traurige beschmunzelbar.

Kurt Tucholsky soll gesagt haben: »In der Kunst gibt es nur ein Kriterium: die Gänsehaut. Man hat es, oder man hat es nicht.« Sicher ist: Monika Geier hat es.

Hänsel und Gretel verirrten sich im Wald

Es war so finster und auch so bitterkalt

Sie kamen an ein Häuschen von Pfefferkuchen fein –

Eins

»Was meinst du, was der wiegt?« Kriminalkommissarin Bettina Boll stellte sich probehalber auf den Kanaldeckel, der vor ihr im Boden eingelassen war, und hüpfte ein wenig hin und her. Der Deckel war ein ganz gewöhnlicher, wie er in jeder Straße vorkommt: gusseisern und mit einem Betonkern. Er bewegte sich nicht.

»Tja.« Ackermann blickte kurz über seine Fliegersonnenbrille. Er war ein Berg von einem Mann, seine Stirn eine Spur zu hoch, seine Hände etwas schwielig. In Uniform würde er vermutlich überaus eindrucksvoll wirken, doch Bettina hatte ihn noch nie in einer gesehen. Meistens trug er irgendwelche staubigen khakifarbenen Klamotten, als käme er direkt von einer Bundeswehrübung. »Einen halben Zentner bestimmt«, sagte er.

»Wie macht man die normalerweise auf? Wenn man wirklich an den Kanal muss?«

Ackermann zuckte die Achseln und kritzelte etwas in seinen Ordner. »Eisenstange«, sagte er. »Man steckt sie in eins von den Löchern und zieht mit viel Schmackes.«

»Wir sollten es mal ausprobieren«, sagte Bettina.

Ackermann blickte auf.

»Um zu sehen, wie schwer es ist.«

»Das ist nicht schwer.«

»Dann waren das vielleicht einfach nur Kinderstreiche. Lasst uns die Gullideckel in der Straße vom ollen Herrn Meier aufmachen, der brüllt immer so.«

»Nee«, schwenkte Ackermann um, »Kinder kriegen das nicht auf.«

»Also mein Enno ist zwölf und mindestens so stark wie ich. Und ich packe diesen Kanaldeckel, da wette ich.«

»Diese Schachtabdeckung«, korrigierte Ackermann und ließ überheblich die Sonnenbrille blitzen.

»Ach komm.«

»Tina. Das war eine Serie.« Ackermann hielt Bettina den Schnellhefter entgegen. »Jedes Blatt eine Anzeige, jede Anzeige eine illegal geöffnete Schachtabdeckung. Und sicher gibt es noch eine hohe Dunkelziffer. Das war ein Kranker.«

Bettina verschränkte die Arme. »Okay. Was hältst du davon: Irgendwo auf Facebook existiert eine geheime, superangesagte Gruppe, bei der du für einen offenen Kanaldeckel hundert Freunde kriegst. Ein Juxforum. Eine Art Flashmob, weißte? Und damals vor vier Jahren war halt Ludwigshafen dran.«

Ackermann starrte sie durch seine halbverspiegelten Brillengläser an.

»Ein Flashmob«, sagte Bettina heiter, »ist eine übers Internet organisierte spontane Zusammenkunft vieler Menschen, die –«

»Weiß ich«, ranzte Ackermann und ließ seinen Blick über die Gärten schweifen. Je länger sie hier standen, desto stiller schien es zu werden. Niemand kam vorbei, weder Fußgänger noch Autofahrer, die Gegend lag brütend im gleißenden Vormittagslicht. »Mag sein, dass du recht hast«, sagte der Kollege schließlich. »Andererseits ist es über Monate gegangen. Verdammt lang für einen Flashmob. Und außerdem hat es hier angefangen.«

Ein Rasenmäher schnurrte plötzlich los, ganz in der Nähe, es war ein behagliches, absolut nicht flashmobartiges Geräusch. Bettina meinte sofort auch das frisch geschnittene Gras zu riechen. Zwei der Häuser hatten sogar noch alte Fernsehantennen wie Drahtgeweihe auf dem Dach. »Hm«, machte sie.

»Tja«, sagte Ackermann.

»Wer hat die Sache angezeigt?«, fragte Bettina schließlich.

Ackermann blickte in seinen Ordner. »Herr Föck, Hainbuchenweg 22.«

Herr Föck war etwas angesäuert, weil es vier Jahre gedauert hatte, bis sich endlich jemand der Sache annahm. Glücklicherweise konnte er sich aber noch genau erinnern, wie er eines schönen Frühsommermorgens seinen Fritz Gassi geführt und den geöffneten Schacht auf dem Wendehammer nur um Haaresbreite verfehlt hatte. Herr und Hund waren mit dem Schreck davongekommen, aber ebenso gut hätte einer von beiden in die Tiefe stürzen können. Es war ein Angriff auf die allgemeine Sicherheit. Für diese Tat kam nur jemand aus dem Haus gegenüber infrage, das war nämlich ein Mietshaus.

Ackermann und Bettina drehten sich gemeinsam zu dem Gebäude um, das nicht aussah wie ein Mietshaus und erst recht nicht wie eine Brutstätte der Anarchie, voller Typen, die ihre Bürgerpflichten den Hausbesitzern aufhalsten und in der Straße offene Kanaldeckel hinterließen.

»Können Sie uns einen Namen nennen?«, fragte Bettina und zückte ihr Notizbuch.

»Tun Sie das weg«, antwortete Föck, tätschelte ihre Hand und verschwand ohne Erklärung in seinem kühlen Flur. Die Tür ließ er offen, und sofort nahm ein Terrier den Platz auf der Schwelle ein. Das Tier knurrte exakt ein Mal, dann wartete es stumm.

»Lass uns gehen«, sagte Ackermann.

»Moment«, sagte Bettina. »Ich glaube, er holt was.«

»Was denn?«, fragte Ackermann.

»Weiß nicht.« Bettina versuchte ins Haus zu spähen. Der Hund bellte.

»Nicht so schnell, nicht so schnell, ich bin ja gleich da«, rief Föck von drinnen. Er kam keuchend heraus und reichte Bettina drei aneinandergeheftete DIN-A4-Seiten. Auf die erste war mit Bleistift maßstabsgetreu ein Grundriss des Hainbuchenwegs mit allen Häusern gezeichnet. Der Schacht, der einst so lebensgefährlich offen gelegen hatte, war rot eingetragen, und alle Häuser waren mit Namen beschriftet. Auf den beiden folgenden Blättern stand eine Liste dieser Namen mit Alter, Familienstand, Familienangehörigen, Beruf und Gewohnheiten der zugehörigen Personen.

»Das wird Ihnen helfen«, sagte Föck stolz.

Bettina starrte die Papiere an. »Oh«, brachte sie heraus. »Oh. Vielen Dank.«

»Es ist der Stand von vor vier Jahren«, erklärte Föck. »Die mit der Multiplen Sklerose«, er tippte sich an die Stirn, »aus 34 ist ein Jahr später ins Heim gekommen. Ihre Tochter hat das Haus dann vermietet, ging ja nicht anders.« Achselzucken. »Und die Familie von gegenüber ist danach auch bald weggezogen, jetzt wohnen da schon die dritten in Folge. Scheidungshaus. Ansonsten leben alle noch hier.«

»Das ist – unglaublich«, sagte Bettina.

»Danken Sie mir nicht, finden Sie diesen Verbrecher«, sagte Föck kernig.

»Oh«, wiederholte Bettina. »Oh – ja.«

»Hör dir das an!« Sie saßen in Ackermanns Ulysse, unterwegs in die Nachbarstraße zum nächsten Kanaldeckel. »Fräulein Flickinger, Hainbuchenweg 34, Parterre, 10. Semester Architektur, Master, in der ersten Statikprüfung durchgefallen. – Wie hat der Föck das rausgekriegt?«

Ackermann zuckte die Achseln.

»Oder hier. Herr Schmitt aus Hainbuchenweg 43, Frührentner, hat bei der BASF gearbeitet, Frau heißt Simone, Tochter Alisha.«

»Aha«, machte Ackermann.

»Warte. Frau Simone hat seit zehn Jahren ein Verhältnis mit Herrn Zander aus 45, der als einer der Letzten in dieser Straße nach wie vor arbeitet. Für die Firma Opel.«

»Siehst du«, sagte Ackermann, »was ich immer sage: Frührente ist Mist. Man verliert sein ganzes Mojo.«

Bettina ließ Föcks Bespitzelungsliste sinken. »Man verliert was?«

Charmanterweise wurde der große Ackermann rot. »Na das Mojo, du weißt schon – da wären wir.«

Die Fahrt war tatsächlich sehr kurz gewesen. Sie hielten auf einem Wendehammer, alles war still und friedlich und heckengesäumt, keine Kinder, kein Straßenverkehr, die Sonne strahlte, die Luft duftete, und irgendwo bellte ein Hund.

»Grundbirngarten«, las Ackermann aus seinem Ordner vor. »Und wo ist der Schacht? Ah, dort vorn. Guck.«

Bettina guckte. Sie stieg aus und machte Fotos, sie klingelte den Anwohner heraus, der damals die Anzeige erstattet hatte, sie hörte sich seine Geschichte an und fuhr mit Ackermann in die nächste Straße. Und die übernächste. So arbeiteten sie sich von Wendehammer zu Wendehammer, von Hecken zu Gartenzäunen, von neuen Reihenhäusern zu alten Villen und sogar durch ein paar Industriebrachen, einen ganzen Tag lang.

Am Ende der Tour hatte Bettina Kopfschmerzen und Ackermann schlechte Laune. »Ich hoffe, das reicht dem Chef«, sagte er mürrisch, als er seinen fetten Van im Hof hinter der Ludwigshafener Dienststelle parkte.

»Hoffe ich auch.« Bettina knetete ihre Stirn. »Eins ist seltsam, du hast recht: dass nie jemand diesen Typen gesehen hat. Irgendwer müsste doch mal was bemerkt haben. Bei so vielen Kanaldeckeln.«

»Sag ich doch«, sagte Ackermann fatalistisch. »Das ist ein Psychopath.«

»Nein.«

»Siebenundzwanzig geöffnete Schachtabdeckungen, die zur Anzeige gebracht wurden, das heißt, mit der Dunkelziffer sind’s vermutlich fünfzig Fälle insgesamt, und acht davon haben Unfälle verursacht. Ein Psychopath, sag ich dir.«

»Aber es waren nur Mini-Unfälle«, hielt Bettina dagegen.

»Es sind Menschen zu Schaden gekommen.«

»Autos«, widersprach Bettina.

»Menschen in ihren Autos. – Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Seite ...?« Bettina öffnete die Klappe von Ackermanns Handschuhfach und schloss gleichzeitig ihre Augen, um den Schmerz kurz zu vertreiben. Blind tastete sie in dem Fach herum. »Hast du irgendwo noch Aspirin?«

»Vertrag ich nicht. – Also, wer schreibt?«

»Du bist dran«, sagte Bettina, klappte das Fach wieder zu und sah auf die Uhr. »Aber weißt du was, ich hab noch Zeit, die Kinder sind ja im Ferienlager. Na komm, weil du’s bist. Gib mir den Ordner.«

Ackermann reichte ihr mit strenger Miene die Kopien. »Schreib aber rein, dass wir das Muster erkannt haben, obwohl wir nicht an allen Schächten waren, sonst müssen wir das am Ende alles noch mal machen.«

Bettina seufzte. »Ich versteh sowieso nicht, wieso die Gradauspolizei uns braucht, um eine Serie geöffneter Kanaldeckel aufzuarbeiten. Noch dazu von vor vier Jahren.« Sie angelte nach ihrer Tasche, die auf dem Rücksitz lag.

»Wir sind eben Spezialisten.«

»Wofür? Die Unterwelt?«

»Serien.«

»Nur weil wir Kapitalverbrechen bearbeiten? Jetzt mal ganz ehrlich, wann hatten wir denn die letzte Serie? Ich glaube, da sind die Verkehrsfritzen von der PI 1 mit ihren Reifenschlitzern selbst viel näher dran als wir.«

»Aber wir haben die Ausbildung«, sprach Ackermann blasiert. »Und das sollte in unserem Bericht auch rüberkommen. Also keine Larifari-Formulierung, sondern richtig deutlich, Männersprache, klar? Dass das jetzt das endgültige und schlüssige Profil des Täters ist, dass wir vom K11 Erfahrung mit so was haben und die von der Einser Polizeiinspektion sich darauf hundertpro stützen können. Dass wir kompetent sind.«

»Wir haben das Mojo«, sagte Bettina ernst.

»Genau. Schreib, dass der Täter sich von eher Mitte Ludwigshafen, also Mundenheim, bis Friesenheim vorgearbeitet hat, und zwar fast systematisch, und dass es jetzt in Lautringen gerade erst anfängt. Dass er nur in Wohngebieten agiert, dass er in den frühen Morgenstunden aktiv wird, dass er das Abfallsieb immer mit rausnimmt, dass er keinen Deckel je zweimal gehoben hat, und vor allem, dass er noch nie gesehen wurde, was tatsächlich für krankhaftes Verhalten spricht.«

Bettina seufzte und legte Ackermann den Ordner auf den Schoß. »Wo ich so drüber nachdenke«, sagte sie, »schreibst doch besser du den Bericht.«

»He!«

»Hier.« Sie platzierte ihre Kamera auf dem Armaturenbrett. »Du weißt wenigstens, was wir sagen wollen.«

»Moment mal!«, rief Ackermann ihr hinterher, doch da war Bettina schon ausgestiegen und hielt auf ihren Taunus zu.

* * *

Bist aber spät, heute nicht direkt von der Schicht, Mandy? Noch aus gewesen? Hm? Dabei brauchst du gar keinen Mann, Mandy, hast doch das Essen! Der Sex des Alters. Ja, du bist ein ganz heißer Feger, Mandy – nur vorzeitig gealtert. Joke. So, jetzt aber pronto. Hach, aus dem Auto kommen ist wieder mal nicht leicht. Wie auch, wenn man mit den Brüsten lenkt. Weißt du was, Mandy, ich sag’s nicht gern, denn die Dinger sind Mist, aber ich glaube, so ein paar Oxys würden dir auch nicht schaden. Das ist die einzige Abnehmpille, die wirklich wirkt –

Okay. So ist’s fein. Schwabbel dich zu unserem Haus, ja, du kannst mir trauen, das Geld ist wie immer im Briefkastendeckel. Ach Gott, so fest hab ich es nicht geklebt, dass du dermaßen zerren musst. Ja, zähl nach, Mandy. Zähl ruhig. Und dann her mit den Oxys. Wie gut, dass du im Krankenhaus schaffst.

Was für eine Scheiße, dieses blöde Zeug. Dreißig Euro weg. Ja, kauf dir was Schönes, Mandy, fette Sau. Für dreißig Euro Chips mit Sahnetörtchen. Verdammt, ich hör damit auf. Ich hör auf!

Ich muss.

Zwei

»Tina!«

»Was?«

»Wir sollen zum Chef.« Ackermann erschien und füllte die Tür mit seinen breiten Schultern. »Morgen, Ladys«, flötete er, ohne vorher zu gucken, wer alles da war. Dann linste er nervös auf den leeren Platz von Nessa Kaiser, Bettinas Zimmerkollegin.

»Ich bin’s nur«, sagte Bettina. »Nessa kommt heute später.«

Der Kollege entspannte sich und lächelte Bettina verlegen zu. »Du siehst gut aus«, sagte er.

Bettina grinste. »Ich werde es ihr ausrichten.«

»Also echt«, sagte Ackermann. »Ich meine dich.«

Bettina warf ihm eine Kusshand zu. »Was will der Chef?«

Ackermann zuckte die Achseln. »Schachtabdeckungen«, sagte er. »Wir haben Besuch von der Polizeiinspektion Eins, die wollen reden.«

»Die Verkehrspolizei? Wieso?«

»Mehr weiß ich auch nicht«, sagte Ackermann. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Hoffentlich haben sie nichts an unserem Bericht auszusetzen.«

»Tja, als Dank hätte eine Mail gereicht.« Bettina schüttelte ihr Haar und drehte es im Nacken zusammen. »Haben sie Uniformen an?«

»Es ist nur einer.« Ackermann musterte Bettinas viel zu lässige Aufmachung, sie trug wie immer Cowboyboots, schwarze Hosen und ein verwaschenes dunkles T-Shirt. Von Enno. Ein Wilde Kerle-Schriftzug prangte darauf.

»Wer?«, fragte sie, Ackermanns kritischem Blick folgend. Eigentlich hätte sie nicht einmal auf einer Polizeischule so erscheinen dürfen.

»Ihr Boss. Und ja, er ist in Uniform.«

Es war sogar die auffälligste aller Uniformen, die neue blaue Kraftradlederkombi, mit passenden Stiefeln und einem silbernen Helm, den hatte der »Boss« der Ludwigshafener Polizeiinspektion Eins in Reichweite auf Härtings Schreibtisch gelegt. Er sah aus wie ein Stuntman. Bettina hätte beinahe eine Bemerkung über sein rasantes Outfit gemacht. Nur das verdrießliche Gesicht ihres Vorgesetzten Härting und die warnende Miene Ackermanns hielten sie davon ab.

»Erster Hauptkommissar Tomas von der PI Eins«, stellte Härting vor. »Wegen der Kanaldeckelsache.« Was er von dem silbernen Helm auf seinem Schreibtisch und überhaupt dem ganzen Tomas hielt, konnte Bettina deutlich sehen. Härtings Meinung nach waren Uniformen nur was für Schupos und Antiterroreinheiten, also für notdürftig für den Umgang mit Zivilisten geschulte Wilde. Ein Beamter von Rang dagegen, ein einigermaßen denkender Mensch und Entscheidungsträger konnte unmöglich ernsthaft in himmelblau glänzendem Leder herumlaufen. So etwas irritierte den Chef mindestens ebenso sehr wie Bettinas offenes Haar und ihr T-Shirt mit Spruch drauf. Härtings Blick glitt von dem Kollegen zu Bettina, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sagte trocken zu Tomas: »Das ist sie.«

Bettina setzte sich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Wir haben Ihre Analyse bekommen«, antwortete Tomas.

»Ich hoffe, wir konnten Ihnen helfen«, sagte sie verbindlich.

»Nein.« Tomas hatte tiefliegende, schmale Augen, scharfe Falten um den Mund und ein sarkastisches Dauerlächeln auf den Lippen. »Ehrlich gesagt sind Sie auf unsere wichtigste Frage gar nicht eingegangen.«

»Welche Frage?« Ackermann nahm auf der Rückenlehne des letzten freien Sessels Platz. Dieser Sessel war ein schweres Möbel und stand seit Eröffnung der Dienststelle mit der Sitzfläche zu einem kleinen Tischchen gewandt, an dem nie jemand saß. Den Sessel da rauszuholen wäre ohne Aufforderung ein Akt grober Unverschämtheit gewesen. Also begnügte Ackermann sich mit der Lehne und sah sofort wie der Sitzungsleiter aus: locker und alle anderen überragend.

Härting funkelte ihn an, und Tomas wandte sich ihm übertrieben ehrerbietig zu. »Es geht uns hauptsächlich um die Verbindung zum Fall Bräunig.«

»Der Fall Bräunig«, wiederholte Ackermann und warf Bettina einen schnellen Blick zu.

Die setzte sich gerader hin und klaubte rasch Erinnerungsfetzen zusammen. Hatten sie irgendetwas Wichtiges überlesen? Oder vergessen? »Warte. Bräunig. Doch, doch, ich weiß. Bräunig, das war diese alte Dame, die ewig vermisst wurde, nachdem sie mit Unbekannten in Dürkheim in der Spielbank war. Vor etwa fünfzehn, zwanzig Jahren?«

»Genau«, sagte Tomas. »Und die –«

»Und der Herr Tomas«, unterbrach Härting gereizt, »wollte eine unvoreingenommene Analyse von dieser Kanaldeckelsache, die haben Sie ihm gegeben, oder?«

Bettina sah Ackermann an. Der hob ganz leicht die Schultern.

»Ja«, sagte Bettina vorsichtig.

»Sind Sie der Meinung, Frau Boll«, schnarrte Härting weiter, »dass Sie dabei das Werk eines gemeingefährlichen Psychopathen vor sich hatten? Sie als Frau?«

»Ich als Frau?«, fragte Bettina überrascht.

»Ja, der Herr Tomas hat extra die Analyse eines erfahrenen Beamten angefordert, am besten die einer Frau. Und am allerliebsten Ihre ganz persönlich.«

»Echt?«, sagte Bettina geschmeichelt und blickte Tomas an, der ihr schief zulächelte.

»Ja, weil Sie, Frau Boll, angeblich ein besonderes Gespür fürs Verbrechen haben.«

Ackermann erlitt einen leichten Hustenanfall. Bettina wagte nicht, ihn anzusehen. »Hm«, machte sie. »Ich fühle mich geehrt, aber mehr als unseren Bericht kann ich im Moment leider nicht anbieten. Und ob der Täter krankhaft gestört war, kann ich Ihnen so aus der Lamäng auch nicht –«

»Moment mal«, unterbrach Ackermann da plötzlich, »jetzt erinnere ich mich! Die Bräunig hat in einem offenen Abwasserschacht gelegen!«

Genau, sagte Tomas’ Miene. Sein Lächeln zeigte Erlösung. Dazu applaudierte er tonlos und ließ sich knarrend in seinen Stuhl zurücksinken. Härting betrachtete ihn kalt.

»Dann besteht da ein Zusammenhang mit den offenen Kanaldeckeln!«, rief Bettina.

»Nein«, sagte Härting giftig.

»Vielleicht doch«, sagte Tomas. »Vor vier Jahren im April wurde uns die erste offene Schachtabdeckung gemeldet, Hainbuchenweg in Mundenheim. Es folgten sechsundzwanzig weitere Anzeigen. Und vor vier Jahren im August wurde Frau Bräunig in einem offenen Schachtbauwerk in Friesenheim gefunden. Danach brach die Serie ab.«

Ackermann machte große Augen und nickte. Bettina überlegte bestürzt, wieso sie die Verbindung von Bräunig zu den offenen Schächten nicht selbst gezogen hatten. Da hatten sie ja offenbar ganz übel gepennt, das gesamte K11.

Doch Härting sah nicht schuldbewusst aus. Er verschränkte die Arme. »Und wissen Sie was? Vor gerade mal zweieinhalb Jahren im Januar haben wir hier im K11 zum ersten Mal von dieser berühmten Serie gehört. Gut anderthalb Jahre danach! Als unsere Kollegen aus der Polizeiinspektion Eins zufällig mal einen Blick auf den Polizeibericht vom letzten Jahr geworfen hatten! Da dachten Sie: Lange genug gewartet, wir haben unser Exklusivwissen ausgekostet, jetzt lasst es uns weitergeben.«

»Eigentlich war es die Jahresbilanz der nicht aufgeklärten Fälle«, gab Tomas gelassen zurück. »Und da erinnerten wir uns klugerweise an eine Serie kleiner Ordnungswidrigkeiten und dachten: Man hilft, wo man kann.«

»Ach«, knurrte Härting, der unaufgeklärte Fälle als persönliche Niederlagen betrachtete. »Sie irren, der Fall Bräunig ist klar. Die Täter sind bekannt, wir konnten ihnen nur nichts nachweisen, weil sie sich gegenseitig decken. Spuren und Zeugen konnten wir vergessen. Viel zu viel Zeit zwischen Tötungsdelikt und Auffinden der Leiche. Wenn wir immer alle Infos gleich kriegen würden, wäre unsere Arbeit viel leichter.«

»Sehen Sie, und aus dem Grund bin ich heute hier«, sagte Tomas glatt. »Denn in Lautringen beginnt die Serie gerade erst.«

»Lautringen!« Härting schnaubte. »Serie!«

»Sieben geöffnete Schächte. Selbes Muster. Und Sie kennen die neuen Direktiven.« Tomas zuckte die Achseln. »Wir sind im besonderen Maße angehalten, die Kommunikation zwischen den Polizeibezirken zu verbessern.«

»Wissen Sie was, die Lautringer melden sich, wenn sie was wollen, das ist denen noch nie schwergefallen.«

»Es geht doch nur darum, den Informationsfluss zu beschleunigen«, sagte Tomas sanft.

Härting erhob sich. »Wir haben aber immer noch eine eindeutige Rechtslage zur Unschuldsvermutung!«, rief er. »Leider kann ich nicht wie Sie jede Information einfach dann weitergeben, wann es mir gerade in den Kram passt. Wenn’s nicht gerichtstauglich ist, was soll ich da machen? Vermutungen rumposaunen? Bürger beschuldigen, die niemals verurteilt werden können? Ja, hier so unter uns kann ich Ihnen ganz genau sagen, wer die Frau Bräunig getötet hat!«

»Ach ja?«

»Was glauben Sie denn? Das waren drei Herren aus Friesenheim, ehemalige Stammgäste der Löwenplay-Spielothek an der Ecke zum alten Brunnen, genau wie Frau Bräunig selbst. Ich könnte Ihnen Namen, Adressen und Telefonnummern nennen!«

Tomas grinste, eine winzige Spur unsicher.

»Und ich kann Ihnen auch sagen, was passiert ist!« Härting begann dem himmelblauen Kollegen vor der Nase rumzufuchteln. »Einer von den Friesenheimern hat an diesem Abend im Löwenplay einen Automatenjackpot geknackt. Sein Gewinn betrug fünfhundert Mark. Das war damals für ein Automatenspielgerät eine große Summe. Zwei seiner Freunde haben auch gewonnen, nicht so viel wie er, aber sie dachten, sie hätten gemeinsam eine Strähne. Da beschlossen sie, nach Bad Dürkheim ins Casino zu fahren und dort ihr Glück auszureizen. Frau Bräunig war an dem Abend auch im Löwenplay und hat sich an die Gruppe drangehängt, sie galt dort als Maskottchen, und die Herren hatten noch einen Platz im Auto frei. Im Casino aber hat dann nur sie gewonnen. Knapp dreitausend Mark. Nicht allzu viel, doch ihre Begleiter hatten alles verspielt. Und im Gegensatz zu ihr konnten die sich nicht leisten zu verlieren, das waren hoch verschuldete Arbeitslose, außerdem war es kurz vor Weihnachten. Am Ende musste Frau Bräunig in einem Auto mit drei frustrierten Halbstarken und dem ganzen Geld nach Hause fahren. Dabei ist es passiert. Ich habe die jungen Männer hier sitzen gehabt, ein halbes Jahr danach, die waren schuldig, für mich gab es keinen Zweifel. Die drei haben genau das Gleiche gesagt. Im selben Wortlaut.«

»Aber es hat kein Verfahren gegeben«, sagte Tomas. »Das heißt, so zweifelsfrei sicher kann die Geschichte auch wieder nicht gewesen sein.«

Härting holte Luft. »Wir hatten Zeugen.«

»Der Croupier aus dem Casino konnte sich an keine Begleiter von Frau Bräunig erinnern«, sagte Tomas, hob die Schultern und fügte an: »Hab ich gelesen. In Ihrer Akte.«

»Akte!«, fauchte Härting. »Die wirkliche Zeugin steht nicht in der Akte! Das ist es ja! Die Spielhallenaufsicht aus dem Löwenplay, die wusste sofort, was passiert war. Hat alle vier gekannt und mitbekommen, wie sie nach Dürkheim aufgebrochen sind. Konnte mir noch im Mai nach Frau Bräunigs Verschwinden den gesamten Ablauf schildern, mit Namen und Zeiten und Kraftfahrzeugkennzeichen. Das hätte sogar für eine Verurteilung gereicht, obwohl die Leiche fehlte. Diesen Trumpf hatten die Täter ja.« Härting beugte sich vor. »Aber dann hat irgendwer dem Sohn der Spielhallenaufsicht, der war damals acht, nach der Schule aufgelauert und ihn bedroht. Zumindest vermuten wir was in der Art, vielleicht war’s auch auf dem Sportplatz, was weiß ich. Dem Kleinen ist dabei nichts passiert, aber sie hat ihre ganze schöne Aussage zurückgezogen, und wenn sie das nicht gemacht hätte, dann hätte ich einen von denen gehabt, der war kurz vorm Geständnis.« Härting warf Ackermann einen kurzen Blick zu. »Der dicke Franzen.«

»Ach«, sagte Ackermann.

»Ja. Wir mussten ihn aus der U-Haft entlassen, und das war’s.« Härting funkelte Tomas feindselig an. »Elf Jahre danach haben wir die Leiche gefunden. Und anderthalb Jahre später kamen Sie mit Ihren Kanaldeckeln hinterher wie die alte Fassenacht, und jetzt sind Sie schon wieder da!«

»Tatsache ist aber, dass Frau Bräunig in einem offenen Schacht gefunden wurde, und niemand weiß, wer den aufgemacht hat. Selbst Sie müssen doch zugeben, dass diese Frage interessant ist: Wer hat die siebenundzwanzig Schachtabdeckungen geöffnet?«

»Jemand, der die Bräunig finden wollte«, sagte Härting gefährlich ruhig. Er ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen und breitete die Arme aus. »Die Spur war kalt«, dazu konnte der EHK sich einen anklagenden Blick nicht verkneifen, »und jetzt kommen wir wirklich in den Bereich der Spekulation, aber wenn Sie meine professionelle Vermutung hören wollen: Es war der Sohn.«

Tomas warf Bettina einen unsicheren Blick zu. Die hatte auch keine Ahnung, wen Härting meinte.

»Der Sohn?«, fragte Ackermann über sie hinweg.

»Von der Spielhallenaufsicht«, erwiderte Härting ungeduldig. »Elf Jahre nach Bräunigs Verschwinden war er neunzehn. Da wurde die Leiche gefunden. Und damals haben wir ihn auch kurz vernommen, routinemäßig, weil er ja schon als Kind in dem Fall eine gewisse Rolle gespielt hat. Gesagt hat er nicht viel, und er hat auch keinen auffälligen Eindruck gemacht, aber er ist gestört.« Härting warf Bettina einen leicht provozierenden Blick zu, vermutlich weil seine Ausdrucksweise nicht übermäßig korrekt war.

»Gestört?«, sagte Tomas prompt in scharfem Ton.

»Er hat irgend so eine psychische Macke. Ist in Behandlung. Oder war in Behandlung. Das ist praktisch das Einzige, was wir von ihm erfahren haben. Wir haben das nicht weiterverfolgt, aber bei dem hatte ich immer das Gefühl, wir haben nicht tief genug gebohrt. Der hatte so was – ich weiß auch nicht.« Härting hustete trocken, was bei ihm so viel wie ein Seufzen war. »Seine Mutter ist eine Furie, die war immer dabei. Hat ihn abgeschirmt. Und damals waren geöffnete Schächte kein Thema bei uns. Wir mussten die Lösung für dieses Problem nicht finden, und anderthalb Jahre später konnten wir uns auch nicht vorstellen, was er mit den geöffneten Schächten hätte bezwecken wollen.«

»Und jetzt können wir uns das vorstellen?«, fragte Ackermann.

Härtings strenger Blick traf ihn sofort. »Ich hab noch ein, zwei Mal über diesen jungen Mann nachgedacht«, entgegnete er kühl. »Ich sag ja: Bei dem hab ich im Lauf der Zeit das Gefühl gekriegt, dass er tiefer in der Geschichte drinhing. Manchmal sieht man das nicht sofort. Mag sein, dass es nur an seiner Störung liegt. Diese Kranken sind schwer einzuschätzen.«

»Und warum hat er die Schächte geöffnet?«, fragte Bettina.

»Weil er die Bräunig finden wollte«, sagte Härting und blickte Tomas unfreundlich an. »Die sogenannte Serie ist abgebrochen, nachdem die Tote gefunden wurde. Das spricht dafür, dass jemand nach ihr gesucht hat. Aber die Täter waren es nicht. Als Frau Bräunig gefunden wurde, saß der dicke Franzen wegen eines Banküberfalls in Frankenthal ein, und seine beiden Mittäter sind vor Jahren schon ausgewandert, die betreiben jetzt einen Schnellimbiss auf Mallorca, einer von denen ist Pole mit spanischen Wurzeln, was weiß ich. Jedenfalls haben die garantiert keine Kanaldeckel hier in Ludwigshafen gehoben.«

»Aber wieso wollte dieser Junge die Bräunig finden?«, fragte Ackermann.

Härting zuckte die Achseln. »Aus demselben Grund wie wir auch. Um abzuschließen und die Täter endlich dranzukriegen.«

»Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt?«, fragte Tomas zweifelnd.

Härting hustete wieder. »Ich weiß nicht, vielleicht hatte er neue Infos. Was soll ich sagen? In seinem Leben ist was Besonderes passiert. Sein Psychologe hat ihn ermutigt. Keine Ahnung! Er wusste womöglich schon immer, dass die Bräunig in einem Kanal liegt. Vielleicht haben die Täter eine Bemerkung gemacht, als sie den Achtjährigen bedrohten. Dann war er erwachsen und sie keine Bedrohung mehr, weil hinter Gittern und auf einer Insel, da wurde er aktiv. Und weil er nicht mit uns reden wollte, hat er sich allein auf die Suche gemacht. Dann hat er sie gefunden und das war’s.«

»Meinen Sie?«, fragte Tomas skeptisch. »Und wie erklären Sie sich dann die Fälle in Lautringen?«

»Zufall«, sagte Härting unwillig. »Dumme Jungen. So was gibt’s. Aber Sie konstruieren sich lieber eine Serie und wollen meine beiden besten Beamten eine Woche lang durch die Kanalisation robben lassen, damit Sie was richtig Tolles haben, um den Lautringern einen Schrecken einzujagen. Weil Sie normalerweise erst anderthalb Jahre pennen, bevor Sie wichtige Informationen herausgeben, und jetzt mal schnell den Kommunikator zwischen den Bezirken spielen wollen.«

Bettina linste zu Ackermann hinüber. Er grinste ihr schwach zu und verschränkte die Arme.

Tomas’ Lächeln war verschwunden. Er erhob sich. »Wie Sie meinen. Ich werde in meiner Mitteilung an die Lautringer schreiben, dass Sie kein Interesse an einer Zusammenarbeit haben.«

»Sie können schreiben«, sagte Härting darauf in einem unwirklich heiteren Ton, »dass ich mit Freuden meine beiden Spezialisten hier nach Lautringen schicke. Wenn’s sein muss, für ein halbes Jahr. Sobald dort die erste Leiche in einem Kanal auftaucht. Ach wissen Sie was, ich schreib es den Lautringern selbst.«

Sie starrten sich an.

»Ich nehm Sie beim Wort«, knirschte Tomas.

»Gut«, sagte Härting und hätte ganz sicher gelächelt, wenn seine Mimik so etwas wie ein Lächeln hergegeben hätte. »Frau Boll, Herr Ackermann, möchten Sie noch etwas beitragen?«

Bettina und Ackermann schüttelten stumm die Köpfe.

»Frau Boll? Eine weibliche Stellungnahme?«

»Ich persönlich glaube an Unisex-Deutsch, Herr Hauptkommissar.«

Der Blick, den Härting ihr zuwarf, war eine winzige Spur heller als sonst. »Herr Tomas? War das alles?«

Doch Tomas hatte schon seinen Helm gepackt und hielt grußlos auf den Ausgang zu.

Als er weg war, sagte Härting: »Schicken Sie mir die Frau Kaiser, wenn sie da ist, die hat ein Händchen für diese alten Sachen. Die soll sich den Fall Bräunig noch mal angucken. Wäre schön, wenn wir ihn doch noch abschließen könnten, allein für die Statistik. Und Frau Boll, Sie kennen ja jetzt die – Brisanz dieser Angelegenheit. Sie gehen mit der Frau Kaiser raus, falls irgendwelche Besuche oder Begehungen notwendig werden sollten.«

»Und wenn in Lautringen tatsächlich eine Leiche im Kanal gefunden wird?«, fragte Bettina.

Ackermann stieß sie unsanft mit der Fußspitze an.

Härting aber hatte für heute genug geschimpft. Er machte nur sein übliches verdrießliches Gesicht und sagte: »Raus jetzt. Wir haben auch übertage genug zu tun.«

Draußen auf dem Flur sagte Ackermann: »Dass man es ihm immer so ansieht.«

»Was?« Bettina blieb beim Kaffeeautomaten stehen und öffnete ihr Portemonnaie.

»Wenn er jemanden nicht mag. Ich meine, glaubst du, der kommt jemals wieder, der Tomas? Wenn mal wirklich was ist?«

»Er wäre schön blöd«, sagte Bettina. In Bezug auf Härting war sie illusionslos und abgestumpft. »Magst du auch Kaffee? Ich hab nur noch ein Zwei-Euro-Stück, und der gibt mal wieder nicht raus.«

»Cappuccino«, sagte Ackermann.

Bettina wählte für Ackermann eine Tasse mit vielen rosa Röschen und für sich selbst Willenbachers alten Humpen mit der Aufschrift Quiet, please.

»So was ist heute eigentlich nicht mehr tragbar«, orakelte Ackermann derweil. »Ich meine, unser EHK hat schon seinen Ruf. Der Tomas hat’s probiert und ist trotzdem gekommen. Um mal gut Wetter zu machen und die Lage zu sondieren. Er hat das Gespräch gesucht. Und wurde voll zur Sau gemacht. – Oh, wie hübsch. Danke.« Ackermann nahm das zarte Tässchen in seine Pranken und nippte am Cappuccino.

»Merkwürdig ist es tatsächlich«, sagte Bettina über das Gurgeln des Münzautomaten. »Siebenundzwanzig offene Schächte, und im letzten liegt eine tote Frau. So ganz astrein war das wirklich nicht, dass der Härting uns die Verbindung zum Fall Bräunig verschwiegen hat, nur weil er eine möglichst nichtssagende Analyse wollte. Klar, wenn wir besser aufgepasst und uns alle Akten besorgt hätten, dann hätten wir das auch wissen können. Wir hätten es wissen müssen. Peinlich, so was.«

»Genau das meine ich«, sagte Ackermann. »Das ist einfach keine Art. Informationen zurückhalten.«

»Na ja, wir hätten sie selbst nachlesen können«, sagte Bettina. »Wir haben den Auftrag zu wenig hinterfragt.«

Ackermann schüttelte den Kopf. »Der Tomas«, sagte er leise und verschwörerisch, »war vielleicht ein Tester.«

»Tester wofür?«

Ackermann sah sich um und blickte dann Bettina über den Cappuccino hinweg tief in die Augen. »Drüben in Mannheim«, flüsterte er, »da hatten die so einen beim Diebstahl. Beutelspacher, hast du von dem gehört?«

Bettina schüttelte den Kopf und vergaß vor lauter Konspiration ihren Kaffee.

»Der war so ähnlich, wusste alles, hat seine Abteilung tadellos geführt, zwanzig Jahre lang die allerbesten Aufklärungsquoten. Aber er hat nicht kommuniziert. Ein kleiner Geheimniskrämer. Den haben sie zum LKA versetzt. Er wollte nicht, muss sich mit Händen und Füßen gewehrt haben. Aber er hatte keine Chance. Jetzt haben sie einen, der jeden Morgen eine Stunde lang Konferenz macht.«

»Und ist das besser?«, fragte Bettina, gebannt von Ackermanns spürbarer innerer Anteilnahme.

»Ich weiß nicht, ich glaube, die meisten sind froh, dass sie den alten Feldwebel los sind. In Trier gab’s das auch. Da haben sie sogar zwei Abteilungschefs kurzfristig versetzt.« Ackermann nippte am Kaffee und leckte sich die Lippen.

Bettina betrachtete ihn fasziniert. »Ich verstehe. Du siehst einen Posten frei werden.«

Ackermann hob die Brauen. »Räuber und Gendarm spielen mit den schweren Jungs aus deiner Stadt, das war gestern. Heute sind die weltweit vernetzt, da braucht man andere Strukturen und Leute, die damit klarkommen. Die Welt ändert sich.«

»Wenn das stimmt, dann wirst du trotzdem nicht Chef.«

»Wer weiß, ich –«

Bettina schüttelte den Kopf. »Wenn sie jemand Kommunikatives suchen, dann nehmen sie einfach eine Frau.«

Jetzt machte Ackermann ein so entsetztes Gesicht, dass Bettina grinsen musste. »Wer hätte das gedacht, die Welt ändert sich wirklich«, sagte sie heiter. »Na komm, lass uns Nessa suchen gehen.«

Nessa saß unübersehbar an ihrem Platz in dem Zweierbüro, das sie mit Bettina teilte. Aber sowie sie die offene Tür erreicht hatten, war Ackermann verschwunden. Einfach vom Erdboden verschluckt. Bettina blickte sich irritiert um, dann trat sie ins Büro und sagte: »Ich hatte so ein Gefühl, als ob mir jemand gefolgt ist.«

Nessa blickte auf. »Ein Stalker? Hier im Büro? – Morgen.«

»Morgen. Nee, Ackermann«, sagte Bettina kopfschüttelnd. »Der war eben noch da.«

Nessa machte ein unbeteiligtes Gesicht und zuckte die Achseln.

»Hattet ihr Krach?«, fragte Bettina unumwunden.

Nessa hob die Brauen. »Krach?«, fragte sie gedehnt. »Nein.«

Alles klar, dachte Bettina. »Du sollst zum Chef. Altlastenbeseitigung.«

»Aha?«

»Das ist der Hammer, hast du gewusst, dass da jemand siebenundzwanzig Kanaldeckel –«

»Der Fall Bräunig?«

Bettina stellte ihre Tasse ab. »Woher wusstest du das?«

»Dachte ich mir, als ihr zwei rausmusstet, nach den Schachtabdeckungen suchen.« Nessa tippte gelassen noch etwas in ihren Computer, schaltete ihn aus, warf das rot gefärbte Haar zurück und erhob sich.

Bettina starrte die Kollegin an. »Das hast du alles gewusst?« Von wegen kommunikativ, dachte sie, diese Tusse würde sich die Zunge abbeißen, ehe sie mir einen kleinen Tipp gibt.

»Ich hab es vermutet«, sagte Nessa hochnäsig.

»Und wer ist der Mörder?«, rief Bettina ihr nach.

»Na der dicke Franzen«, sagte Nessa über die Schulter und verschwand.

* * *

So. Mandy. Gar nicht da heute, was? Hast der Welt deinen Anblick erspart. Wär nicht schlecht, wenn sich andere von deinem Kaliber ein Beispiel daran nehmen würden. Ich weiß nicht, kennst du dicke Menschen, die schön sind? Oder zu irgendwas nütze? Schau mal, der Kanaldeckel da vorn. Ich frag mich ja: Wenn man dich da reinstopft, bleibst du dann drin stecken?

Drei

An diesem Morgen kam Nessa später als Bettina und baute sich als Allererstes breit im Türrahmen auf. Warf sich in Pose. Und da sie das offenbar wollte, betrachtete Bettina die Kollegin genauer. Eine attraktive, sehr große und schlanke Frau. Sie war schwarz gekleidet, langhaarig, rot gefärbt, mit derselben hellen Haut wie Bettina. Nicht ganz so dünn wie ich, dachte Bettina, denn sie raucht nicht. Das Gesicht etwas voller und strahlender, weil sie keine Kinder hat und morgens länger schlafen kann. Die Brauen etwas schmaler gezupft, keine Sommersprossen. Falten um den Mund, die ich nicht habe. Fingernägel, so lang, wie meine nie werden. Schuhe schicker, geputzter, aber ein bisschen schief getreten. Meine Absätze sind gerade. Ausladenderer Gang, ausladenderes Wesen. Augen, die immer Vergleiche ziehen. Triumphierender Gesichtsausdruck. Irgendetwas war passiert.

»Der Chef hat dir gesagt, dass du mir assistieren sollst?«

Ach das. Bettina nickte.

»Was nimmst du normalerweise, Block oder Computer?«

Normalerweise assistiere ich nicht, dachte Bettina, jedenfalls kriege ich es nicht unter die Nase gerieben. Die anderen Kollegen sagen einfach: Tina, komm. »Block«, sagte sie und dachte: Stimmt, ich hatte schon ewig keinen eigenen Fall mehr. Am Ende kickt einen die Halbtagsarbeit eben doch raus. Man ist einfach zu selten da.

»Gut –« Nessa schaute sich im Büro um, »was machst du gerade?«

»Nichts Wichtiges«, sagte Bettina glatt.

»Könnten wir dann – hast du deinen Block? Äh –«

»Ja, meinen Stift hab ich auch. Wir können.«

»Gut. Ach so, ich brauche noch –« Nessa begann in ihrer Schreibtischschublade zu kramen. »Du könntest schon mal – nein, warte, hast du ein Auto? Ich bin mit dem Fahrrad da, und die Dienstwagen sind alle schon weg.«

Glaub ich nicht, dachte Bettina boshaft, dir hat nur keiner seinen Schlüssel gegeben. »Ja, ich habe ein Auto«, sagte sie.

»Ich vergaß, der Taunus«, sagte Nessa, als sie auf dem Parkplatz vor Bettinas Auto standen.

»Wir hätten auch noch dein Fahrrad«, sagte Bettina.

Nessa zog eine Grimasse. »Ich finde das ja eigentlich toll«, sagte sie mit angewidertem Gesicht. »Wirklich! Es ist echt schick, kommt auch wieder, diese Siebziger-Jahre-Industrieromantik. Waagrechte Linien, keine störenden –« Nessa hielt inne. »Du hast keine Kopfstützen!«

»Ja.«

»Das ist aber Vorschrift!«

»Ist es nicht.«

»Das muss Vorschrift sein, es gibt keine Autos ohne Kopfstützen.« Nessa zog am Griff der Fahrertür.

»Doch, siehst du ja. – Moment, ich muss von innen aufmachen.«

»Ach ja.« Nessa verschränkte die Arme. »Krass. Keine Kopfstützen. Wie kommst du damit über den TÜV?«

»Das ist denen egal, du brauchst die wirklich nicht«, sagte Bettina. »Ist halt nur schwierig, ein Auto ohne Kopfstützen zu verkaufen. Die haben miese Crashtest-Ergebnisse.« Sie öffnete die Fahrertür, setzte sich auf den Sitz und entriegelte von innen die Beifahrertür. Nessa zog gleichzeitig von außen, aber leider zu früh und zu kräftig, so dass das Türschloss sich verhakte.

»Mist!«, fluchte Bettina. »Mach mal bitte gar nix. Okay. Warte.« Sie drückte feste gegen die Tür, aber die wackelte bloß ein bisschen. »Verdammte Scheiße!«

Nessa gestikulierte bedauernd von außen. Bettina stieg aus. »Du musst über den Fahrersitz einsteigen.«

»Nein.«

»Das da krieg ich jetzt nicht auf. Dauert viel zu lang.«

Nessa blickte argwöhnisch. »Hat er das öfter?«

»Nur wenn man von außen zieht, während innen gerade entriegelt wird.« Bettina lächelte kurz. »Ich muss die Türverkleidung abmachen, um das wieder zu richten, und –«

»Nächstes Mal besorge ich das Auto«, sagte Nessa und umrundete den Wagen.

Umso besser, dachte Bettina und trat zurück, um die Kollegin einzulassen. »Bitte sehr.«

Nessa wurschtelte sich mit ihrer unförmigen Handtasche über den Schaltknüppel auf den Soziussitz. Dort ruckelte sie erst einmal erfolglos an der Tür, blickte dann aufs Armaturenbrett und konnte sich ein kleines Naserümpfen nicht verkneifen. Das Auto war alt. Und schmutzig. Es roch nach Rauch, nach Sand und irgendwie süßlich nach Motorenöl und altmodischen Tankstellen. Bettina ließ sich auf den Fahrersitz fallen und schloss ihre Tür. Jetzt blickte Nessa plötzlich erschrocken. Vermutlich dachte sie an die Crashtest-Ergebnisse. »Aber wenn du, ich meine, wenn du – ich komme ja hier aus eigener Kraft gar nicht mehr raus, falls du –«

»Falls ich was?« Bettina startete den Wagen und ließ die Räder durchdrehen. Dann löste sie die Handbremse.

»Einen Unfall baust!«, quietschte Nessa.

»Ich baue keinen Unfall«, sagte Bettina und schoss rückwärts auf die Straße.

»Wohin?«

»Hast du kein Navi?«

Selbstverständlich besaß Bettina ein Navi. Das lag unterm Beifahrersitz. Aber es hätte das Bild gestört: ihr romantisches Bild von der patenten Einzelkämpferin, die immer noch hartnäckig die Mechanik liebte, während alle anderen vor den billigen Annehmlichkeiten der Elektronik und Informationstechnik kapituliert hatten. Bettina war die Coole mit dem öligen Schraubenschlüssel und dem verschwitzten Rippenshirt. Also sagte sie: »Na, sag doch erst mal, wohin.«

Nessa nannte eine Adresse in Mannheim.

»Wir ermitteln in Mannheim?«

»Die wohnt da, soll ich etwa für ein einfaches Gespräch Amtshilfe in Baden-Württemberg beantragen?«

»Wer wohnt da?«, fragte Bettina, während sie sich Richtung Rheinbrücke einfädelte.

»Die Frau Schröck.«

»Und warum reden wir mit der?«

»Das ist die Zeugin im Fall Bräunig.«

»Oh«, sagte Bettina. »Die Spielotess, die ihre Aussage zurückgezogen hat.«

»Genau«, sagte Nessa mit einem Blick von Bettina zu deren zugemülltem und dreckigem Armaturenbrett. »Die Spielhallenaufsicht. Am besten hältst du dich Richtung Neckarstadt. Gut, dass dein Auto nicht gerade neu lackiert ist. Wer weiß, wo die wohnt.«

Bettina fand es sofort, weil sie sich an den Namen der Straße erinnerte. Die lag keineswegs in der verrufenen Neckarstadt, sondern in der Nähe des Luisenparks, dort ging Bettina öfters mit den Kindern spazieren. Und sie wusste auch, was das für eine Gegend war: Die hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Bettinas Auto und besaß selbst jede Menge frischen Lack. Und Parkplätze.

»Nummer dreiundsiebzig. Da ist es«, sagte sie und schaute auf eine große Gründerzeitvilla, in die locker drei bis fünf Familien passten. Bettina parkte, stieg aus und sah nach. Tatsächlich waren da mehrere Wohnungen, und in einer wohnte laut Klingelschild Hilli Schröck. Sie winkte Nessa herauszukommen und sah sich in der Straße um. Platanen säumten das gegenüberliegende Trottoir, die Autos auf der Straße fuhren zügig, aber leise, die Passanten trugen schicke Schuhe und offene Einkaufskörbe mit Gemüse ohne Plastik drum herum. Oder sie führten Hunde spazieren.

»Hier wohnt eine Spielhallenaufsicht«, sagte Nessa, als auch sie dem Auto entkommen war und die Fahrertür zuhieb.

»Die einen Mörder schützt«, sagte Bettina.

»Verbrechen lohnt sich eben doch«, sagte Nessa, und es klang unerwartet bitter. Dann stiefelte sie heran und drückte auf den Klingelknopf.

Hilli Schröck öffnete sofort. Sie war eine nervöse Person um die fünfzig, klein, schmal und auf flirrige Art apart. Sie trug keine Schuhe, dafür einen eng gegürteten petrolblauen Kimono und um ihre dunklen Locken einen leuchtend orangeroten Seidenschal. Zu Nessa musste sie etwa zwanzig Zentimeter aufblicken. »Mein Gott«, waren die ersten Worte, die sie an sie richtete, »haben Sie eine Aura!«

Damit wäre dann schon geklärt, wer der gute Bulle ist, dachte Bettina, betrat hinter Nessa die Wohnung, schloss leise die Tür und versuchte auramäßig mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Der war von einem düsteren Samtrot, die Wohnung schattig, kühl, mit wunderbaren Holzdielen, alten Möbeln, knorrigen Topfpflanzen, hohen Stuckdecken und einer Küche voll goldenem Sommerlicht. Darin wartete auf einem dunklen Tischchen ein überaus anmutiges und substanzloses Frühstück: eine halbe Grapefruit auf dünnem weißem Porzellan neben einer Tasse Milchkaffee. Hilli Schröck zog Nessa energisch dorthin, während sie Bettina glatt ignorierte. Dabei sprach sie über die Farbe Magenta, die, soweit Bettina es verstand, irgendwas Tolles mit Nessas Aura machte. »Spiritualität!«, sagte Hilli Schröck mit tiefem, geheimnisvollem Ernst. »Grundschwingung! Unbewusstes! Göttliche Liebe!«

Bettina sah sich um. Designerküche, dachte sie. Auf altmodisch gemacht. Sauteuer. »Arbeiten Sie immer noch als Spielhallenaufsicht?«, fragte sie in das sich anbahnende Therapiegespräch hinein.

»Schätzchen«, sagte Hilli Schröck darauf ein wenig derber, »in der Spielo kann man viel lernen. Ist gar nicht schlecht, auch die Dreckecken zu kennen.« Sie wandte sich ab und tippte geziert auf ihrer glänzend weißen vollautomatischen Kaffeemaschine herum.

»Und was machen Sie jetzt?« Bettina zog ihren Block heraus.

»Ich leite eine Versicherungsagentur«, sagte Schröck. »Kaffee?« Mit der Frage war Nessa gemeint.

»Gern«, sagte die erfreut.

»Adresse?«, fragte Bettina knapp.

Schröck nannte eine Adresse in Mannheim-Schönau und nahm eine hübsche Tasse von einem hübschen Wandhaken.

»Haben Sie noch Kontakt zu Ihren damaligen Bekannten aus dem Löwenplay?«, fragte Bettina.

Schröck schüttelte den Kopf. Locken flogen, orangerote Seide flog, die kleine barfüßige Frau wirkte, als würde sie gleich abheben, und stand doch mit beiden Beinen sehr fest auf ihrem wundervollen dunklen Holzboden.

»Gab es dort irgendwen, der sich besonders für die Kanalisation interessiert hat? Der vielleicht beruflich damit zu tun hatte? Als Tiefbauer?«

Schröck blickte über die Schulter. »Keine Ahnung.« Das klang ehrlich überrascht. »Also von allen Polizisten, die ich hier hatte, hat mich das noch keiner gefragt.«

»Vielleicht gab es junge Leute, die Kanaldeckel aufgemacht haben? So als Sport?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Aber Sie können sich daran erinnern, was an dem Abend geschah, als Frau Bräunig verschwand?«

Die Zeugin drehte sich um, blickte Bettina tief in die Augen und sagte: »Nein.«

»Immerhin wissen Sie, von wem ich spreche.«

»Natürlich.« Schröck stand bewegungslos da, und ohne ihr Geflatter wirkte sie viel gewöhnlicher, so als wäre all das Zarte, Aparte, Orangefarbene nur eine optische Täuschung, ein Wirbel, der bewusst in Bewegung gehalten werden musste, um das Bild einer anmutsvollen Frau zu erzeugen. So im Ruhezustand war sie eine andere. Eine misstrauisch aussehende Person, die schon einiges erlebt hatte.

Und Nessa, die trotz ihrer magentafarbenen Aura eine gute Polizistin war, sah das auch. Sofort ergriff sie das Wort. »Mord«, sagte sie, »verjährt nicht. Mord reißt eine Wunde, die niemals heilt, wenn er nicht gesühnt wird. Sie müssen uns helfen, den Mord an Frau Bräunig zu beweisen. Das können Sie. Sie müssen es tun. Nicht für uns, sondern für sich selbst.«

Schröck starrte sie an. »Das war kein Mord.«

»Es war grausame Heimtücke«, sagte Nessa. »Erbarmungslose Gewalt. Eine alte Frau zu erschlagen. Für nicht mal anderthalbtausend Euro.«

»Sie haben die Bräunig nicht gekannt. Die war –«

»Selbst schuld?«, fragte Bettina ätzend, schließlich war sie hier die Böse.

Schröck funkelte sie an. »Unmöglich war sie, eine strohdumme geizige alte Kuh. Dass sie reich war, wusste jeder, aber die konnte keinen graden Satz sagen. War allein schon mit dem Anziehen überfordert, ist rumgelaufen wie aus dem Kleidercontainer. Verschiedene Socken. Die Art. Das Einzige, was ihr Spaß gemacht hat, war Zocken. Weil sie damit ein paar junge Männer reizen konnte, weil die anfingen zu sabbern, wenn sie Geld in die Automaten reingeschmissen hat, und erst recht, wenn wieder welches rauskam. Bei ihr hat es irgendwie immer ausgesehen, als ob sie gewinnt. Und sie hat sich extra nur benutzte Spielgeräte gesucht.«

»Benutzte Spielgeräte?«, fragte Bettina.

»Ja, Automaten, an denen gerade einer gesessen hatte, verstehen Sie? Da steckt manchmal ein ganzer Monatslohn drin. – Und wenn sie dann gewonnen hatte, ist sie zu ihrem Vorgänger hingegangen und hat gesagt: Die dreihundert Mark, die du deiner Frau vom Haushaltskonto geholt hast, die sind jetzt mir. Das hat sie genossen. Alles mitgenommen, was sie kriegen konnte. Hat die Pflanzen aus den Kübeln gerissen und eingesteckt. Werbegeschenke. Bonbons, Streichhölzer, die hat sie ganz offen mitsamt dem Teller in ihre Handtasche gekippt. So eine war das.«

»Frau Bräunig hat sich also über die verzweifelte finanzielle Lage der anderen Spieler gefreut?«, fragte Nessa von der Seite.

»Total!«

Bettina klickte gespielt lässig mit dem Kuli. »Was finden Sie eigentlich fieser, ein bisschen Schadenfreude oder sich aktiv am Ruin dieser Menschen zu beteiligen?« Die Böse zu sein war ein sicheres Zeichen für beginnenden Abstieg. Den gemeinen Bullen spielte immer der, der es musste. »Sie selbst haben ja immerhin dort gearbeitet und den Jungs geholfen, das Haushaltsgeld zu verspielen.«

Schröck schnaubte. »Wir haben ja kaum was verdient.«

»Umso schlimmer«, versetzte Bettina.

»Sie brauchten die Arbeit, Sie hatten ein Kind zu versorgen«, half Nessa.

»Genau.« Schröck drehte sich von Bettina weg. »Ach so, Ihr Kaffee, Liebe. Moment.« Sie stellte die Tasse in die Maschine und drückte einen Knopf. Das Gerät begann zu brummen. »Es war nicht leicht für mich, damals als Alleinerziehende. Ist es immer noch nicht.« Sie lachte schwach.

Nessa legte den Kopf schräg. »Sicher fühlten Sie sich überfordert als Hauptzeugin in einem Mordfall. Und wenn man ganz allein für das Wohlergehen eines Kindes verantwortlich ist, dann sieht man die Dinge auch etwas anders.«

»Wem sagen Sie das.« Schröck gewann ein Stück ihrer alten Agilität wieder, als sie Nessa den Kaffee reichte. »Es ist ein bisschen Kardamom drin, das neutralisiert Umweltgifte.«

Der Köder Umweltgifte war geschickt eingeworfen, denn er führte gewöhnlich zu moralischen Verbrüderungen und langen, innigen, nutzlosen Gesprächen. »Sie haben damals eine umfassende Aussage zuungunsten dreier Stammgäste aus dem Löwenplay gemacht«, sagte Bettina darum schnell und streng. »Dann haben Sie alles widerrufen.«

»Das kann man ja verstehen, mit einem achtjährigen Kind, das eine leichte Beute für Gewalttäter ist«, fügte Nessa an und nippte an ihrer dampfenden Tasse. »So ein Achtjähriger, der läuft eben auch viel allein draußen rum. – Hmmm. Wunderbar. Danke. – Wie geht es eigentlich Ihrem Sohn? Was macht er so?«

»Studiert«, sagte Schröck mit schlecht verhohlenem Stolz. »Es geht ihm hervorragend. Und er wurde nie bedroht.«

»Was studiert er?«

»Raum- und Umweltplanung.«

»Hat irgendwer von Ihren damaligen Bekannten aus dem Löwenplay später noch einmal versucht, zu Ihnen oder Ihrem Sohn Kontakt aufzunehmen?«

»Nein.«

»Das wäre auch unwahrscheinlich«, sagte Nessa sanft, »denn der Franz Dick, Sie erinnern sich bestimmt an ihn, sitzt seit fast fünf Jahren in der JVA Frankenthal und wird dort noch eine Weile bleiben. Die anderen beiden leben momentan auf Mallorca, außerdem sind das Memmen, die richten ohne Anführer nicht viel aus. Und Ihr Sohn, Frau Schröck, ist erwachsen und führt ein eigenes Leben. Jetzt wäre es an der Zeit zu reden.«

Ein warmes, einladendes Schweigen umfing sie. Lichtflecken tanzten auf dem Tisch, der Sommer draußen roch nach Stadt und ferner Kindheit und großen Parks. Vögel waren zu hören. Wir sind gerecht und gut, sangen sie, sei du es auch. Bettina wagte kaum zu atmen.

Schließlich hob Schröck das Kinn. »Ich hab keine Angst«, sagte sie.

Bravo, Nessa, dachte Bettina.

»Ich hatte auch damals keine Angst. Ich habe eine Aussage gemacht, das stimmt, aber da war die alte Bräunig schon ein halbes Jahr verschwunden. Die hat ja keiner vermisst! Wir von der Spielo dachten, die wär vielleicht in ein Heim gekommen oder Verwandte hätten sie zu sich genommen. Ich weiß noch, wie überrascht wir waren, als der Kommissar kam. In die Spielo, morgens um zehn Uhr, wir hatten gerade geöffnet, und er sagte: Wir suchen die Frau Bräunig, die war ein halbes Jahr nicht zu Hause. Da hab ich spontan erzählt, wann ich sie zum letzten Mal gesehen hab. Praktisch im selben Moment, als ich erfahren habe, dass sie verschwunden war. Aber schon in der Nacht drauf ist mir alles, was ich zu Protokoll gegeben habe, ganz unglaubwürdig vorgekommen. Ich hatte es einfach so aus dem Bauch heraus gesagt, aber als ich richtig drüber nachdenken konnte, war ich plötzlich überhaupt nicht mehr sicher. Bei gar nichts! Ich dachte sogar, ich hätte die Personen verwechselt. Darum hab ich die Aussage zurückgezogen. Nicht, weil ich Angst hatte.« Sie blickte Bettina finster an. »Und jetzt nach über fünfzehn Jahren kann ich Ihnen erst recht nichts Sicheres mehr sagen.«

Bettina ließ den Block sinken. »Also meiner Einschätzung nach sind Sie eine Frau, die auf ihr Bauchgefühl hört. Und Sie haben Erfolg damit.« Sie streifte die teuren Küchenmöbel mit einem gedankenvollen Blick. »Übrigens hat unser Chef die Theorie, dass Ihr Sohn Felix eventuell zum Fund der Frau Bräunig beigetragen hat. Indem er vor vier Jahren drüben in Ludwigshafen ein paar Schächte aufgemacht hat.«

»Unsinn.« Schröck betrachtete sie feindselig. Dann tastete sie ihre Frisur ab, blickte auf die Uhr und sagte: »Ich muss mich jetzt fertig machen.« Und zu Nessa gewandt: »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«

»Wir hätten gerne die Adresse Ihres Sohnes«, sagte Bettina.

»Die geb ich grundsätzlich nicht raus«, entgegnete Schröck giftig.

Nessa seufzte und zauberte eine Visitenkarte hervor. »Sie sollten sich von dieser Last befreien«, sagte sie eindringlich zu Schröck. »Ich schreib Ihnen meine Privatnummer auf. Sie können mich jederzeit anrufen. Es wird Ihnen besser gehen, glauben Sie mir.«

Schröck nickte. Sie stand da, barfuß, höflich beeindruckt vom Ernst, mit dem Nessa sprach. Fast verlegen nahm sie die Karte und sagte »Gut« und »Jetzt muss ich aber wirklich« und begann wieder zu rotieren wie ein Kreisel, ganz Farben, Seide und dringende Termine. Aber obwohl sie versuchte, sich zu geben wie zuvor, strahlte sie jetzt mehr Leichtigkeit aus. Hilli Schröck wirkte auf einmal jünger und hübscher. Nicht triumphierend, aber befreit. Und Bettina fragte sich plötzlich, wie oft die Schröck ihre Geschichte wohl schon erzählt hatte. Das hier war vermutlich ihre Routinedarbietung gewesen. Am Ende, dachte Bettina, schweigt diese Zeugin nur, weil sie es gewöhnt ist.

* * *

Weißt du was, ich hatte mal eine Zeit, da konnte ich fasten, Mandy. Fasten: nichts essen. Kennst du vom Hörensagen, Mandy. Joke. Jedenfalls, das ist das Größte. Ich sag dir, Mandy, Fasten, das ist die Unschuld. Es ist wie Tauchen. Du isst etwas, ein letztes Mal, du nimmst einen Atemzug und dann treibst du so weit, wie du kommst. Du verlängerst den Augenblick. Dann tauchst du wieder auf, und was auch immer du jetzt zu dir nimmst: Es ist köstlich.

Keine Ahnung, wie das umgeschlagen ist. Eines Tages hab ich angefangen zu fressen.

* * *

»Du warst gut«, sagte Bettina draußen.

»Nicht gut genug«, sagte Nessa.

»Sie hat deine Telefonnummer.«

»Die ruft nicht an.«

Das glaubte Bettina auch nicht. »Und jetzt?«

»Was war das eigentlich eben für eine Ansage, dass Schröcks Sohn die Kanaldeckel aufgemacht haben soll?«

»Theorie von Härting. Kann er aber nicht beweisen.«

»So«, sagte Nessa nachdenklich. »Komisch, dass sie seine Adresse nicht rausgeben will, die muss doch wissen, dass wir sie ganz einfach nachgucken können.«

»Sie wollte halt unfreundlich sein«, sagte Bettina.

»Hmm«, machte Nessa. Dann fügte sie hinzu: »Ich würde ja gern mal mit EHK Tomas über seine Schachtabdeckungen reden.«

Bettina sperrte die Fahrertür ihres Taunus auf. »Das solltest du Härting aber nicht auf die Nase binden.«

»Wieso?«

»Er und Tomas, die lieben sich.«

»Ich weiß.«

»Er hat den Tomas voll abgeschmettert, das war echt peinlich. Der will nie wieder was mit uns zu tun haben.«

»So schlimm?«

Bettina hielt ihr die Tür auf. »Das Problem ist, wahrscheinlich hat Härting recht und die Lautringer Kanaldeckel haben nix mit der Sache zu tun, aber du hast dann trotzdem diesen supersauren Tomas an der Backe.«

»Vielleicht haben die Kanaldeckel aber doch was damit zu tun«, sagte Nessa über die Schulter und beugte sich in den Taunus.

Stimmt, vielleicht doch, dachte Bettina.

Sie fuhren zurück nach Ludwigshafen zu ihrer Dienststelle, setzten sich in ihr Büro und nahmen sich einen nagelneuen Stadtplan vor, in den sie sämtliche einstmals geöffneten Kanaldeckel eintrugen. Das brachte nichts. Sie nummerierten sie chronologisch. Auch das schenkte ihnen keine neue Erkenntnis, obwohl der Täter in gewisser Weise mit System vorgegangen war, er hatte sich eher gerichtet als im Zickzack bewegt, aber das war ja bekannt, und was sollte man daraus Neues schließen?

Endlich hängte Nessa die Karte an die Wand, setzte sich auf ihren Stuhl, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Merkwürdig ist, dass es aufgehört hat, nachdem Frau Bräunig gefunden wurde.«

»Finde ich auch«, sagte Bettina, »aber Härting sagt, wenn es Felix Schröck war, dann hatte er ja, was er wollte: die Leiche der Bräunig.«

»Und wenn es doch nicht der kleine Schröck war?«

»Hm«, machte Bettina. »Gut, aus der Sicht eines Freaks wäre es auch logisch, aufzuhören, wenn er zufällig eine Leiche findet, denn er weiß dann, dass jetzt eine Menge Leute mit ihm reden wollen. Und wenn er sich weiter auffällig benimmt, Ordnungswidrigkeiten begeht, sich in den Vordergrund spielt, dann zieht er nur ungewollte Aufmerksamkeit auf sich.«

Nessa nickte.

»Eigentlich ist es doch interessant«, sagte Bettina. »Warum hat der Finder die Leiche nicht gemeldet? Nicht einmal anonym?«

Nessa zuckte die Achseln. »Wie du selber sagst: Er wollte nicht mit uns reden.«

»Wir sollten uns den Fundort noch mal ansehen.«

»Hab ich gestern schon«, winkte Nessa ab. »Ich war sogar unten drin in diesem Ding, ein Riesenbauwerk, groß wie eine Einzimmerwohnung.«

»In was für einem Ding?«

»Na dem Schacht, unter dem man die Bräunig gefunden hat. Das ist kein normaler Kanalschacht, der führt in einen Fettabscheider.« Nessa wies auf den rotesten Punkt ihrer Karte. »Ehemaliges Firmengelände einer Firma Südwest-Sauer, die haben vor zwanzig Jahren die Niederlassung hier geschlossen und sind in ein Niedriglohnland gezogen. Rumänien, glaub ich. Das Gelände lag lange brach, jetzt ist ein IT-Berater in dem Haus. Aber der benutzt die Produktionsanlagen logischerweise nicht mehr.«

»Was ist ein Fettabscheider?«

»So eine Art unterirdisches Becken. Funktioniert wie eine Soßenkanne: Oben fließt die Brühe rein, dann sammelt sich alles, das Fett setzt sich ab, und der Abfluss sitzt anderthalb Meter tiefer. Wie die Tülle von der Kanne. Von da aus fließt das geklärte Wasser dann weiter.«

»Und das gehört einer Firma? Nicht der Kommune?«

»Ja natürlich, was glaubst du denn, die BASF hat sogar eigene Kläranlagen!«

»Dann war es Spezialwissen. Das konnten nur ehemalige Mitarbeiter von – wie heißen die – Süd-Sauer wissen.«

»Südwest-Sauer.« Nessa seufzte und schüttelte den Kopf. »Laut Akte wurden die vor vier Jahren befragt, soweit sie noch auffindbar sind. Da hat sich nichts ergeben, und das Gelände liegt ziemlich zentral, das war lange Zeit Jugendtreff und ist dann ein bisschen heruntergekommen zum Stricherquartier –«

Bettina beugte sich über die Karte. »Ach Gott, das ist die alte Sodafabrik!«

Nessa warf Bettina einen tiefen Blick zu. »Genau.«

»Haargenau der Platz, an den jeder Friesenheimer seine Leiche bringen würde.«

»So ist es.« Nessa hielt inne. »Aber – Moment, jetzt muss ich doch mal was gucken.«

»Was?«

»Die Bräunig. Wenn die wirklich so reich war, wer hat sie dann beerbt?« Nessa drehte sich zu ihrem Schreibtisch, tippte etwas in den Computer und sagte: »Da ist die Akte. Okay. Mal sehen ... Frau Bräunig besaß ein Einfamilienhaus in Friesenheim, mehrere landwirtschaftlich genutzte Grundstücke und ein Barvermögen von umgerechnet etwa hunderttausend Euro.«

»Das sind mehr als dreitausend Mark Casinogewinn«, sagte Bettina.

»Ja.« Nessa las eifrig, doch sank schnell wieder enttäuscht in den Stuhl zurück. »Aber wie ich hier sehe, hat niemand das Erbe eingefordert. Frau Bräunig lebte allein und hatte nur entfernte Verwandte, zu denen kaum Kontakt bestand. Während der gesamten elf Jahre, in denen sie als vermisst galt, hat keiner versucht, sie für tot erklären zu lassen. Sie hat auch kein Testament hinterlassen. Bekommen hat das alles vor vier Jahren eine Erbengemeinschaft, hoch versteuert, viele Begünstigte, da ist wahrscheinlich für niemanden richtig was hängen geblieben.«

»Und wer hat sie als vermisst gemeldet?«

Nessa blickte auf den Bildschirm. »Die Nachbarin.«

»Hm«, machte Bettina. »Dann war’s wohl wirklich der dicke Franzen.«

»Tja, ehrlich gesagt, glaub ich das auch«, sagte Nessa. »Wenn man seine Akte so liest – große moralische Bedenken hatte der wohl nie.«

»Ha! Erwischt! Ihr redet doch über mich!«, trompetete es da und eine große, bullige Gestalt füllte den Türrahmen aus.

Nessas Gesicht verschloss sich sofort. Sie saß stocksteif, Blick auf den Bildschirm, das rote Haar vor den Augen wie ein stählernes Visier.

»Herr Ackermann!«, sagte Bettina heiter. »Klar, Thema moralische Bedenken, da fehlst du natürlich.«

»Dabei hab ich gar keine«, flötete Ackermann. »Und? Fortschritte?« Er sah ziemlich rötlich im Gesicht aus.

»Nicht wirklich«, antwortete Bettina. Nessa schien sich aus dem Gespräch raushalten zu wollen. Sie ruckelte mit steinerner Miene an ihrem Computer herum, stöpselte irgendwas ein, fuhrwerkte mit der Maus herum und starrte gebannt auf den Bildschirm.

»Ich glaube, das Einzige, was wirklich was bringen würde«, sagte also Bettina, »wäre, den dicken Franzen zu foltern, damit er den Mord an Frau Bräunig gesteht.«

»Na das ist doch für euch gar kein Problem«, sagte Ackermann. »Da müsst ihr nur eure ganz gewöhnlichen –«

Nessa blickte auf.

»... supereffektiven Starermittlermethoden einsetzen«, schloss Ackermann.

»StarermittlerINNENmethoden!«, versetzte Nessa.

Ackermann schaute Bettina an.